Brief_des_Generaloberen_Nr._382


Brief_des_Generaloberen_Nr._382

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BRIEF DES GENERALOBERN (8. Juni 2003)
„Ich sagte zum Herrn:
Du bist mein Herr; mein ganzes Glück bist du allein.“
(Ps 16, 2)
Liebe Mitbrüder!
Zum Beginn der sommerlichen Sitzungsperiode des Generalrats möchte ich mit Euch die
Kommunikation wieder aufnehmen. Ich folge dabei dem dreimonatlichen Rhythmus der
Briefe, die ich üblicherweise an die ganze Kongregation richte. Ich tue es am Pfingstfest, an
dem die Herabkunft des Hl. Geistes im Abendmahlsaal gefeiert wird, wo die Jünger Jesu mit
Maria versammelt waren. Nach dem Bericht der Apostelgeschichte (2, 1-11) war das ein Er-
eignis, das das Herz eines jeden von ihnen zutiefst erschütterte und umwandelte – „wie wenn
ein kräftiger Sturm daherfährt“. Der Hl. Geist, der die Kraft ist, mit der Gott in die Geschichte
eingreift, erfüllte sie und durchdrang sie bis in die Tiefe „wie Feuer“. Die Angst verging und
wich dem Mut. Die Indifferenz überließ das Feld dem Mitleid. Die Verschlossenheit wurde
von der Wärme des Herzens aufgesprengt. Der Egoismus wurde von der Liebe verdrängt. So
begann die Kirche ihren Weg in der Geschichte. Ich wünsche mir, dass der Hl. Geist als
Sturm und Feuer die Pfingsterfahrung in der Kirche und in unserer geliebten Kongregation
neu entfacht, damit wir immer überzeugtere, mutigere und glaubwürdigere Zeugen Jesu und
seines Evangeliums werden.
In meinem letzten Brief fandet Ihr den Bericht über die Tätigkeit des ersten Jahres meines
Dienstes an der ganzen Kongregation. Nun kennt Ihr mich ein bisschen besser und seid über
das informiert, was der Generalobere tut und denkt. Das Leben bleibt sicher nicht stehen. In
den drei letzten Monaten habe ich ein sehr dichtes Arbeitsprogramm gehabt: der Tag in Borgo
Ragazzi in Rom, die geistlichen Exerzitien in Fatima, der Besuch der Provinz in Portugal, die
Reise ins Hl. Land, die Zwischensitzung des Generalrats, der Besuch in Großbritannien, die
Tage in Treviglio und Chiari, der Besuch in den Provinzen von Sizilien, Bilbao und München,
der Tag in Bonn und Köln, der Besuch in der Provinz Verona, die Zusammenkunft der
Vereinigung der Generalobern und der Besuch der Adriatischen Provinz.
Ich kann Euch sagen, dass ich die Realität der Kongregation, ihre Kraftreserven, ihre Proble-
me, ihre Herausforderungen und ihre Möglichkeiten immer besser kennen lerne. Zudem
werden mir die Aufgaben, die ein Generaloberer zu erfüllen hat, immer vertrauter. Es ist eine
sehr schöne und anspruchsvolle Sendung, vor der ich mir angesichts der Notwendigkeiten und
Erwartungen etwas unzulänglich vorkomme. Ich brauche also Euer Verständnis und vor allem
Eure Gebete, damit ich, wie ich es wünsche, ein väterlicher und weitblickender, ein treuer und
dynamischer Nachfolger Don Boscos sein kann.
1. „Ich danke meinem Gott für euch alle“ (Röm 1, 8)
Bevor ich mit Euch einige Überlegungen über das Ordensleben in der Hoffnung teile, dass sie
Euch als spiritueller, pastoraler und berufungsmäßiger Ansporn hilfreich sein mögen, möchte
ich einem jeden von Euch danken für das Geschenk seines Lebens an Gott auf den Spuren
Don Boscos.
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Ich fühle mich in der Pflicht, Euch zu danken. Ich tue es gern mit diesem Brief wie ich es
auch persönlich tue, wenn ich Euch bei den Besuchen der Provinzen und Gemeinschaften
treffe. Einerseits ist jeder Mitbruder ein Schatz für die Kongregation. Ich werde nicht müde,
das zu wiederholen und es Euch spüren zu lassen. Andererseits ist die laikale wie die priester-
liche salesianische Berufung ein außerordentliches Geschenk für jeden von Euch. Das ist
meine Erfahrung und, wie ich mir vorstellen kann, auch Eure Erfahrung. Gerne bete ich unter
diesem Blickwinkel einige Psalmen wie z.B. den Psalm 16, wo wir lesen: „Ich sagte zum
Herrn: Du bist mein Herr; mein ganzes Glück bist du allein... Du, Herr, gibst mir das Erbe
und reichst mir den Becher; Du hältst mein Los in deinen Händen. Auf schönem Land fiel mir
mein Anteil zu. Ja, mein Erbe gefällt mir gut“ (16, 2-6). Dabei beziehe ich mich nicht auf die
Tatsache, dass ich Generaloberer bin. Das ist ein Dienst, der zeitweilig zu erfüllen ist. Viel-
mehr meine ich das unschätzbare Geschenk der Berufung des auf Jesus ausgerichteten Leben-
sprojekts, der uns beim Namen ruft, uns auswählt, um bei ihm zu sein und seine Leidenschaft
für Gott und den Menschen zu teilen (vgl. Mk 3, 13-15). Eine Berufung zu haben, bedeutet:
entdeckt zu haben, dass das Leben Sinn hat. Ein schöner „Traum“, der Traum Gottes ist zu
verwirklichen. Eine uns von Gott übertragene Sendung ist zu erfüllen. Ein Ziel ist zu errei-
chen, nämlich: Menschen, die uns anvertraut sind. Und das erfüllt ein ganzes Leben mit Kraft
und Freude, ein Leben, das sich als geeinigt erweist wie das Don Boscos (vgl. Konst. 21). Das
ist die salesianische Berufung.
Sie ist ein solch kostbares Geschenk des Herrn, das sorgfältig gepflegt und den Jugendlichen
mit aller Entschiedenheit vorgestellt wird, weil wir wollen, dass sie mit uns glücklich sind.
Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass das größte und am meisten verbreitete Problem
unter den Jugendlichen nicht das ist, was die Aufmerksamkeit erregt wie die Droge, der Alko-
hol und auch nicht die Verwirrung auf dem Gebiet der Sexualität, wenngleich sehr viele
Jugendliche da hinein verwickelt sind – und das ist natürlich ein Problem, das uns nicht indif-
ferent lassen kann. Das wahre Problem aber ist das Fehlen der Richtung, des Horizonts, des
Sinnes, des Lebenskonzeptes. Das verführt zu einem oberflächlichen Leben, indem man
Dinge und Erfahrungen konsumiert ohne ein Element, das ihr Leben vereinigt und mit Kraft
erfüllt. Ich danke Euch also für Eure Berufung, die immer reicher sein wird an einer immer
gelungeneren Biographie. Wie soll man am Ende des Lebens in einem Buch oder in einem
Totenbrief die Geschichte der Treue zu Gott für die Jugendlichen zusammentragen, verwoben
in ein Netz von Freuden und Traurigkeiten, Träumen und Enttäuschungen, Hoffnungen und
Frustrationen, Schweiß, Tränen und Lächeln?
Deshalb erlaubt mir, dass ich mir die Worte des Paulus zu Eigen mache, um Gott für das zu
danken, was Ihr seid – Gottgeweihte für die Jugend – und für das, was Gott für Euch ist – das
einzige und höchste Gut. Wie der Apostel möchte auch ich sagen: „Zunächst danke ich
meinem Gott durch Jesus Christus für Euch alle, weil Euer Glaube in der ganzen Welt ver-
kündet wird. Denn Gott, den ich im Dienst des Evangeliums von seinem Sohn mit ganzem
Herzen ehre, ist mein Zeuge: Unablässig denke ich an Euch in allen meinen Gebeten und bitte
darum, es möge mir durch Gottes Willen endlich gelingen, zu Euch zu kommen. Denn ich
sehne mich danach, Euch zu sehen; ich möchte Euch geistliche Gaben vermitteln, damit Ihr
dadurch gestärkt werdet, oder besser: damit wir, wenn ich bei Euch bin, miteinander Zuspruch
empfangen durch Euren und meinen Glauben“ (Röm 1, 8-12)
2. „Ich habe Gott versprochen, bis zu meinem letzten Atemzug....“ (MB XVIII, 258)
Wie Ihr Euch erinnert, habe ich schon in meinem ersten Brief den Wunsch zum Ausdruck ge-
bracht, aus der Heiligkeit ein Lebensprogramm, eine Leitungsentscheidung und ein erziehe-
risches Angebot zu machen. Aus diesem Blickwinkel habe ich die Aussage gewagt, dass
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dieser erste Brief nicht einer unter den anderen ist, sondern der programmatische Text der
sechsjährigen Amtszeit sein soll.
Und wenn ich von Heiligkeit spreche, so denke ich nicht an irgend etwas Allgemeines oder an
ein Ideal, das allen ohne Unterschied vorzulegen ist. Ich denke an uns Salesianer. Wenn ich
von Heiligkeit spreche, denke ich an ein Leben der Heiligkeit, das uns eigen ist: die sa-
lesianische Heiligkeit, gelebt gemäß dem Leitbild unseres geliebten Vaters Don Bosco. Ich
beziehe mich gerade auf diese Heiligkeit, die man nur in der Berufung von Gottgeweihten für
die salesianische Sendung erreichen und leben kann: „Unser Leben in der Jüngerschaft des
Herrn ist eine Gnade des Vaters, der uns mit der Gabe seines Geistes weiht und uns sendet,
Apostel der Jugend zu sein“ (Konst. 3).
Unsere Heiligkeit ist also eine geweihte Heiligkeit, ein besonderes Geschenk, das Gott uns für
die Jugendlichen, zu denen wir gesandt sind, gewährt. Das alles hat Konsequenzen. Ich möch-
te mit Euch bei diesem Aspekt der salesianischen Heiligkeit verweilen. Ich halte ihn für sehr
wichtig, weil „wir Salesianer Don Boscos uns bemühen, das apostolische Vorhaben des
Gründers in einer besonderen Form des Ordenslebens zu verwirklichen... In der Erfüllung
dieser Sendung finden wir den Weg unserer Heiligung“ (Konst. 2).
Nicht selten habe ich bei den Besuchen in der Kongregation Mitbrüder angetroffen, die erfüllt
sind von Energie und apostolischem Mut, die in wunderbaren Werken zum Wohl der Jugend
arbeiten und gestützt und animiert waren von einer ebenso großen Leidenschaft für Gott. So
muss man einerseits eine solche Hingabe schätzen und bewundern. Andererseits muss man
sich aber auch immer fragen, was ist in Wirklichkeit das bewegende Element für solch große
Aktivitäten. Wir wissen, dass die salesianische Sendung und die Kongregation, die zum
Dienst an ihr entstanden ist, von Gott hervorgegangen sind und je neu in Gott entstehen. Der
Salesianer ist in der Tat „von Gott zur Jugend gesandt“ (Konst. 15). Die Gesellschaft, zu der
er gehört, „ist nicht nur aus menschlichem Planen, sondern aus Gottes Initiative hervorge-
gangen“ (Konst. 1). Darüber hinaus ist der charakteristischste Grundzug unserer Berufung,
der uns am meisten lieb ist, „die Vorliebe für die Jugendlichen“, „eine besondere Gabe
Gottes“ (Konst. 14). Gott steht als Quelle und Fundament am Anfang unserer salesianischen
Sendung. Und so muss es bleiben. Diese objektive Wirklichkeit wird von einem jedem gelebt
und scheint durch das eigene Leben hindurch.
Die persönliche Erfahrung Don Boscos war nicht anders. Priester und Hirte der Jugendlichen
aus Berufung – so wird er für sie und mit ihnen zum eifrigen Erzieher. Der Erzieher und Hirte
