„Ich meinte, im alten Oratorium zu sein, zur Stunde der Erholung. Es war ein Bild voller Le-
ben, voller Bewegung und Fröhlichkeit. Die einen liefen, andere sprangen, und wieder andere ermun-
terten zum Springen. Hier spielte man ‚Frosch’, dort Hindernislauf und Ball. An einer Stelle hatte sich
eine Gruppe von Jungen versammelt und lauschte gespannt einem Priester, der eine Geschichte erzähl-
te. An einer anderen Stelle spielte ein Kleriker mit den Jungen ‚Esel lauf!’ und ’Handwerkerei’. Aller-
orts herrschte Lachen und Singen, und überall sah man Kleriker und Priester, umgeben von fröhlich
scherzenden Jungen. Man spürte, dass zwischen den Jungen und den Oberen ganz groβe Herzlichkeit
und sehr groβes Vertrauen herrschte. Ich war begeistert von diesem Anblick.“
4. Abschnitt
„Und er zeigte sie mir. Ich sah das Oratorium und Euch alle, wie ihr gerade bei der Erholung
wart. Aber ich hörte keine Freudenrufe und Lieder mehr, sah nicht mehr das Leben und Treiben wie im
ersten Bild. Im Blick und Verhalten vieler Jungen nahm ich Langeweile, Müdigkeit, Enttäuschung und
Misstrauen wahr, was mir Kummer machte. Es ist wahr, ich sah viele, die umhertummelten, scherzten
und sich in glücklicher Sorglosigkeit vergnügten; ich sah aber auch nicht wenige allein, an die Säulen
gelehnt, herumstehen, in trübsinnige Gedanken versunken; andere trieben sich auf den Treppen, Gän-
gen und den Balkonen zur Gartenseite zu herum, um sich der gemeinsamen Erholung zu entziehen.
Wieder andere gingen langsam in Gruppen spazieren, unterhielten sich aber nur leise miteinander; da-
bei waren ihre Blicke argwöhnisch und böse. Bisweilen lachten sie zwar auf, aber mit ei-
nem Gesichtsausdruck, der nicht nur vermuten lieβ, sondern glaubhaft machte, dass der heilige Aloisius
in ihrer Gesellschaft vor Scham errötet wäre. Einige von den Spielenden waren sogar derart uninteres-
siert, dass man deutlich sehen konnte, wie sie keine Lust an der Unterhaltung fanden.“
„Hast du deine Jungen gesehen?“, fragte mich der ehemalige Schüler.
„Ja“, sagte ich seufzend.
„Wie ganz anders sind sie doch, als wir einst waren“, rief jener frühere Schüler aus.“
„Leider, welche Unlust bei dieser Erholung!“
„Und daher kommt bei vielen die innere Teilnahmslosigkeit beim Empfang der heiligen Sakramente,
die Gleichgültigkeit bei den religiösen Übungen innerhalb und auβerhalb der Kirche; daher kommt der
Widerwillen gegen den Aufenthalt an dem Ort, wo sie durch die göttliche Vorsehung so reichlich mit al-
lem versorgt sind, was sie für den Leib, die Seele und den Geist nötig haben. Hier liegt die Ursache da-
für, das viele ihrer Berufung nicht entsprechen, das ist der Grund ihrer Undankbarkeit gegenüber den
Obern, die Ursache für die Geheimnistuerei und das Murren sowie die anderen bedauerlichen Folgen.“
5. Abschnitt
„Durch Herzlichkeit und Familiarität den Jungen gegenüber, besonders in der Zeit der Erho-
lung. Ohne Herzlichkeit und Familiarität zeigt sich die Liebe nicht, und ohne diesen Beweis der Liebe
kann es kein Vertrauen geben. Wer geliebt sein will, muss zeigen, dass er liebt. Jesus Christus wurde
klein mit den Kleinen und nahm unsere Schwächen auf sich. Er ist der Meister der Familiarität! Der
Lehrer, der sich nur auf dem Katheder sehen lässt, ist Lehrer und nicht mehr; teilt er aber mit den Ju-
gendlichen die Erholung, so wird er ihr Bruder. Wenn man einen nur bei der Predigt auf der Kanzel zu
sehen bekommt, wird man sagen, er tut nicht mehr als seine Schuldigkeit; findet er aber auch während
der Erholungszeit das rechte Wort, dann ist es das Wort eines Liebenden. Welchen Sinneswandel haben
nicht schon ein paar Worte bewirkt, die man während der Unterhaltung - wie zufällig - einem Jungen
zuflüsterte! Wer sich geliebt weiβ, liebt wieder, und wer geliebt wird, erreicht alles, besonders bei der
Jugend. Dieses Vertrauen bildet gleichsam den elektrischen Strom zwischen den Jungen und den Obern.
Die Herzen öffnen sich, sie lassen ihre Nöte erkennen und gestehen auch ihre Fehler ein. Diese Liebe
lässt die Obern auch Mühe, Sorgen, Undankbarkeit, Unruhe, Fehler und Nachlässigkeiten der Jugend-
lichen ertragen. Jesus Christus hat das schon geknickte Rohr nicht zerbrochen und den glimmenden
Docht nicht ausgelöscht. Er sei euer Vorbild! Dann wird keiner mehr aus eitler Ruhmsucht arbeiten;
keiner wird strafen, nur um seine verletzte Eigenliebe zu rächen; keiner wird sich aus Eifersucht der
Aufsichtspflicht entziehen, weil er argwöhnt, dass ein anderer bevorzugt wird; keiner wird die anderen
in der Absicht kritisieren, die Gunst der Jugendlichen unter Ausschluss der übrigen Obern für sich al-
lein zu gewinnen - wobei man allerdings nichts anderes erreicht als Verachtung und geheuchelte Zu-
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