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DIE PÄDAGOGIK DON BOSCOS: URSPRUNG UND ENTWICKLUNG
von P. Dr. Jacques Schepens SDB
1. EIN ERZIEHUNGSSYSTEM IN DER PRAXIS UND FÜR DIE PRAXIS
Die Person Don Boscos ruft heute bei vielen das Bild eines Priesters und Erziehers hervor, der auf
direkte und unkomplizierte Weise für Jugendliche zugänglich und erreichbar war, der spontan auf sie
zuging, der im Tiefsten seines Wesens um sie besorgt war, der sein Interesse für sie nachhaltig in die
Tat umsetzte, dessen Erziehungssystem nahezu mit seiner Existenz zusammenfiel. Das alles bedeutet
konkret, dass diese Erziehungsmethode nicht in erster Linie einer Theorie, sondern vor allem einer
Praxis anzugleichen ist.
Um dieses System zu kennen, sind nicht nur die Schriften Don Boscos wichtig, sondern vor allem
seine Persönlichkeit, sein pädagogisches Handeln, seine Institutionen und die zahlreichen Initiativen,
die er im Bereich der sozialen und erzieherischen Hilfe entwickelt hat. Alles muss aber notwendiger-
weise in den Rahmen des sozialen, politischen, kirchlichen und pädagogisch-theologischen Kontextes
seiner Zeit gestellt werden. In der Abhandlung wird vorausgesetzt, dass der Lebenslauf Don Boscos
als Erzieher hinreichend bekannt ist und ebenso, wie er sein Werk aufgebaut, ausgeweitet und konso-
lidiert hat.
1.1. Prävention in der Zeit Don Boscos
Im ersten Gedankenschritt wird vor allem die Idee der „Prävention” verdeutlicht: wie wurde Prä-
vention in der Zeit Don Boscos aufgefasst und in die Praxis umgesetzt? Jede Erziehungspraxis hat mit
verschiedenen Dimensionen des jungen Menschen zu tun: mit der Wahrnehmung der Identität, mit
sozialen Fähigkeiten, mit Entscheidungskraft, mit Kultur, mit Professionalität, usw. All das ist aber
nur möglich, wenn auch die vitalen Bedürfnisse wie Essen, Kleidung, Existenzsicherheit, Wohnen,
Schulung, Arbeit genügend versorgt sind. Aus dieser Wahrnehmung muss man eine Kultur der Prä-
vention aus einem doppelten Gesichtspunkt verstehen: die „soziale“ und die „pädagogische“ Dimensi-
on der Prävention.
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1.1.1. Die „soziale Dimension“ der Prävention
Die präventive Kultur war im 19. Jahrhundert schon verbreitet und bildete die Grundlage, auf der
Don Bosco seine „erzieherische Leidenschaft” entwickelte. Die vielen Ansätze, die er im Kontext
vorfindet, interpretiert er aber neu. Bei der Prävention als Form von Sozialhilfe und Wohltätigkeit geht
es um leibliche Hilfe, Gesundheit, Vorbereitung auf die Arbeit und Vermittlung von Grundwerten.
Man versucht, diese Ziele zu erreichen durch die Beseitigung oder die Verringerung möglicher Gefah-
ren physischer und psychischer Art und durch das Vorbeugen sozialer und kultureller Ausgrenzung.
Kontext
Bereits vor 1846 nimmt Don Bosco an Initiativen sozialer und erzieherischer Art teil, die in der
Stadt Turin für ausgegrenzte Jugendliche, Randgruppen, Gefangene und Ex-Gefangene, Saisonarbeiter
und Zugezogene aus der Provinz, organisiert wurden. Er besucht u.a. Jugendgefängnisse und nimmt
als Seelsorger teil an den religiösen Aktivitäten des Werkes „Opere pie” der Gräfin Barolo. Er unter-
hält weiter direkte und indirekte Kontakte mit zahlreichen Organisationen für Sozialhilfe. Auf theore-
tischer Ebene pflegt er Kontakte zu Erziehern, Pädagogen und Priestern, die mit ihm die „präventive
Unruhe” teilen und vertieft sich in Schriften der wichtigsten Vertreter der präventiven Erziehung und
Sozialhilfe.
Eigene Initiativen Don Boscos
1846 beginnt Don Bosco sein eigenes Werk für die Jugendbevölkerung aus der Peripherie der
Stadt Turin. Dorthin war er unter dem Eindruck der Situation der Jugendlichen (Elend, Analphabetis-
mus, Marginalität infolge der sozialen Entwicklungen) gekommen. Diese Jugendlichen bildeten sozu-
sagen das „andere Gesicht” der Stadt Turin. Es ist interessant zu sehen, dass die „Jugendsache“ für
Don Bosco kein abstrakt-theoretisches Problem ist. Er findet kaum Zeit, die Reformen auf theoreti-
scher Ebene kennen zu lernen. Sein erstes Anliegen ist es, eine Antwort auf die unmittelbaren Bedürf-
nisse und Nöte der Jugendlichen zu finden. Aus Mitleid mit den Jugendlichen, die aus ihren Dörfern in
die Stadt wanderten, oft frustriert in ihrem berechtigten Suchen nach sozialem und zivilem Aufstieg,
gründete er für sie das Oratorium, teilweise nach einem eigenen Konzept. Die Erfahrungen in den
Gefängnissen hatten ihn überzeugt, dass „Erziehung an sich” eine wertvolle Intervention zugunsten
der Jugendlichen war, nicht nur als Vorbeugung von Marginalität und Devianz, sondern auch um Op-
fer der Marginalität neu zu integrieren. Es war deutlich seine christliche Überzeugung und das damit
verbundene Vertrauen in die Möglichkeiten des Menschen, das ihn zu diesen Werten führte. Erst spä-
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ter wird er die Vorgesetzten und die Öffentlichkeit über das Oratorium und über den präventiven Cha-
rakter seiner Erziehungsweise informieren.
Entwicklung des Oratoriums
1. Am Anfang (1845-1850) funktioniert das Oratorium als Spielhof, als Schule für Religions-
unterricht und Alphabetisierung für immigrierte oder verlassene Jugendlichen an Sonn- und Festtagen.
Das Milieu ist unkompliziert. Es gibt keinen besonderen Stundenplan, es ist ein Milieu, wo Freiheit,
Spiel, Musik, Theater, Ausflüge usw. auf dem Programm stehen. Die Beziehungen zwischen Jugendli-
chen und Erziehern sind ungezwungen und unkompliziert, gleichzeitig aber auch tiefgehend.
1847 wird am gleichen Ort ein Wohnheim eröffnet. Es hat eine offene Struktur und nimmt vor
allem Jugendliche auf, die von weit kommen und in der Stadt eine Arbeitsstelle haben oder eine Pri-
vatschule besuchen. Diesen Jugendlichen widmet Don Bosco eine besondere Aufmerksamkeit. Ihnen
bietet er Unterkunft, Spielräume, Arbeitsverträge. Für sie organisiert er Unterricht in Abend- und
Sonntagsschulen. Das Oratorium funktioniert als integrales erzieherisches Milieu. Es ist auch der Ort
der Jugendlichen „ohne Pfarrei”, ein Lebensraum, wo sie ihren festen Punkt haben. Hier fängt das
ganzheitliche Erziehungsprogramm an: Erziehung zum „guten Christen und rechtschaffenen Bürger”.
2. Nach dem ersten Schritt wird das Oratorium langsam in ein Internat, in eine Schule für
Lehrlinge und in eine Lateinschule umgebildet. Diese Form wird in den nächsten Jahren die Oberhand
gewinnen. Prinzipiell bleibt das „Oratorio” das normierende Ideal. Inzwischen aber war sich Don Bos-
co auch bewusst geworden, dass langsam eine andere Vorgehensweise notwendig geworden war. Statt
kurzfristiger Initiativen nach dem Modell des Oratoriums suchte er nach Lösungen, die deutlich einen
nachhaltigen Charakter hatten. Anstelle von einigen Teilzeiterziehern sollte eine Gruppe kommen, die
sich ganz der Erziehung widmen kann. Konkret bedeutet das, dass ab 1861 an der Peripherie der Stadt
eine globale Bildungsinstitution wächst, in der man versucht, eine Antwort auf die Probleme von jun-
gen Arbeitern, Lateinschülern und möglichen Priesterkandidaten zu bieten. Der Begriff „Oratorio”
erhält ab dieser Zeit einen umfassenderen Inhalt: das Oratorium ist Haus, Schule, Werkstätte, Kirche,
Spielhof, Familie. Man versucht nicht nur durch Sozialhilfe möglichen Formen der Jugendkriminalität
vorzubeugen; man bemüht sich gleichzeitig um eine echte Emanzipation der „armen und verlassenen”
Jugendlichen.
Ab den sechziger Jahren prägt sich dann die echte Kolleg-Erziehung. Don Bosco gründet
Wohnheime, Gymnasien, Agrar- und Berufschulen. Er ist auch tätig als Ordensgründer, Kirchenbauer;
er verhandelt mit den bürgerlichen und kirchlichen Autoritäten. Er wird ein Bezugspunkt von kom-
plexen Erziehungsinstitutionen und sucht Kontakt mit vielen, die sich in Italien um den zivilen und
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christlichen Fortschritt der Landes besorgt zeigen. Ab dieser Zeit versucht er sein erzieherisches An-
liegen in zahlreichen Schriften und Publikationen auch besser zu formulieren, er gründet mit Maria
Mazzarello die Don-Bosco-Schwestern und schickt seine Salesianer ins Ausland (Frankreich, Spanien,
England) und in die Mission nach Süd-Amerika. In den letzten Jahren zeigt er sich vor allem besorgt
um das Problem der Christianisierung der Gesellschaft.
1.1.2. Die „pädagogische“ Dimension der Prävention
Eine zweite Form von Prävention verwirklicht sich innerhalb des Erziehungsprozesses
selbst. In der Erziehung versucht man den jungen Menschen „ganzheitlich”, in all seinen As-
pekten und Dimensionen zur Entfaltung kommen zu lassen. Es zeigte sich in Europa, vor al-
lem nach dem Sturz Napoleons (1815), in vielen Bereichen (Politik, soziales Leben, Straf-
recht, Schule, Erziehung, Kirche…) eine Art präventive „Unruhe”. Der Präventivgedanke
wuchs in vielen Bereichen. Er macht sich fest zwischen Hoffnung und Angst, Vertrauen und
Misstrauen, Wachsamkeit hinsichtlich des Negativen, wovor man sich hüten soll, und des
Positiven, das man fördern will.
Wenn man versucht, den Terminus „präventiv” im Bezug auf Don Bosco (und andere Erzieher) zu
umschreiben, kommt man zu den folgenden Feststellungen: „Präventiv” kann bei Don Bosco nicht
bedeuten: eine paternalistische, überbeschützende Methode, die die Freiheit und Verantwortlichkeit
der Personen hemmt oder verringert. In diesem Fall hätte das Konzept „präventiv” keinen eigenen
positiven Inhalt; es wäre auch auf eine einzige Komponente reduziert. „Präventiv“ muss in zweifacher
Hinsicht verstanden werden; es hat zum einen eine negativ-behütende und zum anderen eine positiv
aufbauende Dimension. Die beiden Dimensionen machen sich auf zwei verschiedenen Ebenen fest:
1) Auf sozialer Ebene findet man bei Don Bosco eine defensive und eine fördernde Komponente.
Die defensive Komponente war ihm von seiner eigenen Bildung und von seiner ersten Erfahrung in
der Sozialhilfe vorgegeben. Die mehr fördernde Komponente dagegen wurde ihm von seiner priester-
lichen Berufung, vom Vorbild vieler aufgeschlossener, aktiver Mitchristen nahegelegt. Er war skep-
tisch gegenüber vielen Entwicklungen im politischen und wirtschaftlichen Bereich. Er wollte der sozi-
alen Ordnung ein religiöses Fundament geben. Er befürchtete, dass vagabundierende Jugendlichen
eine Gefahr bedeuteten für eine gut geordnete Gesellschaft. Deswegen ist, nach seiner Meinung, Prä-
vention notwendig. Sie soll die Gesellschaft behüten vor Verfall der Jugendlichen und sie soll für die
intellektuelle, professionelle, moralische und religiöse Förderung der jungen Menschen eintreten.
2) Angewandt auf die erzieherische Praxis kann der Terminus präventive „Sensibilität“ in Bezie-
hung gesetzt werden zu den Inhalten des christlichen Menschenbildes Don Boscos (die Trias: Lie-
benswürdigkeit, Vernunft, Religion), zu der erzieherischen Beziehung (Familiengeist, Freude, Sponta-
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neität) und zu Elementen wie Fest, Musik, Theater, Spiel, Studium, Arbeit…. Präventive Sensibilität
hat auch viel zu tun mit einer besonderen Sensibilität des Erziehers, um negative Elemente zu neutrali-
sieren und positive zu entwickeln, damit die wirkliche Reifung der Jugendlichen gefördert wird.
2. DIE ERZIEHUNGSZIELE
2.1. Die Grundoption Don Boscos
Don Bosco entscheidet sich 1844, wie er seiner priesterlichen Aufgabe eine konkrete Gestalt ge-
ben wird. In wenigen Monaten wird ihm deutlich, dass diese in der Erziehung der Jugendlichen liegen
wird. Dazu hat er zwei Grundmotive: zunächst eine religiös-christliches: das Heil der Menschen; zwei-
tens: die in seiner Sicht dramatische Situation der Jugendlichen in der Stadt Turin.
1. Die Lage ist bekannt: es ist eine Zeit von Spannungen und Konflikten auf politischer und so-
zialer Ebene, wobei vor allem das Bürgertum, aber auch das einfache Volk betoffen sind. Wie viele
Politiker, Philosophen, Erzieher und Priester beteiligt sich auch Don Bosco daran, diese Probleme zu
lösen. Es ist seine Absicht, für Kirche und Gesellschaft zu arbeiten und gegen die zerstörenden Kräfte
anzukämpfen. Als Weg dazu wählt er die Erziehung der armen und bedürftigen Jugendlichen und der
Volksklassen. Seine Initiative orientiert sich vor allem an den konkreten Jugendlichen und Erwachse-
nen, denen er begegnet. Er zeigt durchwegs wenig Interesse für die strukturelle Dimension der Prob-
leme. Er beabsichtigt nicht „direkt”, die etablierte Gesellschaft und die herrschende Gesellschaftsord-
nung zu ändern. Seine Option ist es, mit heimatlosen Jugendlichen das Leben zu teilen und auf diese
Weise seinen Beitrag für eine bessere Zukunft seines Landes zu leisten, wo die Probleme der Armut,
des Analphabetismus, der Ausbeutung und der Vernachlässigung der Jugendlichen in der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts sehr bedeutend waren. Wenn man bei Don Bosco unbedingt die Absicht sucht,
die etablierte Sozialordnung zu ändern, findet man vor allem sein Anliegen, den „armen und verlasse-
nen Jugendlichen” zu helfen. In der Gesellschaft, die auf politischer, sozialer und kultureller Ebene
einen wichtigen Übergang durchmacht, sollen sie eine menschenwürdige Existenz aufbauen können,
dank einer humanen und christlichen Bildung. Das ist seine „Politik” für eine neue Zukunft. Sein Bei-
trag setzt nicht bei einer gut ausformulierten Theorie an. Er konkretisiert sein Handeln in einer Praxis,
die, mit der Zeit und entsprechend den konkreten Nöten, immer mehr entwickelt, strukturiert und auch
formuliert wird. Er sucht sich für seine Arbeit Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Wohltäter und Wohl-
täterinnen, Freunde, die in sehr beweglichen Formen seine Arbeit unterstützen können.
2. Wie jede sozial relevante Praxis hat auch die Erziehung Ziele, die man zu verwirklichen
sucht. Die Orientierung seiner Ziele findet Don Bosco in seiner Überzeugung als Christ und in den
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Werten des Evangeliums. Was ein gelungenes Leben ist, formuliert er mit einer Formel des Katechis-
mus seiner Zeit: „Gott zu kennen, ihn zu lieben, ihm zu dienen in diesem Leben und sich seiner ewig
im himmlischen Vaterland zu erfreuen”. Don Bosco verweigert ein pessimistisches Menschenbild im
Geiste derer, die beim Menschen überwiegend eine Neigung zum Bösen sehen und eine entsprechend
strenge Erziehungsmethode entwickeln, um die negative Tendenzen einzudämmen. Andererseits ver-
meidet er auch eine naiv optimistische Auffassung des Menschen, die behauptet, der Mensch werde
nur durch die Gesellschaft verdorben. Sein realistischer (gemäßigter) Optimismus lehrt ihn, dass der
Mensch weder „Engel noch Teufel” ist (Pascal); das wird ihm auch in seiner täglichen Erfahrung mit
(Rand-)Jugendlichen bestätigt. Er schenkt den Jugendlichen das realistische Vertrauen, in der Über-
zeugung, dass sie immer Hilfe brauchen auf ihrem Weg zur Reife.
3. Der Jugendliche soll unterrichtet werden über die ewigen Wahrheiten (die Glaubenswahrhei-
ten), er soll erzogen werden auf der Ebene des Glaubens und der Moral, damit er seine „Seele” rettet
und einen Zugang hat zur Heiligkeit (Ideal); der Jugendliche soll eine allgemein menschliche Erzie-
hung und eine berufliche Ausbildung erhalten, damit er als vollwertiger Bürger in die Gesellschaft
eintreten und sie aufrecht erhalten kann. Beides fasst Don Bosco zusammen in der Formel: „guter
Christ und rechtschaffener Bürger”.
2.2. Das Ideal: Erziehung zum „guten Christen” und „rechtschaffenen Bürger”
Die Formel „guter Christ und rechtschaffener Bürger” findet sich bei Don Bosco noch nicht
am Anfang seiner erzieherischen Tätigkeit; der eigentliche Inhalt seines Handelns aber liegt schon
ganz auf dieser Linie. Diese Formel ist typisch für die katholische Aufklärung. Sie
hat übrigens viele Varianten: „gute Bürger und wahre Christen”, „gute Christen und
verständige Bürger”, „gute Christen und rechtschaffene Menschen”. Zum Zeitpunkt seiner missionari-
schen Absichten (von 1875 an) wird sie in eine andere, aber vom gleichen Geist getragen Formel ü-
bersetzt: „Evangelisierung und Zivilisierung” oder auch: „das Wohl der Menschheit und der Religi-
on”.
Wenn Don Bosco die pädagogischen Zielen und Hilfsmittel in praktische „Programme”
umsetzt, ordnet er die verschiedenen Elemente mit anderen Ausdrücken: „Freude, Studium
und Frömmigkeit” (Worte an Francesco Besucco, 1864); „Gesundheit, Weisheit und
Heiligkeit” (Brief an Gräfin Gabriella Corsi, 1871); „Arbeit, Religion und Tugend” (an die
salesianischen Mitarbeiter, 1878).
Es geht um eine ganzheitliche Bildung und Erziehung des Menschen in allen seinen Aspekten: Leib-
lichkeit, Affektivität, Intelligenz, Moral, Glaube...
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2.3. Der „gute Christ”