der Jugendlichen wird zum Gründer religiöser Institute. „Er selbst war religiös, formte und
bildete gottgeweihte Männer und später gottgeweihte Frauen... Das Problem der Jugendlichen
war für ihn zu komplex und anspruchsvoll, um es nur mit der unregelmäßigen und nicht plan-
baren Einbindung ständig wechselnder Mitarbeiter zu lösen“ (P. Braido, Rom, LAS 2003).
„Die Erfahrung bewies, dass das freiwillige Personal keine Stabilität, Beständigkeit und
Einheitlichkeit des Handelns garantierte, während das Schicksal der Jugendlichen sich als
immer komplexer und die Verlassenheit und Armut sich immer verbreiteter und ausdrückli-
cher erwies. Die Konsequenz war das radikale Überdenken des Problems der Mitarbeiter, ih-
res spirituellen und juridischen Status und ihrer Organisation. Don Bosco entschied sich
schließlich für die Form der Ordensgesellschaft, die von anderen assoziierten Kräften flan-
kiert war“ (P. Braido, Rom, LAS 2003).
Im Bewusstsein, dass die Sendung zu den Jugendlichen, besonders zu den ärmsten,
verlassensten und den Risikogruppen, „eine umfassende Bewegung“ (Konst. 5) forderte,
musste Don Bosco unter den eigentlichen Jugendlichen seine besten Mitarbeiter suchen, jene
nämlich, die mit ihm die gleiche spirituelle und apostolische Erfahrung teilten. Das war die
Erfahrung von Valdocco; von Don Bosco dazu aufgerufen, „bei ihm zu bleiben“, werden sie
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die ersten Salesianer. Er war ausgegangen von Jungen, die nicht die geringste Idee vom religi-
ösen Leben hatten... Sie, die im Haus Don Boscos wohnten, hat er schrittweise zu dem
Wunsch hingeführt, in Gemeinschaft mit Don Bosco ständig zu leben und zu arbeiten.
Schließlich führte er sie zu der Entscheidung, die gleiche Sendung mit ihm zu teilen und sich
durch die Ordensgelübde zu binden. So wurden sie zu Mitgliedern einer wahren und eigenen
Gesellschaft von Gottgeweihten“ (P. Braido, Rom, LAS 2003).
Wahr ist, wenigstens für uns Salesianer, dass die Sendung lautete, eine Gruppe von Gottge-
weihten ins Leben zu rufen: Die Jugendlichen haben uns zu Gott gebracht, und dies nicht bloß
zum Zeitvertreib und aus Laune, sondern als Ziel und Motiv. Um die Arbeit mit den Jugendli-
chen zu gewährleisten, entdeckte Don Bosco, dass er Personen brauchte, die sich ganz Gott
hingaben. Um Mitarbeiter zu haben, die sich voll und ganz den Jugendlichen widmeten,
wurde Don Bosco zum Gründer. Ich weiß nicht, ob es eine pragmatische Entscheidung un-
seres geliebten Vaters war, als er sich dessen bewusst wurde, dass die gewöhnlichen Mitarbei-
ter das tägliche Engagement der apostolischen Arbeit 24 Stunden am Tag und alle Tage der
Woche nicht garantieren konnten; oder ob es eine logische Schlussfolgerung seiner eigenen
Erfahrung war, geprägt vom „Traum“ mit neun Jahren, der ihn auf den Gedanken brachte,
dass Gott einen „Traum“ für jeden für uns hat, eine besondere Berufung, die in die Weihe
durch Gott für eine spezifische Sendung einmündet. Ausgehend von der eigenen spirituellen
und pastoralen Erfahrung entdeckte Don Bosco so die Möglichkeiten eines Ordenslebens, das
zum Dienst an der salesianischen Sendung entstand.
3. Die heutige Misere des Ordenslebens
Es ist deutlich, dass es heute ein gewisses Unbehagen im Hinblick auf das Ordensleben gibt,
das man auch in unserer Kongregation spüren kann. Der zahlenmäßige Rückgang und das
Steigen des Altersdurchschnitts der Mitbrüder, wenigstens in einigen Regionen, ist ein of-
fensichtliches Zeichen dafür. Hinzu kommt die Tatsache der Zerbrechlichkeit und Schwäche
der Berufungen, ein Phänomen, das in allen Orden, Kongregationen und Institutionen auf-
taucht. Diese Misere ist um so schwieriger zu verstehen und zu erfassen, wenn man davon
ausgeht, dass die Kongregation ihre Treue bewahrt hat gegenüber den Anforderungen der Kir-
che, den Erfordernissen der Welt und der Kultur und den je neuen Herausforderungen der
Jugendlichen und dass sie versucht hat, mit Kreativität und Zuverlässigkeit darauf zu ant-
worten.
Man muss allerdings zugeben, dass ein gewisses Unbehagen zum heutigen Ordensleben ge-
hört, dessen erste Aufgabe ja immer „die Bestätigung des Primates Gottes und der künftigen
Güter“ ist und heute in einer Welt lebt, „wo die Spuren Gottes oft verwischt zu sein scheinen“
(VC 85).
Darüber hinaus ist die Erfahrung Gottes, jenseits des Wahrscheinlichen und sogar des Er-
zählbaren immer eine äußerst schwierige Aufgabe. Sie kann konsequenterweise sogar hero-
ische Züge annehmen, wenn es möglich ist, Gott dort zu bezeugen, wo er nicht mehr gehört
und zur Kenntnis genommen wird oder wo er ins Schweigen abgeschoben wurde; und das
kommt oft vor. Aber die Misere, die das Ordensleben heute erleidet, kommt nicht nur von
außen, von seiner natürlichen Inkompatibilität mit der Welt, sondern auch aus seinem In-
neren, zumal ihm unter anderem plötzlich jene sozialen Aufgaben weggenommen wurden, die
ihm für lange Zeit Sicherheit und soziale Relevanz gegeben haben.
Die Art, in der man heute von „Wieder-Erneuerung“, von „Neu-Schöpfung“ und von „Neu-
Gründung“ des Ordenslebens spricht, wird sicher nicht bequem oder angenehm, sondern ver-
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pflichtet uns, zu überprüfen, ob die erwartete vom Zweiten Vatikanischen Konzil umgesetzte
Erneuerung nicht eine bloß „angepasste Erneuerung“ der Formen war, ohne in der Tiefe den
Geist und das Herz der Menschen erreicht zu haben.
Sehr häufig wird gesagt, dass in den Tagen vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil es leicht
war, die Ordensleute zu „identifizieren“, und zwar ihre Lebensform und ihren Platz innerhalb
der Kirche. Das Ordensleben war eine Lebensform, die gekennzeichnet war vom Bekenntnis
der Evangelischen Räte der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams gemäß den von der
kirchlichen Autorität approbierten Konstitutionen einer Kongregation. Die Ordensleute lebten
in Ordenshäusern, Klöstern oder Konventen und unterschieden sich innerhalb und außerhalb
ihrer Institute durch ihre Kleidung und ihre Lebensgewohnheiten. Der Lebensstil und die
deutliche Erkennbarkeit ihrer Mitglieder trennten sie wirklich von der “Welt“ und bewirkten,
dass sie von den „Laien“ innerhalb der Kirche selbst zu unterscheiden waren.
Das Konzil begann eine kopernikanische Wende, in die alle Institutionen einbezogen und
deutlich erkennbar modifiziert wurden. Sie waren aufgerufen, sich innerhalb der Kirche in der
Welt (GS) neu aufzustellen mit einer Ekklesiologie der Einheit und Gemeinsamkeit (LG),
nach der alle Getauften ein einziges Volk Gottes mit verschiedenen Berufungen, Funktionen
und Charismen bilden.
Es stimmt, dass nach dem ganzen Erneuerungsprozess das Ordensleben solchermaßen umge-
wandelt war, dass es heute nicht mehr leicht ist, es zu „identifizieren“ und seinen Standort in-
nerhalb der Kirche zu definieren. Das trifft genauso gut auf die Laien und die Seelsorger
(Bischöfe, Priester, Diakone) zu. Es ist klar, dass die Schwierigkeit nicht von außen kommt,
beispielsweise nicht von der Tatsache, dass die spezifische Kleidung weggelassen wurde und
dass man sich einer bürgerlichen Bekleidungsform angepasst hat. Sie entsteht vielmehr aus
einer Interpretation der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit und aus einer Serie von äußeren
und inneren Faktoren, die die charakteristischen Grundzüge ihres wahren Erscheinungsbildes
ausgelöscht oder zumindest getrübt haben. Das erklärt das heutige Pochen auf den
„objektiven Vorrang“ (VC 32) auf die „Erkennbarkeit“ (VC 25) und schließlich auf die Be-
deutsamkeit, die Glaubwürdigkeit und die ursprüngliche Faszination.
Wir können also sagen, dass das Ordensleben in eine Krise geraten ist, und zwar äußerlich
durch die Verweltlichung und innerlich durch den Verlust der Identität.
Äußere Krise
Das schwerwiegendste Phänomen unserer Zeit ist nicht mehr der Atheismus (GS 19), sondern
die Verweltlichung der Gesellschaft, die das Niveau eines verschärften Säkularismus erreicht
hat und wiedererstanden ist mit dem Ziel, eine Kultur des Nicht-Glaubens zu schaffen, eine
areligiöse und praktisch atheistische Kultur. Man lebt in einem Klima der Indifferenz und des
Relativismus. Man leugnet nicht die Existenz Gottes; aber man leugnet einen Raum, wo man
überleben kann. Man diskutiert nicht die Vernünftigkeit des Glaubens; aber man macht in der
Praxis immer weniger daraus. Heute muss man nicht die Ungläubigkeit rechtfertigen, sondern
den Glauben. Gott ist kein Problem mehr, weil seine Präsenz nicht mehr evident ist. Die reli-
giöse Praxis wird immer weniger sichtbar. Das Evangelium findet keinen Widerhall mehr in
einer Gesellschaft, die von neuen Botschaften sozusagen abgenutzt ist. Wenn Gott und das
Heilige noch unter uns bestehen können, dann weil sie verinnerlicht wurden. Das Profane
breitet sich immer mehr aus; es herrscht über das Soziale und bald auch über das Private. Das
individuelle Bewusstsein und die eigene Intimität sind nicht mehr der Aufenthaltsort Gottes.
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Die Diagnose könnte überzogen erscheinen. Ich zitiere zu diesem Punkt einen Text von Don
Viganò, der Ende 1991 ähnliche Begriffe benutzte. Dieser Text ist auch heute noch gültig und
aussagekräftig: „Früher waren viele soziale und kulturelle Ausdrucksformen vom Religiösen
her geprägt. Nun nimmt aber die soziale Bedeutungslosigkeit des Religiösen immer mehr zu
und erschwert oder verlängert den Reifungsprozess des Glaubens – sei es als Kennenlernen
der Glaubensinhalte oder noch mehr als Form der Lebensführung.
Christ sein oder die Taufentscheidung in einer pluralistischen Gesellschaft werden – sozial
gesehen – zu einer Form unter vielen anderen, mit den gleichen Rechten. Es blüht da und dort
ein Klima des Relativismus, der Trübung traditioneller Ideale und des Verlustes der Sinnhaf-
tigkeit des Lebens. Viele Jugendliche treiben förmlich wie ohne Kompass auf einem Boot da-
hin. Sie verlieren den Durchblick auf das Übernatürliche, auf das ‚Firmament’ des Glaubens,
und beschränken sich auf belanglose Antworten im Hinblick auf den Sinn des Lebens, die in
keiner Weise den großen Sehnsüchten des Menschenherzens gerecht werden.
