„Wie Don Bosco nehmen wir die jungen Menschen
als unseren Lebensauftrag an.“
Erstes Jahr der Vorbereitung auf die Zweihundertjahrfeier seiner Geburt
Vorwort: Einige bedeutsame Ereignisse im zweiten Halbjahr 2011 – Kommentar zum Leitgedanken des Jahres 2012: 1. Kennenlernen Don Boscos und Engagement für die Jugendlichen. - 2. Zur Wiederentdeckung der Geschichte Don Boscos. – 3. Die Motivationen für das Studium der Geschichte Don Boscos. - 4. Die aktualisierende Funktion der Geschichte. – 5. Über hundert Jahre Geschichtsschreibung „im Dienst des Charismas“. - 6. Auf dem Weg zu einem hermeneutischen Verständnis der salesianischen Geschichte. – 7. Welches Don-Bosco-Bild heute? – 7.1 Entwicklung der Werke und Zielgruppen. – 7.2 Verlassene Jugend – 7.3 Antwort auf die Nöte der Jugendlichen – 7.4 Flexibilität der Antwort auf die Bedürfnisse – 7.5 Armut des Lebens und unermüdliche Arbeit. – 8. Anregungen zur Konkretisierung des Leitgedankens. – 9. Schluss. „Ein jugendlicher Träumer.“ – „Und unsere Musik geht weiter.“
Rom, den 25. Dezember 2011,
am Hochfest der Geburt des Herrn
Liebe Mitbrüder,
Ich bin glücklich, mit Euch an diesem Fest in Verbindung treten zu können, an dem wir das Geheimnis der Menschwerdung des eingeborenen Sohnes Gottes, dem höchsten Ausdruck der Liebe Gottes, feiern, „der die Welt so sehr geliebt hat, dass er den eingeboren Sohn hingab, damit jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3,16).
Es ist das große Ja Gottes an den Menschen. Das ist die schöne und gute Nachricht, die nicht nur zum Inhalt unserer Evangelisierung, sondern auch zum Erziehungs- und Pastoralprogramm wird, weil es uns einlädt, aus dem Menschen unseren Weg zu machen und die salesianische Sendung als Engagement für die Vermenschlichung der Welt zu verwirklichen.
Auch wenn Ihr in der Chronik des Generalobern die vielfältigen Aktivitäten dieser letzten Monate gefunden und sie vielleicht auf unserer Internetseite verfolgt habt, gebe ich Euch einen kurzen Kommentar einiger der bedeutsamsten Ereignisse.
Ich folge der chronologischen Ordnung und rede zuerst vom VI. Internationalen Kongress Mariens, der Helferin der Christen. Beim Heiligtum von Jasna Góra in Tschenstochau in Polen, in einem Klima der Freude und großer Brüderlichkeit, haben sich vom 3. bis 6. August 1.200 Mitglieder der Don-Bosco-Familie aus mehr als 50 Nationen eingefunden, um dieses bedeutungsvolle Ereignis zu feiern. Angeregt von der „Vereinigung Mariens, der Helferin der Christen“ („Associazione di Maria Ausiliatrice“, ADMA), und organisiert in Gemeinschaft mit den Salesianern und den Don-Bosco- Schwestern Polens, war der Kongress zum ersten Mal ein Ereignis der ganzen Don-Bosco-Familie, die in der Verehrung der Helferin der Christen einen der konstitutiven Grundzüge des eigenen Charismas erkennt. Elf der Gruppen der Don-Bosco-Familie waren als offizielle Vertretungen anwesend; dies zusätzlich zu verschiedenen Teilnehmern, die zu anderen Gruppen gehörten. Das Thema des Kongresses – „Sich Maria anvertrauen“, gut zum Ausdruck gebracht durch das „Totus Tuus“ (Ganz Dein) – wurde an den verschiedenen Tagen mit gut gestalteten liturgischen Feiern, mit Referaten sowie durch Lebensberichte und Zeugnisse der Heiligkeit entwickelt. Insbesondere die Mitteilung von Erfahrungen eines Lebens des Sich-Maria-Anvertrauens, wie es von Familien, von Jugendlichen mit zuvor abweichendem Verhalten, von Jugendgruppen, die in den Missionen engagiert sind und die aus verschiedenen Teilen der Welt kamen, gelebt wird, hat den Willen angespornt, heute an der Evangelisierung von Jugendlichen und Familien teilzunehmen. Zielpunkt war der Akt des Sich-Maria-Anvertrauens, der Helferin der Christen, seitens der Jugendlichen und der Familien, vollzogen am Anfang des Trienniums der Vorbereitung auf die Zweihundertjahrfeier der Geburt Don Boscos. Angespornt vom Zeugnis des Glaubens und der marianischen Frömmigkeit des polnischen Volkes gegenüber der Mutter Gottes, wurde das Engagement erneuert, „ganz Maria anzugehören“, um mit Eifer und apostolischer Leidenschaft die erzieherische und evangelisierende Sendung im Stil Don Boscos zu leben. In meiner Schlussansprache hob ich hervor, wie die „Vereinigung Mariens, der Helferin der Christen“, eine lebendige und in der ganzen Welt verbreitete Wirklichkeit, eine „mehr jugendliche und mehr salesianische Vereinigung“ und ein volkstümlicher Ausdruck des salesianischen Charismas ist. Sodann gab ich einige Empfehlungen, darunter das besondere Augenmerk gegenüber der Familie, ursprüngliche Trägerin der Erziehung und erster Ort der Evangelisierung. „Man kann die Jugendpastoral nur voranbringen in Einheit mit der Familienpastoral. Die Präsenz von Familien und jungen Paaren, die unter der Führung Mariens einen Lebensweg miteinander teilen, gestaltet von Bildung, Gemeinschaft und Gebet, ist wahrlich ein Geschenk der Vorsehung Mariens, der Helferin der Christen, die die Sorge für die neuen Generationen übernimmt.“ – Alle sind dann in die eigenen Länder abgereist, nachdem sie ein Zusammentreffen beim nächsten Kongress vereinbart hatten, der in Turin und auf dem Colle Don Bosco im Jahr 2015, anlässlich der Zweihundertjahrfeier der Geburt Don Boscos, des großen Geschenks Gottes an die Jugendlichen, gefeiert werden wird.
An zweiter Stelle will ich mit Euch meine Überlegungen zum Weltjugendtag teilen, der vom 16. bis 21. August in Madrid begangen wurde. Wenn es einen Ausdruck gibt, der das gut definieren kann, was man in diesen Tagen erlebt hat, würde ich bekräftigen, dass man sagen könnte, es sei ein Festival des Glaubens gewesen, kein pures Happening oder Rockkonzert. Die Jugendlichen kamen von allen Kontinenten, tatsächlich von jedem Winkel der Erde, aus allen Rassen, Sprachen, Kulturen und den verschiedensten Umfeldern. Das Profil, das diese zwei Millionen Jugendliche vereinte, war das, „eine neue Generation zu sein“. Ein Generation, gebildet aus normalen, fröhlichen, friedlichen, großherzigen Jugendlichen, Träumern, Enthusiasten, Trägern der Hoffnung und der Zukunft, qualifiziert, berufen, nicht einfache Konsumenten von Produkten, Sensationen oder Erfahrungen zu sein; auch nicht bloß Zuschauer dieser Weltgeschichte, sondern vielmehr Protagonisten des aktuellen Umwandlungsprozesses der Menschheit und Nachfolger Jesu Christi, stolz, ihren Glauben und ihre Zugehörigkeit zur Kirche zu bezeugen. Der Weltjugendtag hat bewiesen, dass er eine glaubwürdige Manifestation des Glaubens und der Kirche ist sowie ein bedeutsamer Weg der „neuen Evangelisierung“, gerade weil der Weltjugendtag nicht mehr ein bloßer oder gar spektakulärer Event ist, sondern ein Weg des Glaubens mit einer unglaublichen Berufungskraft. Er stellt die immer kostbarere Entdeckung der Synergie dar, nicht nur um die Isolierung zu überwinden, in der sich Jugendliche befinden können, wenn sie das Leben gestalten und den Glauben bezeugen wollen, sondern insbesondere um die Jünger Jesu zu den allgemeinen Zielen zu geleiten; und zwar in der Form, dass sie die Identität, die Jesus seinen Jüngern gegeben hat, in Erfüllung gehen lassen: „Salz der Erde, Licht der Welt, eine Stadt auf dem Berge“ zu sein. Das wird in dem Maße möglich sein, wie die jungen Leute aus den Seligpreisungen ihre Identitätskarte machen und arm sind im Geiste, hungrig nach Gerechtigkeit, mild, von Herzen rein und friedensliebend. Natürlich haben alle Personen, sei es in ihrer Einzigartigkeit, sei es in ihren Gruppen und Bewegungen, ihre Sensibilität, ihre Sicht von der Wirklichkeit, eine Art, den Glauben aufzunehmen und zu leben, ihre Spiritualität und demnach ihre Art, die „neue Evangelisierung“ heute zu verstehen und zu verwirklichen. Ohne die Bedeutung und die Notwendigkeit des kerygmatischen Weges zu verneinen, bin ich davon überzeugt, dass es ohne Erziehung keine Evangelisierung gibt, die gilt und die in der Lage ist, Rechenschaft zu geben von der eigenen Hoffnung; dass man den Jugendlichen heute nicht helfen kann, heranzureifen ohne Inkulturation des Evangeliums; dass die religiöse Sprache Antwort geben muss auf eine Jugendkultur von heute, um zu vermeiden, dass die Botschaft unverständlich und unbedeutend und somit unfruchtbar bleibt. Ich schließe, indem ich den großen Wert der Weltjugendtage bekräftige, die in den Jugendlichen die Gefühle des Enthusiasmus, der Prophetie und der Freude erwecken, die jede Gesellschaft braucht, die den Traum nährt, fähig zu sein, den Sinn für die Existenz und die Qualität des Lebens zu erzeugen. Gleichermaßen bekräftige ich die pastoralen Perspektiven, die ein Weltjugendtag wie der in Madrid bietet: Die heutige Welt kann man nicht evangelisieren, es sei denn mittels Personen, die eine tiefe spirituelle Erfahrung erlebt haben, die ihr Leben umgewandelt haben, die die Gnade der Gemeinschaft erfahren haben, bis sie ein Herz und eine Seele wurden, genährt vom Wort und von der Eucharistie und gestützt vom Gebet, bis hin zu dem Punkt, wo sie zu einem alternativen Kulturmodell werden.
Ich erinnere auch daran, dass ich am 15. Oktober in der Eigenschaft als Kommissionsmitglied an der Zusammenkunft „Neue Evangelisatoren für die neue Evangelisation“ teilgenommen habe. Organisiert wurde sie vom neuen Päpstlichen Rat, dem dieses wichtige Thema übertragen wurde. In ihrem Bemühen, bei diesem dringenden Appell an die ganze Kirche präsent zu sein, hat die Vereinigung der Generalobern das Studium aus der typischen Perspektive des Geweihten Lebens eingeleitet und die Wahl von 10 Repräsentanten für die VIII. Vollversammlung der Bischofssynode vollzogen, die vom 7. bis 28. Oktober 2012 stattfinden wird, um das Thema „Die Neue Evangelisierung für die Vermittlung des christlichen Glaubens“ zu studieren. Natürlich wird es die „neue Evangelisierung“ nicht geben ohne „neue Evangelisatoren“, die es gelernt haben, Jünger zu sein, die im Zusammenleben mit Jesus und im intimen Umgang mit Ihm sich Sein Leiden für die Menschheit zu eigen machen und sich wie leidenschaftliche Apostel hingeben für die Errichtung des Reiches, bis ihr Herr wiederkommt. Wenn es keine echte Evangelisierung gibt, die nicht begleitet ist vom Engagement für die menschliche Förderung und vom Interesse für die Kultur, so muss man das mit noch mehr Recht für die „neue Evangelisierung“ bekräftigen. Der Unterschied zwischen der Evangelisierung in ihrer klassischen Ausdrucksform und der „neuen“ Evangelisierung besteht vielleicht in dem Faktum, dass die Verkündigung Gottes ausdrücklicher, mit noch weniger Eigeninteresse und radikal unentgeltlich sein muss. Wen die Menschheit am Ende hören muss, ist der Sohn Gottes, indem sie sein Evangelium aufnimmt, nicht uns und nicht unsere Institutionen oder Lehren. Darum ist das, was letzten Endes zählt, dass die Menschen „das Leben in Fülle haben“. Und hier handelt es sich um etwas, was nur Gott geben und sicherstellen kann. Daher also die Notwendigkeit, Gott zu geben, und nicht nur von Ihm zu reden. Aus diesem Grunde erfordert die „neue Evangelisierung“ die Bekehrung der Menschen (Evangelisatoren und Evangelisierte) und der pastoralen Strukturen, um zu vermeiden, dass diese das Angesicht Gottes verdunkeln, um vielmehr zu bewirken, dass sie die Kraft des lebendigen Gottes durchscheinen lassen.
