Jahresleitgedanke 2014
„Gib mir Menschen, alles andere nimm!“
Schöpfen wir auf unserem Weg zur Heiligkeit
aus der geistlichen Erfahrung Don Boscos.
„Alles zur Ehre Gottes und für das Heil der Menschen.“
Liebe Brüder und Schwestern in der Don-Bosco-Familie!
Wir stehen im Begriff, die dreijährige Zeit der Vorbereitung auf den 200. Jahrestag der Geburt Don Boscos abzuschließen. Nachdem wir das erste Jahr dem Bemühen gewidmet haben, seine Person und seine Biographie kennenzulernen, und das zweite Jahr dem Vorhaben, seine charakteristischen Eigenarten als Erzieher hervorzuheben und seine Erziehungspraxis zu aktualisieren, haben wir in diesem dritten und letzten Jahr die Absicht, zur Quelle seines Charismas zu gehen und aus seiner Spiritualität zu schöpfen.
Die christliche Spiritualität hat als Zentrum die Liebe, d.h. das innere Leben Gottes, der in seiner tiefsten Realität Agape, Barmherzigkeit, Liebe ist. Die salesianische Spiritualität unterscheidet sich nicht von der christlichen Spiritualität. Auch sie stellt die Liebe ins Zentrum. In diesem Fall handelt es sich um die „pastorale Liebe“, d.h. jene Liebe, die uns drängt, „die Ehre Gottes und das Heil der Seelen“ zu suchen: „Caritas Christi urget nos – die Liebe Christi drängt uns“ (2 Kor 5,14).
Wie alle großen Gründer hat Don Bosco das christliche Leben mit einer brennenden Liebe gelebt und den Herrn Jesus Christus aus einer besonderen Perspektive betrachtet, und zwar aus der Perspektive des Charismas, das ihm Gott anvertraut hat: der Sendung zur Jugend. Die „salesianische Liebe“ ist pastorale Liebe, weil sie das Heil der Seelen sucht. Und sie ist erzieherische Liebe, weil sie in der Erziehung die Ressource findet, mit der den Jugendlichen geholfen wird, all ihre Energien zum Guten zu entwickeln. Auf diese Weise können die Jugendlichen zu verantwortungsvollen Bürgern, guten Christen und zukünftigen Bewohnern des Himmels heranreifen.
Ich lade Euch daher ein, liebe Mitglieder der Don-Bosco-Familie, aus der Quelle der Spiritualität Don Boscos zu schöpfen, d.h. aus seiner erzieherisch-pastoralen Liebe. Diese hat ihr Leitbild in Christus, dem Guten Hirten. Sie findet ihr Gebet und ihr Lebensprogramm im Motto Don Boscos: Da mihi animas, cetera tolle. – Gib mir Seelen, alles andere nimm! Wir werden auf diesem Weg der Vertiefung einen „mystischen Don Bosco“ entdecken können, dessen spirituelle Erfahrung die Grundlage unserer Form ist, mit der wir heute die salesianische Spiritualität leben, und zwar in der Unterschiedlichkeit der Berufungen, die sich an ihm inspirieren. Und so werden wir selbst eine starke salesianische spirituelle Erfahrung machen können.
Auch wenn wir das Leben Don Boscos und seine Pädagogik kennen, so heißt das noch nicht, dass wir das tiefste Geheimnis und die endgültige Erklärung für seine überraschende Aktualität verstehen. Die Kenntnis der Aspekte des Lebens Don Boscos, seiner Aktivitäten und auch seiner Erziehungsmethode genügt nicht. Als ursprüngliche Quelle der Fruchtbarkeit seines Handelns und seiner Aktualität gibt es etwas, das oft auch uns, seinen Söhnen und Töchtern entgeht: das tiefe innere Leben, das man als seine Vertrautheit (familiarità) mit Gott bezeichnen könnte. Wer weiß, ob nicht gerade dies das Kostbarste ist, was wir von Don Bosco haben, um ihn lieben, ihn anrufen, ihn nachahmen und ihm nachfolgen zu können, damit wir Jesus Christus begegnen und damit durch uns auch die Jugendlichen IHM begegnen können.
Heute könnte man das spirituelle Profil Don Boscos zeichnen, indem man von den Eindrücken seiner ersten Mitarbeiter ausgeht. Man könnte dann zu dem Buch von Eugenio Ceria „Don Bosco con Dio“1 übergehen, das den ersten Versuch darstellt, seine Spiritualität allgemeinverständlich zusammenzufassen. Man könnte danach die verschiedenen Interpretationen der spirituellen Erfahrung Don Boscos vergleichen, die von seinen Nachfolgern stammen. Schließlich könnte man zu jenen Forschungen gelangen, die einen Wendepunkt im Studium der Art und Weise darstellen, wie Don Bosco seinen Glauben und seine Religion gelebt hat.
Die letztgenannten Studien halten sich enger an die Quellen und sind offen für die Betrachtung der verschiedenen Sichtweisen und der unterschiedlichen spirituellen Figuren, mit denen Don Bosco in Berührung kam und die ihn beeinflussten: der hl. Franz von Sales (1567-1622), der hl. Ignatius von Loyola (1491-1556), der hl. Alfons Maria von Liguori (1696-1787), der hl. Vincenz von Paul (1581-1660), der hl. Philipp Neri (1515-1595) usw. Diese Studien anerkennen aber zugleich, dass Don Boscos spirituelle Erfahrung auf jeden Fall originell und genial war. Es wäre diesbezüglich interessant, ein neues spirituelles Profil Don Boscos zu haben, d.h. eine neue Hagiographie nach der Art, wie sie die spirituelle Theologie heute anstrebt.
Don Bosco als „spiritueller Mensch“ faszinierte und interessierte auch Walter Nigg (1903-1988), den reformierten Pfarrer und Professor der Kirchengeschichte an der Universität von Zürich. Er konzentrierte sich auf das spirituelle Erscheinungsbild Don Boscos und schrieb: „Eine den Heiligen übersehende Darstellung enthält nur die Hälfte der Wahrheit. Der Heilige ist sogar der Oberbegriff, dem der Erzieher unterzuordnen ist. Jede andere Rangordnung verwischt die Hierarchie der Werte. Der Heilige aber ist der Mensch, bei dem die Natürlichkeit ins Übernatürliche übergeht. Dieses Übernatürliche ist bei Don Bosco in ausgeprägtem Maße vorhanden. […] Für uns ist der wahre Heilige des modernen Italiens eindeutig Don Bosco”.2
In den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde diese Meinung vom Theologen P. M.-Dominique Chenu OP (1895-1990) geteilt. Er antwortete auf die Frage eines Journalisten, der ihn darum bat, einige Heilige zu nennen, die Träger einer aktuellen Botschaft für die neuen Zeiten seien: „Ich möchte vor allem an den erinnern, der dem Konzil um ein Jahrhundert voraus war, Don Bosco. Er war schon damals auf prophetische Weise ein Leitbild der Heiligkeit für sein Werk, das einen Bruch mit der Denk- und Glaubensweise seiner Zeitgenossen darstellte.“
In jeder Epoche und in jedem kulturellen Kontext geht es darum, auf diese Fragen zu antworten:
Was empfing Don Bosco von dem Umfeld, in dem er lebte?
In welchem Maß ist er vom soziokulturellen Kontext, von seiner Familie und von der Kirche seiner Epoche beeinflusst worden?
Wie reagierte er und was hat er seiner Epoche und seinem Umfeld gegeben?
Wie beeinflusste er die auf ihn folgenden Zeiten?
Wie betrachteten ihn seine Zeitgenossen: die Salesianer, das Volk, die Kirche, die Laien?
Wie haben ihn die nachfolgenden Generationen verstanden?
Welche Aspekte seiner Heiligkeit erscheinen uns heute am interessantesten?
Wie können wir heute die Art übersetzen, in der Don Bosco das Evangelium interpretiert hat?
Das sind die Fragen, die eine neue Hagiographie Don Boscos beantworten sollte. Es geht nicht darum, die Identifizierung eines definitiven und stets gültigen Profils Don Boscos zu erreichen, sondern darum, eine für unsere Epoche geeignete Darstellung des Profils Don Boscos herauszuarbeiten. Es ist klar, dass von jedem Heiligen die Aspekte unterstrichen werden, die wegen ihrer Aktualität interessant sind. Und man vernachlässigt jene Aspekte, die als nicht notwendig für den jeweiligen historischen Moment angesehen werden oder die für irrelevant gehalten werden für die Beschreibung der jeweiligen Figur.
Die Heiligen stellen in der Tat eine Antwort auf das spirituelle Bedürfnis einer Generation dar. Sie sind die hervorragende Illustration dessen, was die Christen einer Epoche unter Heiligkeit verstehen. Gewiss kann sich die gewünschte Nachahmung eines Heiligen nur auf den absoluten Bezugspunkt beziehen, nämlich Jesus von Nazareth. In der Tat ist jeder Christ in seiner konkreten Situation dazu berufen, auf seine persönliche Art die universelle Person Jesu Christi zu verkörpern, ohne diese jemals ausschöpfen zu können. Die Heiligen bieten dabei einen konkreten und gültigen Weg zu dieser Identifikation mit dem Herrn Jesus Christus an.