Die Antworten, die die Wissenschaften ihnen anbieten, erweisen sich als mangelhaft im Hin-
blick auf die Sinnsuche, weil sie sich nicht auf das Endziel des Lebens und auf den um-
fassenden Sinn der Geschichte beziehen.“ (Amtsblatt 339, S. 10-11).
Dieser Verweltlichungsprozess kann innerhalb des Ordenslebens ein dreifaches Erscheinungs-
bild haben. Er kann sich erweisen in Form von
- Verlust der Transzendenz, der erkennbar wird, wenn der Glaube als Horizont des
Lebens und der Berufung, die so zu einem bloß menschlichen Projekt werden, schwä-
cher wird oder schwindet; die Motivation als Gottgeweihte und auf die von Ihm anver-
traute Sendung Ausgerichtete wird schwieriger oder verschwindet ganz.
- Anthropozentrismus, der nicht mehr Gott als Zentrum des Lebens oder endgültigen
Bezugspunkt setzt, sondern den Menschen, und zwar so, dass das Leben geformt wird
nach dem Maß der Bedürfnisse und der Entwicklung der eigenen Kraftströme der Na-
tur ohne eine Spur von Raum für die Werte des Gottesreiches.
- Sozioökonomische Praxis, die dazu führt, mit Leidenschaft daran festzuhalten, dass
der Mensch sich selbst in der schöpferischen Arbeit, in der Beherrschung der Welt und
in der Begleitung anderer in ihrer persönlichen Entwicklung und ihrem sozialen Erfolg
entfaltet; die apostolische Sendung beschränkt sich auf Sozialarbeit oder identifiziert
sich mit dem Engagement für die Veränderung.
Meiner Ansicht nach hat auf diese verweltlichte Perspektive des Ordenslebens auch und sehr
viel ein reduziertes theologisches Verständnis des Prinzips der Inkardination Einfluss ausge-
übt. Dieses Verständnis pocht ja solchermaßen auf den ersten Begriff, nämlich den des „quod
non assumptum“ des Irenäus, dass die Neuheit, die uns von Gott durch die Menschwerdung
zukommt, in die zweite Reihe gerät oder ganz ausgelassen wird. Angezogen von der Ent-
scheidung Gottes, Mensch zu werden, vergisst man oft das tragende Faktum, dass der Gott-
Mensch nie aufgehört hat, Gott zu sein, und dass folglich es nicht der Mensch ist, der göttlich
wurde, sondern Gott, der Mensch geworden ist. Auch wenn er wahrer Mensch ist, bleibt er
dennoch wahrer Gott.
Interne Krise
Natürlich hat die Krise des Ordenslebens weder ausschließlich noch vorrangig ihre Ursache in
äußeren Faktoren. Dennoch müssen wir zugeben, dass sie durch die Faktoren stark beeinflusst
wird. Sie kommt aber hauptsächlich aus dem inneren Bereich und zeigt sich insbesondere in
folgenden Symptomen:
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- Die Schwächung der kirchlichen Identität des Ordenslebens. Wir waren gewohnt, das
Ordensleben als Stand der Vollkommenheit zu definieren. Das Zweite Vatikanische
Konzil hat gesagt, dass alle Getauften die Berufung zur Heiligkeit haben. Wie soll
man nun die Bedeutung und Aufgabe des Ordenslebens innerhalb der allgemeinen Be-
rufung zur Heiligkeit definieren?
Noch radikaler wirkt sich die Schwächung auf die Sendung aus. Wir sind in einem
Klima aufgewachsen, wo man der Meinung war, dass die doppelte Aufgabe der Ver-
kündigung des Evangeliums und der Diakonie der Caritas ausschließlich den Priestern
und den geweihten Personen zukäme. Das Zweite Vatikanum hat daran erinnert, dass
die Sendung in der Verantwortung aller Getauften liegt – ein jeder nach der eigenen
Berufung. Das Wachstum des Laikates auf allen Ebenen ist ein Zeichen, das dies be-
kräftigt. Was also kann die Bedeutung der Präsenz des Ordenslebens sein?
Wir sind sogar davon überzeugt, dass auch das Charisma mit der Spiritualität und der
Sendung kein ausschließlicher Besitz des Ordensinstitutes ist. Es hat all jene zu Ziel-
gruppen, die mit ihm in Kontakt kommen, und hat sein Ziel erreicht, wenn es auch von
denen gelebt wird. Welche Aufgabe haben die Gottgeweihten in Bezug auf das
Charisma?
Diese Fragen, auch wenn sie nicht immer ausdrücklich gestellt werden, bewirken, dass
das Bewusstsein der eigenen Identität und Funktion in der Kirche weniger klar und
weniger stark ist.
- Die Sicht des Ordenslebens, ausgerichtet auf die Funktion, d.h. die mehr funktionalis-
tische Sicht und nicht so sehr die Ontologie des Ordenslebens. Das Ordensleben des
19. Jahrhunderts wurde definiert und noch mehr gelebt als ein Mittel für die Sendung.
Das erforderte die damalige Zeit, und die angebotenen Dienste waren bedeutsam im
Sinne des Evangeliums. Aber die Entwicklung unserer modernen Gesellschaften hat
bewirkt, dass der Staat oder soziale Gruppen viele der Dienste übernommen haben, die
seinerzeit vom Ordensleben geschaffen und verwirklicht wurden. In den Werken
selbst, die die Ordensgemeinschaften haben, nehmen die Laien immer mehr an der
Leitung und Verantwortung teil.
Die Werke der Ordensleute funktionieren gut, im allgemeinen sogar sehr viel besser
als die öffentlichen. Aber es gibt auch etwas, das uns zutiefst unruhig werden lässt.
Nicht nur die Berufe bleiben aus, man stellt auch fest, dass die Menschen zwar unsere
Angebote und Dienste in Anspruch nehmen, die Sinngründe für ihr Leben aber
anderswo suchen. Also beginnt sich eine Frage breit zu machen, die dauernd zunimmt:
Welchen Sinn hat unsere Präsenz in einer solchen Situation?
- Die Überwindung vergangener Strukturen. Das Ordensleben lief Gefahr, seine Mit-
glieder in ein Netz von Vorschriften und Normen einzuschließen, die den Menschen
nicht immer dazu verholfen haben, zu reifen und gemäß der Freiheit der Kinder Gottes
zu leben. Zudem entsprechen die Formen des Ordenslebens – auch die erneuerten –
nicht immer den neuen Situationen, in denen wir heute unser Ordensleben und unsere
Sendung verwirklichen sollen. Man braucht nur an die Schemata des Gemeinschafts-
lebens oder die Formen des Gebets zu denken. Andererseits gelingt es diesen
traditionellen Formen und Strukturen nicht, die neuen Werte auszudrücken, nämlich
die der persönlichen Eigenständigkeit, des Sinns des Dialogs und der Teilnahme.
Man hat das Gefühl, dass wir die Richtung kennen, in die wir gehen müssen. Aber wir
haben noch kein Lebens- und Handlungsmodell gefunden, das diesen Weg erleichtert
und unterstützt. Wir befinden uns in einer sehr unangenehmen Situation. Wir haben
die vergangenen und unangemessenen Strukturen verlassen; aber wir haben die neuen
noch nicht erreicht und definiert. Die Generalobern (USG) haben dies mit einer etwas
starken, aber wahrheitsgetreuen Aussage bestätigt. Sie sagen, dass ein Modell des
Ordenslebens an den Rand der Erschöpfung geraten ist und dass es ihm nicht mehr
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gelingt, diejenigen, die drin sind, zu motivieren. P. Maccise fügt hinzu, dass wir heute
nicht in der Lage sind, zu wissen, wie das Modell des Ordenslebens morgen aussehen
wird.
Diese Symptome wurden bereits von Don Viganò und von Don Vecchi namhaft gemacht, die
versucht haben, uns die Lösung aufzuzeigen durch die Entwicklung des Sinns für die aposto-
lische Gotthingabe, die Gnade der Einheit und die einmalige Besonderheit der salesianischen
Spiritualität. Vielleicht haben wir heute die besseren Voraussetzungen, um die Diagnose der
tieferen Gründe anzustellen und entsprechende Lösungen zu finden.
4. Die herausragende Bedeutung des Ordenslebens aus objektiver Sicht
Das, was ich oben gesagt habe, nämlich, dass das Ordensleben eine schwierige und mühsame
Periode durchläuft, wird bestätigt durch die Aussage von Johannes Paul II., der schreibt: „Es
war eine Periode, reich an Hoffnungen, an Erneuerungsversuchen und –angeboten, die zum
Ziel hatten, das Bekenntnis der Evangelischen Räte zu bestärken. Aber es war auch eine Zeit,
die nicht frei war von Spannungen und Umwandlungen, in denen zweifellos großherzige
Erfahrungen nicht immer von positiven Resultaten gekrönt waren“ (VC 3). Diese Schwierig-
keiten sind aber nicht in der Lage, den besonderen Wert des Ordenslebens in der Kirche zu
verdunkeln, sondern machen eine Klarstellung der theologischen Identität immer dringender;
dies auch in Bezug zu den anderen Lebensständen (vgl. VC 31-32).
Auf dieser Linie hat bei der letzten Versammlung der italienischen Bischofskonferenz im
vergangenen Mai gelegentlich der 25-Jahrfeier von Mutuae Relationes einer der Bischöfe ge-
schrieben: „Im Licht der obengenannten Hinweise muss das Charisma des Ordenslebens neu
begriffen und mit größerer theologisch-pastoraler Klarheit gelebt werden, sei es bezüglich der
übrigen Ausdrucksformen der Berufungen in der Kirche, sei es hinsichtlich der Sendung in
der Welt. Die meist verbreitete Interpretation auch im inneren der christlichen Gemeinschaft
bewirkt eine mehr funktionalistische als ontologische Vision vom Ordensleben... Die Ordens-
weihe ist kein Mittel, um die Funktionalität der Dienste in den Werken zu garantieren, son-
dern ist der fundamentale Inhalt der Sendung der Ordensleute; d.h. der Primat Gottes, die
Gültigkeit der letzten Wirklichkeiten in einer Welt der Gottvergessenheit für einen Menschen,
der allzu sehr auf die vorletzten Dinge ausgerichtet und verbogen ist.“
Wie P. Tillard in Erinnerung rief, finden wir an der Wurzel eines jeden glaubwürdigen
Ordenslebens als erste und allumfassende Motivation nicht ein „für“, sondern ein „wegen“.
Das Objekt dieses „wegen“ ist nichts anderes als Jesus Christus. Man wird nicht Ordenschrist
„für“ irgend etwas, sondern „wegen“ jemandem: Jesus Christus und die Anziehungskraft, die
er ausübt. Wir können uns nicht bei diesem Punkt aufhalten. Im allgemeinen wird das vor-
ausgesetzt. Es gibt aber etwas, was nicht so selbstverständlich ist. Die eigentliche Heraus-
forderung unserer Zeit an das Ordensleben ist die, dem Ordensleben Christus und Christus das
Ordensleben wiederzugeben, und zwar ohne Vorbehalte.
Ich denke, dass ein Teil des Problems entstanden ist, als ein unzureichendes Verständnis von
Lumen Gentium dazu führte, gerade die spezifische Identität des Ordenslebens auszulöschen,
indem man die herausragende objektive Sicht der Nachfolge Christi, die sie ja repräsentiert,
für nichtig zu erklären oder zumindest kleiner zu reden begann. Den theologischen „Status“
des Ordenslebens neu zu bedenken, ist eine der größten Herausforderungen, die die Ordens-
leute heute angehen müssen.
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1.9 Page 9