Das Ordensleben, das in seinen wesentlichen Elementen darauf ausgerichtet ist, eine Gruppe von Männern bzw. Frauen zu sein, die sich vom lebendigen Gott berufen und angezogen fühlen, um Jesus Christus in einer Gemeinschaft von Jüngern nachzufolgen, die in die Welt gesandt sind, der Menschheit zu dienen und in Seinem Namen zu handeln, hat seinen Ursprung im Evangelium; und diese Tatsache hat das Ordensleben immer „evangelisch“ und „evangelisierend“ gemacht. Das Ordensleben muss nichts anderes tun; es ist nur dafür da, dies „zu sein“: ein Leben, das Gott und dem Nächsten geweiht ist.
Aus diesem Grunde ist das Ordensleben berufen, eine wichtige Rolle in der „neuen Evangelisierung“ zu übernehmen; besonders deswegen, weil es als fundamentales Engagement die Verkündigung hat, nämlich das sichtbar und glaubhaft zu machen, was diese Kurzformel des Evangeliums sagt, welches der oben zitierte Text von Joh 3,16,f ist: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.“ Die „neue Evangelisierung“ muss vor allem eine gute Nachricht für die Menschheit sein, bestehend aus der Aufnahme all dessen, was wirklich menschlich ist; fähig Fragen aufzuwerfen, welche die Suche nach Gott wecken; bekleidet von der eigenen Sympathie dessen, der den Anderen ohne Vorurteile annimmt, indem er versucht, ihn zu verstehen; bereit zu einer großen Offenheit für den Dialog, ohne, dass dies Verzicht ist, insofern sie nicht käuflich ist; engagiert in Dingen, für die die Menschheit heute sensibel ist (die Verteidigung der Natur, das Interesse für die Gerechtigkeit, die Freiheit, die Würde und die Rechte der Person, die nachhaltige Entwicklung…); verbunden mit der Fähigkeit, nicht nur die Geschichte zu lesen und die Zeichen der Zeit zu interpretieren, sondern auch, neue Zeichen der Zeit zu schaffen, die dazu verhelfen, der Gesellschaft Dynamik zu verleihen.
Man muss Christus in viel komplexeren Kontexten zu verkünden wissen, die sich oft gegenseitig beeinflussen. Es gibt Menschen, die nie von Gott haben sprechen hören und die keine Notwendigkeit nach ihm verspüren, weil sie gewöhnt sind, ohne seine Präsenz zu leben. Es gibt Personen, die die Religion verlassen haben und praktizierende Atheisten oder Agnostiker geworden sind, ganz und gar in die Immanenz eingefügt ohne eine andere Aspiration, als die unbegrenzte Entwicklung, und ohne jede Transzendenz. Es gibt Personen, die eine volkstümliche Religiösität leben, Frucht einer Kultur, die sie an Gott glauben lässt, ohne dass dieser Glaube sich immer ins Leben übersetzt. Es gibt Personen mit einem Erwachsenenglauben, die in Gott die Wahrheit entdeckt haben und die mit dem Geschenk des Glaubens an Christus in der Kirche ihre Heimat gefunden haben, die berufen ist, „Licht der Nationen“, „Sakrament der Gemeinschaft der Völker“ und „Zeichen des Heils“ zu sein.
Nun, um all das zu tun, hat das Ordensleben die richtigen Karten. Seine erste große Aufgabe war und ist die, ein Zeugnis Gottes, Seines absoluten Seins, verstanden als Wahres, Gutes und Schönes zu sein. Und der erste Beitrag als Angebot an die Welt ist gerade der, ihr Gott zu geben. Die zweite Aufgabe des Ordenslebens ist es, „Experte der Gemeinschaft“ zu sein. Ein Raum, wo Männer und Frauen verschiedenen Alters, verschiedener Kulturen, verschiedener Bildung und Sensibilität sich nach Art der ersten christlichen Gemeinschaft in eine Gemeinschaft integrieren, alles gemeinsam haben und „ein Herz und eine Seele“ bilden. Und diese neue Form der Beziehung produziert jene „kreativen Minderheiten“, die ein alternatives Kulturmodell zum vorherrschenden Modell bilden. Die dritte große Aufgabe des Ordenslebens ist seine Fähigkeit, in die sozialen, kulturellen und religiösen Tätigkeitsfelder zu gehen und sich dort niederzulassen, wo die ärmsten Männer und Frauen sind, die von jedweder Art von Armut (materiell, affektiv, moralisch, spirituell) betroffen sein können, Ausgegrenzte und ihrer Würde und ihrer Rechte Beraubte, um mitzuarbeiten an der Errichtung der „Kultur der Liebe“.
Die ganze Geschichte der Kirche hindurch ist es das, was die verschiedenen Orden, Kongregationen und Institute gemacht haben, indem sie die ihre je eigene Sendung in spezifische Zielsetzungen gemäß den jeweiligen Charismen solchermaßen umgesetzt haben, dass sie dem Plan Gottes und den Bedürfnissen der Menschheit entsprachen.
Es gab in dieser Zeitspanne andere Ereignisse, die ich für wichtig halte, auch wenn ich mich nicht damit aufhalte, sie zu kommentieren. Ich beziehe mich auf die Visite d’Insieme, von denen nur noch die der Region Afrika, Italien-MOR und UPS fehlen; ferner auf die 142. Missionsaussendung, auf das Jahr des Glaubens, auf die 50-Jahrfeier des II. Vatikanischen Konzils.
All das, was ich geschrieben habe, hat etwas mit dem Leitgedanken für 2012 zu tun, weil die Einladung, zu Don Bosco zurückzukehren, ihre richtige Dimension im Zurückkehren-Müssen zu Christus findet. Der Kommentar zum Jahresleitgedanken, den ich Euch anbiete, ist ein wenig besonderer Art, und zwar mit der präzisen kulturellen Stoßkraft, die uns auffordert, eine größere Achtsamkeit gegenüber der Kenntnis unserer Geschichte zu haben, und die gleichzeitig den Mentalitätswechsel ansagt, den wir bei der geschichtlichen Interpretation annehmen müssen. Wichtig ist vor allem die aktualisierende Perspektive, die wir beim Lesen der Geschichte walten lassen müssen. Der Leitgedanke will zum persönlichen Studium motivieren, zum Engagement und zum öffentlichen Angebot von Momenten der geschichtlichen Reflexion. Aber das besagte Studium muss sodann wirksam realisiert werden. Andererseits haben die Ereignisse dieser Jahre – der 150. Jahrestag der Gründung der Kongregation, der 100. Jahrestag des Todes Don Ruas, das 150. Jahrestag der Einheit Italiens – in uns die geschichtliche Mentalität wachsen lassen, die man sich allgemein wieder aneignet. Auch wenn die Punkte 5 und 6 meines Kommentars über die salesianische Geschichtsschreibung oder über die Interpretation unserer Geschichte allzu technisch zu sein scheinen, sind sie doch absolut notwendig. Es ist für alle die große Gelegenheit, in Kontakt zu treten mit der großen Arbeit, die in diesen Jahren geleistet wurde. Der Punkt 7 motiviert schließlich zur Notwendigkeit, ein aktuelles Bild von Don Bosco zu haben. Ich wünsche Euch allen eine tiefgreifende und gewinnbringende Lektüre.
Und hier nun mein Kommentar zum Jahresleitgedanken 2012.
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„Ich bin der gute Hirt.
Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe“
(Joh 10,11).
Liebe Mitbrüder!
Liebe Don-Bosco-Schwestern!
Liebe Mitglieder der Don-Bosco-Familie!
Liebe Jugendliche!
Wir haben seit kurzem das Triennium der Vorbereitung auf die Zweihundertjahrfeier der Geburt Don Boscos begonnen. Dieses erste Jahr gibt uns die Gelegenheit, uns ihm anzunähern, um ihn besser kennen zu lernen. Wenn wir Don Bosco nicht kennen und ihn nicht studieren, können wir seinen geistlichen Weg und seine pastoralen Entscheidungen nicht kennen lernen. Wir können ihn nicht lieben, nicht nachahmen und nicht anrufen. Und insbesondere: Es wird uns schwerfallen, heute sein Charisma in die Kulturen der vielfältigen Kontexte und in die verschiedenen Situationen einzubringen. Nur wenn wir unsere charismatische Identität stärken, können wir der Kirche und der Gesellschaft einen bedeutsamen und reichhaltigen Dienst an den Jugendlichen anbieten. Unsere Identität findet ihren unmittelbaren Bezug im Angesicht Don Boscos. In ihm wird die Identität glaubhaft und sichtbar. Deshalb ist der erste Schritt, den zu tun wir im Triennium der Vorbereitung eingeladen sind, eben das Kennenlernen der Geschichte Don Boscos.
1. Kennenlernen Don Boscos und Engagement für die Jugendlichen
Wir sind eingeladen, Don Bosco zu studieren und ihn durch die Ereignisse in seinem Leben als Erzieher und Seelsorger, als Gründer, Leiter und „Gesetzgeber“ kennen zu lernen. Es handelt sich um ein Kennenlernen, das zur Liebe, zur Nachahmung und zur Anrufung führt.
Für uns Mitglieder der Don Bosco-Familie muss seine Gestalt das sein, was der hl. Franz von Assisi für die Franziskaner und der hl. Ignatius von Loyola für die Jesuiten gewesen ist und auch weiterhin ist: nämlich der Gründer, der spirituelle Lehrmeister, das Leitbild der Erziehung und der Evangelisierung, vor allem der Initiator einer Bewegung von weltweitem Ausmaß, der mit einer außergewöhnlichen Wirkkraft fähig war, die Kirche und die Gesellschaft auf die Belange der Jugendlichen, ihre Lebensbedingungen und ihre Zukunft aufmerksam zu machen. Aber wie sollen wir das tun, ohne uns an die Geschichte zu wenden, die nicht nur der Wächter einer nunmehr verlorenen Vergangenheit ist, sondern vielmehr ein lebendiges Gedenken, das in uns tragen und das mit Blick auf die Gegenwart an uns appelliert?
Die Annäherung an Don Bosco, die sich mit den der geschichtlichen Forschung eigenen Methoden vollzieht, lässt uns besser seine menschliche und christliche Größe, seine praxisbezogene Genialität, seine erzieherischen Gaben, seine Spiritualität und sein Werk erkennen und ermessen, die ja nur aus ihrem soziokulturellen Kontext heraus zu verstehen sind, in dem sie zutiefst verwurzelt waren. Mit einer tieferen Erkenntnis der geschichtlichen Dimension des Lebens Don Boscos bleiben wir uns zugleich immer des Eingreifens der Vorsehung Gottes in seinem Leben bewusst. In diesem geschichtlichen Studium ist nicht von vorneherein eine Zurückweisung der überaus respektablen Bilder Don Boscos zu sehen, die Generationen von Salesianern, Don-Bosco-Schwestern, Salesianischen Mitarbeitern und andere Mitglieder der Don-Bosco-Familie hatten; d.h. des Don Boscos, den sie gekannt und geliebt haben. Aber es gibt und braucht auch die Darstellung und Neuinterpretation eines Bildes Don Boscos, das aktuell ist, zur Welt von heute spricht und eine zeitgemäße Sprache benutzt.
Das Bild Don Boscos und seines Handelns wird ernsthaft rekonstruiert, wenn man von unserem kulturellen Horizont ausgeht, d.h. von der Komplexität des heutigen Lebens, von der Globalisierung, von der postmodernen Kultur, von den Schwierigkeiten der Pastoral, von der Abnahme der Berufungen und von der „In-Frage-Stellung“ des geweihten Lebens. Die radikalen und epochalen Veränderungen, wie mein Vorgänger Don Egidio Viganò sie nannte, verlangen von uns, das Bild Don Boscos zu revidieren und es in einem anderen Licht neu zu bedenken, um einer neuen Treue willen, die nicht mehr einfach Wiederholung von Formeln und rein formaler Gehorsam gegenüber der Tradition ist. Die geschichtliche Bedeutung Don Boscos ist aufzuspüren, und zwar über seine „Werke“ und einige seiner relativ ursprünglichen pädagogischen Elemente hinaus vor allem in seiner konkreten und affektiven Wahrnehmung von der universalen, theologischen und sozialen Tragweite des Problems der „verlassenen Jugend“ sowie in seiner Fähigkeit, diese Wahrnehmung zahlreichen Mitarbeitern, Wohltätern und Sympathisanten zu vermitteln.
Don Bosco treu zu sein, bedeutet: ihn in seiner Geschichte und in der Geschichte seiner Zeit kennen zu lernen, seine Inspirationen zu den unsrigen zu machen, seine Motivationen und Entscheidungen zu übernehmen. Don Bosco und seiner Sendung treu zu sein, heißt: in uns eine beständige und starke Liebe zu den Jugendlichen, besonders den ärmsten, zu pflegen. Diese Liebe führt uns dazu, auf ihre dringendsten und tiefsten Bedürfnisse einzugehen. Wie Don Bosco fühlen wir uns von ihren schwierigen Situationen berührt: ihrer Armut, der Kinderarbeit, der sexuellen Ausbeutung, dem Mangel an Erziehung und Berufsausbildung, ihren Schwierigkeiten bei der Eingliederung in die Arbeitswelt, ihrem geringen Selbstvertrauen, ihrer Zukunftsangst oder ihrem mangelnden Lebenssinn.