Im Kommentar zum Jahresleitgedanken, den ich der Don-Bosco-Familie hiermit anbiete, sind diese drei die Hauptthemen, die ich entwickeln werde:
Elemente der Spiritualität Don Boscos
die pastorale Liebe als Zentrum und Synthese der salesianischen Spiritualität
die salesianische Spiritualität für alle Berufungen.
Am Ende dieser Themen werde ich einige konkrete Aufgaben vorschlagen, die ich in ihrer Vollständigkeit schon vorwegnehme.
Es ist kein leichtes Unterfangen, zu einer präzisen Identifikation der Spiritualität Don Boscos zu gelangen. Nicht umsonst ist dieser Aspekt seiner Figur vielleicht weniger vertieft. Don Bosco ist ein ganz auf die apostolische Arbeit ausgerichteter Mensch. Er erlaubt uns keine Beschreibungen seiner inneren Entwicklungen und sie lässt keine besonderen Reflexionen über seine spirituelle Erfahrung zu. Er schreibt keine spirituellen Tagebücher und bietet uns keine Interpretationen seiner inneren Regungen an. Er zieht es vor, uns einen Geist zu vermitteln, indem er die Ereignisse seines Lebens beschreibt oder Lebensbeschreibungen einiger seiner Jugendlichen verfasst. Es genügt sicher nicht zu sagen, dass seine apostolische Spiritualität, der sein pastorales Handeln entspringt, eine Pastoral der Vermittlung zwischen einer gelehrten Spiritualität und einer volkstümlichen Spiritualität sei. Vielmehr muss man den Kern seiner spirituellen Erfahrung herausarbeiten.
Nun stellt sich aber ein ernsthaftes Problem: Wie soll man die Spiritualität Don Boscos erforschen angesichts der äußersten Kargheit von Quellen über sein inneres Leben? Überlassen wir es den spirituellen Theologen, diese methodologische Thematik zu vertiefen, und machen wir den Versuch, einige fundamentale und charakteristische Elemente seiner spirituellen Erfahrung herauszustellen.
Die Spiritualität ist eine charakteristische Art, die christliche Heiligkeit zu erfahren und sich auf sie auszurichten. Sie ist eine besondere Weise, das eigene Leben auf die Erlangung der christlichen Vollkommenheit und auf die Teilnahme an einem speziellen Charisma hin zu ordnen. Mit anderen Worten: Sie ist gelebtes Christsein, ein Handeln aus der Verbundenheit mit Gott, das den Glauben voraussetzt.
Die salesianische Spiritualität besteht aus verschiedenen Elementen: Sie ist ein bestimmter Stil des Lebens, des Gebets, der Arbeit, der zwischenmenschlichen Beziehungen; eine spezifische Form des gemeinschaftlichen Lebens; eine erzieherisch-pastorale Sendung auf der Basis eines pädagogischen Erbes; eine formative Methodologie; eine Zusammenfassung von Werten und charakteristischen Grundhaltungen; eine besondere Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Kirche und die Gesellschaft mittels spezifischer Bereiche des Engagements; ein historisches Erbe von Dokumenten und Schriften; eine charakteristische Sprachform; eine typische Reihe von Strukturen und Werken; ein Kalender mit eigenen Festen und Gedenkfeiern usw. Im allgemeinen Bezugsrahmen der Spiritualitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts entfalten wir einige Elemente, die uns besonders relevant erscheinen für die Beschreibung der spirituellen Erfahrung Don Boscos. Sie sind sein Ausgangspunkt, seine tiefe Wurzel, seine Hilfsmittel, sein Zielpunkt.
1.1 Ausgangspunkt: die Ehre Gottes und das Heil der Seelen
Die Ehre Gottes und das Heil der Seelen waren die Leidenschaft Don Boscos. Die Ehre Gottes und das Heil der Seelen zu fördern, entspricht dem Bemühen, den eigenen Willen in Übereinstimmung zu bringeneil der Seelen Heil der der Seelen zu fördern,H
mit dem Willen Gottes; und Gott will nichts so sehr wie die Offenbarung des Guten, das Er selber ist, das heißt seine „Ehre“, wie die authentische Verwirklichung des Wohls des Menschen, was das Heil seiner Seele ist.
In einem seltenen Fragment seiner „Seelengeschichte“ bekennt Don Bosco (1854) sein Geheimnis bezüglich der Zielsetzung seines Handelns: „Als ich mich an diesen Teil des heiligen Dienstes machte, wollte ich jede meiner Mühen der größeren Ehre Gottes und dem Heil der Seelen widmen. Ich wollte mich bemühen, verantwortungsbewusste Bürger auf dieser Erde heranzubilden, auf dass sie eines Tages würdige Himmelsbewohner seien. Gott möge mir dabei helfen, dies bis zum letzten Atemzug meines Lebens fortsetzen zu können. So sei es“.3
Im selben Text hatte Don Bosco einige Zeilen zuvor geschrieben: „‘Um die versprengten Kinder Gottes wieder zu sammeln‘ (Joh 11,52). Die Worte des heiligen Evangeliums, die uns erkennen lassen, dass der göttliche Erlöser vom Himmel auf die Erde gekommen ist, um alle Kinder Gottes zusammenzuführen, die in die verschiedenen Teile der Welt zerstreut waren, kann man nach meinem Dafürhalten wörtlich auf die Jugend unserer Tage anwenden. Dieser empfindlichste und kostbarste Teil der menschlichen Gesellschaft, auf den sich die Hoffnungen auf eine glückliche Zukunft gründen, ist nicht aus sich selbst von schlechtem Wesen. (…) Die Schwierigkeit besteht darin, eine Art und Weise zu finden, sie zu sammeln, mit ihnen sprechen zu können und sie mit den moralischen Sitten vertraut zu machen. Das war die Sendung des Sohnes Gottes, das kann nur seine heilige Religion bewirken“.4
An der Basis der Entscheidung, das Oratorium zu gründen, steht der Heilswille Gottes, der sich in der Menschwerdung des Sohnes ausdrückt, welcher gesandt war, um die Menschen um sich zu versammeln, die auf den Irrwegen und falschen Heilswegen verstreut waren. Die Kirche ist aufgerufen, in der Zeit auf diese göttliche Heilssendung zu antworten. Das Oratorium reiht sich also in die Heilsökonomie ein. Es ist eine menschliche Antwort auf eine göttliche Berufung und nicht nur ein Werk, das gegründet ist auf den guten Willen eines Menschen.
Zur Bestätigung dafür lesen wir in einer Chronik des 16. Januar 1861: „Befragt nach seiner Meinung über das System der Wirksamkeit der Gnade, antwortete er: Ich habe diese Fragen sehr häufig studiert; aber mein System ist das, was zur größeren Ehre Gottes gereicht. Was nützt es, ein enges System zu haben, und dann schickst du eine Seele in die Hölle, oder ein weites System zu haben, vorausgesetzt du schickst du Seelen ins Paradies?“5
Analog ist die Äußerung vom 16. Februar 1876 über die Vorgehensart in seinen Initiativen: „Wir gehen immer auf dem sicheren Weg voran. Bevor wir die Dinge in Angriff nehmen, versichern wir uns, was der Wille Gottes ist, ob man die Dinge tun soll. Wir beginnen unsere Dinge immer mit der Gewissheit, dass es Gott ist, der sie will. Wenn wir diese Gewissheit haben, gehen wir voran. Es kann passieren, das man unterwegs auf tausend Schwierigkeiten stößt; das macht nichts, Gott will es so, und wir sehen furchtlos jeder Schwierigkeit entgegen“.6
Identisch mit den Zielsetzungen des Oratoriums sind diejenigen des Werkes der Oratorien („Opera degli Oratori“), d.h. der Salesianischen Gesellschaft, des Institutes der Töchter Mariä Hilfe der Christen, der Salesianischen Mitarbeiter, der Vereinigung der Maria-Hilf-Verehrer; sie alle sind animiert, motiviert und gestützt vom gleichen Ziel. Es mögen hier unter den überaus vielen, die man anführen könnte, einige wenige Zitate in Bezug auf die Salesianer genügen:
In der Einleitung zur ersten Redaktion der Konstitutionen bekräftigt Don Bosco, dass die ersten kirchlichen Mitarbeiter sich „mit dem Versprechen angeschlossen hatten, sich nur mit jenen Dingen zu beschäftigen, die nach dem Urteil ihres Vorgesetzten zur größeren Ehre Gottes und zum Heil der eigenen Seele gereichten“.7 Und im folgenden Kapitel über den Zweck der Gesellschaft wurde wiederholt: die Salesianer „bemühen sich, ein Herz und eine Seele zu bilden, einzig um Gott zu lieben und ihm zu dienen“.8
Darüber hinaus konnte man im Bittschreibenn vom 11. Juni 1860 an den Erzbischof von Turin bezüglich der Approbation der Konstitutionen lesen: „Wir, die Unterzeichneten, sind einzig bewegt von dem Wunsch, unser ewiges Heil sicher zu erlangen; wir haben uns vereinigt, um ein gemeinschaftliches Leben zu führen mit dem Ziel, mit größerer Leichtigkeit auf jene Dinge zu achten, die sich auf die Ehre Gottes und das Heil der Seelen beziehen“.9 Am 12. Januar 1880 schrieb Don Bosco an Kardinal Ferrieri, dass das Ziel des salesianischen Werkes immer ein und dasselbe sei: „Ich glaube, Eurer Eminenz versichern zu können, dass die Salesianer kein anderes Ziel haben, als zur größeren Ehre Gottes und zum Nutzen der Heiligen Kirche arbeiten zu können und das Evangelium Jesu Christi unter den Indianern der Pampa und in Patagonien auszubreiten.“10
Schon früher hatte Don Bosco dieselbe Zielsetzung der entstehenden Gesellschaft des hl. Franz von Sales herausgestellt, als er am 9. Juni 1867, zwei Jahre vor der endgültigen Anerkennung der Kongregation, an die Salesianer in einem Rundbrief schrieb: „Erstes Ziel unserer Gesellschaft ist die Heiligung seiner Mitglieder (…) Jeder muss in die Gemeinschaft eintreten, geleitet von dem einzigen Wunsch, Gott mit der größten Vollkommenheit zu dienen und sich selbst Gutes zu tun; er versteht, dass sich selbst das wahre Gute zu erweisen, für ihn das geistliche und ewige Heil bedeutet“.11
1.2 Tiefe Wurzel: Einheit mit Gott
Das einzig Notwendige ist die tiefe Wurzel seines inneren Lebens, seines Dialogs mit Gott, seines Wirkens als Apostel. Es gibt keinen Zweifel daran, dass in Don Bosco die Heiligkeit in seinen Werken aufstrahlt; aber es ist sicher auch wahr, dass die Werke nur ein Ausdruck seines Glaubens sind. Es sind nicht die verwirklichten Werke, die aus Don Bosco einen Heiligen machen, wie schon der hl. Paulus in Erinnerung ruft: „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke“ (1 Kor 13,1). Vielmehr ist es ein von der tätigen Liebe belebter Glaube (vgl. Gal 5,6b), der Don Bosco zu einem Heiligen macht: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“(vgl. Mt 7, 16.20).