Für Don Bosco liegt das Ziel jeder Erziehung letztendlich in der Begegnung mit Gott. Nach
seiner Auffassung ist das eigentliche Ziel des menschlichen Lebens „die Rettung der Seele”. In dieser
Perspektive geht es in der Erziehung um „die größere Ehre Gottes und das Heil der Seelen”. Das „gib
mir Seelen, alles andere behalte” (Da mihi animas, coetera tolle) ist die tragende Achse dieses Erzie-
hungskonzeptes. Diese Perspektive verliert Don Bosco nicht aus dem Auge, wie sehr er auch von all-
täglichen Sorgen und Beschäftigungen in Anspruch genommen wird. Viele Texte liefern den Beweis
für dieses Anliegen. Man kann sich auf einige beschränken: „Ich lege euch eine kurze und leichte, aber
ausreichende Methode für eure Lebensführung vor, damit ihr der Trost euer Angehörigen, die Ehre des
Vaterlandes und gute Bürger auf Erden werden könnt, um dann einst glückliche Bewohner des Him-
mels zu sein” (Giovane provveduto, 1847, S. 7); „Das Modell, das jeder Christ nachahmen muss, ist
Jesus Christus. Keiner kann sich rühmen, zu Jesus Christus zu gehören, wenn er sich nicht bemüht, ihn
nachzuahmen… Der Christ muss so beten, wie Jesus Christus gebetet hat… der Christ muss zugäng-
lich für die Armen, die Unwissenden und die Kinder, wie es Jesus Christus war. Er darf nicht hochmü-
tig sein, nicht eingebildet und arrogant. Er soll allen alles werden, um alle zu Christus zu führen. Der
Christ muss mit seinem Nächsten so umgehen, wie Jesus Christus mit seinen Jüngern umgegangen
ist… Der Christ muss demütig sein, wie es Jesus Christus war… Der Christ muss gehorsam sein, wie
Jesus Christus gehorsam war” (Chiave del paradiso, 1856, S. 20-30). Dieser Text ist ursprünglich
nicht von Don Bosco, aber er wurde von ihm überarbeitet und modifiziert.
Die Grundzüge, die das Wesen des Christen nach Don Bosco charakterisieren sind:
1) Der reife christliche Mensch macht sein Seelenheil zur obersten Lebensaufgabe und ordnet
diesem alles andere unter. Er bemüht sich um sein Heil. Auf höchstem Niveau bedeutet das
„Heiligkeit“.
2) Der reife Mensch erkennt und liebt Gott; die Gottesfurcht, Furcht eines Sohnes und nicht
eines Sklaven, ist die Wurzel seiner Haltungen und seines Handelns. Es ist eine Furcht, die un-
trennbar von kindlicher Liebe ist, die zugleich die Gegenwart eines richtenden Gottes wie die
Nähe des barmherzigen Vaters erfasst.
3) Die tätige Treue zur katholischen Kirche und zu ihrem Oberhaupt, dem Papst. Der reife
Mensch ist der gläubige Mensch, der unterrichtet ist in der katholischen Lehre, mutig im Be-
kenntnis seines Glaubens, fern von Kompromissen mit der Irrlehre und dem politischen Radi-
kalismus.
4) Der Christ ist Mensch für die Ewigkeit, tätig in der Zeit; er hat die Fähigkeit, sich geordnet
und tätig in die Gesellschaft einzubringen, durch seine Arbeit (als Handwerker, Arbeiter, An-
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gestellter, Lehrer, Soldat, Priester) und bei den Wohlhabenden durch den guten Gebrauch des
Reichtums. Es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen den ewigen Zielen und der irdi-
schen Aufgabe.
5) In seinen letzten Lebensjahren gibt Don Bosco oft Hinweise auf den Beitrag der Laien zur
Sendung der Kirche, besonders für die Erziehung der Jugend und für den sozialen Gebrauch
des Geldes (Reichtum). Man findet aber bei ihm noch kein entwickeltes Konzept des sozial
und politisch engagierten Menschen. Seine „politische Option” war entschieden „erziehe-
risch”. Für ihn ist der aktive, in der bürgerlichen und politischen Gesellschaft lebende Mensch
der kompetente und rechtschaffene Christ, welcher zur Ordnung und zum Fortschritt der Ge-
sellschaft seinen Beitrag leistet, indem er für seine Familie sorgt, an Werken der Wohltätigkeit
und der Solidarität teilnimmt und in seiner Glaubenspraxis wie in der Ausübung von guten
Werken beispielhaft ist.
6) Jeder ist aufgefordert, nach seiner Berufung zu leben und somit einen ganz genau bestimm-
ten Platz einzunehmen, der dem Willen Gottes, den Erfordernissen des Nächsten und seinen
eigenen jeweiligen Möglichkeiten und Neigungen entspricht.
7) Der reife Mensch ist der ehrenwerte Mensch, der in der Ausübung der Tugenden der christ-
lichen Liebe, der Mäßigkeit, des Gehorsams und der Bescheidenheit Grund für Freude auf Er-
den und für sichere Hoffnung auf eine glückliche Ewigkeit findet.
2.4. Der „rechtschaffene Bürger“
Der gute Christ ist kein weltfremdes Wesen, er soll seinen Beitrag zu einer besseren Gesell-
schaft leisten. Man soll nicht vergessen, dass Don Bosco seine Arbeit in den Gefängnissen angefangen
hat und dort das Elend der Jugendlichen und die möglichen Folgen für die Gesellschaft gespürt hat.
Seine pastorale Sendung hat er nie auf das Seelenheil im engeren Sinne beschränkt. Das Ziel, „ehren-
hafte“ oder „rechtschaffene“ Bürger zu bilden, die in den unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft
ihren Beruf ausüben, ist ihm sein ganzes Leben lang ein Anliegen geblieben. Die Lebensgeschichte
Don Boscos zeigt die verschiedensten Ebenen, auf denen er die Jugendlichen gebildet hat, um sie
sinnvoll und pflichtbewusst in die Gesellschaft einzugliedern. Lehrreich dafür sind vor allem auch
seine Briefe an Jugendliche und Ehemalige.
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3. DIE ERZIEHUNGSMETHODE
Am besten lassen sich die grundlegenden Dimensionen der Erziehungsmethode Don Boscos
zusammenfassen in der bekannten Trias: „Dieses System stützt sich ganz auf die Vernunft, die Religi-
on und die Liebenswürdigkeit”. Sie ist das Ergebnis seiner jahrzehntenlangen Erziehungserfahrung mit
Jugendlichen. Von Don Bosco als Mann der Praxis soll man keinen genau formulierten oder wissen-
schaftlichen Denkrahmen erwarten. Er wollte übrigens selber seine Methode noch einmal besser for-
mulieren.
Das alles bedeutet auch, dass die Interpretation dieser Trias nicht immer eindeutig ist. So gibt
es Interpretationen, die „Liebenswürdigkeit, Vernunft und Religion” als Zielorientierungen betrachten,
während andere sie der Methode zuordnen. Die „Liebenswürdigkeit” ist für einige das wichtigste Prin-
zip der Methode (des Weges), für andere dagegen ist sie die Grundlage (die „conditio sine qua non”),
die absolute Voraussetzung einer tatkräftigen Erziehung. Religion und Vernunft sind dann Instrumen-
te, die man in der Erziehung anwendet. Mit der Vernunft soll man die pädagogische Situation analy-
sieren, auswerten und sie auf ihre Erziehungsmöglichkeiten prüfen. Auf diese Grundlage soll man
realistische Erziehungsziele bedenken. Religion bietet besondere, eventuell neue Möglichkeiten, die
die Bildungsschritte beschleunigen, während sie gleichzeitig auch die Grundlage der Erziehung konso-
lidiert.
Das sind nur einige Beispiele von verschiedenen Interpretationen der Trias.
Mehrere Interpretationen sind also möglich; es gibt auch tatsächlich mehrere Interpretationen. Wichtig
ist es, zu sehen, dass die Elemente der Trias in einer Einheit, in einem System miteinander verbunden
sind.
3.1. Die Vernunft
Don Bosco ist überzeugt, dass alle Jugendlichen erziehbar sind, weil sie wenigstens die Keime
dazu in sich tragen. Weil der Jugendliche zur Selbsttranszendenz fähig ist, besteht das Kernproblem
darin, den Punkt zu finden, an dem man für einen konstruktiven Dialog zwischen Jugendlichem und
Erzieher anknüpfen kann. Don Bosco zeigt hier ein großes Vertrauen: die meisten Jugendlichen kom-
men dazu, indem sie durch Reflexion ihre Schwächen sehen lernen und sie auch korrigieren. Don
Bosco ist diesbezüglich ein Mann eines gemäßigten Optimismus. In jedem Jugendlichen, so sagt er,
gibt es einen Anknüpfungspunkt für das Gute. Die erste Aufgabe der Erzieher liegt darin, diesen Punkt
herauszufinden. Das ist eine Sache der Vernunft und der Religion .
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3.1.1. Erziehen „mit” Vernunft (Redlichkeit), Vernunft als Erziehungsmittel
Es geht bei Don Bosco nicht um die Vernunft im Sinne der Aufklärung, sondern um die Redlich-
keit, als Grundlage für Überzeugungskraft und Überzeugung. Im erzieherischen Handeln geht es an
erster Stelle nicht darum, sich von der Vernunft führen zu lassen (das natürlich auch); es geht primär
darum, an die Redlichkeit, die dem Menschen als Anlage gegeben ist, zu appellieren. Es geht – nach
Endres – um „die Fähigkeit, eine vernünftige Zustimmung der Jugendlichen zu wecken”. Diese Fähig-
keit macht einen Bund zwischen Erzieher und Jugendlichem möglich. Bei Don Bosco geht es vor al-
lem darum.
Die Grundlage ist für Don Bosco die Tatsache, dass der Mensch nach dem Bild Gottes erschaffen
ist. Er verlangt nach Glück, das nur durch eine sinnvolle Freiheit zu erreichen ist. Freiheit ist an Ver-
nunft gebunden. Die Vernunft ermöglicht eine wahrhaft freie Wahl. Deswegen muss der Mensch sich
dieser Möglichkeit bewusst werden, vor allem durch das Zeugnis von Mitmenschen, die ihm die Mög-
lichkeit geben, diese Erfahrung zu machen. Die Kunst der Erziehung besteht darin, das Bewusstsein
einer effektiven persönlichen Freiheit und Verantwortlichkeit zu wecken und dem Jugendlichen eine
wertvolle Motivation für diese Aufgabe zu vermitteln.
Wie viel Raum hat Don Bosco den Jugendlichen auf dem Gebiet der Erfahrung ihrer Freiheit ge-
boten? Am Anfang gab er ihnen viel Freiheit. Später wurde die Freiheit sicher mehr reduziert. Das hat
seine Gründe. Wenn die erste Institution Valdocco den Übergang macht von einem Haus mit einigen
Dutzenden von Jugendlichen, die direkt Don Bosco anvertraut waren, zu einer komplexen Konzentra-
tion von Jugendlichen, einmal die größte Italiens, mit rund 800 Jugendlichen und mit einer großen
Zahl von Erziehern ist es verständlich, dass Disziplin eine wichtige Rolle spielen wird. Mit dem Aus-
bau des Werkes von einer einfachen Struktur (Sonntags- und Abendschule) in die Richtung einer
Grundschule, eines Gymnasiums und einer handwerklichen Schule, mit der Entwicklung des Oratori-
ums in die Richtung eines großen Komplexes: Internat, Schulen, Werkstätten, Oratorium, Kirche usw.
ist mehr Ordnung und Struktur notwendig.
Bei einer solchen Entwicklung braucht man Satzungen, Stundenpläne, Termine, Kontrolle usw.
Dieser Übergang wurde graduell gemacht. Es gibt aber einen großen Unterschied zwischen einem
Werk mit spontanen und beweglichen Formen und Strukturen und der sogenannten „Kolleg-
Erziehung“ in einer komplexen Einrichtung. Dort wird die Autonomie notwendigerweise in einem
Modell eingegrenzt, wo Gehorsam ein wichtiger Faktor ist. Es wird in diesem Fall vor allem die „red-
liche Verpflichtung“ betont, die sich bei Don Bosco im Dialog ausdrückt. Der Erzieher versucht, vor
allem Argumente und überzeugende Motivierungen anzuwenden. Redlichkeit ist für Don Bosco: ge-
sunder Menschenverstand, wirklicher Respekt für die Jugendlichen. All das formuliert er u.a. in seinen
bekannten Ratschlägen an die Direktoren (Ricordi confidenziali, 1863):
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„Im Befehlen
Trachte, nie Dinge vorzuschreiben, welche über die Kraft deiner Untergebenen hinausgehen.
Bemühe dich sehr, den Neigungen der einzelnen entgegenzukommen, indem du ihnen vornehm-
lich Dinge anvertraust, von denen du weißt, dass sie genehm sind.
Verordne nie Dinge, die der Gesundheit schädlich sind oder die der notwendigen Ruhe hinder-
lich sind. Befehle auch nie Dinge, die mit anderen Pflichten oder mit Anordnungen von ande-
ren Obern zusammenstoßen.
Im Befehlen zeige dich immer freundlich, liebevoll und gebrauche einen herzlichen Stil. Droh-
worte, Zorn und rohe Gewalt seien immer ferne von deinen Worten und Handlungen“.
Im Rahmen der Vernunft und der Redlichkeit muss man auch das Anpassungsvermögen der
Erzieher an die verschiedenen Situationen bedenken, in denen sie ihre Arbeit leisten, ebenso ihr Be-
mühen, den verschiedenen Jugendlichen die entsprechende Aufmerksamkeit zu widmen, je nach ihrem
Charakter, ihren Möglichkeiten und Grenzen, ihren Qualitäten und Schwächen. Redlich handeln be-
deutet auch: die Fähigkeit wahrzunehmen, nachzudenken, zu verstehen, zu deuten und zu beweisen,
Neues zu prüfen und es eventuell aufzunehmen in Treue an die Grundentscheidungen.
Nach dieser Logik wird ab den 1860er Jahren in den Erziehungskonferenzen gearbeitet, um die
wachsenden Probleme mit Autorität und Organisation zu bewältigen. Alles wird Don Bosco vorgelegt
und von ihm geprüft nach den Regeln, die bereits ausgearbeitet waren. Auch die veröffentlichten Dia-
loge zwischen Don Bosco und einigen seiner bekanntesten Jugendlichen (Savio, Besucco, Magone…)
zeigen, wie sehr er die Persönlichkeit der Jugendlichen respektiert, wie er sich an ihre persönliche
Situation anpasst und sie mit Redlichkeit und kritischem Sinn begleitet und wie er mit ihren Bedürf-
nissen und Erfahrungen rechnet. Er ist der Erzieher einer differenzierten Methode. Man soll den eige-
nen Lebensentwurf der Jugendlichen respektieren, ihn unterstützen und positiv ausrichten. Das tut
Don Bosco z.B. auch persönlich als geistlicher Begleiter und in vielen Ansprachen an die Jugendli-
chen bezüglich der Wichtigkeit ihres Alters. Den Erziehern gegenüber tut er dies, um sie in ihrer Auf-
gabe weiterzubilden und ihnen Orientierung zu geben.
3.1.2. Erziehung „zur” Vernunft (Redlichkeit)
Im Präventivsystem ist die Vernunft ein Erziehungsmittel. Redlichkeit im Sprechen und in der
Überzeugungsmethode haben einen wichtigeren Einfluss als die autoritäre Methode. Es ist auch Ziel
der Erziehung, dass der Jugendliche sich diese Vorgehensweise persönlich aneignet, sie verinnerlicht,
um sie in anderen Situationen anzuwenden. Im Traktat über das Präventivsystem empfiehlt Don Bosco
den Erziehern, dass sie eine Zurechtweisung oder eine Strafe immer verbinden mit einer vorbeugenden
Weisung, die die Strafe begründet. Auf diese Weise gelingt es, das Herz des Jugendlichen so zu ge-
winnen, dass er die Notwendigkeit der Strafe einsieht
Auch die ständige Anwesenheit des Erziehers inmitten der Jugendlichen erzieht ihre Vernunft.
Sie schafft in ihnen einen „Habitus”, eine Haltung, redlich zu sein und zu handeln, sich zu beherrschen
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im Hinblick auf die Normen, die Werte sichern müssen und die vom Erzieher ins Gedächtnis gerufen
werden, damit sie sich vernünftig verhalten.
Erziehung zur Vernunft und zur Persönlichkeit bedeutet auch Bildung des Geistes durch Studi-
um, Schulung, Unterricht mit Respekt für menschliche und christliche Werte. Don Bosco wünschte
sich, dass sich Jugendliche ein kulturelles Wissen aneignen für ihre künftigen Aufgaben, und dass dies
geschieht durch Lernprozesse, die mit ihrem niedrigen sozialen Status rechnen. Seine Jugendlichen
gehörten nicht der Aristokratie an, für die es genügend Institute mit hohem Kulturprofil gab. Auch
seine Mühe, eine angepasste Didaktik für seine Adressaten zu entwickeln, soll in diese Richtung inter-
pretiert werden.
3.1.3. Eine Vernunft mit Grenzen
Um die Gefahr einer überschätzten Vernunft zu vermeiden und die inneren Grenzen des Den-
kens der Jugendlichen nicht aus den Augen zu verlieren, betont Don Bosco die Rolle der zwei anderen
Pfeiler der Trias: Liebenswürdigkeit und Religion. In der Überzeugung Don Boscos gewinnt man das
Herz der Jugendlichen durch Zuneigung, die Grundvoraussetzung der Erziehung, und nicht nur durch
Argumente der Vernunft. Die wachsende intellektuelle Kapazität des Jugendlichen ist oft noch im
Griff von emotionalen Trieben. Was für ihn wichtig scheint, ist die Glaubenswürdigkeit der Person,
die Argumente und Prinzipien anbietet. Das ist vor allem eine Sache des Herzens. Ohne diese Dimen-
sion hört man kaum auf den objektiven Wert der Argumente des Erziehers. Die Vernunft (und die
Religion) bleiben wichtig, um eine korrekte pädagogische Beziehung zu sichern. Vernunft hat auch
eine Kontroll-Funktion gegenüber der Affektivität und der Religion. Sie vermeidet Einseitigkeiten und
Übertreibungen auf diesen Ebenen.
Auch wenn sich die Vernunft mit Liebe und Glaube verbindet, kann sie durch die beschränkten
Möglichkeiten der Jugendlichen dennoch Hindernisse erfahren. Jugendliche dagegen können sich stör-
risch verhalten gegenüber Redlichkeit. Auch die Möglichkeiten der Erzieher sind beschränkt, trotz
aller Mühe einer Fortbildung.
3.2. Religion
In der Überzeugung Don Boscos ist die höchste Form von Vernunft und Redlichkeit die An-
nahme des Geheimnisses Gottes. Religion ist für ihn das höchste Ziel und auch das Einheit bildende
Element seines Erziehungssystems. Das „Heil der Seele” ist die inspirierende Motivation, die der er-
zieherischen Dynamik und Methodik ihr Herz schenkt. Das liegt ganz auf der Linie der Pastoral des
19. Jahrhunderts, die sich durchaus von diesen Heilsgedanken führen lässt.
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2.3 Page 13