Mit tiefer Zuneigung und uneigennütziger Liebe und zugleich mit Diskretion und persönlicher Autorität suchen wir, mitten unter ihnen präsent zu sein und ihnen gültige Vorschläge für ihren weiteren Weg, für ihre Lebensentscheidungen und für ihr gegenwärtiges und zukünftiges Glück anzubieten. In all dem erweisen wir uns als ihre Weggefährten und kompetenten Begleiter (guide). Insbesondere versuchen wir, ihre neue Lebensart zu verstehen. Viele von ihnen sind „digital natives“ („digitale Eingeborene“)1 und suchen durch die neuen Technologien Erfahrungen der sozialen Mobilisierung, Möglichkeiten der intellektuellen Entwicklung, Ressourcen des ökonomischen Fortschritts, spontane Kommunikation und Möglichkeiten der Selbstverwirklichung. Auch in diesem Bereich wollen wir an ihrem Leben teilnehmen und ihre Interessen teilen. Animiert vom kreativen Geist Don Boscos, nähern wir Erzieher uns als „digital immigrants“ („digitale Einwanderer“) den Jugendlichen an und versuchen ihnen zu helfen, die Generationenkluft zwischen ihnen und ihren Eltern und überhaupt der Welt der Erwachsenen zu überwinden.
Wir kümmern uns von der Kindheit bis zur Jugend während des gesamten Weges ihres Wachstums und ihrer Reifung um sie, indem wir ihnen unsere Zeit und unsere Energien widmen.
Wir nehmen uns ihrer an, wenn schwierige Situationen wie Krieg, Hunger oder Mangel an Perspektiven sie zum Verlassen ihres Zuhauses und ihrer Familie zwingen und sie ihr Leben allein meistern müssen.
Wir stehen ihnen zur Seite, wenn sie, oft ohne Hoffnung und Erfolgsaussicht, nach dem Studium oder der beruflichen Qualifizierung voller Sorge auf der Suche nach einem Arbeitsplatz sind und wenn sie sich um die Eingliederung in die Gesellschaft bemühen.
Wir kümmern uns um sie, wenn sie dabei sind, die Welt ihrer Gefühle kennen zu lernen und eine Familie aufzubauen, und begleiten sie besonders in der Zeit der Verlobung, in den ersten Jahren ihrer Ehe und bei der Geburt ihrer Kinder (vgl. 26. GK, Nr. 98.99.104).
Es liegt uns besonders am Herzen, die tiefe Leere im Herzen der Jugendlichen zu füllen, indem wir ihnen bei der Suche nach dem Sinn ihres Lebens behilflich sind und ihnen einen Weg des Wachstums aufzeigen im Kennenlernen der Person Jesu Christi und in der Freundschaft mit Ihm, in der Erfahrung einer lebendigen Kirche sowie im konkreten Bemühen, ihr Leben als Berufung zu leben.
Hier nun das spirituelle und pastorale Programm für das Jahr 2012:
„Wie Don Bosco nehmen wir die jungen Menschen als unseren Lebensauftrag an.“2
Schon zahlreiche Gruppen der Don-Bosco-Familie befinden sich in Übereinstimmung mit diesem Engagement, das uns alle bereichern wird, wenn wir unseren Blick gemeinsam auf unseren lieben Vater Don Bosco richten. Gehen wir daher immer mehr gemeinsam als eine (geistliche) Familie voran.
2. Zur Wiederentdeckung der Geschichte Don Boscos
Don Bosco weckt auch weiterhin das Interesse vieler Menschen in zahlreichen Ländern, und das auch mehr als ein Jahrhundert nach seinem Tod. Man hält ihn auch außerhalb des salesianischen Umfeldes für eine bedeutsame Gestalt. Obwohl die Übertreibungen, die seine Gestalt viele Jahrzehnte umgeben und das kollektive Bild von ihr beeinträchtigt haben, notwendigerweise hinfällig geworden sind, bleibt Don Bosco auch weiterhin eine Persönlichkeit von bemerkenswertem Format, die hohe Zustimmung findet. Eine lange Reihe von Päpsten und Kardinälen, Bischöfen und Priestern, katholischen und nichtkatholischen Wissenschaftlern und Politikern verschiedener Ausrichtung in Italien, in Europa und in der der ganzen Welt hat ihn anerkannt und anerkennt ihn auch heute als Bringer einer modernen, prophetischen, zwar geschichtlich bedingten, aber einer für viele aktuelle Projektionen offenen sowie für die weitesten Räume und Zeiten virtuell verfügbaren Botschaft.
Die Hundertjahrfeier seines Todes (1988), die 150-Jahrfeier der Gründung der salesianischen Kongregation (2009), jetzt die Vorbereitung auf die Zweihundertjahrfeier seiner Geburt und andere besondere Gelegenheiten haben eine blühende Produktion auf dem Büchermarkt und auf journalistischem Gebiet gefördert. Neben Studien und Forschungen von hohem wissenschaftlichem Niveau sind auch andere bescheidenere Veröffentlichungen erschienen, die sich gegen Deutungen wandten, welche sich auf unbegründete kritische Prämissen und unzulängliche geschichtliche Analysen von Seiten anderer stützten.
Die Gestalt Don Boscos ist ganz rund und nicht zurückführbar auf einfache Formeln oder auf journalistische Titel. Sie ist eine komplexe Persönlichkeit, die zu einer bestimmten Zeit von gewöhnlichen und außergewöhnlichen Wirklichkeiten, von konkreten, ideellen und hypothetischen Projekten, von einem alltäglichen Stil des Lebens und Handelns und zugleich von besonderen Beziehungen zum Übernatürlichen geformt wurde. Eine solche Figur kann nicht angemessen begriffen werden, wenn nicht in ihrer Vielseitigkeit und Mehrdimensionalität. Wird dies nicht beachtet, riskiert die Darstellung eines oder einiger Aspekte, die vielleicht bewusst oder unbewusst für ein vollständiges Profil ausgetauscht wurden, seine Physiognomie zu verfälschen.
Man ist manchmal perplex angesichts von Werken, in denen die Apologetik und die kitschige Beschreibung Don Boscos sehr viel Raum einnehmen und in denen die Preisung seiner Figur sehr zum Schaden der Wahrheit der Persönlichkeit die Übermacht gewinnt, in denen er vielleicht sogar in Stereotypen beschrieben wird, auf die Don Bosco so gut wie nie zurückführbar ist. Das gilt vor allem in diesem geschichtlichen Moment, in dem man Lebensgeschichten der Heiligen verbreitet, die mit einer neuen Kriteriologie (d.h. mit neuen Kriterien der wissenschaftlichen Erkenntnis) geschrieben worden sind. Eine neue Art von Hagiographie3 hat zurzeit Geltung gewonnen, die auf begründeten historischen Interpretationen und auf einem erneuerten theologischen Verständnis der spirituellen Erfahrung der Heiligen basieren. Ich wünsche deshalb die Vorbereitung einer modernen „Hagiographie“ Don Boscos. Während sie sich auf die neuen historischen Studien stützen muss, ist sie gefordert, die Liebe zu ihm, die Nachahmung seines Lebens und den Wunsch, seinen geistlichen Weg zu vollziehen, zu wecken. Das Gleiche gilt für eine neue Hagiographie, die sich an die Jugendlichen richtet.
3. Die Motivationen zum Studium der Geschichte Don Boscos
Es gibt zweifellos zahlreiche Motive, die uns veranlassen, Don Bosco zu studieren. Wir müssen ihn kennen als unseren Gründer (Fondatore), weil er unsere Treue zu der Institution fordert, zu der wir gehören. Wir müssen ihn kennen als „Gesetzgeber“ (legislatore), insofern wir gehalten sind, die Konstitutionen und Satzungen zu beobachten, die er selbst oder die seine Nachfolger uns gegeben haben. Wir müssen ihn als Erzieher (educatore) kennen, damit wir das Präventivsystem, das kostbarste Erbe, das er uns hinterlassen hat, leben können. Wir müssen ihn besonders als Lehrer (maestro) des geistlichen Lebens kennen, und zwar auf Grund der Tatsache, dass wir als seine Söhne und Schüler, als seine Töchter und Schülerinnen aus dem Reichtum seiner Spiritualität schöpfen; er hat uns in der Tat einen Schlüssel zum Verständnis des Evangeliums geschenkt; sein Leben ist für uns ein Kriterium, um mit besonderen Kennzeichen die Nachfolge Jesu Christi zu verwirklichen; diesbezüglich habe ich im Januar 2004 einen Brief an die salesianischen Mitbrüder mit dem Titel„Christus mit dem Blick Don Boscos betrachten“ geschrieben.4
Heute wächst in uns das Bewusstsein für das Risiko, das wir eingehen, wenn wir die Bindungen, die uns mit Don Bosco vereinen, nicht stärken. Die historische, zugleich begründete und affektive Kenntnis Don Boscos hilft uns, diese Bindungen lebendig zu erhalten. Die Grundausbildung und die lebenslange Fortbildung müssen die salesianischen Studien fördern. Es ist nun mehr über ein Jahrhundert seit dem Tod Don Boscos vergangen. Die Generationen, die direkt oder indirekt mit ihm in Kontakt waren und die ihn persönlich gekannt haben, sind gestorben. Mit der Zunahme der zeitlichen, geographischen und kulturellen Entfernung zu ihm nehmen auch das affektive Klima und die psychologische Nähe immer mehr ab, durch die uns Don Bosco und sein Geist – vielleicht schon beim bloßen Anblick seines Bildes – spontan vertraut waren. Das, was überliefert wurde, kann verloren gehen; die lebendige Verbindung zu Don Bosco kann zerbrechen. Wenn einmal die Beziehung zu unserem gemeinsamen Vater, zu seinem Geist, zu seiner Praxis, zu seinen inspirierenden Kriterien schwächer geworden sein sollte, würden wir als Don-Bosco-Familie kein Bürgerrecht mehr in der Kirche und in der Gesellschaft haben, weil wir unserer Wurzeln und unserer Identität beraubt wären.
Darüber hinaus ist das Lebendigerhalten der Erinnerung an die eigene Geschichte die Garantie dafür, eine solide Kultur zu haben. Ohne Wurzeln gibt es keine Zukunft. Deshalb haben die Organisation der historischen Erinnerung und die Möglichkeit ihrer Nutzung eine beachtliche Bedeutung; die Erinnerung ist ein Verweis auf die gemeinsamen Wurzeln, die uns anregen, die Probleme unserer Gegenwart mit einem reiferen Bewusstsein unserer Vergangenheit zu überdenken. Das ist die Garantie dafür, dass – natürlich mit den geschichtlichen Wandlungen und den unvermeidlichen Veränderungen – die Don-Bosco-Familie fortfahren wird, Trägerin des Ursprungscharismas zu sein und zur wachsamen und kreativen Hüterin einer fruchtbaren Tradition zu werden.
Natürlich darf das Bewusstsein um die Vergangenheit nicht zur rein äußerlichen Verpackung werden. Man muss die wesentliche geschichtliche Bedeutung kritisch unterscheiden können vom zufälligen Beiwerk und von unbegründeten subjektiven Interpretationen. Auf diese Weise wird man es verhindern, Rekonstruktionen, die wenig mit der „wahren Geschichte“ zu tun haben, charismatische Geschichtlichkeit beizumessen. Eine solche Form, Geschichte zu betreiben, wird manchmal angewandt, um das ernsthafte Problem der Rekonstruktion des geschichtlichen Kontextes zu vermeiden. Auch in der Interpretation der Geschichte Don Boscos bedarf es einer gesunden Unterscheidungsfähigkeit. Auch für uns wird die Mahnung des Papstes Leo XIII. immer Geltung haben: Der Historiker darf niemals etwas Falsches sagen und nichts Wahres verschweigen. Wenn ein Heiliger irgendeinen schwachen Punkt hat, muss man ihn ehrlicherweise anerkennen. Die Darstellungen der Unvollkommenheiten der Heiligen haben den dreifachen Vorteil: die geschichtliche Genauigkeit zu respektieren, das Absolute Gottes zu betonen und uns tönerne Gefäße zu ermutigen, uns aufzuzeigen, dass auch im Helden Christi das Blut kein Wasser war.