Zur realen und nicht nur psychologischen Einheit mit Gott sind alle Christen eingeladen. Einheit mit Gott bedeutet: das eigenen Leben in Gott und in seiner Gegenwart zu leben; es ist göttliches Leben, das durch Teilhabe in uns ist; es ist Übung des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, denen (als den göttlichen Tugenden) notwendigerweise die eingegossenen Tugenden, die moralischen Tugenden etc. folgen. Don Bosco gibt dem eigenen Leben eine evangelische Kraft; er macht aus der Umsetzung des Glaubens an Gott gemäß der Logik der theologischen Tugenden den Grund seines eigenen Lebens, das getragen ist von einem Glauben, der ein faszinierendes Zeichen für die Jugendlichen wird, von einer Hoffnung, die für sie ein leuchtendes Wort wird, und von einer Liebe, die zu einem Zeichen der Liebe zu den Ärmsten wird.
Don Bosco blieb seiner Sendung zu einer tatkräftigen Liebe immer treu: Da, wo ein weltferner Mystizismus riskiert hätte, die Brücken zur Wirklichkeit abzubrechen, hat ihn der Glaube verpflichtet, auf schwierigem Posten in der äußersten praktizierten Treue den bedürftigen Menschen gegenüber auszuharren. Da, wo Müdigkeit und Resignation aufkommen konnten, stützte ihn die Hoffnung. Da, wo es kein Heilmittel zu geben schien, drängte es ihn, den von Paulus angesagten Weg zu gehen: „Caritas Christi urget nos - die Liebe Christi drängt uns“ (2 Kor 5,14). Die von Don Bosco gelebte Liebe ließ sich auch von Schwierigkeiten nicht zum Stillstand bringen: „Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten“ (1 Kor 9,22). Nicht die Niederlagen waren auf dem Gebiet der Erziehung zu fürchten, sondern die Untätigkeit und das fehlende Engagement.
Den Glauben lebe: Das bedeutet, sich mit Freude vertrauensvoll auf Gott zu verlassen, der sich in Jesus Christus offenbart hat, und zwar so, dass man fähig wird, alle Situationen in heilbringender Weise zu leben. Keine Situation entspricht in angemessener Weise dem Willen Gottes, aber der Mensch kann jede Situation in einer Weise leben, dass er immer den Willen Gottes erfüllt.
Die Hoffnung leben: Das bedeutet, jeden Tag Gott zu erwarten, um fähig zu sein, sein künftiges Geschenk anzunehmen. Es bedeutet, jeden Tag Gott zu erwarten, der in seinen geschaffenen Gaben kommt. So kann uns in allen Situationen, auch im Scheitern, „nichts von der Liebe Christi trennen“ (Röm 8,39).
Die Liebe leben: Das bedeutet, das Gegenwärtige zum Raum der Liebe Gottes zu machen. Um zu einer hingebungsvollen Grundhaltung fähig zu sein, bedarf es einer beständigen Übung. Dazu braucht es ein Umfeld, das anspornt: Die salesianische Sendung ist das ohne Zweifel.
All dies ist von Don Bosco im Geist authentischer Frömmigkeit gelebt worden. Er hat keine Rezepte für die Frömmigkeit hinterlassen und auch keine spezielle Art der Frömmigkeit. Seine Auffassung ist realistisch und praktisch. Nur die Gebete des guten Christen, leichte, einfache Gebete, aber mit Ausdauer verrichtet. Das, was Don Bosco am Herzen lag, war der Wunsch, dass die Salesianer ihr ganzes Leben dem Heil der Seelen weihen und ihre Arbeit heiligen sollten, indem sie sie Gott aufopferten. Das Gebet sollte hinzukommen als Erhebung der Seele zu Gott, als Bitte und als Nahrung, mit anderen Worten: Die Gebete hatten eine asketische Funktion. Die Ergebnisse dieser Übung im Leben Don Boscos liegen vor aller Augen offen.
Hören wir dazu zwei Zeugnisse. Zunächst das, was ein 45-jähriger Ehemaliger, ein Soldat und Ausbilder beim Heer, aus Florenz an Don Bosco in Turin schrieb:
„Mein lieber Don Bosco, es scheint, dass Sie Grund haben, sich über mich zu beklagen; aber glauben Sie mir, dass ich Sie immer liebe und lieben werde. Ich finde in Ihnen jede Ermutigung und bewundere Ihre Gesten aus der Ferne. Ich habe nie schlecht über Sie geredet und habe nicht geduldet, dass über Sie schlecht geredet wurde. Ich habe Sie immer verteidigt. Ich sehe in Ihnen den, dem meine Seele in jeder Beziehung zugewandt ist. Ich war verwirrt, entrückt, elektrisiert von ihren Argumenten. Sie waren stark und tief empfunden. Sie haben in mir eine Erschütterung bewirkt und mich dahin gebracht, dass ich davon geblendet war, als ich sah, dass Sie, ja, lieber Don Bosco, mich immer noch zutiefst lieben. Ich glaube an die Gemeinschaft der Heiligen (…). Keiner kennt mein Herz mehr als Sie und wird entscheiden können. Ich schließe also, raten Sie mir, lieben Sie mich, vergeben Sie mir und empfehlen Sie mich Gott, Jesus, der heiligsten Maria… Ich schicke Ihnen einen Kuss von Herzen und bekenne im Glauben, dass ich Ihnen gut gesinnt bin…“.12
Das zweite Zeugnis ist eine sehr bewegende Seite des heiligen Don Orione an seine Kleriker im Jahr 1934, dem Jahr der Heiligsprechung Don Boscos.
„Jetzt werde ich Euch den Grund, das Motiv, die Ursache sagen, warum Don Bosco heilig geworden ist. Don Bosco ist ein Heiliger geworden, weil er sein Leben von Gott nährte und weil er unser Leben mit Gott nährte. In seiner Schule habe ich gelernt, dass dieser Heilige uns den Kopf nicht mit Scherzen oder anderem anfüllte, sondern er nährte uns mit Gott und er nährte sich selbst von Gott, vom Geist Gottes. Wie die Mutter sich selbst nährt, um dann ihr Kind zu nähren, so nährte Don Bosco sich mit Gott, um dann auch uns mit Gott zu nähren. Deshalb werden die, die den Heiligen kannten und die ausgezeichnete Gnade hatten, in seiner Nähe aufzuwachsen, sein Wort zu hören, sich ihm zu nähern und in gewisser Weise das Leben des Heiligen zu teilen, von diesem Kontakt etwas mitnehmen, das nicht irdisch und nicht menschlich ist; etwas, das sein Leben als Heiliger nährte. Er richtete alles auf den Himmel aus, er richtet alles auf Gott aus; und aus allem zog er einen Grund, um unsere Seelen zum Himmel zu erheben und unsere Schritte zum Himmel zu lenken“.13
1.3 Instrumente: unsichtbare Werte, umgesetzt in sichtbare Werke
Im Zentrum der Spiritualität Don Boscos steht: Gott allein zu erkennen, zu lieben und ihm zu dienen zur Erlangung des eigenen Heils mittels der Verwirklichung einer konkreten persönlichen Berufung: die religiöse und apostolische Hingabe – wohltätig, erzieherisch und pastoral – an die Jugendlichen, besonders die armen und verlassenen, um ihrem ganzheitlichen Heil zu dienen, nach dem Leitbild des Erlösers Jesus Christus und in der Schule der allerseligsten Jungfrau Maria, der Mutter und Lehrmeisterin. Nicht ohne Grund ist beispielsweise das häufigste Substantiv in einem seiner Briefbände „Gott“, und das häufigste Verb (nach „machen“) das Wort „beten“.14
In Don Bosco haben wir eine aktive Spiritualität. Er neigt zur Aktion, zur Tätigkeit unter dem Ansporn der Dringlichkeit und des Bewusstseins einer himmlischen Sendung. Die Entscheidung für das tätige Leben gibt der Loslösung eine besondere Bedeutung im Hinblick auf die apostolische Aktion. Wenn sich für den hl. Alfons von Liguori (1696-1787) die Loslösung vor allem im Inneren des Menschen vollzieht, gewinnt sie bei Don Bosco mehr einen Sinn im tätigen Leben: Die Loslösung verhilft dazu, sich in den Werken zu engagieren, die Gott zum Vollzug zuweist.