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Religion ist gleichzeitig Religiosität und die christlich offenbarte Religion. Sie ist der Höhe-
punkt des Erziehungsprozesses. Sie ist auch Erziehungsweg, oft sogar Erziehungsmittel. Man könnte
den Eindruck haben, Religion habe eine funktionale Bedeutung, sie stehe also im Dienst der Erziehung
und der Begleitung. Für Don Bosco ist eine Erziehung ohne religiöses Fundament wertlos. In der Ü-
berzeugung Don Boscos gibt es auch kein nachhaltiges menschliches Glück und keine ernsthafte Mo-
ral ohne Religion. Erziehung gelingt nur, wenn eine Offenheit des Geschöpfs zum Schöpfer gegeben
ist. Erziehung hat in der Mentalität Don Boscos noch keine Autonomie.
Für Don Bosco ist diese Position selbstverständlich. Der Erzieher soll den Jugendlichen mit
seinen religiösen Herausforderungen ernst nehmen. Er plant für ihn – und durch seine ständige Anwe-
senheit auch mit ihm – ein Lebensprogramm, das hinzielt auf eine Kultur, in der die Begegnung mit
Gott ernst genommen wird. Der Erzieher ist auch selbst in diese Kultur eingebunden.
Das Thema des Seelenheils ist ein Hauptthema in der Erziehungsmethode Don Boscos. Dieses
Anliegen lenkt ihn hin auf Themen wie die „Flucht” vor der Sünde, oder die Befreiung von der Sünde,
konkret von „schlechten“ Freunden, „schlechten“ Gesprächen, Diebstahl…
Die höchste Stufe des Heils ist die Heiligkeit. Diese ist möglich für alle Menschen, auch für
die Jugendlichen. Die besten von seinen Jugendlichen verwirklichten dieses Ideal. Don Bosco zeigte
auch den Weg zu diesem Ideal; die folgende Elemente sind wesentliche Bestandteile dieses Weges.
3.2.1. Die „Furcht des Herrn“ (die Gottesfurcht)
„Initium sapientiae timor Domini”: Der Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht. Das
wird aufgenommen in die Hausordnung. Das Thema taucht oft auf in seinen Briefen: Gott
erkennen, lieben und fürchten. Dieses Thema könnte bei den Jugendlichen vielleicht lähmen-
de Angst für Gott fördern. Die Gottesfurcht („timor Dei“)ist aber die Furcht eines Sohnes und
nicht eines Sklaven. Es ist eine Furcht, die untrennbar ist von kindlicher Liebe, die in der
gleichen Weise die Gegenwart eines richtenden Gottes („Gott sieht mich”) wie die Nähe eines
barmherzigen Vaters erfasst. Das biblische Wort wird zugleich zum Grund für die Flucht vor
der Sünde und für die Sehnsucht nach der Gnade, zum Wunsch nach wirksamer Reinigung
und zur Suche nach Wiederversöhnung.
In engem Zusammenhang mit der Gottesfurcht steht die Thematik der „letzten Dinge“: Tod,
Gericht, Himmel und Hölle. Don Bosco übernimmt sehr viel aus der traditionellen Verkündigung. Auf
dem Hintergrund seiner Überzeugung („das einzig Notwendige ist die Rettung der Seele“) ist es fast
evident, dass das Thema der „letzten Dinge” die ganze Pädagogik färbt und bestimmt. Bereits die erste
Auflage seines Buches für Jugendspiritualität (Giovane provveduto) fängt an mit einer Meditation über
die Zielbestimmung des Menschen, über die Sünde, den Tod, das Urteil, die Hölle und das Paradies.
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2.4 Page 14