Die Notwendigkeit und die Dringlichkeit einer vertieften und systematischen Kenntnis Don Boscos wurden in diesen letzten Jahrzehnten von offiziellen Dokumenten und durch maßgebliche Aussagen meiner beiden Vorgänger unterstrichen. Ich selbst habe mich im Brief Ende des Jahres 2003 mit diesen Worten ausgedrückt:
„Don Bosco gelang es, jung zu sein und somit im Einklang zu stehen mit der Zukunft, indem er inmitten der Jugendlichen lebte… In der Erfahrung von Valdocco ist es klar, dass es eine Reifung der Sendung gegeben hat und somit einen Übergang von der Freude, ‚bei Don Bosco zu sein’, hin zur Haltung, ‚für die Jugendlichen bei Don Bosco zu sein’, vom: ‚in fester Form für die Jugendlichen bei Don Bosco zu sein’, hin zum: ‚in fester Form mit Gelübden bei Don Bosco für die Jugendlichen zu sein’. Das Bleiben-bei-Don-Bosco schließt nicht von vornherein die Aufmerksamkeit für seine Zeiten aus, die ihn formten oder bedingten; es erfordert vielmehr, mit seinem Engagement seine Optionen, seine Entscheidungen und seinen Unternehmungs- und Fortschrittsgeist zu leben. (…) All das macht aus Don Bosco einen faszinierenden Menschen und in unserem Fall einen Vater, der zu lieben ist, ein Leitbild, das nachzuahmen ist, aber auch einen Heiligen, der anzurufen ist… Wir werden uns dessen bewusst: Je mehr sich die Distanz zum Gründer vergrößert, umso realer wird das Risiko, von Don Bosco auf der Basis von Gemeinplätzen und Anekdoten zu sprechen, ohne eine echte Kenntnis unseres Charismas zu haben. Daher besteht die Notwendigkeit, ihn durch die Literatur und das Studium kennen zu lernen; ihn affektiv und effektiv als Vater und Lehrmeister seines geistlichen Erbes zu lieben; und ihn nachzuahmen, indem wir versuchen, uns ihm gleich zu gestalten und aus der Lebensregel unseren persönlichen Lebensentwurf zu machen. Das ist der Sinn der Rückkehr zu Don Bosco, zu der ich mich und die ganze salesianische Kongregation seit meiner ersten ‚Gute-Nacht-Ansprache’ eingeladen habe, und zwar durch ein Studium und eine Liebe, die danach trachten, zu verstehen, um unser Leben und die aktuellen Herausforderungen zu beleuchten. Zusammen mit dem Evangelium ist Don Bosco unser Kriterium zur Unterscheidung und unser Identifikationsziel.“5
Meine Sicht ist nicht allzu weit entfernt von den Überlegungen Don Francesco Bodratos, des ersten Provinzials in Argentinien, der am 5. März 1877 in einem Brief an seine Novizen schrieb:
„Wer ist Don Bosco? Ich sage es euch genauso, wie ich es aufgenommen und von anderen habe sagen hören. Don Bosco ist unser geliebtester und gütigster Vater. Das sagen wir alle, die wir seine Söhne sind. Don Bosco ist ein Mann der Vorsehung oder ein Mann der Vorsehung der Zeiten. Das sagen die wahrhaft Gelehrten. Don Bosco ist der Mensch der Philanthro-pie, der Menschenliebe. Das sagen die Philosophen. Und ich sage, nachdem ich all das angenommen habe, was die Vorgenannten sagen, dass Don Bosco wirklich jener wahre Freund ist, den die Hl. Schrift einen großen Schatz nennt. Nun, wir haben diesen wahren Freund und diesen großen Schatz gefunden. Die heiligste Mutter Maria hat uns das Licht gegeben, um ihn kennen zu lernen, und der Herr erlaubt uns, ihn zu besitzen. Also wehe dem, der ihn verliert. Und ihr solltet wissen, meine lieben Brüder, wie viele Personen uns um unser Glück beneiden… Und wenn ihr mit mir darin übereinstimmen solltet, an Don Bosco als den wahren Freund der Hl. Schrift zu glauben, dann müsst ihr darauf achten, ihn immer zu besitzen, und dafür sorgen, ihn in euch selbst nachzuahmen.“6
Nicht umsonst stellen das Vorwort und die Artikel 21, 97 und 196 der aktuellen Konstitutionen der Salesianischen Kongregation von 1984 Don Bosco als „Leitbild“ und „Modell“ dar; und die Konstitutionen selbst sind definiert als sein „lebendiges Testament“. Ähnliche Ausdrucksweisen findet man auch in der Lebensregel anderer Gruppen der Don-Bosco-Familie. Für uns alle, die wir Don Bosco als unseren Bezugspunkt betrachten, ist er weiterhin unser Gründer, der Lehrmeister unseres Geistes, unser Leitbild in der Erziehung, der Initiator einer Bewegung mit weltweiter Resonanz, der fähig war, der Kirche und der Gesellschaft mit bewundernswerter Kraft die Achtsamkeit für die Bedürfnisse der Jugendlichen, für ihre Wirklichkeit und für ihre Zukunft zu vermitteln. Wir können nicht anders, als uns zu fragen, ob unsere geistliche Familie heute noch eine solche Kraft darstellt; ob wir noch jenen Mut und jene Phantasie haben, die Don Bosco zu eigen waren; und ob wir zu Beginn des dritten Jahrtausends noch fähig sind, seine prophetischen Haltungen hinsichtlich der Verteidigung der Rechte des Menschen und der Rechte Gottes anzunehmen.
Die salesianische Literatur, das salesianische Verlagswesen sowie der Buchhandel, die salesianische Predigt, die Rundbriefe der Verantwortlichen auf verschiedenen Ebenen, die internen Mitteilungen der Don-Bosco-Familie müssen auf der Höhe der Situation sein. Die traditionelle Popularität der salesianischen Literatur, die Verbreitung derselben dürfen nicht Oberflächlichkeit des Inhalts, Desinformation, Wiederholung einer unglaubwürdigen Vergangenheit bedeuten. Wer die Gabe oder die Pflicht oder die Gelegenheit hat, zu sprechen, zu schreiben, zu gestalten, die anderen zu erziehen, ist zu einem ständigen „Aggiornamento“ (Aktualisierung) des Objekts seiner Reden und seiner Schriften verpflichtet. Auch die Arbeitsinstrumente der populären (volkstümlichen) Kommunikation müssen von möglichst hoher Qualität und Zuverlässigkeit sein
Nachdem hier auf die Notwendigkeit und die Dringlichkeit hingewiesen wurde, Don Bosco kennen zu lernen und zu studieren, die für die ganze Don-Bosco-Familie, für die einzelnen Gruppen, Gemeinschaften, Vereinigungen und Personen gelten, ist der Weg erst noch zu gehen. Der aufgezeigte Weg ist noch nicht der zurückgelegte Weg. Es kommt auf einen jeden an, Schritte, Modalitäten, Ressourcen, Etappen und Gelegenheiten zu benennen, damit diese Verpflichtung im Verlauf dieses Jahres verwirklicht wird. Wir können nicht zur Zweihundertjahrfeier gelangen, ohne Don Bosco besser kennen zu lernen.
4. Die aktualisierende Funktion der Geschichte
Um diese Ziele zu erreichen, genügt es nicht, dass die Größe Don Boscos im Bewusstsein eines jeden gegenwärtig ist. Unentbehrliche Bedingung ist es, ihn gut zu kennen, und zwar über das überaus sympathische Erzählen von Anekdoten hinaus, das unseren geliebten Vater umgibt und das auch die erbauliche Literatur prägt, an der sich ganze Generationen gebildet haben. Es geht nicht darum, leichte Rezepte zu erforschen, um als geistliche Familie der „aktuellen“ Krise der Kirche und der Gesellschaft gegenüber zu treten, sondern darum, ihn in der Tiefe kennen zu lernen, so dass er „aktualisiert“ werden kann an der Schwelle des Dritten Jahrtausends in den verschiedenen kulturellen Kontexten, in denen wir leben, und in den verschiedenen Ländern, in den wir arbeiten. Notwendig ist ein Kennenlernen Don Boscos, das von der ständigen Spannung lebt zwischen unseren Fragen in Bezug auf die Gegenwart und der Erforschung der Antworten, die aus der Vergangenheit stammen. Nur so werden wir das salesianische Charisma in die heutige Kultur einbringen können.
Man muss der Tatsache Beachtung schenken, dass in den „Wechselhaftigkeiten der Geschichte“ eine charismatische Bewegung nur unter der Bedingung wachsen und sich entwickeln kann, dass das Gründungscharisma „auf lebendige Weise neu interpretiert“ wird und nicht ein „kostbares Fossil“ bleibt. Die Gründer haben die Erfahrung des Heiligen Geistes in einem bestimmten geschichtlichen Kontext gemacht. Deshalb ist es notwendig, die Elemente der zufälligen Umstände ihrer Erfahrung zu bestimmen, insofern die Antwort auf eine ganz bestimmte historische Situation Geltung hat, solange diese Umstände andauern. Mit anderen Worten: Die „Fragen“ der heutigen kirchlichen Gemeinschaft und die Fragen des aktuellen sozio-kulturellen Kontextes können nicht als etwas betrachtet werden, das unserer heutigen Geschichtsforschung „fremd“ ist. Diese muss bestimmen, was vorübergehender und was im Charisma von bleibender Natur ist; was zurück gelassen werden muss und was aufgenommen werden muss; was unserem Kontext fern und was ihm verwandt ist.
Es ist nicht möglich, diese Aktualisierung zu vollziehen, ohne sich an die Geschichte zu wenden, die – wie schon gesagt – nicht die Wächterin einer schon verlorenen Vergangenheit, sondern einer Erinnerung ist, die in uns lebt, oder besser gesagt: die in Funktion der Aktualität steht. Ein „aggiornamento“7, gemacht in Unkenntnis der Fortschritte der Geschichtswissenschaft, ist kaum ein nützliches Tun. Ebenso führen die in dilettantischer Weise angestellten Erforschungen und Lektüren ohne klare Hypothesen, ohne angemessene Methoden und solide Arbeitsinstrumente, über einen vielleicht lebendigen und aktuellen geschichtlichen Gedanken hinaus, nicht zu großen geschichtlichen und aktualisierenden Resultaten. Die Geschichtsschreibung bringt eine ständige kritische Überprüfung der behaupteten Urteile mit sich; dies ist eine notwendige Revision, insofern wir anerkennen müssen, dass die Vergangenheit nicht errichtet werden kann wie eine Art Monument nur zum Betrachten, gerade weil sie grundsätzlich gebunden ist an die Person dessen, der sie kennen lernen will.
Man darf die Tatsache nicht unterschätzen, dass die Geschichte Don Boscos nicht nur die „unsrige“ ist, sondern die Geschichte der Kirche und der Menschheit. Darum dürfte sie in der kirchlichen und zivilen Geschichtsschreibung der einzelnen Länder nicht fehlen, dies umso mehr, als die salesianische Geschichte aus dynamischen Interaktionen besteht, aus Verbindungen der Abhängigkeit und der Zusammenarbeit, manchmal auch der Auseinandersetzungen mit der sozialen, politischen, ökonomischen, kirchlichen und religiösen, erzieherischen und kulturellen Welt. Nun kann man nicht verlangen, dass die „andern“ unsere „Geschichte“, unsere „Pädagogik“, unsere „Spiritualität“ berücksichtigen, wenn wir ihnen nicht moderne Instrumente zu deren Erforschung zur Verfügung stellen. Der Dialog mit den andern kann nur zustande kommen, wenn wir denselben sprachlichen Kodex haben, dieselben begrifflichen Instrumente, die gleichen Kompetenzen und dieselbe Professionalität. Ist das nicht der Fall, stehen wir am Rande der Gesellschaft, weit weg von der kulturellen Debatte, weit weg von den Orten, an denen sich die Lösungen der Probleme der Gegenwart orientieren. Der Ausschluss aus der laufenden kulturellen Debatte würde in jedem Land auch die geschichtliche Bedeutungslosigkeit der Salesianer, ihre soziale Ausgrenzung und das Fehlen unseres erzieherischen Beitrags bedeuten. Deshalb wünsche ich ein erneuertes Engagement in der Vorbereitung qualifizierter Personen für das Studium und die Erforschung auf dem Gebiet der salesianischen Geschichte.
Die salesianische Literatur, das salesianische Verlagswesen, die salesianische Predigt, die Rundschreiben der Verantwortlichen auf den verschiedenen Ebenen und die internen Mitteilungen für die Don-Bosco-Familie müssen auf der Höhe der Zeit sein.öheHöhe der Situation seinH Die traditionelle Volkstümlichkeit der salesianischen Literatur und ihrer Verbreitung dürfen nicht inhaltliche Oberflächlichkeit, Desinformation und Wiederholung einer unglaubwürdigen Vergangenheit bedeuten. Wer die Gabe, die Aufgabe oder die Gelegenheit hat, zu sprechen oder zu schreiben oder die andern zu bilden und zu erziehen, bedarf eines ständigen „Aggiornamento“ des Gegenstandes seiner Ansprachen und Schriften. Die Arbeitsinstrumente der sozialen Kommunikation müssen von möglichst hoher Qualität und Glaubwürdigkeit sein.