In Don Bosco entdeckt man den Sinn für die Relativität der Dinge und gleichzeitig für ihre notwendige Nutzung zu dem Zweck, der ihm am Herzen liegt. Er zieht es vor, sich nicht streng an bestimmte Schemata zu klammern. Besser ist also ein praktisches, pastorales und spirituelles Verständnis als ein theologisch-spekulatives. In ihm gibt es ein ursprüngliches Spezifikum: Das Heil erlangt man mit den Methoden der Liebenswürdigkeit, der Milde, der Freude, der Demut, der eucharistischen und marianischen Frömmigkeit, der Liebe zu Gott und den Menschen.
Die Beziehung zwischen der Liebe zu Gott und der geschwisterlichen Liebe ist für jeden Christen, ob Christgläubiger oder Ordenschrist, identisch. Es geht darum, sich Gott und seiner größeren Ehre zu weihen in einer ganzheitlichen Hingabe an das Bemühen, das Heil für die eigene Seele und die Seelen anderer zu bewirken, und zwar als reine Hingabe, ohne etwas für sich selbst zu behalten, vollzogen in Gemeinschaft mit den Brüdern und Schwestern, in der Liebe des Gehorsams und der gemeinschaftlichen Solidarität.
Don Bosco hat es auf Grund seiner menschlichen Sensibilität und seiner priesterlichen Anteilnahme verstanden, sich realistisch in die Gesellschaft einzufügen, indem er für den Glauben Zeugnis ablegte, ohne Ansehen der Person ermahnte und in direkter Weise Einfluss nahm, auch dort, wo er vor den Augen einiger die priesterliche Würde zu kompromittieren schien. Er sah die starken Werte seiner Berufung, verstand es aber auch, sie in soziale Taten und in konkrete Gesten umzusetzen, ohne dabei im spirituellen, kirchlichen und liturgischen Bereich Abstriche zu machen, zumal er diese Bereiche als von den Problemen der Welt und des Lebens ausgenommen betrachtete.
In Don Bosco ist der Geist Leben geworden. Er ist nicht vorwärts geflüchtet, ist aber auch nicht im Veralteten zurückgeblieben. Kraft seiner Berufung hat er das Alltägliche nicht gelebt, als hätte es keine Horizonte; als wäre es eine Schutznische; als wäre die offene Auseinandersetzung mit der umfassenderen und differenzierteren Realität nicht möglich; als wäre es eine begrenzte Welt mit wenigen zu befriedigenden Bedürfnissen; als wäre es der Ort, wo auf beinahe mechanische Weise traditionelle Grundhaltungen wiederholt würden; oder als würden dort Spannungen, das anspruchsvolle Opfer, das Wagnis, der Verzicht auf den sofortigen Erfolg oder der Kampf unterdrückt.
Interessant ist diesbezüglich ein Zitat, das zwar 120 Jahre alt ist, das aber abgesehen von einigen Begriffen für zeitgenössisch gehalten werden könnte. Es ist ein Zeugnis über Don Bosco „von außen“, das uns das Verständnis bietet, welches andere Personen, vielleicht auch von Salesianern inspiriert, von seinem Werk hatten. Es handelt sich um den Kardinalvikar von Rom, Lucido Maria Parocchi (1833-1903), der im Jahre 1884 schrieb:
„Was ist das Spezifische der salesianischen Gesellschaft? Ich möchte zu euch über das sprechen, was eure Kongregation unterscheidet und was euren Charakter ausmacht. So wie die Franziskaner sich durch die Armut unterscheiden, die Dominikaner durch die Verteidigung des Glaubens, die Jesuiten durch die Kultur. Sie hat etwas in sich, was sich mit derjenigen der Franziskaner, der Dominikaner und der Jesuiten verbindet, sich aber im Hinblick auf das Objekt und die Art und Weise von ihnen unterscheidet… Welcher Art ist also das Spezielle in der Salesianischen Kongregation? Was ist ihr Charakter, ihr Erscheinungsbild? Wenn ich es recht verstanden habe, wenn ich den Begriff richtig erfasst habe, ist ihr spezifischer Charakter, ihr Erscheinungsbild, ihre wesentliche Note die Liebe, welche gemäß den Erfordernissen des Jahrhunderts ausgeübt wird: nos credidimus caritati: Deus caritas est.15 Das gegenwärtige Jahrhundert kann nur mit Werken der Liebe gewonnen und zum Guten gezogen werden. Die Welt will und kennt nun nichts Anderes als die materiellen Dinge. Sie will nichts von den spirituellen Dingen wissen. Sie ignoriert die Schönheiten des Glaubens. Sie erkennt die Größe der Religion nicht, sie sagt sich von der Hoffnung des künftigen Lebens los, sie verneint selbst Gott. Dieses Jahrhundert erfasst von der Liebe nur das Mittel und nicht das Ziel und das Prinzip. Es vermag eine Analyse dieser Tugend zu machen, aber es kann die Synthese nicht bilden. Animalis homo non percipit quae sunt spiritus Dei, sagt der Apostel Paulus.16 Den Menschen dieses Jahrhunderts zu sagen: ‚Wir müssen die Seelen retten, die verloren gehen; man muss die belehren, die die Prinzipien der Religion nicht kennen; und es ist nötig, Almosen zu geben aus Liebe zu jenem Gott, der eines Tages die Großherzigen belohnen wird‘ – die Menschen dieses Jahrhunderts verstehen das nicht. Man muss sich also dem Jahrhundert anpassen, das dahinfliegt. Den Heiden gibt sich Gott durch das Mittel der Naturgesetze zu erkennen; den Hebräern gibt er sich mit Hilfe der Bibel zu erkennen; den schismatischen Griechen mittels der großen Traditionen der Väter; den Protestanten durch das Evangelium; dem gegenwärtigen Jahrhundert durch die Liebe. Sagt diesem Jahrhundert: Ich nehme die Jugendlichen von den Straßen, damit sie nicht unter die Straßenbahnen geraten oder damit sie nicht in eine Grube fallen. Ich ziehe sie zurück in ein Heim, damit sie nicht ihr frisches Leben in Lastern und Schwelgereien vergeuden. Ich sammle sie in Schulen, um sie zu erziehen, damit sie nicht zur Geißel der Gesellschaft werden und nicht im Gefängnis landen. Ich rufe sie zu mir und bewache sie, damit sie sich nicht gegenseitig die Augen ausreißen. Und dann verstehen die Menschen dieses Jahrhunderts und beginnen zu glauben“.17
In Bezug auf unsere Werke müssen wir uns dessen bewusst sein, dass, wenn auswärtige Laien unsere sozialen Dienste schätzen, sie das oftmals tun wegen der Schnelligkeit und Wirksamkeit unserer Maßnahme und wegen der Nützlichkeit unseres Dienstes, dass sie dabei aber auch oft dessen religiöse Bestimmung quasi verweltlichen, von der sie nur die Menschenliebe sehen und nicht die Nächstenliebe und die Inspiration aus dem Evangelium. Zuweilen werden unsere Werke wie lukrative Unternehmen oder gar nur wie Prestigegegenstände gesehen, während der Sozialstaat abnimmt. Selbst die Gläubigen zweifeln oft am religiösen Wert unserer Werke, auch wenn sie sie unterstützen und sich ihrer bedienen. Man überlässt die Verantwortung dafür den Trägern und inspiriert sich nicht an der religiösen Erfahrung der Kongregation. Zu viele Freiwillige haben nur ein geringes Vertrauen in den Bestand und die Flexibilität unserer Werke. Darüber muss man nachdenken. Und zwar sehr!