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Die Idee der letzten Dinge zieht sich durch seine gesamte Tätigkeit: seine Schriften über Frömmigkeit
und die vielen Erinnerungen und Anweisungen, die Kärtchen und persönlichen Leitgedanken, die er
jedem am Anfang des Jahres gab, die auf den Mauern der Säulengänge des Oratoriums angebrachten
Inschriften, seine Abendansprachen an die Jugendlichen und seine Briefe. Manchmal hat der Gedanke
an den Himmel den Vorrang (Biographien). Noch häufiger wird mit Nachdruck die Erinnerung an den
Tod wachgerufen, was auch monatlich mit der Praxis der „Übung vom guten Tod” und jährlich bei
den geistlichen Exerzitien geschieht.
3.2.2. Sakramente, Beichte, religiöse Übungen
Die Sakramente (Beichte, Eucharistie) werden vor allem aus ihrem gläubigen Sinn interpre-
tiert: als Zeichen, die die Gnade vermitteln, und als Mittel der persönlichen Heiligung. Bei Don Bosco
haben sie auch eine pädagogische Bedeutung. Sie sollen eine gediegene und solide Erziehung sichern.
Ob man sagen kann, dass Don Bosco die Sakramente funktionalisiert oder instrumentalisiert, ist eine
andere Frage. Sind sie einfach „Erziehungsmittel“ - also stehen sie einfach im Dienst der Erziehung -
oder sichern einfach die Grundlage für die Gnade, ohne welche es nach der Überzeugung Don Boscos
keinen Wert gibt, auch nicht einen humanen Wert: das ist eine nicht einfach lösbare Frage. Erinnern
wir uns nur an einen Text Don Boscos:
„Die häufige Beichte und Kommunion und die tägliche Messe, die das Gebäude der
Erziehung tragen müssen, von der man Drohung und Stock fernhalten will. Man soll die Jun-
gen nicht zum Empfang der Sakramente nötigen, sondern sie dazu ermuntern und bequeme Ge-
legenheit zum Empfang bieten. Bei den Exerzitien, Triduen, Novenen, Predigten und Unterwei-
sungen stelle man die Schönheit, die Größe und Heiligkeit der Religion heraus, die der bürger-
lichen Gesellschaft so leichte und nützliche Mittel für den Frieden des Herzens und das Heil
der Seele bietet, wie es gerade die Sakramente sind. So bekommen die Jugendlichen von selbst
Lust an diesen religiösen Übungen und nehmen gern mit Freude und Nutzen daran teil” (Prä-
ventivsystem 1877).
Natürlich kann man bedeutende Unterschiede feststellen, je nachdem ob es sich um interne
oder um externe Jugendlichen handelt. Don Bosco differenziert, ob er es mit möglichen Priesterkandi-
daten, mit Lehrlingen oder Berufschülern zu tun hat.
3.3. Liebenswürdigkeit („amorevolezza”).
Schon öfter wurde darauf hingewiesen, dass das höchste Prinzip, das Charakteristikum des Er-
ziehungskonzeptes und des Handelns Don Boscos, die Liebenswürdigkeit ist, was in der italienischen
Sprache mit dem Terminus „amorevolezza” bezeichnet wird. Diesen Terminus, der alles zusammen-
fasst, was Don Bosco bezüglich der erzieherischen Beziehung erfahren und gesagt hat, findet man
14

