(2.) URTEILEN: Migration – ein ‚Zeichen der Zeit‘ im Lichte des Evangeliums
Das Zweite Vatikanische Konzil hat es der Kirche zur Pflicht gemacht, „nach den Zeichen der
Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“ (GS 3). Wenn wir heute das
Phänomen „junge Migranten“ als Zeichen der Zeit erkennen, dann müssen wir zugleich auch
das Evangelium befragen, welches Ethos und welche Orientierung es für unser Handeln in
dieser Frage bereithält.
2.1 Die Fremden stehen unter dem unbedingten Schutz Gottes: „Unter den Geboten Gottes
gibt es wenige, die dem Schutzgebot gegenüber Fremden und Flüchtlingen an Gewicht
und Eindeutigkeit gleichkommen. Die Fremden stehen unter dem unbedingten Schutz
Gottes.“12 Exemplarisch für viele Stellen heisst es etwa im 3. Buch Mose: „Wenn bei dir
ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei
euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich
selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.“
(Lev 19,33f). Klarer und deutlicher kann der Anspruch Gottes an sein Volk nicht sein. Er
erwartet von Israel, das selbst in der Fremde gelebt hat, sich in die Situation der Fremden
einzufühlen und mit Fremden mitmenschlich zu verkehren. „Schutz der Fremden, Liebe
zu den Fremden und Gastrechte sind daher in der Mitte alttestamentlicher Theologie ver-
wurzelt. [...] Das Schutzgebot gegenüber Fremden durchzieht wie ein roter Faden die
Sammlung der Gebote des Alten Testaments“13 Diese Erinnerung an einen Gott, unter
dessen unbedingtem Schutz jeder Fremde steht, kann uns Christen angesichts der Migra-
tionsproblematik heute ein tiefes Ethos vermitteln, das unsere Begegnung und unsere
Projekte mit Migranten inspiriert und trägt.
2.2 Die Rechtsordnung muss die Fremden schützen: Im Alten Testament gibt es eine Ten-
denz, das rechtlich zu schützen, was man theologisch als geboten erkannt hat. Das Recht
erwächst aus dem Gottesglauben. Weil Gott als der königliche Beschützer der Armen und
Gefährdeten, also auch der Fremden, gesehen wird, muss das Volk eine Rechtsordnung
gestalten, die dem Willen Jahwes entspricht. Zur Identität Israels gehören daher der
Schutz der Fremden und die Achtung ihrer Rechte: „Einen Fremden sollst du nicht aus-
beuten.“ (Ex 22,20; 23,9). Im Gesetzesbuch wird es zur Pflicht erklärt, „das Recht von
Fremden, die Waisen sind, nicht (zu) beugen.“ (Dtn 24,17f). Auch die Auslieferung von
Flüchtlingen wird verboten und sein Recht betont, ohne Ausbeutung bei dem Schutzherrn
wohnen zu dürfen (vgl. Dtn 23,16f). Fremde genießen in Israel Rechtsschutz. Damit aber
ist der mitmenschlicher Umgang mit Fremden nicht mehr ein beliebiger barmherziger
Akt des Einzelnen, sondern ein Rechtsgut, auf das jeder Israelit verpflichtet ist. Diese Er-
kenntnis kann uns heute inspirieren, für eine Migrationsgesetzgebung und Migrations-
praxis in Europa einzutreten, die den Menschenrechten entspricht - und nicht vorrangig
nur nationalen Interessen!
2.3 Die Sorge um Fremde als universales Gebot: Die Nächstenliebe, die dem Fremden ge-
schuldet ist, wird in den Texten des Neuen Testaments untermauert und radikalisiert. Das
Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-27) erläutert uns anschaulich, wer der
Nächste ist: nicht nur der verwandtschaftlich oder religiös mit uns Verbundene, sondern
jeder Mensch, der in Not ist und dringend Hilfe bedarf. Jesu Forderung geht in Richtung
einer unbedingten und unbegrenzten Solidaritätspraxis. Die Behandlung der Fremden
und anderer notleidender Menschen wird vom Evangelisten Matthäus (Mt. 25, 31-46)
deshalb sogar als das entscheidende Kriterium für das Heil oder Unheil des Menschen –
12 „... Und der Fremdling, der in deinen Toren ist. Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen
durch Migration und Flucht, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche und dem Sekretariat der Deut-
schen Bischofskonferenz in Zusammenarbeit mit den Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutsch-
land, Bonn; Frankfurt a.M; Hannover, 1997, hier S. 45.
13 Ebd., S. 46.
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