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Ohne die subjektive Heiligkeit so vieler Laien und Priester beeinträchtigen zu wollen, müssen
wir mit Entschiedenheit sagen, dass die Nachfolge Christi im Ordensleben den günstigsten
Nährboden findet. Sie ist die lebendige Erinnerung an die Lebens- und Handlungsweise Jesu
als fleischgewordenes Wort im Hinblick auf den Vater und die Brüder (vgl. VC 20). „Die
Evangelischen Räte, durch die Christus einige dazu einlädt, seine Erfahrung der Keuschheit,
der Armut und des Gehorsams zu teilen, erfordern bei dem, der sie annimmt, das ausdrückli-
che Verlangen nach vollständiger Gleichförmigkeit mit ihm und lassen dieses Verlangen klar
zutage treten. Durch ein Leben in Gehorsam, ohne Eigentum und in Keuschheit bekennen die
Personen des geweihten Lebens, dass Jesus das Vorbild ist, in dem jede Tugend zur Vollkom-
menheit gelangt. Seine Lebensform in Keuschheit, Armut und Gehorsam erscheint in der Tat
als die radikale Weise, das Evangelium auf dieser Erde zu leben, eine sozusagen göttliche
Lebensform, weil sie von ihm, dem Gottessohn, als Ausdruck seiner Beziehung als des einge-
borenen Sohnes zum Vater und zum Hl. Geist angenommen wurde. Das ist der Grund, warum
in der christlichen Überlieferung immer von der objektiven Vollkommenheit des geweihten
Lebens gesprochen wurde“ (VC 18).
„In dieser harmonischen Gesamtheit von Gaben ist jede der grundlegenden Lebensformen mit
der Aufgabe betraut, in ihrem eigenen Lebensstand die eine oder andere Dimension des
einzigartigen Geheimnisses Christi zum Ausdruck zu bringen. Wenn das Laienleben einen
besonderen Auftrag hat, der Botschaft des Evangeliums innerhalb der zeitlichen Wirklichkeit
Gehör zu verschaffen, so wird im Bereich der kirchlichen Gemeinschaft von den Mitgliedern
des geweihten Standes ein unersetzlicher Dienst versehen, in besonderer Weise von den Bi-
schöfen... Was die Bedeutung der Heiligkeit der Kirche angeht, muss ein objektiver Vorrang
dem geweihten Leben zuerkannt werden, das die Lebensweise Christi selbst wiederspiegelt.
Eben deshalb findet sich darin eine besonders reichhaltige Beschreibung der evangelischen
Güter und einer vollkommenere Verwirklichung des Zieles der Kirche, das die Heiligung der
Menschheit ist“ (VC 32).
Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Sendung des Ordenslebens die ist, Zeichen und Me-
tapher zu sein:
- Zeichen des lebendigen Gedenkens an Jesus, der seine offenbarende Präsenz durch das
Leben derer fortsetzt, die am eigenen Leibe „die Stigmata“ des Leidens des Herrn
tragen (Gal 6,17). Dem geweihten Leben entspricht es, die gleichförmige Zugehörig-
keit der gesamten Existenz zu Christus (vgl. VC 16) zu leben und öffentlich zum Aus-
druck zu bringen. Das führt zur Verklärung und Gleichförmigkeit mit dem auf-
erstandenen Herrn. „Dies bedeutet eine besondere Einheit der Liebe mit Ihm, der zum
Zentrum des Lebens und zur beständigen Quelle einer jeden Initiative geworden ist“
(RdC 22).
Das Ordensleben ist in der Tat in sich selbst eine fortschreitende Angleichung an die
Gesinnung Christi (vgl. RdC 15; VC 65). „Man muss also immer mehr Christus ange-
hören, Zentrum des Ordenslebens, und kraftvoll einen Weg der Umkehr und Erneue-
rung gehen, der wie in der ursprünglichen Erfahrung der Apostel vor und nach der
Auferstehung ein Wiederaufbrechen zu Christus ist. Ja, wir müssen wieder zu Christus
aufbrechen“ (RdC 21).
- Zeichen der Präsenz und des Primates Gottes in der Welt, des Gottes Jesu, Quelle des
Lebens und der Menschlichkeit, die sich in der Torheit und Schwäche des Kreuzes
zeigt (vgl. 1 Kor 1, 22-31), die die Sünde entlarvt und uns für das belebende Handeln
des Geistes in der Auferweckung öffnet. Wir müssen also wirklich Gott den Primat
einräumen, der ihm zukommt, als absoluter Wert unseres persönlichen, gemeinsamen,
intimen und institutionellen Lebens.
9