2.5 Page 15

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nicht sehr oft in seinen Ansprachen und Schriften. Er benutzt öfter Synonyme: Caritas, Liebe, Sanft-
mut, Geduld, Güte… Heute ist das Wort „amorevolezza” fast außer Gebrauch geraten. Das hat seine
Vorteile. Der Terminus wird nicht beladen mit fremden Inhalten und Neudeutungen.
Wenn man heute von einer Pädagogik oder von einer Kultur der Liebe spricht, erscheinen die-
se Ausdrücke oft banal. So war es für die Jugendlichen Don Boscos nicht. Sie hörten ähnliche Worte
nur selten. Sie lebten in einer Situation und in einer Zeit des absoluten Gehorsams gegenüber den El-
tern, Lehrern, Meistern oder anderen Autoritäten. Don Bosco hat auch das Konzept „Liebenswürdig-
keit“ nicht theoretisch ausgearbeitet. Dennoch ist es nicht schwierig, seine Ansichten diesbezüglich
herauszufinden.
3.3.1. Die Dimensionen der Liebenswürdigkeit
1. Die Liebenswürdigkeit hat einen theologalen (gläubigen) Grund: „Die praktische Anwen-
dung stützt sich ganz auf die Worte des hl. Paulus: „...Die Liebe ist gütig und geduldig, sie erträgt
alles, sie erhofft aber auch alles und nimmt sogar eine Störung hin” (Präventivsystem, 1877). Sie ist:
göttliche Liebe, also keine Sentimentalität. Die Erzieher erkennen und spüren in jedem Jugendlichen
das Projekt Gottes und sie helfen ihm, dieses Projekt mit ihrer Hilfe zu verwirklichen. Die Liebe Got-
tes ist deswegen das Fundament dieser Pädagogik.
2. Sie ist eine authentisch menschliche Liebe, die richtige Sensibilität, Herzlichkeit, Liebens-
würdigkeit, wohlwollende aber auch herausfordernde Affektivität. Sie ist Liebe, die eine tiefere Ge-
meinschaft des Herzens, aber gleichzeitig auch eine konsequente Hingabe sucht: sie ist „affektive” und
„effektive” Liebe.
3. Sie ist auch eine pädagogische Liebe. Ihr erzieherisches Potential findet man in der Bezie-
hung zwischen Erzieher und Jugendlichen, vor allem wenn Zeichen der Wertschätzung vonseiten der
Erzieher die Jugendlichen dazu bringen, sich im Vertrauen zu öffnen, und durch dieses Vertrauen sich
selbst zu übersteigen, sich zu engagieren in die Richtung der Werte, die von den Erziehern konsequent
vorgelebt und mutig vorgeschlagen werden. Don Bosco glaubt an die Liebe als den Motor der Verin-
nerlichung der Werte und der Normen. Er ist davon überzeugt, dass die Verbesserung der Verhaltens-
weisen des Jugendlichen sehr an die Erfahrung „geliebt zu werden” gebunden ist.
3.3.2. Die pädagogische Mitte
Um die Mitte der Liebe – die Liebenswürdigkeit – flechten sich viele Variationen, die man in
den Texten Don Boscos immer wieder antrifft. Man kann sich beispielsweise auf einen einzigen Text
des Traktats über das Präventivsystem beschränken: „Wie gütige Väter sollen sie mit ihnen spre-
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2.6 Page 16