Das Studium Don Boscos ist die Bedingung, um sein Charisma und seine Aktualität vermitteln zu können. Ohne Kenntnis können keine Liebe, keine Nachahmung und keine Anrufung im Gebet wachsen. Nur die Liebe spornt sodann zum Kennenlernen an. Es handelt sich also um ein Kennenlernen, das aus der Liebe entspringt und zur Liebe anspornt: ein affektives Kennenlernen.
5. Über hundert Jahre Geschichtsschreibung „im Dienst des Charismas“
Die salesianische historiographische Produktion hat im Verlauf von mehr als 150 Jahren einen beachtlichen Weg zurückgelegt, ausgehend von den ersten bescheidenen biographischen Profilen Don Boscos der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts bis hin zu den rühmenden Biographien, die sich an einer theologischen, anekdotischen und wundergläubigen Literatur seines Lebens und seines Werkes inspirierte, die seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert eine große Verbreitung fanden. Die feierlichen Anlässe der Selig- und Heiligsprechung Don Boscos standen natürlich am Beginn einer Serie von kleinen Schriften und Werken spiritueller und erbaulicher Art. Analog könnte man für den pädagogischen Bereich von der reichhaltigen Serie von Schriften und Debatten über Don Bosco als Erzieher reden, und zwar im Gefolge der Einführung der Präventivmethode Don Boscos in die Schulprogramme der Lehrerbildungsanstalten in Italien.
Unmittelbar nach dem Krieg und in den fünfziger Jahren begannen die neuen salesianischen Generationen eine Art Unruhe auszudrücken über die hagiographische Literatur der Vergangenheit. Es entstand die Notwendigkeit einer Lebensbeschreibung des Gründers, die nicht nur auf Erbauung und Apologie abzielte, sondern ebenso auf die Wahrheit der Person in all ihren vielfältigen Aspekten: d.h. eine Hagiographie, die in die Geschichte eintauchen und als solche alle sich stellenden Aufgaben, Pflichten und Richtungen annehmen sollte. Man forderte in gewisser Weise die Notwendigkeit, aus einem bereits festgelegten Kreis hauszutreten, um eine Neubewertung der Geschichte Don Boscos zu fördern, welche sprachlich aufmerksam, kritisch im Umgang mit den Quellen und historisch von den modernen Methoden geleitet war. Man musste über die eigene Sichtweise der ersten Salesianer hinausgehen, die zweifellos stark theologisch und vom Vorsehungsglauben sowie vom Wunderglauben geprägt war und dazu neigte, die Wirklichkeit des Kontextes und die in der Zeit wirksamen Kräfte aus dem Blickfeld zu verlieren.
Ähnliche Perspektiven des Studiums und der Vertiefung der Person Don Boscos, die man schon seit einiger Zeit angesagt hatte, erhielt einen starken Ansporn durch den Aufruf des II. Vatikanischen Konzils, zu den menschlichen und spirituellen Ursprüngen des Gründers und der Gründung im Hinblick auf die notwendige Erneuerung des geweihten Lebens zurückzukehren.8 Das erforderte als unverzichtbare Bedingung die Kenntnis der geschichtlichen Gegebenheiten. Ohne einen soliden Bezug zu den Wurzeln wäre das „Aggiornamento“ Gefahr gelaufen, zur willkürlichen und unsicheren Erfindung zu werden. Und so vertiefte man im neuen kulturellen Klima der sechziger Jahre durch Voraussetzungen, Ausrichtungen, Methoden und Instrumente einer zeitgemäßen Erforschung, die von der seriösen Gesichtsforschung geteilt werden, die Kenntnis des Erbes Don Boscos, das so reich an Ereignissen und Orientierungen, an Bedeutungen und Möglichkeiten ist. Man identifizierte die spezifische geschichtliche Bedeutung seiner Botschaft, man definierte die unvermeidlichen persönlichen, kulturellen, institutionellen Grenzen, die quasi paradoxerweise die Bedingungen der Vitalität in Gegenwart und Zukunft vorwegnahmen und noch vorwegnehmen.
6. Auf dem Weg zu einem hermeneutischen Verständnis der salesianischen Geschichte
Als erste Anforderung der Erneuerung hat das Zweite Vatikanische Konzil also dazu aufgerufen, zu den Quellen zurückzukehren. Die Kongregation hat diesbezüglich zahlreiche Bände der „Opere Edite“ und auch bisher unveröffentlichter Werke Don Boscos publiziert. Das Studienzentrum Don Bosco („Centro Studi Don Bosco“) an der UPS und das historische salesianische Institut („Istituto Storico Salesiano“) im Generalat der Salesianer haben diese Aufgabe übernommen. Dank ihrer Arbeit stehen Tausende von Schriftseiten Don Boscos in wissenschaftlich betreuten und überprüften Ausgaben zu unserer Verfügung, so dass die notwendige philologische Analyse möglich ist. Wie kann man den berühmten „Rombrief“ (1884), den Don Lemoyne im Namen Don Boscos redigierte, wirklich verstehen, wenn man nicht zutiefst die schwierige disziplinäre Situation kennt, die man in Valdocco erlebte und die fast zur selben Zeit den „Rundbrief über die Strafen“ (1883) hervorbrachte? Hat ein von Don Bosco selbst geschriebener Brief, der von ihm durchlitten worden ist, der durchtränkt ist von seinen Korrekturen, Einfügungen und Randbemerkungen, vielleicht denselben Wert wie ein Rundbrief, der möglicherweise von einem seiner Mitarbeiter geschrieben und von Don Bosco nur einfach unterschrieben worden ist? Welche Bedeutung soll man den von Don Bosco unterschriebenen Arbeitsverträgen beimessen, wenn man sie in Beziehung setzt zu vorangegangenen oder zeitgleichen Verträgen, die von anderen Personen in Turin redigiert wurden?
Auf die philologische Analyse muss die geschichtlich-kritische Analyse folgen, die sowohl den ausdrücklichen Inhalt der Quellen in Betracht zieht, als auch das, was sie oberflächlich gelesen nicht aussagen, aber andeuten und durchblicken lassen. Kein Text, erst recht nicht diejenigen Don Boscos, der eine in der Geschichte „Mensch gewordene“ Person ist, ist verständlich ohne Bezug zu der Zeit, in der er geschrieben wurde, und zwar in einem bestimmten Kontext, in Beziehung zu bestimmten Personen und gemäß bestimmten Zielsetzungen. Wie ich gesagt habe, die Schriften Don Boscos und über Don Bosco enthalten die Interpretation des Evangeliums unter dem Einfluss der jeweiligen Epoche, ihrer Ideen, Denkstrukturen, Perspektiven, Redeweisen und Werte.
Die beiden vorausgehenden Operationen führen zur dritten und wichtigsten: der lebendigen und aktualisierenden Analyse, die fähig ist, den Inhalt der Quellen auf neue Weise zum Ausdruck zu bringen, zu durchdenken und zu aktualisieren. Diesbezüglich ist es nötig, einige hermeneutische Kriterien anzuwenden, ohne die sich die Interpretation der Aussagen Don Boscos, seiner theoretischen und praktischen Positionen, der konkreten Arten, die Beziehung zu Gott und zur Gesellschaft zu leben, gar als kontraproduktiv erweisen könnte. Die einfache Wiederholung von Sätzen Don Boscos könnte uns sogar die salesianische Identität verraten lassen. Es handelt sich in der Tat um Texte und Zeugnisse, die zu einer nunmehr vergangenen „Kultur“ gehören, einer Tradition und Theologie, die sicher nicht mehr die unsrige ist und deshalb für uns nicht mehr unmittelbar verständlich ist.
Die salesianische Kongregation hat in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine große Anstrengung der Erneuerung unternommen, deren reife Frucht die erneuerten Konstitutionen von 1984 sind. Die Salesianer haben eine historisch-spirituelle Reflexion erarbeitet, die schon in sich selbst eine Hermeneutik der salesianischen Quellen und gleichzeitig der „Zeichen der Zeit“ sind. Wenn wir das Stichwortverzeichnis dieser Konstitutionen durchschauen, finden wir eine schöne Überraschung: der Name Don Boscos erscheint ausdrücklich etwa vierzigmal. In den ersten siebzehn Artikeln der Konstitutionen ist er gut 13 mal gegenwärtig. Aber auch da, wo nicht ausdrücklich sein Name erwähnt wird, ist der Bezug zu seinem Gedanken, zu seiner Praxis und zu seinen Schriften konstant gegenwärtig. Und man muss bedenken, dass dem gegenüber im 19. Jahrhundert der Heilige Stuhl dazu verpflichtete, in den Konstitutionen den Namen und die Schriften des Gründers nicht zu erwähnen! Ähnliches gilt auch für die Konstitutionen, Satzungen und Lebensentwürfe anderer Gruppen der Don-Bosco-Familie.
Vierzig Jahre nach dem Konzil muss man notwendigerweise zur Kenntnis nehmen, dass die historische Forschung über das menschliche und spirituelle Leben Don Boscos beachtliche Schritte nach vorn getan hat, und zwar dank der Studien, die sich an veränderte Bezugsrahmen angepasst, neue Methoden der Forschung und moderne Bewertungskategorien einbezogen und sich auf neue Perspektiven bezogen haben. Sie sind dabei ausgegangen von der Analyse bis dahin nicht herausgegebener Dokumente oder von Neuinterpretationen schon bekannter Dokumente. Die neue kritische Hagiographie hat wenigstens zwei positive Wirkungen gehabt: uns vor allem das ursprüngliche Antlitz Don Boscos und die wahre Größe unseres Vaters zu zeigen; und an zweiter Stelle Don Bosco in den Zusammenhang der weltlichen Geschichte zu stellen.
Bis vor einigen Jahrzehnten war die weltliche Geschichtsschreibung in gewisser Hinsicht „allergisch“ gegen Don Bosco und widmete ihm keinen Raum; vielleicht wegen gewisser süßlicher Töne, wegen eines wundergläubigen Sensationshungers, wegen der „heiligen Unglücke“, die die erbaulichen und dem Wunderbaren gegenüber gefälligen Biographien füllten. Heute dagegen wird Don Bosco ernst genommen. Natürlich kann es nicht anders sein, als dass die Darstellung der Person die historiographischen Kriterien der verschiedenen Autoren, ihrer Mentalität, ihrer ideologischen Voraussetzungen, ihrer Zielsetzungen, der quantitativen und qualitativen Verfügbarkeit der Quellen, der Methode ihrer Befragung, ihrer verschiedenen Ebenen der Literatur, des kulturellen Moments ihrer Entstehung widerspiegelt.
Das alles entspricht der neuen Sensibilität innerhalb unserer Familie, die eine größere Liebe zur eigenen Berufung und Sendung hat. Der Zugang zu Don Bosco mit den Methoden der historischen Forschung hat uns dazu verholfen, seine Größe, seine Genialität im Handeln, seine Begabungen als Erzieher, seine Spiritualität und sein Werk besser zu ermessen. All diese Aspekte seiner Person sind nur zu verstehen als voll und ganz verwurzelt in der Geschichte der Gesellschaft, in der er gelebt hat. Damit werden nicht von vornherein die überaus gültigen und respektablen Bilder Don Boscos, die Generationen von Salesianern und Mitgliedern der Don-Bosco-Familie hatten, zurückgewiesen. Heute brauchen wir jedoch die Präsentation, das Überdenken, die Entfaltung eines Bildes von Don Bosco, das aktuell sein soll und das in neuer Sprache zur Welt von heute sprechen soll. Die Wirksamkeit und Gültigkeit des dargebotenen Bildes kann man tatsächlich verspielen durch das Maß seiner Annehmbarkeit und seiner Mitteilbarkeit.
7. Welches Don-Bosco-Bild heute?
Angesichts einer solchen sich notwendigerweise noch in der Entwicklung befindlichen salesianischen Literatur ist es einsichtig, dass wir auch heute auf eine Reihe von Fragen antworten müssen.
Wer ist Don Bosco gewesen? Was hat er gesagt, getan und geschrieben? Mit welcher Lebensart und mit welchem Handeln ist es ihm gelungen, seine Werke der Wohltätigkeit zu erweitern? Welche Beziehung besteht zwischen seinem Denken und seinem Handeln? Woher seine Ideen, wie haben sie sich entwickelt, was war neu? Welches Bewusstsein hatte er von sich und seiner Botschaft am Anfang seines Werkes hatte und wie hat sich dieses nach und nach im Laufe seines Lebens entwickelt? Wie haben ihn, sein Werk und seine Botschaft seine ersten Laienmitarbeiter und priesterlichen Mitarbeiter, die ersten Salesianer, die Don-Bosco-Schwestern, die Salesianischen Mitarbeiter, die Schüler sowie die Ehemaligen wahrgenommen? Wie haben ihn seine Zeitgenossen verstanden und eingeschätzt: Papst, Bischöfe, Priester, Ordensleute, politische und zivile Autoritäten, Inhaber der Wirtschafts- und Finanzmacht, Gläubige und Nichtgläubige, das Volk?