1.10 Page 10

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Die Erfahrung Gottes zu machen, ist für uns keine heilsame Beschäftigung und keine
zweitrangige Aufgabe, sondern unsere Daseinberechtigung in der Kirche und unsere erste
Sendung. „In der einfachen Alltäglichkeit wächst das Ordensleben in ständiger Reifung
heran, um zur Verkündigung einer alternativen Lebensweise zu werden, die der Lebens-
weise der Welt und der beherrschenden Kultur gegenübersteht. Mit dem Lebensstil und
der Suche nach dem Absoluten zeigt man gleichsam eine spirituelle Therapie für die Übel
unserer Zeit auf“ (RdC 6).
- Zeichen der Neuheit des Reiches Gottes, das in der Welt, aber nicht von der Welt ist
(vgl. Joh 18, 36), das die menschlichen Werte annimmt, sie aber übersteigt und erlöst,
indem es in sie eine echte und absolute Neuheit einführt. „Dasselbe geweihte Leben
unter der Einwirkung des Hl. Geistes wird zur Sendung. Je mehr sich die Gottgeweih-
ten von Christus formen lassen, desto mehr wird er präsent und wirksam in der Ge-
schichte für das Heil der Menschen“ (RdC 9).
Das bewirkt, dass man mit Freude und Radikalität die Seligpreisungen lebt als ein
Lebensprogramm und als Sauerteig, der die Welt zu durchdringen vermag. Einzig-
artige Sendung des Ordenslebens ist es, „das Bewusstsein für die wesentlichen Werte
des Evangeliums lebendig zu erhalten, und zwar als ein deutliches und hervorragendes
Zeugnis dafür, dass die Welt nicht ohne den Geist der Seligpreisungen verwandelt und
Gott dargebracht werden kann“ (VC 33)
- Zeichen der kirchlichen Einheit, von denen gelebt, die das Bekenntnis ablegen, zu-
tiefst das Gebot Jesu im Leben der Gemeinschaft zu verwirklichen, wo es in irgend-
einer Weise erkennbar wird, „dass die geschwisterliche Gemeinschaft, noch eher als
Weg für eine bestimmte Sendung, göttlicher Ort ist, an dem die mystische Gegenwart
des auferstandenen Herrn erfahren werden kann“ (VC 42). Der Beitrag der Ordensleu-
te zur Evangelisierung besteht daher vor allem im Zeugnis eines Lebens, das sich in
der Nachfolge des Erlösers ganz Gott und den Brüdern schenkt (vgl. VC 76; RdC 34).
Dies geschieht aufgrund der gegenseitigen Liebe derer, die die Gemeinschaft bilden,
die, noch bevor sie zum menschlichen Projekt wird, Teil des göttlichen Planes ist.
„Das gemeinsame Leben stellt die erste Verkündigung des Ordenslebens dar; sodann
ist es wirksames Zeichen und überzeugende Kraft, die dazu führt, an Christus zu glau-
ben. Die Einheit wird also selbst zur Sendung, sie bewirkt Gemeinschaft und nimmt
wesentlich die Form einer missionarischen Gemeinschaft an“ (RdC 33). „Wer Chris-
tus wirklich begegnet ist, kann es nicht für sich behalten, sondern muss es verkün-
digen“ (NMI 40).
„Das Ordensleben heute braucht vor allem einen spirituellen Ansporn, der dazu verhilft, ins
konkrete Leben den evangelischen und spirituellen Sinn der allgemeinen Taufweihe und sei-
ner neuen und besonderen Weihe und Gotthingabe einzubringen. Das spirituelle Leben muss
also an erster Stelle im Programm der Ordensfamilien stehen, und zwar in der Weise, dass je-
des Institut und jede Gemeinschaft zu einer Schule echter evangelischer Spiritualität wird“
(RdC 20). Dazu berufen, Zeichen der prophetischen Neuheit des Evangeliums zu sein, einer
Neuheit, die Bezugspunkt für jeden Getauften sein muss, haben wir in der Kirche eine große
Verantwortung. Wenn alle zur Heiligkeit berufen sind, müssen wir aus der Heiligkeit einen
Lebensstil, unseren eigentlichen „Beruf“ machen, um unter den Christen zu einem lebendigen
Aufruf zu werden. Als solche zu leben, die Gott geweiht sind, ist unsere allererste aposto-
lische Sendung.
Und das ist um so dringlicher für uns als Erzieher der Jugendlichen, die Menschen suchen und
brauchen, die für sie Ansporn und Angebot des Lebens sind; Menschen, die mit ihrer eigenen
10