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chen… und sie liebevoll zurechtweisen”; „dieses System stützt sich ganz auf die Vernunft, die Religi-
on und die Liebenswürdigkeit…”; „die Strafe ist immer mit einer freundlichen, vorbeugenden Wei-
sung verbunden, die die Strafe begründet”. „Es soll gelingen, das Herz des Jugendlichen so zu gewin-
nen, dass er die Notwendigkeit der Strafe einsieht…”
3.3.3. Die pädagogische Erfahrbarkeit
Aus präventiver Sicht wird die Liebe vonseiten des Erziehers Vernunft und
Liebenswürdigkeit; vonseiten des Jugendlichen wird sie Vertrauen, Freundschaft, liebevolle
Zusammenarbeit. Im Zusammenhang mit der Thematik soll vor allem dem Inhalt seines bekannten
Rombriefes (10. Mai 1884) Aufmerksamkeit geschenkt werden. Eigentlich geht es um zwei Briefe
oder um die doppelte Fassung eines Briefes, die zwar nicht von ihm selbst verfasst wurden, sondern
von seinem Sekretär G.B. Lemoyne und aus Rom nach Turin an die Jugendlichen und an ihre
Erzieher, die Salesianer, geschickt wurden. Der direkte Anlass für beide Fassungen des Briefes wird
aus der Lektüre deutlich und wird durch die neuesten historischen Untersuchungen belegt. Das
Problem, das Don Bosco beschäftigt, betrifft das pädagogische Klima in seiner ersten
Erziehungseinrichtung. Im Brief an die Jugendliche lud er sie ein, ihren Beitrag zu leisten, um
zwischen Erziehern und Jugendlichen ein Klima größeren Vertrauens zu schaffen und auf diese Weise
Offenherzigkeit und Ehrlichkeit zu fördern. In der längeren Fassung werden Elemente hinzugefügt, die
den Erziehern und der Erziehungsgemeinschaft vorbehalten sind, nämlich wichtige Prinzipien seines
Erziehungssystems, das bereits in mehreren Institutionen funktionierte. Der Brief spricht mehrere
Themen an. Es soll einfach darauf hingewiesen werden, dass Don Bosco in seinem Versuch, die
Ursache der Spannungen und Schwierigkeiten zu finden, bestätigt, dass es den Erziehern nicht an
Engagement fehlt. Sie bemühen sich ständig um die Jugendlichen; trotz ihrer Anstrengungen erreichen
sie nicht den gewünschten Erfolg; denn „das Beste fehlt”. Don Bosco schildert die Stimmung der
Jugendlichen, besonders während der Freizeit. Langeweile, Enttäuschung und Misstrauen
kennzeichnen ihre Haltung. Dieses Verhalten steht deutlich im Gegensatz zu dem der früheren Jahre..
Damals waren Vertrauen, Fröhlichkeit, Spiele und Gespräche der Jugendlichen untereinander und mit
den Erziehern fast selbstverständlich. Der Mangel an Einsatz bei den Erziehern kann nach Don Bosco
nicht vorwiegend Ursache dieser Situation sein. Die Ursache liegt vielmehr darin, dass die
Jugendlichen die Liebe der Erzieher nicht mehr spüren: „Was fehlt denn noch? Dass die Jugendlichen
nicht nur geliebt werden, sondern dass sie auch selbst diese Liebe spüren.” Die Liebe soll man spüren
lassen durch Vertrauen, durch Assistenz, durch Hilfe, durch die Anwesenheit bei den Jugendlichen.
Nach Don Bosco soll die Liebe der Erzieher eine Liebe sein, die in Worten und Zeichen, in
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2.7 Page 17

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gemeinsamer Herzlichkeit erlebbar ist, eine Liebe, in der der junge Mensch spürt, dass es im Bemühen
seiner Erzieher nur um den Wert seiner Person geht.
Don Bosco hatte als Erzieher Sinn für menschliche Kontakte und einen einfachen Zugang zu
den Jugendlichen sowie die Fähigkeit, sich auf ihre Ebene zu stellen. Deswegen hat er immer auf die
Bedeutung der Beziehungen hingewiesen und die kalte Atmosphäre, die jedem Fortschritt schadet,
bekämpft. Im Lichte der heutigen Humanwissenschaften erhalten seine intuitiven Erkenntnisse eine
neue Bedeutung. Dass die pädagogische „Effektivität” nur sinnvoll wird im Rahmen der pädagogi-
schen Affektivität, der uneigennützigen und zum Ausdruck gebrachten Liebe gegenüber der Einmalig-
keit, die jede Person in sich trägt, und dass die Person nur unter dieser Bedingung ein Selbstwertgefühl
entfalten kann und zum Kontakt mit Mitmenschen fähig wird, ist der Punkt, wo die Intuition Don Bos-
cos und die Errungenschaft der Humanwissenschaften auf einander treffen.
Als Beispiel werden einige Abschnitte aus dem Brief ausführlich zitiert:
1. Abschnitt
„Ich verstehe, ich begreife“, erwiderte ich, „aber wie kann man diese meine jungen Freunde
wieder aufmuntern, dass sie ihre alte Lebhaftigkeit, Fröhlichkeit und Offenherzigkeit zurückgewinnen?“
„Durch die Liebe!“
„Durch die Liebe? Aber werden denn meine Jungen nicht genug geliebt? Du weiβt, wie sehr ich sie lie-
be. Du weiβt, wie viel ich im Laufe von mehr als 40 Jahren für sie auf mich nahm und durchstand und
was ich noch heute alles ertrage und aushalte, um ihnen Nahrung, Unterkunft und Ausbildung zu bieten
und besonders, um für ihr Seelenheil zu sorgen: So viele Entbehrungen, Demütigungen, Widerwärtig-
keiten und Verfolgungen! Was ich nur wusste und vermochte, habe ich für die getan, denen die Liebe
meines ganzen Lebens gehört“.
„Ich spreche nicht von Dir!“
„Von wem dann? Vielleicht von meinen Stellvertretern? Den Direktoren, Präfekten, Lehrern und Assis-
tenten? Siehst du denn nicht, wie sie Märtyrer des Studiums und der Arbeit sind? Wie sie ihre besten
Jahre für die Jugendlichen darangeben, die ihnen die göttliche Vorsehung anvertraut hat?“
„Ich sehe es, ich weiβ es, aber das ist noch nicht genug. Das Beste fehlt.“
„Was fehlt denn noch?“
„Dass die Jugendlichen nicht nur geliebt werden, sondern dass sie auch selbst diese Liebe spüren."
2. Abschnitt
„Aber haben sie denn keine Augen im Kopf? Haben sie keinen Verstand? Sehen sie denn nicht,
dass man alles allein aus Liebe für sie tut? Nein!
Ich wiederhole: Das genügt nicht!“
„Was will man denn noch?“
„Indem man auf ihre kindlichen Neigungen eingeht, zeigt man Liebe in den Dingen, die ihnen gefallen;
so lernen sie erkennen, dass man sie auch in den Dingen liebt, die ihnen naturgemäβ weniger ange-
nehm sind wie beispielsweise die Disziplin, das Studium und die Selbstüberwindung. Sie sollen lernen,
auch diese Dinge mit Freude und Liebe zu tun.“
3. Abschnitt
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2.8 Page 18

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„Ich meinte, im alten Oratorium zu sein, zur Stunde der Erholung. Es war ein Bild voller Le-
ben, voller Bewegung und Fröhlichkeit. Die einen liefen, andere sprangen, und wieder andere ermun-
terten zum Springen. Hier spielte man ‚Frosch’, dort Hindernislauf und Ball. An einer Stelle hatte sich
eine Gruppe von Jungen versammelt und lauschte gespannt einem Priester, der eine Geschichte erzähl-
te. An einer anderen Stelle spielte ein Kleriker mit den Jungen ‚Esel lauf!’ und ’Handwerkerei’. Aller-
orts herrschte Lachen und Singen, und überall sah man Kleriker und Priester, umgeben von fröhlich
scherzenden Jungen. Man spürte, dass zwischen den Jungen und den Oberen ganz groβe Herzlichkeit
und sehr groβes Vertrauen herrschte. Ich war begeistert von diesem Anblick.“
4. Abschnitt
„Und er zeigte sie mir. Ich sah das Oratorium und Euch alle, wie ihr gerade bei der Erholung
wart. Aber ich hörte keine Freudenrufe und Lieder mehr, sah nicht mehr das Leben und Treiben wie im
ersten Bild. Im Blick und Verhalten vieler Jungen nahm ich Langeweile, Müdigkeit, Enttäuschung und
Misstrauen wahr, was mir Kummer machte. Es ist wahr, ich sah viele, die umhertummelten, scherzten
und sich in glücklicher Sorglosigkeit vergnügten; ich sah aber auch nicht wenige allein, an die Säulen
gelehnt, herumstehen, in trübsinnige Gedanken versunken; andere trieben sich auf den Treppen, Gän-
gen und den Balkonen zur Gartenseite zu herum, um sich der gemeinsamen Erholung zu entziehen.
Wieder andere gingen langsam in Gruppen spazieren, unterhielten sich aber nur leise miteinander; da-
bei waren ihre Blicke argwöhnisch und böse. Bisweilen lachten sie zwar auf, aber mit ei-
nem Gesichtsausdruck, der nicht nur vermuten lieβ, sondern glaubhaft machte, dass der heilige Aloisius
in ihrer Gesellschaft vor Scham errötet wäre. Einige von den Spielenden waren sogar derart uninteres-
siert, dass man deutlich sehen konnte, wie sie keine Lust an der Unterhaltung fanden.“
„Hast du deine Jungen gesehen?“, fragte mich der ehemalige Schüler.
„Ja“, sagte ich seufzend.
„Wie ganz anders sind sie doch, als wir einst waren“, rief jener frühere Schüler aus.“
„Leider, welche Unlust bei dieser Erholung!“
„Und daher kommt bei vielen die innere Teilnahmslosigkeit beim Empfang der heiligen Sakramente,
die Gleichgültigkeit bei den religiösen Übungen innerhalb und auβerhalb der Kirche; daher kommt der
Widerwillen gegen den Aufenthalt an dem Ort, wo sie durch die göttliche Vorsehung so reichlich mit al-
lem versorgt sind, was sie für den Leib, die Seele und den Geist nötig haben. Hier liegt die Ursache da-
für, das viele ihrer Berufung nicht entsprechen, das ist der Grund ihrer Undankbarkeit gegenüber den
Obern, die Ursache für die Geheimnistuerei und das Murren sowie die anderen bedauerlichen Folgen.“
5. Abschnitt
„Durch Herzlichkeit und Familiarität den Jungen gegenüber, besonders in der Zeit der Erho-
lung. Ohne Herzlichkeit und Familiarität zeigt sich die Liebe nicht, und ohne diesen Beweis der Liebe
kann es kein Vertrauen geben. Wer geliebt sein will, muss zeigen, dass er liebt. Jesus Christus wurde
klein mit den Kleinen und nahm unsere Schwächen auf sich. Er ist der Meister der Familiarität! Der
Lehrer, der sich nur auf dem Katheder sehen lässt, ist Lehrer und nicht mehr; teilt er aber mit den Ju-
gendlichen die Erholung, so wird er ihr Bruder. Wenn man einen nur bei der Predigt auf der Kanzel zu
sehen bekommt, wird man sagen, er tut nicht mehr als seine Schuldigkeit; findet er aber auch während
der Erholungszeit das rechte Wort, dann ist es das Wort eines Liebenden. Welchen Sinneswandel haben
nicht schon ein paar Worte bewirkt, die man während der Unterhaltung - wie zufällig - einem Jungen
zuflüsterte! Wer sich geliebt weiβ, liebt wieder, und wer geliebt wird, erreicht alles, besonders bei der
Jugend. Dieses Vertrauen bildet gleichsam den elektrischen Strom zwischen den Jungen und den Obern.
Die Herzen öffnen sich, sie lassen ihre Nöte erkennen und gestehen auch ihre Fehler ein. Diese Liebe
lässt die Obern auch Mühe, Sorgen, Undankbarkeit, Unruhe, Fehler und Nachlässigkeiten der Jugend-
lichen ertragen. Jesus Christus hat das schon geknickte Rohr nicht zerbrochen und den glimmenden
Docht nicht ausgelöscht. Er sei euer Vorbild! Dann wird keiner mehr aus eitler Ruhmsucht arbeiten;
keiner wird strafen, nur um seine verletzte Eigenliebe zu rächen; keiner wird sich aus Eifersucht der
Aufsichtspflicht entziehen, weil er argwöhnt, dass ein anderer bevorzugt wird; keiner wird die anderen
in der Absicht kritisieren, die Gunst der Jugendlichen unter Ausschluss der übrigen Obern für sich al-
lein zu gewinnen - wobei man allerdings nichts anderes erreicht als Verachtung und geheuchelte Zu-
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2.9 Page 19