1.4 Zielpunkt: die Heiligkeit
Don Bosco stellt sich in die Strömung des frommen Humanismus des hl. Franz von Sales, der allen Gruppen von Menschen einen Weg der Heiligkeit vorschlägt. Die von Don Bosco betonte Charakteristik ist eine Heiligkeit, die allen gemein ist, einem jeden nach seinem Stand. Er unterscheidet keine Grade der Heiligkeit und lehnt Analysen dieser Art ab. Er benutzt scholastische Schemata, die der katholischen Spiritualität der Zeit entnommen sind. Seine Theologie ist eine christozentrische und eucharistische und zugleich marianische Theologie, die gespeist ist aus der Übung einiger Tugenden, besonders des Gehorsams. Die Heiligkeit schließt die Freude und den Frohsinn nicht aus; sie fordert keine Bußübungen, aber ein Engagement in der Erfüllung der eigenen Pflichten, das sich ableitet aus einem Leben der Gnade.
Gegenüber dem klassischen Begriff der „Frömmigkeit“ zur Bezeichnung des Zustands der Liebe, die uns bereitwillig und eifrig für Gott handeln lässt, bevorzugt Don Bosco den Begriff der Heiligkeit, nämlich der Heiligkeit dessen, der im Zustand der heiligmachenden Gnade lebt, weil es ihm gelungen ist, mit persönlichem Einsatz und der Hilfe des Heiligen Geistes die Sünde in den allgemeinsten Formen der Jugendlichen zu meiden: schlechte Kameraden, verwerfliche Gespräche, Unreinheit, Skandal, Diebstahl, Unbeherrschtheit, Stolz, Menschenfurcht, Mangel an religiöser Pflichterfüllung…
Nach dem hl. Franz von Sales und noch vor dem II. Vatikanischen Konzil belehrt uns Don Bosco, dass die Heiligkeit für alle möglich ist; dass allen die ausreichende Gnade gegeben ist, um sie zu erlangen; und dass die Heiligkeit sehr abhängig ist von der Mitarbeit des Menschen mit der Gnade. Sicher wird die Heiligkeit erschwert durch verschiedene Hindernisse: Unvollkommenheiten, Fehler, Leidenschaften, Teufel, Sünde. Aber sie ist dank der vielen Mittel, die uns zur Verfügung stehen, nicht unmöglich: die göttlichen Tugenden, die Gaben des Hl. Geistes, die eingegossenen und die erworbenen sittlichen Tugenden, die asketische Bemühungen …
Unsere Spiritualität ist in Gefahr, vereitelt zu werden, weil die Zeiten sich geändert haben und weil wir sie manchmal oberflächlich leben. Um sie zu aktualisieren, müssen wir von Don Bosco ausgehen, von seiner spirituellen Erfahrung und von seinem Präventivsystem. Die Kleriker zur Zeit Don Boscos sahen das, was nicht ging, und wollten daher keine Ordensleute sein, auch wenn sie von ihm verzaubert waren. Die Jugendlichen brauchen „Zeugen“, wie Papst Paul VI. schrieb.18 Sie wollen uns als „spirituelle Menschen“, als Menschen des Glaubens, die sensibel sind gegenüber den Dingen Gottes und bereit sind zum religiösen Gehorsam bei der Suche nach dem Besseren. Es ist nicht die Neuheit, die uns frei macht, sondern die Wahrheit. Die Wahrheit kann nicht Mode, Oberflächlichkeit, Improvisation sein: „veritas liberabit vos – die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32).
Im vorausgehenden Abschnitt haben wir gesehen, welcher „Typus“ von spiritueller Person Don Bosco gewesen ist: zutiefst Mensch und ganz offen für Gott. In der Harmonie dieser zwei Dimensionen hat er einen Lebensentwurf gesehen, den er mit Entschiedenheit aufgegriffen hat: der Dienst an den Jugendlichen. Don Michele Rua (1837-1910) sagt es so: „Er tat keinen Schritt, er sprach kein Wort und unternahm nichts, was nicht auf das Wohl der Jugend ausgerichtet gewesen wäre“.19 Wenn man sein Projekt für die Jugendlichen überprüft, sieht man, dass es ein „Herz“ hat, ein Element, das ihm Sinn und Originalität verleiht: „In der Tat lag ihm nichts anderes am Herzen als das Heil der Menschen“.20
Es gibt also eine weitere und konkrete Erklärung der Einheit seines Lebens: mit seiner Hingabe an die Jugendlichen wollte Don Bosco ihnen die Erfahrung Gottes vermitteln. Seine Liebe war nicht nur Großherzigkeit und Menschenliebe, sondern pastorale Liebe. Diese wird „Mitte und Inbegriff“ des salesianischen Geistes genannt.21
Die Begriffe Mitte und Inbegriff sind eine treffende und anspruchsvolle Bezeichnung. Es ist leichter, verschiedene, wenn auch fundamentale Grundzüge unserer Spiritualität aufzuzählen, ohne sich dabei zu bemühen, unter ihnen eine Beziehung oder Hierarchie festzulegen, als einen Grundzug als den hauptsächlichen auszuwählen. In diesem Fall muss man in die Seele Don Boscos oder des Salesianers eindringen und das entdecken, was seinen Stil erklärt.
Um zu verstehen, was die pastorale Liebe alles einschließt, gehen wir drei Schritte: Wir denken erst über die Liebe (carità) nach, dann über die Spezifizierung pastorale Liebe und schließlich über die salesianische Charakteristik der pastoralen Liebe.
2.1 Die Liebe (carità)
Ein Wort des hl. Franz von Sales besagt: „Der Mensch ist Vollendung des Weltalls, der Geist Vollendung des Menschen, die Liebe (amour) Vollendung des Geistes und die göttliche Liebe (charité) Vollendung der Liebe. Daher ist die göttliche Liebe Ziel, Vollendung und Krönung des Weltalls.“22 Das ist eine universale Vision, die auf einer aufsteigenden Skala vier Existenzweisen darstellt: das Sein, das Sein als Mensch, die Liebe als höchste Form des Menschseins, die göttliche Liebe als höchster Ausdruck der Liebe.
Die Liebe ist der höchste Zielpunkt der Reifung jedweder Person, ob Christ oder nicht. Das erzieherische Bemühen setzt sich zum Ziel, die Person dahin zu führen, dass sie fähig ist zur Hingabe, zu einer Liebe des Wohlwollens.
Die Psychologen, und nicht nur Jesus Christus, sagen, dass die vollkommene und glückliche Persönlichkeit zur Großherzigkeit und Selbstlosigkeit fähig ist und dazu fähig, eine Liebe zu leben, die nicht nur Begierde ist, um die Befriedigung zu erlangen, selbst geliebt zu werden. Verschiedene Formen von Neurosen und Persönlichkeitsstörungen kommen davon, dass man auf sich selbst zentriert ist. Und die entsprechenden Therapien tendieren allesamt dahin, sich zu öffnen und sich auf die anderen hin zu „de-zentrieren“.
Die Liebe (carità) ist dann das hauptsächliche Angebot in jeder Spiritualität: Sie ist nicht nur das erste und wichtigste Gebot und daher das hauptsächliche Programm für den geistlichen Weg, sondern auch die Kraftquelle, um voranzuschreiten. Darüber gibt es eine ergiebige Reflexion vor allem beim hl. Paulus (2 Kor 12,13-14) und beim hl. Johannes (1 Joh 4,7-21). Greifen wir nur einige Kernpunkte auf.
Das Entzünden der Liebe in uns ist ein Mysterium und eine Gnade. Sie kommt nicht von menschlicher Initiative, sondern ist Teilhabe am göttlichen Leben und Wirkung der Gegenwart des Geistes. Wir könnten Gott nicht lieben, wenn er uns nicht zuerst geliebt hätte, indem er es uns spüren ließ und uns die Lust und die Intelligenz gab, darauf zu antworten. Wir könnten den Nächsten niemals lieben und in ihm das Ebenbild Gottes sehen, wenn wir nicht die persönliche Erfahrung der Liebe Gottes hätten.
„Die Liebe Gottes zu uns ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Röm 5,5). Andererseits hat auch die menschliche Liebe keine rationale Erklärung, und darum sagt man, sie sei blind. Niemand kann exakt sagen, warum sich eine Person in eine andere verliebt.
Wegen ihres Wesens, Teilnahme am göttlichen Leben und geheimnishaften Einheit mit Gott zu sein, schafft die Liebe in uns die Fähigkeit, Gott zu entdecken und anzunehmen: Die Religion ohne die Liebe führt von Gott weg. Die authentische Liebe, auch die rein menschliche, führt die, die fern sind, zum Glauben und zum religiösen Ambiente. Die Parabel vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) stellt die Beziehung Religion – Liebe zu Gunsten der letzteren heraus.
Der hl. Johannes fasst dies in seinem ersten Brief so zusammen: „Liebe Brüder, wir wollen einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,7-8). Bei Johannes bedeutet das Wort „erkennen“ so viel wie „erfahren“, und nicht nur „eine genaue Erkenntnis von etwas erlangen“: Wer liebt, macht die Erfahrung Gottes.
Weil die Liebe das Geschenk ist, die es ermöglicht, Gott durch Erfahrung zu erkennen, befähigt sie uns auch, sich seiner in der definitiven Vision zu erfreuen: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin“ (1 Kor 13,12).
Die Liebe ist daher nicht nur eine besondere Tugend, sondern die Form und die Substanz aller Tugenden und dessen, was die Person begründet und aufbaut: „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete … und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; und wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte … und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts.“ (1 Kor 13,1-3).