2 Pages 11-20

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2.1 Page 11

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Lebensform Sinngründe fürs Leben und für die Hoffnung geben und sie in ihrer menschlichen
und christlichen Entwicklung begleiten.
5. Ein Modell in der Krise
Wenn wir von dieser Identität ausgehen, können wir leichter die Wurzeln der aktuellen Krise
des Ordenslebens herausfinden, für die der Mangel an Berufungen, die geringe Erkennbarkeit
und die geschwächte Bedeutsamkeit nur Symptome sind.
Es war eine (ich möchte sagen) „liberale“ und eingeschränkte Auffassung vom Ordensleben,
die der Ansicht war, dass die Erneuerung eine Anpassung an die Modernität sein müsste, in-
dem man das Beste vom Illuminismus, von der Emanzipation und von den Menschenrechten
übernahm. So kam es dazu, die Person, ihr Bewusstsein und Gewissen, ihre Würde und ihr
eigenes Lebensprojekt in den Mittelpunkt zu rücken. Das hat dazu beigetragen, eine heilsame
Befreiung zu bewirken, die in einer reicheren und respektvolleren menschlichen Reifung der
Person bestand, aber auch Elemente negativer Art einführte:
- Die Ablehnung eines jeden besonderen Unterscheidungsmerkmals des Ordenslebens;
im Vordergrund standen die sozialen Grundzüge der Zugehörigkeit wie die Kleidung,
die Strukturen, die Gewohnheiten, die Sprachweise, eine charakteristische Art, sich
den Menschen zu präsentieren; man vermied es, erkannt zu werden und verschieden-
artig zu erscheinen. Man hielt es für wichtig, nicht sichtbar und erkennbar zu sein und
den Schatz begraben sein zu lassen (vgl. Mt 13, 44).
Aber wenn das Ordensleben selbst es ablehnt, ein sichtbares Zeichen für etwas zu
sein, welchen Sinn hat es dann? Gerade deswegen spricht man heute so sehr von der
Notwendigkeit, einen Ort in der Welt und in der Kirche durch die Erkennbarkeit
wieder zu erlangen, mit deren Hilfe die „charakteristischen Grundzüge Jesu“ (VC 1)
in Erscheinung treten.
- Der sehnliche Wunsch zu werden, wie die ganze übrige Welt, ohne dass irgend etwas
da sei, das uns von den anderen unterscheiden könnte; ohne das charakteristische
Merkmal mit uns zu tragen, von Christus „erkauft und verdient“ und in Ihn „verliebt“
zu sein, d.h. ganz darauf bedacht, „mit leidenschaftlicher Liebe die Lebensform Chris-
ti zu leben“ (RdC 8).
Aber wenn das Ordensleben auf nichts darüber hinaus zielt, wenn es keine tieferen
Empfindungen und weniger allgemeine Kräfte weckt, warum soll man dann Orden-
schrist werden? Wenn die Gelübde nichts Außerordentliches, nichts Ungewöhnliches
und nichts „Verrücktes“ an sich haben, kann das nicht daher rühren, dass sie auf unser
Maß zurückgestutzt worden sind? Wenn das Ordensleben in die Normalität eingebettet
ist, so besagt das, dass es seine ganze prophetische Kraft eingebüßt hat. Wenn man
alles tut, aber nichts Besonderes, wenn man nichts Besseres vorwegnimmt, wenn man
nicht irgend etwas verkündigt und ansagt, wozu dient es dann?
- Dazu gesellt sich die Betonung der Professionalisierung. Zuerst wollte man wohl, dass
die Gnade der Berufung unsere professionelle Inkompetenz ersetzen könnte. „Der Ge-
horsam wirkt Wunder“, hörte man oft sagen. Heute dagegen wird die notwendige be-
rufliche Vorbereitung oft zu einem Vorwand, um nicht für die Sendung verfügbar zu
11

2.2 Page 12

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sein. Wir verlieren die Frische der evangelischen Verfügbarkeit, die Spontaneität des
Apostels, um pure Fachleute der Erziehung zu werden. Ich frage mich, ob alle
Salesianer bereit wären, die eigene Berufskompetenz loszulassen für einen Dienst an
der Kongregation? Die Erfahrung überzeugt mich davon, dass es sehr viele gibt, die
das tun, und zwar bereitwillig; aber leider sind es nicht alle.
Aber wenn das Ordensleben lediglich auf die professionellen Fachleute der Gesund-
heit, der Erziehung und der Randgruppenbetreuung zählt, muss man zugeben, dass es
den Weg verfehlt hat, indem es auf tragische Weise das Ziel durch das Mittel ausge-
tauscht hat. Das Tun gewinnt die Oberhand über das Sein. Aber ist es richtig, der
Arbeit unserer Hände den Vorzug zu geben vor dem Willen Gottes für und über uns?
- Auf diese Weise hat eine gehörige Dosis Individualismus Eingang gefunden, der den
Gehorsam sozusagen unmöglich macht. Die Tatsache ist umso schwerwiegender, je
weniger sie uns bewusst wird. Und wenn sie bewusst ist, dann ist sie auch überlegter.
Gegenüber den eigenen Rechten, dem eigenen Lebensprojekt, der Verwirklichung der
persönlichen Berufung ist nichts zu machen; diese werden weder in Frage gestellt
noch bewertet.
Wenn sich aber das Ordensleben selbst von der Perspektive der Selbstverwirklichung
her interpretiert, ist sie vom Weg des Evangeliums abgewichen. Denken wir an die
entschiedenen Worte Jesu: Wer das eigene Leben bewahren will, der verliert es (vgl.
Mt 8, 35; Joh 12, 25). Die Selbstverwirklichung stellt das eigene Ich und die eigenen
Interessen ins Zentrum. Im Gegensatz dazu dezentralisiert uns das Evangelium von
uns selbst und stellt Gott und den Nächsten ins Zentrum. Die Kultur der Selbstver-
wirklichung verzerrt die gemeinschaftliche Unterscheidung der Geister. Sie wird nicht
mehr so sehr als ein Prozess der Ablösung und der Reinigung gesehen, um sich mit
dem Willen Gottes in Einklang zu versetzen, sondern als eine Strategie, um eine häu-
fig schon vorgefasste persönliche Entscheidung aufzudrängen. Wo bleibt also die
Nachfolge Christi, wo das Handeln wie Jesus, dessen Speise es war, den Willen Gottes
zu tun (Joh 4, 34)?
Wenn man so handelt, verliert man den Sinn für die Sendung der Gemeinschaft, weil
der Vorrang seinerselbst den Verlust der gemeinsamen Sendung mit sich bringt. Wenn
aber das Ordensleben für diese individualistische Sicht von Berufung und Sendung
Raum lässt, ist es auf die Selbstauflösung ausgerichtet. Das Risiko ist dann nicht mehr
imaginär, sondern solchermaßen real, dass es heute zu einem Problem für die Ausbil-
dung und für die Leitung geworden ist.
- Die Verkürzung des Gebetslebens ist ein anderes Element dieses Modells eines „libe-
ralen“ Ordenslebens. Die Frömmigkeitsübungen beschränken sich auf den „Privat-
gebrauch“, verlieren ihre Häufigkeit, ihre Erkennbarkeit und ihren Verpflichtungs-
charakter. Man macht es, wenn Zeit dazu ist, weil gerade nichts Dringenderes zu tun
ist; oder wenn man gerade einen Bedarf daran hat, weil etwas zu erbitten ist. Es
stimmt, dass es früher eine gewisse Routine und einen Formalismus geben konnte und
dass manchmal die Spontaneität und die Echtheit gefehlt hat. Es ist aber auch wahr,
dass man ohne Gebetspraxis, die Disziplin und Methode, Regelmäßigkeit und tägliche
Treue erfordert, eine innere Leere und eine tiefe Brüchigkeit im Glaubensleben ver-
ursacht.
- Es ist aber ein Widerspruch, wenn das Ordensleben sich von Gott entfernt, weil es ihn
nicht aufsucht. Vielmehr sollte sich von den Ordensleuten ein überzeugender Aufruf
über die Kirche ausbreiten, den Primat der Gnade zu betrachten und ihm durch ein
12