Welches Bild Don Boscos wurde von der „historischen Überlieferung“, von den zeitgenössischen Chronisten und Biographen, von den Zeugnissen im Seligsprechungs- und Heiligsprechungsprozess, von den Gedenkfeiern und Apotheosen (Verherrlichungen) bei den Jubiläen und bedeutsamen Ereignissen (1915, 1929, 1934, 1988, 2009) entworfen und überliefert? Wie lauteten die Interpretationen seiner historischen „Sendung“? War sie eine Antwort der Vorsehung auf die Bedürfnisse einer verfolgten Kirche? Eine katholische Antwort auf die Fragen der Zeit? Eine Lösung des „Problems der armen und verlassenen Jugendlichen“, des sozialen Problems, der Zusammenarbeit zwischen den „Klassen“? Eine Förderung der Volksmassen, und zwar im Respekt vor der geltenden Ordnung? Ein missionarisches und zivilisierendes Tun?
Was kennzeichnet Don Bosco? War er der Erfinder einer „Pädagogik“, die geeignet war, sich den „gefährlichen und gefährdeten“ Jugendlichen anzunähern? Ein geistlicher Lehrmeister für die Jugendlichen in Risikosituationen, für die niederen Klassen, für die Völker auf dem Weg der Entwicklung? Ein Heiliger der Freude, der menschlichen Werte, der Begegnung mit allen ohne jegliche Diskriminierung? Oder vielleicht all das und noch mehr?
Heute wird ein solches Bild Don Boscos neu entworfen. Man muss ihn in einem anderen Licht sehen, und zwar um einer Treue willen, die nicht einfach Wiederholung, nicht formaler Gehorsam oder Trennung ist. Es genügt nicht, sich auf einige animierende Briefe oder auf einige wissenschaftliche Abhandlungen zu beschränken. Wir müssen vielmehr alle miteinander die Salesianität vertiefen, um zu einer gemeinsam gebildeten, professionellen und vertieften Sichtweise zu kommen, die in der Lage ist, das historische, pädagogische und spirituelle von Don Bosco überkommene Erbe angemessen zu bewerten, die zugleich die Realität der Jugend gut kennt und die das Profil des Christen in der Gesellschaft von heute und morgen mit den entsprechenden Verpflichtungen „gemäß den Bedürfnissen der Zeiten“ klar vor Augen hat. Mit anderen Worten: Es geht darum, Institutionen und Strukturen der Vereinigung und der Erziehung zu überprüfen, das Präventivsystem mit dem Schlüssel der Aktualität neu zu verstehen, der Welt und der Kirche einen besonderen Stil des salesianischen Erziehers zu präsentieren.
Heute handelt es sich vielleicht mehr um Krisen der Glaubwürdigkeit als um Krisen der Identität. Es scheint, dass wir mehr unter der Tyrannei des status quo stehen, auf der Ebene eher unbewusster als beabsichtigter Widerstände. Obwohl wir überzeugt sind von der Wahrheit der theologischen Werte, von denen unser christliches und gottgeweihtes Leben durchtränkt ist, sehen wir die Schwierigkeit, zum Herzen unserer Zielgruppen, für die wir Zeichen der Hoffnung sein müssten, vorzudringen. Wir sind erschüttert von der mangelnden Bedeutung des Glaubens beim Aufbau ihres Lebens. Wir stellen eine nur geringfügige Übereinstimmung mit ihrer Welt fest. Wir spüren die Ferne, um nicht zu sagen: die Fremdheit gegenüber ihren menschlichen Entwürfen. Wir nehmen war, dass unsere Zeichen, Gesten, Worte keine Wirkung auf ihr Leben haben.
Vielleicht gibt es nur eine geringe Klarheit über die Rolle der Sendung, der wir uns widmen. Einige sind vielleicht nicht überzeugt von der Nützlichkeit unserer Sendung. Vielleicht finden sie ihre Arbeit ihren Bestrebungen gegenüber nicht angemessen, weil sie sie nicht zu erneuern verstehen. Vielleicht fühlen sie sich eingekerkert von den Notlagen, die uns immer mehr bedrängen. Vielleicht gibt es eine Geringschätzung, die nach innen hin größer ist als nach außen. Die Geschichte kann uns beim Prozess der Aktualisierung des Charismas helfen. Ich beschränke mich darauf, einige Aspekte aufzuführen, während ich besonders beim ersten länger verweile.
7.1 Entwicklung der Werke und der Zielgruppen
Für Don Bosco ist die Eröffnung neuer Werke bestimmt von den durch die Situation bedingten Anforderungen. Die kulturelle Armut der Jugendlichen erfordert in Valdocco die Eröffnung einer sonntäglichen Grundschule, dann einer Abendschule, dann auch einer Tagesschule, vor allem für diejenigen, die keine öffentliche Schule besuchen können. Dazu kommen dann weitere Schulen, verschiedene Werkstätten und so weiter bis hin zu dem komplexen Gebäude, das an das Oratorium des hl. Franz von Sales angebaut wurde. Dieses erste Werk wird vom einfachen Ort für die Zusammenkunft an den Festtagen zum Katechismusunterricht und für das gemeinsame Spiele zum Ort der globalen Ausbildung. Für eine gewisse Zahl von mittellosen Jugendlichen wird es darüber hinaus ein Haus, ein Zuhause. Der Spielhof und die Kirche, wo man ein Programm mit der Möglichkeit des Sakramentenempfangs, der elementaren religiösen Unterweisung, der Erholung, der Interessensangebote, der religiösen und weltlichen Festlichkeiten und der Entfaltung der eigenen Talente entwickelte, wurden um Strukturen ergänzt, die das Erlernen eines Handwerkes zu ermöglichten; dadurch versuchte man den Besuch von Fabriken in der Stadt zu vermeiden, die oftmals für Jugendliche ungeeignet waren, die schon mit einer schwierigen Vergangenheit belastet waren. In der Folgezeit wurden andere salesianische Häuser, andere Kollegs und Konvikte sowie andere kleine Seminare gegründet, die der inzwischen entstandenen salesianischen Gesellschaft anvertraut wurden.
In das erste Oratorium kommen sowohl frühere Zöglinge von Besserungsanstalten als auch immigrierte Jugendliche, im Allgemeinen sind es Jugendliche ohne feste Bindungen zu den entsprechenden Pfarreien der Stadt. Als nächsten etwas größeren Schritt werden dann im Oratorium und im angeschlossenen Heim Schüler und Handwerker aufgenommen, deren Heimat weit ist und die in die Stadt kommen, um eine schulische oder eine Berufsausbildung zu absolvieren, die sie für eine künftige Aufgabe befähigen. Einer bestimmten Anzahl von Jugendlichen dieser Gruppe, ferner Jugendlichen in besonderen Schwierigkeiten, aber auch Jugendlichen, die aus wirtschaftlich besserer Situation kamen, wird die Möglichkeit eröffnet, die Berufsausbildung in eigenen Werkstätten bzw. die schulische in eigenen Schulen zu absolvieren. Diese Jungen entstammen zwei verschiedenen sozialen Schichten: der sog. „armen Klasse“ und der „Mittelschicht“. Besondere Herausforderungen begünstigen die Einrichtung von elementaren, technischen, humanistischen, beruflichen und landwirtschaftlichen Schulen sowie Kollegs, auch für die höhere Mittelschicht, wo es darum geht, ähnliche laikale und protestantische Initiativen zu kontrastieren oder eine ganzheitlich katholische Erziehung gemäß dem Präventivsystem sicherzustellen.
Der Vorzug für die Ärmsten wird von Don Bosco für vertretbar gehalten angesichts der umfangreichen Bestimmung von Schulen und Kollegs für die „Mittelschicht“. Er verweigert sich keiner Gruppe von Personen, zieht es aber vor, sich um die Mittelklasse und die arme Klasse zu kümmern, weil sie am meisten der Unterstützung und des Beistandes bedürfen. Jedoch erlaubt der Mechanismus der zu zahlenden Schulgelder keine großen Öffnungen gegenüber den wirklich Armen oder den mittelmäßig Armen, es sei denn für begrenzte Gruppen von Schülern, die von der öffentlichen oder privaten Wohlfahrt unterstützt werden. Eine Kategorie hat sich dann aus den ärmsten und am meisten gefährdeten Jugendlichen gebildet, die sich an Orten der Missionen befinden und denen das Licht des Glaubens fehlt. Natürlich darf das missionarische Wirken nicht bei den Jugendlichen Halt machen, sondern ist bemüht, ihr ganzes Umfeld mit einzubeziehen. Man beschränkt sich auch nicht auf die rein pastorale Aktion, sondern man weckt bei allen Interesse für die Aspekte des zivilen, kulturellen, sozialen Lebens, wie Don Bosco selber in einem Brief vom 1. November 1886 sagt: „die Religion und die Zivilisation unter die Völker und Nationen tragen, die weder das eine noch das andere bisher kennen“. Es werden auch ohne Klassenunterschied die Jugendlichen bevorzugt, die Neigung für den Priester- oder Ordensberuf zeigen. Das ist das kostbarste Geschenk, das man der Kirche und der Zivilgesellschaft machen kann.
Schließlich muss man die weiten Gebiete der Ausgrenzung „armer und verlassener Jugendlicher“ zur Kenntnis nehmen, und zwar die in besonders schweren, manchmal gar tragischen Situationen, die außerhalb der Aktivität Don Boscos bleiben: der Teil der Jugendlichen, die in der entstehenden Industrie die des Beistands, des Schutzes, der sozialen und gewerkschaftlichen Bildung bedurften; die Welt der wahren und besonders in Turin existierenden jugendlichen Delinquenz; die Werke für die Wiedereingliederung von straffälligen Minderjährigen und solchen, die sich an der Grenze der Straffälligkeit bewegen, wobei Don Bosco mit einigen von diesen Werken in mehr oder weniger klare Verhandlungen getreten ist; der weite Kontinent der Armut und des Elends nicht nur in den Städten, sondern auch, und zuweilen noch mehr, auf dem Lande; der weite Planet des Analphabetismus und des beruflichen Aufstiegs; die Welt der Arbeitslosigkeit und der Ausgrenzung; und schließlich die Welt der geistigen und körperlichen Behinderung.
Heute Nun verpflichtet uns diese Seite der Geschichte, über aktualisierende Perspektiven nachzudenken. Wer sind heute unsere bevorzugte Adressaten? Welche Werke sind ihren Bedürfnissen angemessen? Hat das Verschwinden der Liste der typischen salesianischen Werke (in den erneuerten Konstitutionen der Salesianer), die vormals an erster Stelle die Oratorien aufzählte, womöglich zum Rückgang der Zahl unserer klassischen Oratorien beigetragen, die vielleicht ersetzt wurden durch höhere Schulen und Universitäten?
7.2 Verlassene Jugend
Wie ich anfangs gesagt habe, ist die historische Bedeutung Don Boscos über seine Werke und gewisse relativ ursprüngliche methodische Elemente hinaus aufzuspüren in der intellektuellen und emotionalen Wahrnehmung der universalen, theologischen und sozialen Tragweite des Problems der „verlassenen Jugend“ und in der Fähigkeit, dieses Problembewusstsein zahlreichen Mitarbeitern, Wohltätern und Sympathisanten zu vermitteln.
Fragen wir uns also: Sind wir heute seine getreuen Schüler? Leben wir noch die Spannung, die Don Bosco zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Intuition und Konkretisierung im sozialen Netz, in dem er zu arbeiten und zu wirken hatte, erfuhr?
7.3 Antwort auf die Nöte der Jugendlichen
Angesichts der Tatsache, dass die helfenden und erzieherischen Initiativen Don Boscos zu Gunsten der Jugendlichen auf der praktischen Ebene mit einer gewissen „Zufälligkeit“ aufeinander folgten, wird gesagt, dass seine „Antworten“ auf die Probleme nicht auf der Basis eines organischen „Programms“ gegeben und nicht infolge einer voraussehenden umfassenden Vision des sozialen und religiösen Rahmens des 19. Jahrhundert umgesetzt wurden. Als er auf besondere Probleme stößt, gibt er darauf unmittelbare und lokalisierte Antworten, bis ganz allmählich die verschiedenen jugendlichen Lebensbedingungen ihn dazu führen, sich dem umfassenden „Problem der Jugendlichen“ in der ganzen Welt zu stellen. Im heroischen Leben Don Boscos kommen keine präventiven Pläne und Aktionsstrategien auf lange Laufzeit vor, die am Schreibtisch vorbereitet worden wären – alles Dinge, die wir heute mit Recht für unverzichtbar halten –, sondern es entstehen wirksame Lösungen für die unmittelbaren und bis dahin unvorhergesehenen Probleme.
