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3.2 Chancen der Sozialpädagogik 12
Es lassen sich allgemeine Rahmenbedingungen und vermutbare Entwicklungen in
groben Zügen abschätzen.13
1. Die Tendenzen sozialen Wandels schlagen sich für die einzelnen Personen in der Chan-
ce (und in dem Zwang) zur Individualisierung ihrer Lebensführung nieder. Jeder muss
seine Fragen für sich lösen. Sozialpädagogik muss ihre Angebote individualisieren; Kon-
zepte haben immer nur für eine kleine Gruppe Gültigkeit. Angebote werden immer auch
nur von wenigen wahrgenommen. – Die Zeiten, in denen viele kamen, sind vorbei.
2. Diese Tendenz wird folgende Trends verstärken:
- große Einrichtungen und stationäre Maßnahmen werden sich hin zu ambulanten Hilfen
entwickeln. Die Einrichtungen werden lebensweltnah und zahlreicher sein;
- es wird weniger Einrichtungen brauchen, die auf differenzierte Problemlösungen zuge-
schnitten sind, aber mehr, die prophylaktisch und präventiv arbeiten;
- es wird weniger Arbeit mit »Fällen« geben, die nach einer bekannten Methode „behan-
delt werden, aber mehr Arbeit in der Form einer offenen Kommunikation mit »Klienten«.
3. Sozialpädagogik muss ihre Angebote mit den Adressaten »aushandeln«. Die Hilfe muss
zusammen mit den Klienten entwickelt werden. Dabei erhält die Sozialpädagogik Kon-
kurrenz von anderen Anbietern.14 Dadurch gerät sie in den Zwang der Profilbildung. Pä-
dagogen arbeiten immer weniger direkt mit Kinder und Jugendlichen, sondern sie orga-
nisieren Einrichtungen und unterstützen Aktivitäten von Jugendlichen.
4. Die Individualisierung der Nachfrage nach Angeboten, Diensten und Ressourcen, die
privat oder kommerziell angeboten werden, wird im Bereich offener Angebote zu einer
Vielfalt von Arbeitsformen, Inhalten und Angeboten führen – sowohl in der Familienar-
beit, als in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Unter dem Leitkonzept »Prävention«
werden solche Aktivitäten zunehmen, die nicht auf eine bestimmte Auffälligkeit reagie-
ren, sondern von vielen genutzt werden, die darin einen Gebrauchswert entdecken.
5. Da vielen Jugendlichen aus sozial benachteiligten Milieus die vorhandenen Angebote
keine Integrations- und Entwicklungschancen bieten, organisieren sie selbst Aktivitäten,
in denen sie mit neuen Lebens-, Lern- und Arbeitsformen experimentieren. Die Sozialpä-
dagogik unterstützt solche »alternativen« Integrations- und Partizipationsmöglichkeiten
und gibt ihnen die notwendige Dauerhaftigkeit.
6. Der Individualisierungsprozess wird die Angebote der Sozialpädagogik nach eigenen
Strategien und Präferenzen wahrnehmen bzw. neue Angebote anregen. Allgemeines
Motiv für diesen »weichen« Teil der Sozialpädagogik wird das Bedürfnis nach Selbstent-
faltung und Verbesserung der Lebensmöglichkeiten sein. Ein anderer Teil von Familien,
Kindern und Jugendlichen wird aufgrund sozialstruktureller Belastungen (Autonomiever-
luste durch Krankheit, Sucht, Devianz etc.) nicht imstande sein, die für eine normale Le-
bensführung notwendigen Ressourcen aufzubringen. Dieses Klientel (»harter« Bereich)
wird die Sozialpädagogik auf Dauer beschäftigen.
7. Die Sozialpädagogik hat keine Kontrolle über Normalität auszuüben und verliert den
12 „Sozialpädagogik“ wird in der Bundesrepublik Deutschland jene Teildisziplin der Erziehungswissen-
schaft genannt, die außerhalb von Familie, Schule und Beruf erzieherische Angebote bereithält, mit diesen aber
zusammenwirken und sie unterstützen. Teilweise sind diese Angebote durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz
und andere Gesetze (Jugendgerichtsgesetz, Jugendschutzgesetze u. a.) geregelt. Zu den Einrichtungen und
Maßnahmen zählen Kindertagesstätten, Freizeiteinrichtungen, Kinderheime und Erziehungsberatungsstellen e-
benso wie Jugendberufshilfe, Jugendgerichtshilfe und pädagogischer Jugendschutz. Es handelt sich nicht um
therapeutische Maßnahmen. Ihre Arbeitsweise ist häufig der der Sozialarbeit sehr nahe.
13 Die nachfolgenden Thesen entstammen dem Diskussionszusammenhang des Projekts »Jugendhilfe
und sozialer Wandel« am Deutschen Jugendinstitut (Münchmeier, Schefold, Vetter, von Wolffersdorff).
14 Auf der Suche nach Hilfe werden zur Zeit in Deutschland alle möglichen Angebote wahrgenommen,
die keine sozialpädagogischen Ziele verfolgen, wie z. B. „erlebnisorientierte“ Aktionen etc. Aber auch die Ar-
beitsvermittlung, kann nun auch von privaten Organisationen geleistet werden.