Deshalb sind die Liebe und ihre Früchte Wirklichkeiten, die andauern und der Zeit widerstehen: „Die Liebe hört niemals auf. Prophetisches Reden hat ein Ende, Zungenrede verstummt, Erkenntnis vergeht… wenn aber das Vollendete kommt, vergeht alles Stückwerk“ (1 Kor 13,8-10). Das bezieht sich nicht nur auf unser Leben, sondern auch auf unsere Geschichte. Was man auf der Liebe aufbaut, das bleibt und richtet unser Menschsein, unsere Gemeinschaft und unsere Gesellschaft auf, während, das, was man auf Hass und Egoismus gründet und aufbaut, sich verzehrt.
Daher ist die Liebe das größte Charisma und die Wurzel aller anderen Charismen, durch die die Kirche aufgebaut wird und wirkt. Gerade nachdem der hl. Paulus die Zielsetzung und den Einsatz der verschiedenen Charismen erklärt hat, führt er den Diskurs über die Liebe mit diesen Worten ein: „Strebt aber nach den höheren Gnadengaben! Ich zeige euch jetzt noch einen anderen Weg, einen, der alles übersteigt“ (1 Kor 12,31).
Die Liebe ist das wichtigste Charisma, auch wenn sie sich in alltäglichen Gesten ausdrückt und nichts Außerordentliches oder Auffälliges an sich hat: „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand“ (1 Kor 13,4-7).
Wie für alle Heiligen hat auch für Don Bosco und Maria Mazzarello die Liebe eine zentrale Bedeutung. Sie ist die wichtigste Antriebskraft ihres Lebens. Es ziemt sich, das zu wissen und zu sagen. Zuweilen geschieht es, dass ein Mitglied der Salesianischen Familie die Wichtigkeit der Liebe in einer kirchlichen Bewegung entdeckt, nachdem es viele Jahre in der Spiritualität unseres salesianischen Charismas gelebt hat. Es scheint, dass man vorher nicht wirksam genug darüber gesprochen hat und dass es diese Erfahrung nicht intensiv leben konnte.
In Don Boscos „Traum von den zehn Diamanten“, der eine Parabel über den salesianischen Geist ist, ist der Diamant der Liebe vorne und gerade über dem Herzen der Traumfigur angebracht: „Drei der Diamanten befanden sich auf der Brust… auf demjenigen, der sich über dem Herzen befand, stand geschrieben: Caritá“.23 In diesem Traum repräsentieren die Diamanten, die auf der Vorderseite angebracht sind, den fundamentalen Teil unseres Geistes.
Darüber hinaus wird die Liebe von unseren Gründern in vielfältigen Formen empfohlen: als Basis des Gemeinschaftslebens, als pädagogisches Prinzip, als Quelle der Frömmigkeit, als Voraussetzung für das eigene Gleichgewicht und das persönliche Glück, als Praxis spezifischer Tugenden, wie z.B. die Freundschaft, die gute Erziehung, der Verzicht auf Eigeninteressen.
Lieben zu lernen, ist die Zielsetzung des gottgeweihten Lebens, das nichts anderes ist als „ein Weg, der von der Liebe ausgeht und zur Liebe führt“.24 Die Gesamtheit aller Praktiken und Disziplinen, der Normen und geistlichen Belehrungen will nur das Eine erreichen: uns fähig zu machen, die anderen anzunehmen und uns mit Großherzigkeit in ihren Dienst zu stellen.
2.2 Die pastorale Liebe (carità pastorale)
Die Liebe hat viele Ausdrucksformen: die mütterliche Liebe, die Gattenliebe, die Wohltätigkeit, das Mitleid, die Barmherzigkeit, die Feindesliebe, die Vergebung. In der Geschichte der Heiligkeit decken diese Ausdrucksformen alle Bereiche des menschlichen Lebens ab. Wir, die Salesianer (SDB) und die Don-Bosco-Schwestern (FMA) wie ganz allgemein auch alle anderen Gruppen der Don-Bosco-Familie, sprechen von einer „pastoralen“ Liebe.
Diese Ausdrucksweise erscheint oftmals in den Konstitutionen oder Satzungen der verschiedenen Gruppen, in ihren Dokumenten und Ansprachen. Was die pastorale Liebe bedeutet, drückt zutreffend das II. Vatikanische Konzil aus, das, wenn es sich auf diejenigen bezieht, die zum Glauben erziehen, sagt: „Sie … sind mit sakramentaler Gnade beschenkt, damit sie durch Gebet, Opfer und Verkündigung, durch jede Weise ihres … Sorgens und Dienens vollkommen das Amt der Hirtenliebe ausüben, nicht fürchten, ihr Leben für ihre Schafe einzusetzen, und als Vorbild für die Herde (vgl. 1 Petr 5,3) die Kirche auch durch ihr Beispiel zu täglich größerer Heiligkeit voranführen“.25 Das Wort „pastoral“ besagt eine spezifische Form der Liebe: Es ruft unmittelbar die Figur Jesu, des Guten Hirten, in Erinnerung.26 Aber nicht nur die Formen seines Wirkens: Güte, Suche dessen, der sich verirrt, Dialog, Vergebung; sondern auch und vor allem das Wesen seines Dienstes: einem jeden Menschen Gott offenbaren. Der Unterschied zu anderen Formen der Liebe, die die Aufmerksamkeit bevorzugt auf besondere Bedürfnisse der Menschen richten, z.B. Gesundheit, Speise, Arbeit, ist offensichtlich.
Das typische Element der pastoralen Liebe ist die Verkündigung des Evangeliums, die Erziehung zum Glauben, die Bildung der christlichen Gemeinschaft, die Durchsäuerung des Umfeldes mit dem Geist des Geistes des Evangeliums. Sie erfordert eine völlige Verfügbarkeit und Hingabe für das Heil des Menschen, wie es von Jesus vor Augen geführt wird: das Heil aller Menschen, eines jeden Menschen, auch eines einzelnen. Don Bosco und nach ihm die Don-Bosco-Familie drücken diese Liebe mit einem Satz aus: Da mihi animas, cetera tolle (Gib mir Seelen, alles andere nimm).
Die großen Institute und die großen Strömungen der Spiritualität haben das Herz des eigenen Charismas in einem kurzen und prägnanten Satz zusammengefasst: „Alles zu größeren Ehre Gottes“, sagen die Jesuiten. „Friede und Wohlergehen“ ist der Gruß der Franziskaner. „Bete und arbeite“ ist das Programm der Benediktiner. „Betrachten und die betrachteten Dinge an andere weitergeben“ ist die Norm der Dominikaner. Die Zeugen der ersten Stunde und die nachfolgende Reflexion der Kongregation haben zu der Überzeugung geführt, dass die Ausdrucksweise, die die salesianische Spiritualität zusammenfasst, genau die ist: Da mihi animas, cetera tolle.
Das Wort ging Don Bosco häufig über die Lippen wieder und hat seine spirituelles Ausdrucksgestalt beeinflusst. Es ist die Maxime, die schon Dominikus Savio im Zimmer Don Boscos, der damals mit 34 Jahren noch ein junger Priester war, beeindruckte und zu einem berühmten Kommentar veranlasste: „Ich habe verstanden, dass hier kein Geschäft mit Geld gemacht wird, sondern mit Seelen. Ich habe verstanden: Ich hoffe, dass auch meine Seele Teil dieses Geschäftes sein wird“.27 Für diesen Jungen war also klar, dass Don Bosco ihm nicht nur Unterweisung und Wohnung anbot, sondern vor allem eine Gelegenheit zum geistlichen Wachstum.
Das Wort wurde auch in die Liturgie des Hochfestes des hl. Johannes Bosco aufgenommen, wo es im Tagesgebet heißt: „Gib auch uns die Liebe, die ihn erfüllt hat, damit wir fähig werden, Menschen für dich zu gewinnen und dir allein zu dienen.“28 Und das ist richtig, wenn man bedenkt, dass Don Bosco bei der Gründung seiner Institute diese Absicht hatte: „Das Ziel dieser Gesellschaft ist mit Blick auf ihre Mitglieder nichts anderes als eine Einladung, sich zu vereinen, angespornt vom Wort des hl. Augustinus: divinorem divinissimum est in lucrum animarum operare – das Göttlichste alles Göttlichen ist es, zum Wohl der Seelen zu arbeiten“.29
2.3 Die salesianische pastorale Liebe
In der salesianischen Geschichte lesen wir: „Am Abend des 26. Januar 1854 haben wir uns im Zimmer Don Boscos versammelt, und es wurde uns vorgeschlagen, mit der Hilfe des Herrn und des hl. Franz von Sales eine Probe der praktischen Übung der Liebe zu machen… Seitdem wurden diejenigen Salesianer, die sich diese Übung vornahmen oder sie sich vornehmen sollten“.30
Nach Don Bosco haben auch die einzelnen Generalobern als amtliche Zeugen diese Überzeugung bestätigt. Es ist bemerkenswert, in welcher Übereinstimmung alle bemüht waren, sie derart zu bekräftigen, dass für Zweifel kein Platz besteht.