Was bedeutet das alles heute für uns, die wir in einem „globalen Dorf“ wohnen, wo alles in Echtzeit bekannt ist und wo es eine ansehnliche Reihe von spezialisierten Wissenschaften zu unserer Verfügung gibt? Wie soll man von einer Politik der unmittelbaren Notwendigkeiten zu einer Politik der Planung übergehen? Auf der Basis welcher genauen Kriterien können wir die operativen Entscheidungen im Inneren der Wendungen der Geschichte treffen, ohne außen vor zu sein? Wie können wir die doppelte Gefahr vermeiden, Einheit und Identität zu verlieren, einerseits die Gefahr, dass wir jede Sache machen wollen, stabile Werke hinter uns lassen und zu nicht gut durchdachten vorübergehenden Dingen übergehen und so kurzfristig Ressourcen verschwenden; und andererseits die Gefahr, zufällige Aspekte des Gründers zu verabsolutieren und ihnen Bestand zu verleihen, uns zufrieden zu geben mit dem schon in unserem Besitz Befindlichen, dem schon Bekannten, mit einer zum Fossil erstarrten Tradition, im guten Glauben, die aus Treue zur Vergangenheit verteidigt wird?
7.4 Flexibilität der Antwort auf die Bedürfnisse
Aus der geschichtlichen Analyse ergibt sich die Genialität und die Fähigkeit Don Boscos, im Umfeld seiner Berufung zu Heil der Jugendlichen Erziehungswerke zu koordinieren, die bestimmt waren für Jugendliche der einfachen städtischen Bevölkerung mit weiteren verschiedenartigen Aktivitäten, die auf andere Ziele ausgerichtet waren. Um das kleine Oratorium in Valdocco herum gelang es Don Bosco, Tausende von Jugendlichen zu konzentrieren, die Zustimmung und die Hilfe des kirchlichen Netzes im weiteren Umkreis zu erhalten, bis hin zur potentiell universalen Zustimmung. Die Schließung von Werken wie des Oratoriums vom hl. Schutzengel in Turin, von isolierten salesianischen Häusern wie Cherasco oder Trinità, war kein Anzeichen des Rückzugs, sondern der Neuregelung und des Aufschwungs. Beweise dafür sind die Erweiterung seiner Sendung mit Werken für die Bildung der Jugendlichen: die Gründung der Don-Bosco-Schwestern, die Missionen, die Salesianischen Mitarbeiter, der Bollettino salesiano. Diese verschiedenen Initiativen beweisen die ständige Koordinierung, den Aufschwung und die weitere Entwicklung.
Wie sollten wir heute nicht beachten, dass in unserem Handeln nicht nur und nicht so sehr das Bild Bedeutung haben soll, sondern die Wirklichkeit, die man überbietet und entwickelt mit einer weisen Koordinierung. Ist es vielleicht nicht so, dass die forcierte Schließung oft Gefahr läuft, als Rücksachritt zu erscheinen, anstatt als eine Entscheidung in Richtung auf eine weitere Entwicklung hin?
7.5 Armut des Lebens und unermüdliche Arbeit
Unter den Punkten, welche die Tradition später das „Geistliche Testament“ Don Boscos genannt hat, hat dieser schriftlich das Wort hinterlassen: „Von dem Moment an, wo in der Person, in den Zimmern oder in den Häusern der Wohlstand Einzug hält, beginnt sogleich der Niedergang der Kongregation… Wenn unter uns Bequemlichkeit und Wohlstand beginnen, hat unsere Gesellschaft ihren Lauf vollendet“.9
Wenn wir uns heute an Don Bosco ausrichten, sollten wir dann nicht den Mut haben, zu sagen, dass, wenn eine Ordensgemeinschaft sich Stunden lang vor dem Fernsehen oder den Zeitungen abschließt, dies ein Zeichen dafür wäre, dass wir zumindest an diesem Ort unseren Lauf vollendet haben? Was soll man von einem salesianischen Werk halten, in dem man sich auf vier kleine Jungen mit einem Ball und einem Fernseher beschränkt und nicht die Zeit findet, um Jugendliche zusammenzurufen und in die eigenen Initiativen einzubeziehen, in dem man aber sehr wohl die Zeit findet, um kulturelle Ausflüge zu machen? Vielleicht könnte ein solches Werk seinen Lauf vollendet haben, wenn man berücksichtigt, dass die Anzahl der Jugendlichen in einem örtlichen salesianischen Werk zwar nicht alles ist, aber doch das Thermometer der Daseinsberechtigung eines Hauses an einem bestimmten Ort.
8. Anregungen zur Konkretisierung des Leitgedankens
Ausgehend von der Kenntnis der Geschichte Don Boscos, könnten im Hinblick auf den Leitgedanken des Jahres 2012 die folgenden Bezugspunkte und Bereiche für das Engagement aufgelistet werden. Jede Gruppe der Don-Bosco-Familie wird darüber hinaus weitere Punkte konkretisieren können.
8.1. Die pastorale Liebe kennzeichnet die ganze Geschichte Don Boscos und ist die Seele seiner vielfältigen Werke. Wir könnten sagen, dass sie die synthetische historische Perspektive ist, mit deren Hilfe man seine ganze Existenz verstehen kann. Der Gute Hirte kennt seine Schafe und ruft sie beim Namen; er tränkt sie an klaren Wassern und weidet sie auf grünen Auen. Er wird zur Tür, durch welche die Schafe in den Schafstall eintreten, Er gibt sein Leben hin, damit die Schafe Leben in Fülle haben (vgl. Joh 10,11ff.). Die größte Kraft des Charismas Don Boscos besteht in seiner Liebe, die direkt von Jesus, dem Herrn, geschöpft wird, indem man Ihn nachahmt und in Ihm bleibt. Diese Liebe besteht darin, „alles hinzugeben“. Daher rührt Don Boscos apostolisches Versprechen: „Ich habe Gott versprochen, dass ich bis zum letzten Atemzug für meine armen Jungen da sein werde“.10 Das ist unser „Markenzeichen“ und macht unsere Glaubwürdigkeit gegenüber den Jugendlichen aus!
8.2. In der Geschichte Don Boscos kennen wir die vielen Mühen, Entsagungen, Entbehrungen, Leiden, die vielen Opfer, die er gebracht hat. Der gute Hirte gibt sein Leben für seine Schafe. Durch die Bedürfnisse und die Anforderungen der Jugendlichen erbittet Gott von jedem Mitglied der Don-Bosco-Familie, sich selbst für sie zu opfern. Die Sendung zu leben, ist daher nicht ein vergeblicher Aktivismus, sondern ein Gleichgestalten unseres Herzens nach dem Herzen des guten Hirten, der nicht will, dass auch nur eines von seinen Schafen verloren geht. Das ist eine zutiefst menschliche und zutiefst spirituelle Sendung. Es ist ein Weg der Askese. Es gibt keine animierende Präsenz unter den Jugendlichen ohne Askese und Opfer. Etwas zu verlieren, oder besser: alles zu verlieren, um das Leben der Jugendlichen zu bereichern, ist die Stütze unserer Hingabe und unseres Engagements.
8.3. Im Protokoll der Gründung der Salesianischen Kongregation und besonders in der geschichtlichen Entwicklung des vielfältigen Werkes Don Boscos können wir die Zielsetzungen der Don-Bosco-Familie kennen lernen, die sich nach und nach herausbildeten. Wir sind berufen, Apostel der Jugendlichen zu sein, des einfachen Volkes, der ärmsten und der missionarischen Gebiete. Heute bemühen wir uns mehr denn je, die Medienkultur kritisch zu verstehen und anzunehmen. Wir bedienen uns der Mittel der sozialen Kommunikation, insbesondere der neuen Technologien, als wirksame Möglichkeiten zur Vervielfältigung unseres Handelns, durch das wir den Jugendlichen nahe sein und sie begleiten wollen. Während wir als Erzieher mitten unter ihnen sind, beziehen wir sie, wie unser Vater Don Bosco es gemacht hat, als unsere ersten Mitarbeiter mit ein: Wir geben ihnen Verantwortung; wir helfen ihnen, Initiativen zu ergreifen; wir befähigen sie, Apostel ihrer Altersgenossen zu sein. Auf diese Weise können wir immer mehr das große Herz Don Boscos erweitern, der alle Jugendlichen in der ganzen Welt erreichen und ihnen dienen wollte.
8.4. Die guten Vorsätze dürfen keine leeren Erklärungen bleiben. Das Kennenlernen Don Boscos muss sich umsetzen in Engagement mit den Jugendlichen und für die Jugendlichen. Wie es bei Don Bosco war, so erwartet Gott uns auch heute in den Jugendlichen! Wir müssen ihnen deshalb begegnen und bei ihnen sein an den Orten, in den Situationen und in den Grenzbereichen, wo sie uns erwarten. Darum müssen wir ihnen entgegengehen, immer den ersten Schritt machen, mit ihnen zusammen gehen. Es ist tröstlich zu sehen, wie in der ganzen Welt die Don-Bosco-Familie sich für die ärmsten Jugendlichen einsetzt: Straßenkinder, ausgegrenzte Jugendliche, Kinderarbeiter, Kindersoldaten, jugendliche Auszubildende, verlassene Waisenkinder und ausgebeutete Kinder. Aber ein Herz, das liebt, ist immer ein Herz, das sich hinterfragt. Es genügt nicht, Aktionen, Initiativen und Institutionen für die Jugendlichen zu organisieren. Man muss die Präsenz, den direkten Kontakt und die Beziehung mit den jungen Menschen sicherstellen: Es geht darum, die Praxis der Assistenz wiederaufzunehmen und die Präsenz auf dem Spielhof neu zu entdecken.
8.5 Auch heute stellt Don Bosco sich Fragen. Durch die Kenntnis seiner Geschichte müssen wir die Fragen Don Boscos, die an uns gerichtet sind, hören. Was können wir noch mehr tun für die armen Jugendlichen? Welche neuen Herausforderungen gibt es in dem Gebiet, wo wir arbeiten, in dem Land, in dem wir wohnen? Haben wir Ohren, um den Schrei der Jugendlichen von heute zu hören? Über die schon erwähnten Formen der Armut hinaus: Welche andere Weisen der Armut belasten heute den Weg der Jugendlichen? Welche neuen Herausforderungen gibt es, die unser Engagement verlangen? Denken wir an die Situation der Familien, an die erzieherischen Notwendigkeiten, an die Desorientierung in der affektiven und der Sexualerziehung, an das Fehlen von sozialem und politischem Engagement, an das Sich-Zurückziehen in den Privatbereich des persönlichen Lebens, an die spirituelle Schwäche, an das Unglück so vieler Jugendlichen? Hören wir den Schrei der Jugendlichen und geben wir Antworten auf ihre dringendsten und tiefsten Bedürfnisse, auf die materiellen und spirituellen Notwendigkeiten!
8.6 Aus seiner persönlichen Geschichte können wir die Antworten Don Boscos auf die Nöte der Jugendlichen kennen lernen. Auf diese Weise können wir besser die Antworten betrachten, die wir schon umgesetzt haben und welche noch zu geben sind. Gewiss, die Schwierigkeiten fehlen nicht. Man muss „den Wölfen entgegentreten“, die die Herde verschlingen wollen: der Gleichgültigkeit, dem ethischen Relativismus, falschen Ideologien oder dem Konsumdenken, welches den Wert der Dinge und Erfahrungen zerstört. Gott beruft uns und Don Bosco ermutigt uns, selbst Gute Hirten, Abbilder des Guten Hirten zu sein, damit die Jugendlichen heute noch Väter, Mütter und Freunde finden können; besonders damit sie Leben, das wahre Leben, das Leben in Fülle finden können, das von Jesus selbst geschenkt wird.
8.7 Die Memorie dell’Oratorio di Francesco di Sales11, die Don Bosco auf die ausdrückliche Bitte von Papst Pius IX. hin verfasst hat, sind ein unabdingbarer Bezugspunkt, um den spirituellen und pastoralen Weg Don Boscos kennenzulernen. Sie wurden geschrieben, damit wir die wunderbaren Anfänge der Berufung und des Werkes Don Boscos kennenlernen können, besonders aber damit jeder von uns persönlich und jede Gruppe der Don-Bosco-Familie denselben spirituellen und apostolischen Weg gehen kann. Sie sind als die „Erinnerungen an die Zukunft“ definiert worden. Deshalb bemühen wir uns in diesem Jahr darum, diesen Text kennenzulernen, ihn zu verbreiten, besonders ihn in die Hände der Jugendlichen zu legen: So wird dieses Buch auch für sie inspirierend sein für ihre eigene Berufungsentscheidung.
9. Schluss
Wie gewohnt, möchte ich die Vorstellung des Jahresleitgedankens mit einer lehrreichen Geschichte beschließen. Zuvor aber möchte ich „den Traum des neunjährigen Johannes Bosco“ in Erinnerung rufen. Mir scheint in der Tat, dass diese autobiographische Seite eine einfache, aber gleichzeitig prophetische Präsentation des Geistes und der Sendung Don Boscos bietet. In ihm wird das Tätigkeitsfeld bestimmt, das ihm anvertraut worden ist: die Jugendlichen. Es wird die Zielsetzung seiner apostolischen Aktion aufgezeigt: sie mit Hilfe von Erziehung in ihrem Wachstum als Personen zu fördern. Es wird die Erziehungsmethode angeboten, die sich als wirksam erweisen sollte: das Präventivsystem. Es wird der Horizont vorgestellt, innerhalb dessen sich all sein und unser Handeln bewegt: der wunderbare Heilsplan Gottes, der vor allen und mehr als alles andere die Jugendlichen liebt. Er ist es, der sie mit so vielen Gaben beschenkt und sie zur Verantwortung für ihr persönliches Wachstum befähigt, damit sie sich auf positive Weise in der Gesellschaft eingliedern können. Im Heilsprojekt Gottes wird ihnen nicht nur ein gutes Gelingen in diesem Leben garantiert, sondern auch das ewige Glück. Versetzen wir uns also in die Haltung des Hörens auf Don Bosco und hören seinen „Lebenstraum“.