2.3 Page 13

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großzügiges spirituelles Engagement zu entsprechen (vgl. RdC 8). Wie soll man erklä-
ren, dass es für einen Salesianer Beschäftigungen gibt, die wichtiger sind als Gott?
Auf diese Weise produziert man das, was schon von den Lateinern gesagt wurde: Co-
ruptio optimi pessima. Es gibt nichts Übleres als ein verweltlichter Ordenschrist. Wo-
zu dient das Salz, wenn es schal wird (Mt 5, 13)?
- Der Typ der Gemeinschaft, den man in diesem Modell fördert, wird gesehen als Raum
der Ruhe, des gegenseitigen Respekts, des persönlichen Wohlergehens, des Sichwohl-
fühlens ohne Unbequemlichkeiten. Damit das gelingt, beschwört man den Wert der
homogenen Gemeinschaft, die von Gleichartigen gebildet wird. Wenn das nicht
möglich ist, beruft man sich auf den Pluralismus oder die Toleranz als anzustrebendes
Ideal. Das Wichtigste sei das Fehlen von Konflikten, Gegensätzen oder einfach von
verschiedenartigen Gesichtspunkten. Und so lässt man es laufen und bewirkt, dass
sich jeder gut fühlt, indem man nicht über das hinaus geht, was alle zu geben bereit
sind, und nicht das abfragt, was das Evangelium einfordert. Was zunimmt, sind die
Maschinen, Wagen und Geräte, die Fernsehzimmer, die wirtschaftliche Unabhängig-
keit der Mitbrüder, die Selbstbestimmung in Bezug auf Reisen und Ferien, die Öff-
nung für Beziehungen mit Personen des anderen Geschlechts. Die Armut lockert man,
der Obere wird zu einem „Erleichterer“, nicht mehr zum Animator und zum Vater.
Das Haus wandelt sich in eine Residenz für Einzelne um.
Wenn aber das Ordensleben nicht starke Persönlichkeiten formt, Menschen der Ge-
meinschaft, die den Mitbruder sehen als „einen, der zu mir gehört“, hat es keine
Existenzberechtigung mehr, weil die gelebte und bezeugte Gemeinschaft eines der
Elemente ist, die es bedeutsam, ausstrahlend und gemäß dem Evangelium gestalten.
„Die Kirche vertraut den Gemeinschaften des geweihten Lebens die besondere Auf-
gabe an, die Spiritualität der Gemeinschaft vor allem innerhalb der eigenen Gemein-
schaft und dann in der kirchlichen Gemeinschaft und über deren Grenzen hinaus da-
durch zu stärken, dass sie vor allem dort, wo die heutige Welt von Rassenhass und
mörderischem Wahn zerrissen ist, den Dialog der Liebe eröffnet bzw. immer wieder
aufnimmt“ (VC 51).
- Das schwächste und schmerzlichste Element dieses Modells ist die Schwierigkeit, Be-
rufe hervorzubringen. Es gibt zu denken, dass es gerade die neueren Bewegungen und
die gerade erst gegründeten Kongregationen sind, die auf diesem Feld mehr Erfolg
haben. Zweifellos hat uns irgendetwas gefehlt. Wer weiß, ob das „liberale“ Modell des
Ordenslebens, das da und dort Eingang fand, und zweifellos auch Grundzüge hat, die
den Berufungen zuwider laufen, die Situation nicht erklärt! In der Tat präsentieren die
Gruppen, die den größten Erfolg in Bezug auf Berufe haben, drei grundsätzliche
Elemente: eine widerstandfähige, erkennbare und von allen geteilte Spiritualität; ein
Leben intensiver, freudiger und attraktiver Gemeinschaft; ein sicheres, klares und
starkes Engagement zu Gunsten der Armen, das sie dazu veranlasst, für sie und mit ih-
nen zu leben.
Ich denke, dass das größte Problem des „liberalen“ Modells darin besteht, die moderne Kultur
evangelisieren zu wollen, indem man sie auf Kosten und zu Lasten der Entscheidungen und
der Werte im Sinne des Evangeliums annimmt. Die Konsequenz ist, dass wir so umgewandelt
werden von der Logik der Welt, statt Evangelisatoren der Kultur zu werden. Wir müssen wie
das Salz sein, das die Kraft hat, sich bis zur Auflösung einzumischen, ohne jedoch je seine
Identität und seine Wirksamkeit zu verlieren, damit wir stets in der Lage sind, zu ihrem
ursprünglichen Zustand zurückzukehren.
13

2.4 Page 14

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Das ist das Modell des Ordenslebens, das in die Krise geraten ist. Wir Salesianer haben unse-
re Daseinsberechtigung, wenn wir uns treu an unsere Berufung und Sendung halten: nämlich
Zeichen und Botschafter Gottes zu sein. Das Ordensleben neu zu begründen, heißt nichts
anderes, als zurückzukehren zum Wesentlichen, zum Absoluten Gottes, zu den Werten des
Evangeliums, zu den Seligpreisungen und den Evangelischen Räten, zur Kraft der Gemein-
schaft, zur Präsenz inmitten der Jugendlichen, wie uns Don Bosco in seinem Rombrief vom
Mai 1884 gemahnt hat.
5. Das 25. GK, ein Aufruf, sich in dieser Richtung zu orientieren
Wenn ich die Texte des 25. GK lese, wird mir klar, dass die Kongregation auf diese Heraus-
forderungen antworten wollte, indem sie die Wirklichkeit der salesianischen Gemeinschaft
heute aufgegriffen und eine Gesamtschau unseres ganzen Ordenslebens geliefert hat. Das
Thema ist die Gemeinschaft, aber der Inhalt umfasst die Erfahrung und das Zeugnis Gottes,
die brüderliche Gemeinschaft und die Präsenz unter den Jugendlichen. Auf diese Weise
werden Sendung, Brüderlichkeit und Leben nach dem Evangelium in der Perspektive des
Typs von Gemeinschaft gesehen, die zu fördern sich die Kongregation aufgerufen fühlt, in-
dem sie sich um deren tiefgreifendste Erneuerung bemüht.
Die Gemeinschaft wird ganz und gar nicht als ein „Club von Freunden“ oder ein Arbeitsteam
gesehen, auch wenn das wichtig ist und zum salesianischen Geist gehört, dass eine herzliche
und anziehende Atmosphäre aus menschlicher Sicht und eine professionelle Wirksamkeit aus
erzieherischer und pastoraler Sicht vorherrscht. Sie wurde vor allem dargestellt als eine gott-
geweihte Gemeinschaft von Aposteln mit einer klaren charismatischen Identität, Erbe eines
geistlichen Vermächtnisses, an das man anknüpfen muss, um den neuen Herausforderungen
kompetent zu begegnen.
Der zweite Text, der den Titel Zeugnis für das Evangelium trägt, behandelt ausführlich dieses
Thema und inspiriert sich dabei am „Traum von den zehn Diamanten“, in dem das Modell
des echten Salesianern beschrieben wird. Gemäß den Worten im Kommentar von Don Viganò
können wir feststellen, dass selbst Don Bosco „in seinem ganzen Leben die lebendige In-
karnation dieser symbolischen Persönlichkeit“ (Amtsblatt 300, 1981) gewesen ist. Das Antlitz
dieser Persönlichkeit zeigt das salesianische Leben insbesondere „in seiner Aktivität“ (die
Diamanten auf der Vorderseite). Auf der Rückseite zeigt diese menschliche Gestalt das sa-
lesianische Leben „in seiner inneren Spiritualität“ (die rückseitigen Diamanten). Wenn man
so will: auf der Vorderseite die soziale Figur, das Angesicht, das „Da mihi animas“; auf der
Rückseite das Geheimnis der Beständigkeit und Askese, die Struktur und das Fundament, das
„cetera tolle“.
Das 25. Generalkapitel wendet diese fundamentalen Merkmale auf die salesianische Gemein-
schaft an und bekräftigt: „Jede Gemeinschaft besteht aus Menschen, die in die Gesellschaft
eingetaucht sind; sie leben die Leidenschaft für das Evangelium nach dem Motto ‚Gib mir
Seelen, alles andere nimm’ mit dem Optimismus des Glaubens, der Dynamik und der Krea-
tivität der Hoffnung und der Güte und totalen Hingabe der Liebe. Dieser Einsatz ist von einer
starken und wirkungsvollen geistlichen Struktur unterstützt, die im Besonderen durch die as-
ketische Dimension der Evangelischen Räte und durch einen arbeitssamen und gemäßigten
Lebensstil gekennzeichnet ist“ (20).
Man ist sich dessen bewusst, dass das heutige kulturelle Umfeld, geprägt vom Säkularismus,
vom Individualismus und vom Hedonismus, die Wertschätzung, die persönliche Annahme
und die Reifung des Ordenslebens nicht gerade begünstigt. Um so deutlicher werden die Her-
14