Don Michele Rua (1837-1910) konnte bei den Prozessen für die Selig- und Heiligsprechung Don Boscos aussagen: „Er überließ es anderen, Güter anzuhäufen … und Ehren nachzulaufen; Don Bosco lag wirklich nichts anderes am Herzen als die Seelen: Er sagte mit der Tat, nicht nur mit dem Wort: Da mihi animas, cetera tolle“.
Don Paolo Albera (1844-1921), dem Don Bosco aufgrund langer Erfahrung vertraut war, bezeugt: „Der ihn beseelende Gedanke seines ganzen Lebens war, für die Seelen zu arbeiten bis zur Ganzhingabe seiner selbst… Die Seelen retten… war, so kann man sagen, der einzige Rechtfertigungsgrund seines Daseins“.31
Indem er dessen tiefste Motivationen des Handelns herausstellt, sieht Don Philipp Rinaldi (1856-1931) auf noch eindringlichere Weise in Don Boscos Motto Da mihi animas „das Geheimnis seiner Liebe, die Kraft und die Leidenschaft seiner Nächstenliebe“ ausgedrückt.
Und nach der Reflexion des salesianischen Lebens im Licht des Konzils drückt sich mit Blick auf das das heutige Bewusstsein der Generalobere Don Egidio Viganò (1920-1995) folgendermaßen aus: „Es ist meine Überzeugung, dass es keinen Ausdruck gibt, der den salesianischen Geist besser auf den Punkt bringt, als das von Don Bosco selbst gewählte Wort: Da mihi animas, cetera tolle. Es besagt eine glühende Einheit mit Gott, die uns eindringen lässt in das Mysterium seines trinitarischen Lebens, das geschichtlich offenbar geworden ist in der Sendung des Sohnes und des Geistes als unbegrenzte Liebe zum Heil der Menschen“. 32
Woher kommt und was genau bedeutet heute dieser Ausdruck oder dieses Motto? Ich sage „heute“, wo das Wort „Seele“ nicht mehr das ausdrückt und hervorruft, was es in früheren Epochen in Erinnerung rief.
Das Motto Don Boscos findet sich im Buch Genesis im Kapitel 14, Vers 21. Vier miteinander verbündete Könige führen Krieg gegen fünf andere, unter ihnen der König von Sodom. Während der Plünderung der Stadt wird auch Lot, der Neffe Abrahams, mit seiner Familie verhaftet. Abraham wird darüber informiert und kommt. Er bricht mit seinem Stamm auf, nachdem er seine Männer bewaffnet hat. Er besiegt die Räuber, holt die Beute zurück und kauft die Personen frei. Darauf sagt ihm der König von Sodom voller Dankbarkeit: „Da mihi animas, cetera tolle tibi. – Gib mir die Leute zurück, die Habe behalte!“33 Die Anwesenheit Melchisedeks, des Königs von Salem und Priester des Höchsten Gottes (Gen 14,18), dessen Herkunft nicht bekannt ist, gibt dem Abschnitt einen besonderen religiösen und messianischen Sinn, besonders wegen des Segens, den er über Abraham spricht (Gen 14,19). Es handelt sich also um einen Kontext, der alles andere als „spirituell“ ist. In der Bitte des Königs von Sodom steckt aber die deutliche Unterscheidung zwischen den „Menschen“ und dem „Rest“, den Sachen oder Dingen.
Don Bosco gibt dem Wort eine persönliche Deutung innerhalb der religiös-kulturellen Sichtweise des vergangenen Jahrhunderts. „Anima“ (Seele) meint die spirituelle Qualität des Menschen, das Zentrum seiner Freiheit und den Grund seiner Würde, den Raum seiner Offenheit für Gott. Der Vers Genesis 14,21 nimmt bei Don Bosco eine eigene Bedeutung an, und zwar von dem Moment an, wo er dem biblischen Wort eine angepasste, allegorische, stoßgebetartige, ja einem echten Gebet nachempfundene Leseweise verleiht. Die animas (= Akkusativ von animae) sind die Menschen seiner Zeit, es sind die konkreten Jungen, mit denen er es zu tun hat; cetera tolle bedeutet die Loslösung von den Dingen und Geschöpfen, eine Loslösung, die bei ihm nicht zu übersetzen ist im Sinne von Selbstverleugnung oder Selbstauflösung in Gott, wie zum Beispiel bei den kontemplativen oder mystischen Theologen; bei ihm ist die Loslösung ein Seelenzustand, der notwendig ist für die absoluteste Freiheit und Verfügbarkeit für die Anforderungen des Apostolates selbst.
Die Verflechtung der zwei Bedeutungen, der biblischen und der von Don Bosco gegebenen und unserer Kultur angenäherten, weist auf sehr konkrete Entscheidungen hin.
Zuallererst zieht die pastorale Liebe den Menschen in Betracht und wendet sich an den ganzen Menschen. Zuerst und vor allem gilt ihr Interesse dem Menschen, um seine Ressourcen zu entfalten. „Dinge“ geben – das kommt danach. Die Ausübung eines Dienstes steht in Funktion des Wachstums des Bewusstseins und des Empfindens der eigenen Würde.
Darüber hinaus ist die Liebe, die vor allem auf den Menschen achtet, geleitet von einer „Vision“ des Menschen. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Er hat unmittelbare Bedürfnisse, aber auch unendliche Bestrebungen. Er verlangt nach materiellen Gütern, aber auch nach geistlichen Werten. Gemäß der Aussage des hl. Augustinus (354-430) „ist er für Gott geschaffen, ja durstig nach ihm“.34 Darum ist das Heil, das die pastorale Liebe sucht und anbietet, jenes vollkommene und endgültige Heil. Der ganze Rest ist auf dieses hin ausgerichtet: die Wohltätigkeit auf die Erziehung; die Erziehung auf die religiöse Einführung; die religiöse Einführung auf das Leben der Gnade und die Einheit mit Gott.
Mit anderen Worten kann man sagen, dass wir in unserer Erziehung oder menschlichen Förderung der religiösen Dimension einen Vorrang geben. Dies nicht wegen „Proselytenmacherei“, sondern weil wir davon überzeugt sind, dass sie die tiefste Quelle des menschlichen Wachstums ist. In einer Zeit des Säkularismus ist diese Orientierung nicht leicht zu verwirklichen.
Die Maxime da mihi animas enthält auch eine Angabe der Methode: bei der Bildung oder Erneuerung der Person muss man sich bemühen, ihre spirituellen Energien, ihr moralisches Gewissen, ihre Öffnung auf Gott hin und den Gedanken an ihre ewige Bestimmung zu beleben. Die Pädagogik Don Boscos ist eine Pädagogik der Seele, des Übernatürlichen. Wenn man an diesem Punkt angelangt ist, beginnt die eigentliche Erziehungsarbeit. Das Übrige ist Propädeutik und Vorbereitung.
Don Bosco bekräftigt das mit aller Deutlichkeit in seiner Lebensbeschreibung von Michael Magone. Dieser kommt von der Straße ins Oratorium. Er fühlt sich zufrieden und ist, menschlich gesprochen, ein tüchtiger Junge. Er ist spontan und aufrichtig, er spielt, lernt und knüpft Freundschaften. Eines aber fehlt ihm: das Leben in der Gnade und die Beziehung zu Gott zu verstehen und damit zu beginnen. Er ist religiös unwissend oder abgelenkt. Er hat einen Weinkrampf, als er sich mit den Kameraden vergleicht und merkt, dass ihm etwas fehlt. Also spricht Don Bosco mit ihm. Von da an beginnt der Weg der Erziehung, der in der Biographie beschrieben wird: vom Bewusstsein und von der Annahme der eigenen religiös-christlichen Dimension.
Es gibt daher eine Askese für den, der von der pastoralen Liebe angetrieben wird: Cetera tolle, „lass den ganzen Rest“. Man muss auf viele Dinge verzichten, um das Entscheidende zu bewahren. Man kann viele Dinge anderen anvertrauen und auch viele Aktivitäten auslassen, um dafür Zeit zu haben und verfügbar zu sein, die jungen Menschen für Gott zu öffnen. Und das gilt nicht nur für das persönliche Leben, sondern auch für die apostolischen Programme und Werke.
„Wer das Leben Don Boscos durchgeht, indem er seinen Denkschemata nachgeht und der Spur seines Denkens folgt, findet eine Matrix: das Heil in der katholischen Kirche, der einzigen Hüterin der Heilsmittel. Er erkennt, wie der Anruf der verlassenen, armen und vagabundierenden Jugend in ihm den erzieherischen Drang weckt, mit Hilfe der Güte und der Liebe die Eingliederung dieser Jugendlichen in die Welt und in die Kirche zu fördern; aber mit einer Spannung, die ihren Ursprung im Wunsch nach dem ewigen Heil des jungen Menschen hat“.35
2.4. Synthese des zurückgelegten Wegs
Als Synthese nehmen wir die fundamentalen Ideen unserer Reflexion noch einmal auf:
Unsere Spiritualität ist eine apostolische: sie kommt zum Ausdruck und wächst in der pastoralen Liebe.