„Ein jugendlicher Träumer“
In diesem Alter hatte ich einen Traum, der mir mein ganzes Leben lang tief in Erinnerung blieb. Im Traum schien es mir, als sei ich in der Nähe unseres Hauses auf einem recht weiträumigen Platz, auf dem eine Menge Jungen beisammen waren, welche sich die Zeit vertrieben. Einige lachten, andere spielten, nicht wenige fluchten. Als ich das Fluchen hörte, stürzte ich mich sofort mitten unter sie, um sie mit Faustschlägen und Geschrei zur Ruhe zu bringen. In diesem Moment erschien ein ehrfurchtgebietender Mann im besten Alter und vornehm gekleidet. Ein weißer Mantel bedeckte seine ganze Gestalt; aber sein Gesicht war derart leuchtend, dass ich ihn nicht anschauen konnte. Er rief mich beim Namen, trug mir auf, mich an die Spitze der Jungen zu stellen und sagte:
„Nicht mit Schlägen, sondern mit Milde und mit Liebe sollst du sie zu Freunden gewinnen. Mach dich also gleich daran, sie über die Hässlichkeit der Sünde und über die Kostbarkeit der Tugend zu belehren.“
Verwirrt und verängstigt erwiderte ich, ich sei ein armes und unwissendes Kind, unfähig, zu diesen Jungen von Religion zu sprechen. In diesem Augenblick hörten diese auf zu lachen, zu schreien und zu fluchen, und alle versammelten sich um den Sprecher.
Fast ohne zu wissen, was ich sagte, fügte ich hinzu „Wer seid Ihr, dass Ihr mir Unmögliches auftragt?“
„Weil dir derartige Dinge jetzt unmöglich scheinen, musst du sie mit Gehorsam und mit dem Erwerb von Wissen möglich machen.“
„Wo, mit welchen Mitteln werde ich das Wissen erwerben können?“
Ich werde dir eine Lehrerin geben, unter deren Anleitung du klug werden kannst, und ohne die jedes Wissen töricht wird.“
„Aber wer seid Ihr, dass Ihr auf diese Weise sprecht?“
Ich bin der Sohn derjenigen, die deine Mutter dich dreimal täglich zu grüßen gelehrt hat.“
„Meine Mutter sagt mir, ich soll nicht ohne ihre Erlaubnis mit Unbekannten zusammen sein; sagt mir deshalb Euren Namen.“
„Meinen Namen erfrage von meiner Mutter.“
In diesem Augenblick sah ich neben ihm eine Frau von majestätischem Anblick, in einen Mantel gekleidet, der überall leuchtete, als sei jeder Teil davon ein heller Stern. Sie merkte, dass ich in meinen Fragen und Antworten immer mehr durcheinander kam und bedeutete mir, mich ihr zu nähern. Voller Güte nahm sie mich bei der Hand und sagte „Schau“. Ich blickte um mich und sah, dass alle diese Jungen verschwunden waren, und an ihrer Stelle sah ich eine Menge Ziegen, Hunde, Katzen Bären und verschiedene andere Tiere. „Hier ist dein Feld, auf dem du arbeiten sollst. Werde demütig, stark, widerstandsfähig; und was du jetzt mit diesen Tieren geschehen siehst, das sollst du für meine Kinder tun.“
Ich schaute nun um mich, und siehe da, an Stelle der wilden Tiere erschienen lauter zahme Lämmer, die alle springend und blökend umherliefen, als ob sie diesen Mann und diese Frau feiern wollten.
Immer noch im Traum fing ich an zu weinen und bat ihn, doch in verständlicher Weise sprechen zu wollen, weil ich nicht wusste, was das bedeuten sollte.
Da legte mir die Frau die Hand auf den Kopf und sagte zu mir: „Zur rechten Zeit wirst du alles verstehen.“
Als sie das gesagt hatte, weckt mich ein Geräusch auf.
Ich war verwirrt. Mir schein, als täten meine Hände von den ausgeteilten Schlägen noch weh und mein Gesicht schmerzte von den Ohrfeigen, die ich erhalten hatte. Dazu beschäftigten mich diese Persönlichkeit, diese Frau, das Gesagte und das Gehörte dermaßen, dass es in dieser Nacht nicht mehr möglich war, Schlaf zu finden. 12
Don Bosco schreibt in seinen Erinnerungen, dass dieser Traum sein ganzes Leben in seiner Erinnerung tief eingeprägt geblieben sei13, so dass wir heute sagen können, dass er lebte, um diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen.
Nun, was unser lieber Vater als sein Lebensprogramm übernommen hat, indem er die Jugendlichen als den Daseinsgrund seiner Existenz annahm und für sie alle seine Energien bis zum letzten Atemzug einsetzte, das zu tun, sind auch wir alle berufen.
Die Legende, die ich der Geschichte entnehme, beleuchtet auf sehr beredte Weise den Wunsch Don Boscos, für die Jugendlichen ein Zeichen der Liebe zu sein, das nie aufhört. Ich habe sie zum ersten Mal von einem Mitbruder der australischen Provinz, Don Lawrie Moate, gehört, der sie anlässlich einer Jubiläumsfeier des salesianischen Lebens in Lysterfield am 9. Juli 2011 in seiner Glückwunschansprache erzählte:
„Und unsere Musik geht weiter“
„Stellt euch den Hof des Gefängnisses einer europäischen Kolonie des 17. Jahrhunderts vor. Es ist Morgengrauen. Und während die Sonne beginnt, den Himmel von Osten mit goldenen Farben zu füllen, wird ein Häftling in den Hof heraus gebracht, um hingerichtet zu werden. Es handelt sich um einen Priester, der zum Tod verurteilt worden ist, weil er sich den Grausamkeiten widersetzt hatte, mit denen die Eingeborenen der Kolonie behandelt wurden. Der Mann steht aufrecht an der Wand und betrachtet die Mitglieder des Erschießungskommandos, seine eigenen Landsleute. Bevor man ihm die Augen verbindet, stellt der Offizier des Kommandos die traditionelle Frage, ob man ihm einen letzten Wunsch erfüllen könne. Die Antwort ist für alle eine Überraschung: Der Verurteilte bittet darum, zum letzten Mal seine Flöte spielen zu dürfen. Die Soldaten werden in Ruhestellung versetzt, während sie darauf warten, dass der Häftling spielt. Als die Töne beginnen, die schweigsame Morgenluft zu erfüllen, ist das Umfeld des Gefängnisses eingehüllt in eine Musik, die sich milde ausdehnt und zauberhaft jenen Ort mit Frieden erfüllt, der täglich von Gewalt und von Trauer gekennzeichnet ist. Der Offizier ist besorgt, denn je länger die Musik sich ausdehnt, desto absurder erscheint ihm die Aufgabe, die ihm zukommt. Er befiehlt also den Soldaten, das Feuer zu eröffnen. Der Priester stirbt sofort; aber zum Erstaunen aller Anwesenden: die Musik setzt ihren Lebenstanz fort – zur Verachtung des Todes.
Woher kommt diese liebliche Musik des Lebens?
In einer Gesellschaft, die ganz damit beschäftigt ist, die Botschaft Christi auszulöschen, ist es, wie ich meine, unsere Berufung, zu denen zu gehören, die weiterhin die Musik des Lebens zu Gehör bringen. In einer Welt, die alles unternimmt, damit die Jugendlichen die eindringliche Einladung Christi, „zu kommen und zu sehen“, nicht hören, ist es unser Privileg, von Don Bosco angezogen und von ihm ermutigt zu sein, die Musik des Herzens zu spielen, um die Transzendenz zu bezeugen, die geistliche Vaterschaft und Mutterschaft auszuüben und die Jugendlichen in eine Richtung zu orientieren, die ihrer Würde und ihren ureigensten Wünschen entspricht.
Das ist der Tanz des Heiligen Geistes! Das ist die Musik Gottes!
Liebe Mitbrüder, liebe Schwestern, liebe Mitglieder der Don-Bosco-Familie, liebe Freunde Don Boscos, all ihr Jugendlichen, ich wünsche Euch allen ein Jahr 2012, das reich ist an den Segnungen Gottes und ein erneuertes Engagement mit sich bringt, um die Musik weiterhin zu Gehör zu bringen, unsere Musik, die Musik, die das Leben der Jugendlichen mit Sinn erfüllt und sie die Quelle der Freude finden lässt.
Allen eine herzliche Umarmung und mein Gedenken beim Herrn.
Rom, den 31. Dezember 2011
Don Pascual Chávez Villanueva
Generaloberer
1 Anm. d. Red.: In den Publikationen zu den neuen sozialen Kommunikationsmitteln (wie z.B. Computer, Internet, Mobiltelefon, MP3, iPod usw.) werden diejenigen als „digital natives“ („digitale Eingeborene“) bezeichnet, die damit von Kindheit an aufgewachsen sind und sich in der Bedienung und Sprache wie selbstverständlich auskennen. Mit „digital immigrants“ („digitale Einwanderer“) sind dagegen diejenigen gemeint, die diese Dinge erst im Erwachsenenalter kennengelernt haben und die Technik und Sprache oft nur zum Teil beherrschen.
2 Anm. d. Red.: Diese aus sprachlichen Gründen vereinfachte Übersetzung wurde von den Provinzialen und Provinzialinnen der deutschsprachigen Provinzen verabredet. Im italienischen Original lautet die Strenna für das Jahr 2012: „Conoscendo e imitando Don Bosco, facciamo dei giovani la missione della nostra vita.” Wortwörtlich würde dieser Satz auf deutsch lauten: „Don Bosco kennenlernend und nachahmend, machen wir die Jugendlichen zur Sendung unseres Lebens.” Diese Übersetzung ist jedoch sprachlich und inhaltlich problematisch. Eine etwas wörtlichere Übersetzung als die offizielle, die den gemeinten Inhalt etwas getreuer wiedergibt, könnte lauten: „Indem wir Don Bosco kennenzulernen und nachzuahmen suchen, nehmen wir die Jugendlichen als die Sendung unseres Lebens an.“ Oder noch einmal anders: „Durch die Kenntnis und Nachahmung Don Boscos nehmen wir die jungen Menschen als unseren Lebensauftrag an.“
3 Anm. d. Red.: Das Wort „Hagiographie“ bedeutet: Erforschung und Beschreibung von Heiligenleben (vgl. Duden. Das Fremdwörterbuch, 9. Aufl., S. 385).
4 Vgl. Amtsblatt Nr. 384.
5 ACG Nr. 383, S. 14-17.
6 F. Bodrato, Epistolario, hg.v. B. Casali, Rom, LAS 1995, S. 131-132.
7 Anm. d. Red.: Das italienische Substantiv „aggiornamento“ kommt von dem Verb „aggiornare“, das u.a. soviel bedeutet wie: auf den neusten Stand bringen. Wörtlich würde „aggiornamento“ „Verheutigung“ bedeuten, was soviel meint wie Aktualisierung. Das Wort gilt auch als ein Programmwort des II. Vatikanischen Konzils, das von Papst Johannes XXIII. eingeführt und dem Konzil als Motto gegeben wurde. Hier meint es die Aufgabe der Kirche, sich, freilich verwurzelt im Evangelium und in der Tradition, fortwährend zu erneuern und sich den Herausforderungen der Gegenwart und den „Zeichen der Zeit“ zu öffnen (vgl. Gaudium et spes, Art. 4).
8 Anm. d. Red.: vgl. hierzu das „Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens“ des II. Vatikanischen Konzils „Perfectae caritatis“ vom 28. Oktober 1965 (hier insbes. Art. 2) sowie das als Ausführungsdokument zu verstehende Apostolische Motu proprio P. Pauls VI. „Ecclesiae Sanctae“ vom 6. August 1966.
9 P. Braido (Hg.): „Don Bosco educatore, scritti e testimonianze“, Roma LAS 1992, S. 409, 437. Vgl. auch: Konstitutionen und Allgemeine Satzungen der Gesellschaft des hl. Franz von Sales (1984), S. 267-270 (Auszüge).
10 MB XVIII, S. 258; vgl. Konst. SDB, Art. 1.
11 Johannes Bosco: Erinnerungen an das Oratorium des hl. Franz von Sales von 1815 bis 1855. Einführung und Anmerkungen von Antonio da Silva Ferreira. Herausgegeben vom Institut für Salesianische Spiritualität, Pädagogik und Geschichte, München 2001.
12 Ebd. S. 46-48.
13 Ebd. S. 46.