2.5 Page 15

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ausforderungen, mit denen wir es zu tun haben. Man begreift aber auch die prophetische
Kraft, die das in seiner Fülle gelebte Ordensleben als alternative Lebensform haben kann, die
neue Wege zum Humanismus gemäss dem Evangelium aufzeigen kann.
„Die Evangelischen Räte dürfen nicht als Leugnung der Werte angesehen werden, die der Se-
xualität, dem rechtmäßigen Wunsch nach materiellem Besitz und nach autonomer Selbstent-
scheidung innewohnen. Diese Neigungen sind, sofern sie in der Natur begründet sind, in sich
gut. Der durch die Erbsünde geschwächte Mensch ist jedoch der Gefahr ausgesetzt, diese in
einer die Norm übertretenden Weise in die Tat umzusetzen. Das Bekenntnis zu Keuschheit,
Armut und Gehorsam wird zur Mahnung, die durch die Erbsünde verursachten Verletzungen
nicht unterzubewerten, und es relativiert die geschaffenen Güter, auch wenn es ihren Wert be-
jaht, weil es Gott als absolutes Gut zeigt. So sollen diejenigen, die den Evangelischen Räten
folgen, während sie nach der Heiligkeit für sich selbst streben, sozusagen eine ‚geistliche
Therapie’ für die Menschheit vorschreiben, da sie die Vergötterung der Schöpfung ablehnen
und in irgendeiner Weise den lebendigen Gott sichtbar machen. Das geweihte Leben ist ins-
besondere in schwierigen Zeiten ein Segen für das menschliche und auch für das kirchliche
Leben“ (VC 87; vgl. 25 GK, 33).
Es verwundert nicht, wenn vom Primat Gottes die Rede ist, „der in unser Leben eingetreten
ist, der uns ergriffen hat und als Zeichen und Botschafter der Liebe in den Dienst an seinem
Reich gestellt hat“ (25. GK 22). Die Rede ist ferner vom menschlichen und prophetischen
Wert der Nachfolge Christi als Antwort auf die Vergötterung der Macht, des Besitzes und des
Vergnügens; von der Gnade der Einheit, „die ein Geschenk des Hl. Geistes und lebendige
Synthese zwischen der Vereinigung mit Gott und der Hingabe am Nächsten ist, zwischen
evangelischer Innerlichkeit und apostolischem Handeln, zwischen betendem Herzen und
arbeitenden Händen, zwischen persönlichen Bedürfnissen und gemeinschaftlichen Verpflich-
tungen. Auf diese Weise verbinden sich im Bund mit Gott harmonisch die apostolische
Sendung, die brüderliche Gemeinschaft und das Leben der Evangelischen Räte“ (25. GK, 24).
Dies alles soll umgesetzt werden in die zentrale Stellung des Gotteswortes im persönlichen
und gemeinschaftlichen Leben, in die Feier der Eucharistie, in die Lebensqualität des Gebets,
damit aus der Gemeinschaft eine „Schule des Gebets“ wird, in die Überprüfung des Lebens,
in die geistliche Führung, in das persönliche und gemeinschaftliche Lebenskonzept. Der
Punkt, auf den es ankommt, ist die Gemeinschaft vor Ort und das brüderliche Leben der im
Leben der Jugendlichen präsenten Gemeinschaft.
Schluss
Ich kann diesen Brief nicht abschließen, ohne an die Jungfrau Maria zu erinnern, die ja Leit-
bild der Gotthingabe und der Nachfolge ist. „Die Aufgabe eines jeden Christusjüngers ist es,
den Blick auf das Antlitz Christi zu richten, das Mysterium auf dem schmerzensreichen Weg
seiner Menschheit wahrzunehmen, bis hin zum göttlichen Glanz, endgültig offenbar ge-
worden im Auferstandenen, der zur Rechten des Vaters verherrlicht ist“ (RMV 9). So wollen
auch wir Salesianer diese Betrachtung des Antlitzes Christi mit und wie Maria machen: Sie ist
das unübertreffliche Leitbild. „Niemand hat sich mit der gleichen Beharrlichkeit der Betrach-
tung des Antlitzes Christi gewidmet wie Maria; niemand kennt Christus besser als sie; nie-
mand kann uns besser in eine tiefe Erkenntnis seines Mysteriums einführen als seine Mutter“
(RMV 10; 14).
„Schauen wir also auf Maria, Mutter und Lehrmeisterin eines jeden von uns. Sie, die erste
Gottgeweihte, hat die Fülle der Liebe gelebt. Mit dem Eifer des Geistes hat sie dem Herrn ge-
dient. Sie war freudig in der Hoffnung, stark im Leid, ausdauernd im Gebet und besorgt um
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2.6 Page 16

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die Nöte der Brüder (vgl. Röm 12, 11-13). In ihr spiegeln und erneuern sich alle Aspekte des
Evangeliums, alle Charismen des geweihten Lebens“ (RdC 46). Ich frage mich, ob nicht ge-
rade darin ihre Schönheit, ihre Faszination, ihre Neuheit und ihr Glanz besteht!
Ich möchte einen Text aus Vita Consecrata zitieren, weil auch er uns dazu anspornen kann,
dieses wichtige Dokument noch besser kennen zu lernen. „Alle Institute des geweihten
Lebens sind davon überzeugt, dass die Gegenwart Mariens eine grundlegende Bedeutung hat
sowohl für das geistliche Leben jeder geweihten Person als auch für die Beständigkeit, die
Einheit und den Fortschritt der ganzen Gemeinschaft. Maria ist in der Tat das höchste Vorbild
vollkommener Weihe in der vollen Zugehörigkeit und Ganzhingabe an Gott. Vom Herrn
erwählt, der in ihr das Geheimnis der Menschwerdung vollzogen hat, erinnert sie die Per-
sonen des geweihten Lebens an den Vorrang der Initiative Gottes. Gleichzeitig stellt sich Ma-
ria, die dem göttlichen Wort, das in ihr Fleisch geworden ist, ihre Zustimmung gegeben hat,
als Modell des Gnadenempfanges seitens der menschlichen Kreatur dar... Das geweihte Leben
blickt auf sie als höchstes Modell der Weihe an den Vater, der Einheit mit dem Sohn und der
Fügsamkeit gegenüber dem Hl. Geist in dem Bewusstsein, dass das Befolgen der jungfräuli-
chen und armen Lebensweise Christi bedeutet, sich auch die Lebensweise Mariens zu Eigen
zu machen“ (VC 28).
Von ihr erbitten wir, dass sie uns lehren möge, uns für das umwandelnde und heiligende Wir-
ken des Geistes zu öffnen. Ihr vertrauen wir unsere salesianische Berufung an, damit wir
„Zeichen und Botschafter der Liebe Gottes unter den Jugendlichen“ werden.
Don Pascual Chávez V.
Generaloberer
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