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neigung -; keiner wird sein Herz an einen Liebling hängen, um ihm den Hof zu machen, während er al-
le anderen vernachlässigt; keiner wird aus Bequemlichkeit seine wichtige Aufsichtspflicht versäumen
und keiner wird aus eitler menschlicher Rücksichtnahme unterlassen, den zu tadeln, der es nötig hat.
Wo diese wahre Liebe herrscht, sucht man nichts anderes als die Ehre Gottes und das Heil der Seelen.
Sobald aber diese Liebe schwindet, wird bald nichts mehr gut gehen. Warum will man an die Stelle der
Liebe die Gefühllosigkeit eines Reglements setzen? Warum weichen die Oberen von jenen Erzie-
hungsgrundsätzen ab, wie Don Bosco sie lehrte? Warum geht man nach und nach dazu über, das Sys-
tem, Fehlern durch Wachsamkeit und Liebe vorzubeugen, durch ein anderes, für den Erzieher leichteres
und bequemeres System zu ersetzen, indem man Gesetzesparagraphen aufstellt; erzwingt man nämlich
ihre Einhaltung durch Strafen, so rufen sie bei den uns Anvertrauten Hass und Widerwillen hervor;
lässt man aber ihre Übertretung ungestraft hingehen, so führen sie zur Geringschätzung der Obern und
zu gröbsten Unordnungen. Das tritt notwendig ein, wenn die Familiarität fehlt. Will man also, dass die
frühere Blütezeit des Oratoriums zurückkommt, so verschaffe man dem alten System wieder Geltung:
Der Obere sei allen alles! Er sei immer bereit, jeglichen Zweifel und jegliche Klage der Jugendlichen
anzuhören. Er sei ganz Auge, um wie ein Vater ihr Betragen zu überwachen; er sei ganz Herz, um das
leibliche Wohl deren zu fördern, die ihm die Vorsehung anvertraut hat.“ (Rombrief, 1884, passim)
4. DIE ERZIEHER
Die Erziehungsmethode Don Boscos ist sehr eng an die Persönlichkeit der Erziehenden ge-
bunden. Fast kann man sagen, dass diese Methode sich mit der Person des Erziehers identifiziert. Es
wird ihm ein sehr großes Vertrauen zuerkannt. In der Überzeugung Don Boscos ist Erzieher-Sein eine
Berufung.
Erziehung ist deswegen mehr als eine Arbeit, ein Job oder eine Stelle, sie ist eine Berufung
und eine Lebensweise. Vom Erzieher wird nicht nur Kompetenz erwartet sondern auch und vor allem
eine reife Persönlichkeit. Sein Dasein soll ein „Dasein-Für“ die Jugend und ein „Dasein-Mit“ der
Jugend sein.
4.1. „Bei“ dem Jugendlichen
Der Jugendliche nimmt den zentralen Platz ein. Neben ihm steht der Erzieher, der bereit ist,
sich loyal auf die Seite des Jugendlichen zu stellen. Auch aus dieser Sicht ist jede Erziehung „Eduka-
tion“ und „Koedukation“ nicht nur im Sinne der Gegenseitigkeit (Wechselbeziehung), sondern auch
im Sinne, dass „beide“ berufen sind am gemeinsamen Erziehungswerk teilzunehmen. Die Jugendli-
chen sind nicht nur einfache Adressaten der Erziehung, sie sind auch Partner, Weggefährten, Mitarbei-
ter der Erzieher, so wie Don Bosco es öfter formuliert hat (Epistolario II 1176) (Memorie biografiche
VI, 581).
Dass Don Bosco „mit“ seinen Jugendlichen und „für“ sie da war, soll nicht mehr betont wer-
den. Er blieb mit ihnen verbunden wenn er auf Reisen war und mit ganz anderen Dingen als mit der
direkten Erziehungsarbeit beschäftigt war.
19

2.10 Page 20

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Die erste Aufgabe des Erziehers liegt darin, dass er „da sein soll“, anwesend und „bei den Ju-
gendlichen“: „ad-sistere“ oder „Assistenz“. Die Abgrenzung zwischen Jugendlichen und Erzieher ist
nicht deutlich. Beide sitzen im selben Boot. Der Erzieher hält sich nicht neben dem Feld auf, wo ge-
spielt wird, und seine Rolle beschränkt sich auch nicht auf die eines unparteiischen Schiedsrichters.
Wenn der Jugendliche auf dem Weg zur Reife nicht vom Erzieher begleitet wird, ist er vielen Gefah-
ren ausgesetzt. Der Jugendliche hat zwar die Veranlagung, sein Leben zu verwirklichen. Sich selbst
überlassen läuft er aber Gefahr, nicht alle seine Möglichkeiten zu verwirklichen.
4.2. Die Qualität der Anwesenheit
Es gibt natürlich mehrere Möglichkeiten, bei den Jugendlichen anwesend zu sein. Im Geist der
präventiven Präsenz soll man da sein als „Person“, in der Fülle seines Wesens für die Jugendlichen
„dem so empfindsamen und wertvollen Teil der menschlichen Gesellschaft“ (Memorie biografiche II,
45). Der Erzieher ist immer persönlich in die pädagogische Beziehung mit einbezogen. Präventive
Erziehung ist nur möglich auf der Grundlage einer Begegnung zwischen Personen. In der Auffassung
Don Boscos bedeutet es, dass man bei den anderen ist und persönlich an ihrem Leben Anteil nimmt.
Jugendliche spüren sehr schnell, ob die Äußerungen ihrer Erzieher und Vorgesetzten ehrlich und au-
thentisch sind, ob sie mit der Identität des Erziehers in Zusammenhang stehen. Der Jugendliche
wünscht sich eine Person, die in erster Linie für ihn als Person aufmerksam ist, die mehr darauf be-
dacht ist, einen Beitrag zu liefern für seine Entwicklung als ständig die Prinzipien und Herausforde-
rungen der Erziehung allgemein zu verteidigen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Wirksamkeit dieses System vor allem mit der
Qualität der Anwesenheit des Erziehers zusammenhängt. Don Bosco hat öfters betont, dass es ihm
nicht möglich gewesen wäre, etwas für die Jugendliche zu unternehmen ohne ihre eigene Mithilfe.
4.3. Die Qualität de Kommunikation
Ein delikater Punkt liegt in der Frage, wie man mit Jugendlichen innerhalb des Erziehungs-
kontextes in Kommunikation treten kann, vor allem in Hinblick auf die Generationsspannungen und -
konflikte, die immer wieder auftauchen. Vielleicht kann die Erziehungsmethode Don Boscos diesbe-
züglich einiges lehren. Das Modell muss vielleicht in der Person Don Boscos selbst gesucht werden,
der als ein echter „Kommunikator“ fungierte. Er was fast überall in Kontakt mit Jugendlichen, redete
sie an auf dem Spielhof, in der Kirche, in persönlichen Kontakten und in Briefen. Den Erwachsenen
hielt er Vorträge in Italien, Frankreich und Spanien. Er begegnete Menschen aus alle Volksschichten.
20

3 Pages 21-30

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3.1 Page 21

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Für eine korrekte erzieherische Interaktion ist Kommunikation auf zwei Ebenen notwendig:
persönlich und im Kontext. Die Kommunikationswissenschaften beschreiben, was alles notwendig ist,
um kommunizieren zu können.
4.4. Erzieher: „Väter“, „Brüder“, „Freunde“
In der Überzeugung Don Boscos soll zwischen Erziehern und Jugendlichen eine persönliche
Beziehung angestrebt werden. Er denkt dabei vor allem an das Modell einer (idealen) Familie, wo es
Verständnis für einander und Austausch gibt, unter Beachtung der verschiedenen Rollen und Verant-
wortlichkeiten. Don Bosco wünscht sich aber, dass die Verantwortlichen, Direktoren, Heimleiter,
Schulleiter und alle Erzieher „Vater, Bruder und Freund“ der Jugendlichen seien: „Der Jugendliche
wird seinem Erzieher stets Ehrfurcht entgegenbringen, sich jederzeit mit Freude an die empfangene
Erziehung erinnern und seine Lehrer und die Obern auch weithin als Väter und Brüder betrachten“
(Traktat 3,1). Und im Rom-Brief warnt er: „Jetzt werden die Obern als Vorgesetzte betrachtet und
nicht mehr als Väter, Brüder und Freunde“.
Der Erzieher ist „Vater“ der Erziehungsgemeinschaft, Träger von Autorität und Identifikati-
onsmodell. Für Don Bosco ist das die erste Aufgabe des Direktors eines Instituts. Das soll zum Aus-
druck gebracht werden in formalen und informalen Kontakten. Im Präventivsystem gibt es keinen
Platz für „Laisser-faire“ oder für eine naive Theorie der Unschuld des Kindes. Andererseits gibt es
auch keinen Raum für Autoritarismus. Der Erzieher gibt seine Autoritätspflicht nicht auf. Don Bosco
ermutigt den Erzieher, sich auch in das Niveau der Jugendlichen zu versetzen, allerdings ohne seine
Verantwortlichkeit (als Vater) aufzugeben. Man bewirkt bei den Jugendlichen kein Verantwortungsge-
fühl, indem man einer Konfrontation mit ihnen aus dem Weg geht.
Der Erzieher soll nicht nur „Vater“ sein. Seine Anwesenheit soll auch die eines „Bruders“ und
eines „Freundes“ sein. Der Jugendliche braucht Nähe und Kommunikation. Erzieher sollen Ge-
sprächspartner sein. Don Bosco hat es deutlich im Rom-Brief formuliert: „Der Lehrer, der sich nur auf
dem Katheder sehen lässt, ist Lehrer und nichts mehr; teilt er aber mit den Jugendlichen die Erholung,
so wird er ihr Bruder. Wenn man einen nur bei der Predigt auf der Kanzel zu sehen bekommt, wird
man sagen, er tut nicht mehr als seine Schuldigkeit; findet er aber auch während der Erholungszeit das
rechte Wort, dann ist es das Tun eines Liebenden“.
4. 5. Assistenz
Im Traktat über das Präventivsystem schreibt Don Bosco: „[Das Präventivsystem] besteht dar-
in, die Vorschriften und die Ordnung eines Instituts bekannt zu geben und dann die Jugendlichen so zu
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3.2 Page 22

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überwachen, dass auf ihnen immer das achtsame Auge des Direktors oder der Assistenten ruht. Wie
gütige Väter sollen sie mit ihnen sprechen, immer als Wegweiser dienen, gute Ratschläge erteilen und
liebevoll zurechtweisen. Mit einem Wort: Man macht es ihnen von vornherein unmöglich, dass die
Jugendlichen Fahltritte begehen können“ (Präventivsystem 1877).
Die Anwesenheit des Erziehers bei den Jugendlichen hat eine zweifache präventive Funktion:
sie soll, so viel wie möglich, das Gute fördern und das Schädliche verhindern. Der Jugendliche soll
zum guten Verhalten befähigt werden, indem man an seine persönlichen Möglichkeiten appelliert und
ihm ein Klima mit einem Erziehungspotential zur Verfügung stellt. Andererseits soll man das Mögli-
che unternehmen, um ihn vor Gefahren zu schützen. Man soll Faktoren, die das normale Wachstum
seiner Kräfte hindern, aufspüren und neutralisieren. Diese Anwesenheit fasst Don Bosco zusammen
mit dem Wort: „Assistenz“.
Die Assistenz zeigt ihr wahres Gesicht innerhalb der erzieherischen Erfahrung. Assistenz um-
fasst die praktischen Aspekte des Präventivsystems, insoweit man das Präventive nicht einseitig als
„behüten“ und „schützen“ auffasst, sondern als eine positive Aktion von nachhaltiger Beeinflussung.
Sie ist nicht auf „Aufsicht“ oder „Kontrolle“ zurückzuführen. Das wäre, in der Meinung Don Boscos,
das Repressivsystem: „Das Repressivsystem besteht darin, dass man den Untergebenen das Gesetz
bekannt gibt und dann seine Befolgung überwacht, um die Übertreter festzustellen und sie, falls nötig,
gebührend zu bestrafen“. Assistenz ist auch nicht eine erstickende Wachsamkeit, die nur zum Forma-
lismus, zur Heuchelei und zur Zweideutigkeit führt. Sie ist aber keinesfalls eine belanglose Anwesen-
heit eines reinen Beobachters.
Wer nach dem Präventivsystem erzieht, hat auch nicht als Ziel, den Jugendlichen zu prüfen
um zu sehen, dass er standhält. Er optiert für eine brüderliche Anwesenheit, für eine wachsame und
liebenswürdige Unterstützung, die die Persönlichkeit aufbaut. Don Bosco glaubt an die Erbsünde und
die mögliche Boshaftigkeit der Jugendlichen. Aus seiner Erfahrung heraus weiß er auch um die
Schwierigkeiten, die in einem geschlossenen Internatsmilieu wachsen konnten. Deswegen verlangt er
von den Erziehern die Assistenz, immer und überall. Sie sollen die Jugendlichen in die Unmöglichkeit
versetzen, Fehler zu machen (Memorie biografiche VI, 390).
Zunächst geht es auch um eine ständige (auch leibliche) erzieherische Anwesenheit. Sie zeigt
sich in der Qualität der Zeit und der Präsenz des Erziehers, der mit Freude seine Aufgabe wahrnimmt,
mitten unter den Jugendlichen zu sein und ihr Leben auf allen Ebenen zu teilen. Das ist die „Assistenz
–für“: sie hat eine erzieherisch-ethische Zielrichtung, vollzieht sich aber in Liebenswürdigkeit und
Redlichkeit. Das vermeidet, dass sie den Eindruck einer autoritären Auferlegung weckt.
Assistenz ist auch eine individualisierte Anwesenheit. Ohne dass man das Ganze aus dem Au-
ge verliert, versucht man jeden Jugendlichen als eine Persönlichkeit anzusprechen. Dazu ist eine
wahrhafte Empathie gewünscht, die sich auch in erfahrbaren Zeichen ausdrückt. Hinzu kommt noch
22

3.3 Page 23

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ein Klima des Vertrauens. Zu den neuen Direktoren sagte Don Bosco: „Tu, was dir möglich ist, um
während der ganzen Erholungszeit bei den Jugendlichen zu sein und bemühe dich, ihnen manches
liebevolle Wort, das du kennst, ins Ohr zu sagen, und von Mal zu Mal wirst du den Wert dieses Tuns
erkennen. Das ist das große Geheimnis, das dir hilft, die Herzen der Jugendlichen zu gewinnen“ (Ri-
cordi confidenziali, 1863).
5. DIE SPIELERISCHE DIMENSION DES PRÄVENTIVSYSTEMS
Der unbezweifelbare Vorrang der vertikalen, göttlichen Dimension im Präventivsystem Don
Boscos führt nicht zu einer Entwertung oder einer Geringschätzung der horizontalen, irdischen Wirk-
lichkeit: leibliche Entwicklung, menschliche Beziehungen, intellektuelle und berufliche Ausbildung,
Freizeit usw. Alles was authentisch menschlich ist und konkrete Menschenwürde fördert wird positiv
aufgenommen. Don Bosco strebt danach, alle Fähigkeiten der Jugendlichen anzuerkennen und zu
schätzen: „Man gewähre große Freiheit, nach Herzenslust zu springen, zu laufen und zu lärmen. Tur-
nen, Musik, das Vortragen von Gedichten, kleine Bühnenstücke und Wanderungen sind sehr wirksame
Mittel, Disziplin zu erreichen und Sittlichkeit und Gesundheit zu fördern. Nur achte man darauf, dass
der Inhalt der Darbietungen, die beteiligten Personen und die stattfindenden Gespräche untadelig sind.
‚Macht alles, was ihr wollt’, sagte der große heilige Freund der Jugend Philipp Neri, ‚mir genügt es,
wenn ihr keine Sünde begeht’” (Trakt 2, III).
Ähnliche Überlegungen trifft man auch in persönlichen Briefen, in Rundschreiben an. Der Ort
„par excellence” ist der Spielhof. Der Stil, der dort herrschte war eine Innovation in der Welt der zu
Strenge neigenden Schulen und Heimen im 19. Jahrhundert. Nicht zu verwundern, dass der römische
Prälat, Gaetano Tortone, meinte sagen zu müssen: „hic digitus Dei non est!”; „hier ist Gott nicht an-
wesend“. Der Spielhof und auch die Umgangsweise zwischen Jugendlichen und Salesianern, Kleri-
kern und Priestern, waren alles andere als die Vorschriften des Trienter Konzil es wollten. Valdocco
war auch keine Elite-Schule. Jugendliche, die vielleicht einer geistigen Elite zugewiesen werden könn-
ten (wie Dominikus Savio) waren dort eine Ausnahme.
Die Grundlage ist die Freude („gioia e allegria”). Sie ist nach Don Bosco ein Gesetz der Ju-
gendzeit. Er weiß, dass ein positives, freudevolles Klima von höchster Bedeutung ist für eine tiefge-
hende und nachhaltige Erziehung. Deswegen zeigt er vollen Respekt für dieses Recht der Jugendli-
chen. Er spürte, wie sich die Lebenschancen der Jugendlichen, denen es an Lebensfreude und Opti-
mismus fehlt, reduzieren. Für ihn hat diese Freude einen humanen Grund und eine Grundlage im
Glauben: sein Optimismus ist auf die christliche Hoffnung gegründet. Spielhof, Freizeit, Feste, Musik,
Theater, Wanderungen sind die wichtigen Momente und Orte, die das Klima der Freude ermöglichen.
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6. EINE PÄDAGOGIK DES MÖGLICHEN
Don Bosco suchte den wahren Lebenssinn im „ewigen Heil“ mit der Heiligkeit als höchster
Stufe. Im Geist von Franz von Sales und anderen sah er das Ideal der Heiligkeit möglich für alle
Christen, auch für Jugendliche. Sie ist im Geiste des 19. Jahrhunderts nichts anderes als ein tugendhaf-
tes Leben in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes, das sich in der Erfüllung der Pflicht des eige-
nen Lebensstandes äußert.
Don Bosco ist sich der großen Verschiedenheit seiner Jugendlichen bewusst. Nicht alle kön-
nen die Heiligkeit der Altäre erreichen. Die Erziehung soll deswegen diese Verschiedenheit beachten
und angemessene pädagogische und therapeutische Interventionen planen. Don Bosco arbeitet schritt-
weise, mit stufenartigen Zielen. Ideale und Beweglichkeit haben seine Methode gekennzeichnet. Um-
berto Eco hat es so gesagt: „Die Genialität des Oratoriums liegt darin, dass es seinen Besuchern einen
moralischen Kodex vorschreibt, aber dann auch diese aufnimmt, die diesen Kodex nicht befolgen“.
P. Dr. Jacques Schepens SDB
Professor für Religionspädagogik und Katechetik an der Phil.-Theol. Hochschule der Salesianer Don
Boscos in Benediktbeuern
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