Das Apostolat wird zu einer authentischen spirituellen Erfahrung und ist nicht Verbrauch von Energien, Stress und Verschleiß, wenn es als Seele die Liebe hat; sie verleiht in der pastoralen Arbeit Leichtigkeit, Vertrauen und Freude.
Die Liebe verwirklicht die Einheit in unserem persönlichen Leben; sie hält die Spannungen zusammen, die zwischen Aktion und Gebet, zwischen gemeinschaftlichem Leben und apostolischem Engagement, zwischen Erziehung und Evangelisierung, zwischen Professionalität und Apostolat aufkommen.
Das ganze Engagement unseres spirituellen Lebens besteht darin, die pastorale Liebe zu beleben, sie zu reinigen und sie zu intensivieren: ama et fac quod vis – liebe und tu, was du willst.36
3. Salesianische Spiritualität für alle Berufungen
Wenn es auch wahr ist, dass die christliche Spiritualität gemeinsame und gültige Elemente für alle Berufungen umfasst, so ist doch auch wahr, dass sie mit besonderen und spezifischen Unterschieden entsprechend dem eigenen Lebensstand gelebt wird: die Priester, die Ordensleute, die christgläubigen Laien, die Familien, die Jugendlichen oder die Alten … sie alle haben ihre typische Art, die geistliche Erfahrung zu leben. Das Gleiche gilt für die salesianische Spiritualität.
3.1 Gemeinsame Spiritualität für alle Gruppen der Don-Bosco-Familie
Es gibt gemeinsame Elemente der Spiritualität für alle Gruppen der Don-Bosco-Familie; sie inspirieren sich alle an Don Bosco, der der Gründer der Salesianer, zusammen mit Maria Mazzarello der Don-Bosco-Schwestern, der Salesianischen Mitarbeiter und der Maria-Hilf-Verehrer ist; die anderen Gruppen beziehen sich auf die je eigenen Gründer. Diese Elemente sind herausgearbeitet in der Charta der charismatischen Identität der Don-Bosco-Familie37, die man kennen und vertiefen muss, weil sie den Bezugsrahmen darstellt für unsere Spiritualität der Einheit und für unsere Ausbildung zur Einheit.
Die charakteristischen und von allen Gruppen anerkannten Grundzüge finden sich besonders im dritten Teil der dieser „Charta der Identität“: „Die Spiritualität der Don-Bosco-Familie“.38 Sie betreffen unser Leben aus der Beziehung zum dreifaltigen Gott heraus, unseren Bezug zu Don Bosco, die Einheit in der Sendung, die Spiritualität des Alltags, die tätige Kontemplation nach dem Beispiel Don Boscos, die dynamische apostolische Liebe, die Gnade der Einheit, die Vorliebe zu den Jugendlichen und dem einfachen Volk, die Liebenswürdigkeit, den Optimismus und die Freude, die Arbeit und die Mäßigkeit, die Initiative und die Anpassungsfähigkeit, den Gebetsgeist, das Vertrauen auf Maria Hilfe der Christen.
Vergessen wir nicht, dass das Präventivsystem eine konkrete Ausdrucksform und Übersetzung dieser gemeinsamen Spiritualität ist. Es verbindet uns mit der Seele, den Grundhaltungen und den im Geist des Evangeliums getroffenen Entscheidungen Don Boscos. Die „Genialität“ seines Geistes ist gebunden an die Verwirklichung des Präventivsystems. Es ist gelungenes System, das Leitbild und Inspiration für alle ist, die heute in der Erziehung auf den verschiedenen Kontinenten in den multikulturellen und multireligiösen Kontexten engagiert sind. Es ist ein Leitbild, das von allen eine ständige Reflexion verlangt, um die zentrale Bedeutung der Jugendlichen als Zielgruppen und Protagonisten der salesianischen Sendung immer mehr zu fördern.
3.2. Eigene Spiritualität einer jeden Gruppe der Don-Bosco-Familie
Andererseits hat jede Gruppe der Don-Bosco-Familie eigene spirituelle Elemente. Berechtigterweise haben die verschiedenen Gruppen mit Blick auf ihren Ursprung und ihre Entwicklung eine charakteristische Geschichte und darum auch Aspekte der gemeinsamen Spiritualität, die sie in besonderer Weise herausgestellt haben, oder andere, die ursprünglich und ihnen eigen sind. Diese Elemente sind der spezifische Unterschied jeder Gruppe; man muss sie kennen, sie bilden einen Reichtum für die ganze Familie.
Die Verschiedenheit ist ein Geschenk des Geistes, der die Einförmigkeit und die Vereinheitlichung nicht liebt, wohl aber die Unterschiede und Besonderheiten. Sie dürfen nicht als Vorwand dienen für Aufteilungen oder gegensätzliche Positionen, sondern müssen alle bereichern und zusammenführen, eben auf die Einheit hin, die man als Geschenk annehmen und als Engagement verwirklichen soll. Solche eigenen Elemente sind insbesondere in den Lebensregeln der verschiedenen Gruppen vorhanden und spezifiziert, aber auch in ihren Traditionen.
3.3. Salesianische Jugendspiritualität
Mit der Zeit hat sich auch eine salesianische Jugendspiritualität entwickelt. Denken wir über die von Don Bosco verfassten drei Lebensbeschreibungen der Jugendlichen Michael Magone, Dominikus Savio und Franz Besucco hinaus an die Seiten, die er durch den „Giovane provveduto“ an die Jugendlichen selbst richtete, sowie an die von Don Bosco gewollten „Bündnisse“, der als Moment des spirituellen und apostolischen Protagonismus der Jugendlichen selbst ansah.
Es wäre interessant, die Entwicklungen der salesianischen Jugendspiritualität in unserer Geschichte und Tradition zu kennen, und zwar bis in unsere Tage, als eine ihrer maßgeblichen Formulierungen entstand und unter den Jugendlichen auch durch die Salesianische Jugendbewegung (Movimento Giovanile Salesiano, MGS) verbreitet wurde. Die Spiritualität ist die Basis der Salesianischen Jugendbewegung, die mit dem Engagement der Jugendlichen selbst wächst und die den animierenden Beitrag seitens der verschiedenen Gruppen der Don-Bosco-Familie erfordern würde. Die Salesianische Jugendbewegung ist in der Tat eine Gelegenheit, ein Geschenk und ein Engagement für alle Gruppen unserer Familie.
Die Salesianische Jugendspiritualität ist eine den Jugendlichen angemessene Spiritualität. Sie wird mit den jungen Menschen gelebt und für sie, sie wird gedacht und verwirklicht inmitten der Erfahrung der Jugendlichen. Sie sucht ein Bild des jungen Christen zu schaffen, das dem heutigen jungen Menschen vorgeschlagen werden kann, der in unserer Zeit lebt und von den heutigen jugendlichen Lebensbedingungen geprägt ist. Sie wendet sich an alle Jugendlichen, weil sie nach dem Maß der „Ärmsten“ entwickelt wurde, gleichzeitig aber in der Lage ist, denjenigen Ziele aufzuzeigen, die weiter voranschreiten wollen. Sie will auch aus dem Jugendlichen selbst einen Protagonisten machen, der seinerseits seinen Altersgenossen und seinem Umfeld Vorschläge macht und Anregung gibt.
Eine Spiritualität des täglichen Lebens als Ort der Begegnung mit Gott
Die Salesianische Jugendspiritualität betrachtet das tägliche Leben als Ort der Begegnung mit Gott. An der Basis dieser positiven Bewertung des Alltags und des Lebens steht der Glaube an die Menschwerdung Gottes und dessen tieferes Verständnis. Eine solche Spiritualität lässt sich leiten vom Geheimnis Gottes, der mit seiner Menschwerdung, seinem Tod und seiner Auferstehung seine Gegenwart in der ganzen menschlichen Realität als heilschaffende Gegenwart bekräftigt.
Der Alltag des Jugendlichen besteht aus Pflicht, Geselligkeit, Spiel, durch das Wachstum bedingte Spannung, Familienleben, Entwicklung der eigenen Fähigkeit, Zukunftsperspektiven, Handlungsanforderungen, Bestrebungen usw. Das ist die Realität die angenommen, vertieft und gelebt wird im Lichte Gottes. Nach Don Bosco genügt es, um heilig zu werden, das gut zu tun, was man tun muss. Er betrachtet die Treue zu den alltäglichen Pflichten als Kriterium der Überprüfung der Tugend und als Zeichen spiritueller Reife.
Damit das tägliche Leben spirituell gelebt werden kann, braucht man die Gnade der Einheit, die dazu verhilft, die verschiedenen Dimensionen des Lebens um ein vom Heiligen Geist bewohntes Herz herum zu vereinigen. Sie ermöglicht die Umkehr und die Reinigung. Durch die Kraft des Sakramentes der Versöhnung bewirkt sie, dass der Jugendliche das Herz frei hält, offen für Gott und hingegeben an die Brüder und Schwestern.
Unter den Grundhaltungen und Erfahrungen des Alltags, die mit Tiefgang im Geist zu leben sind, können in Betracht gezogen werden: das Leben in der Familie; die Liebe zur Arbeit oder zum Studium; das kulturelle Wachstum und die schulische Erfahrung; die Notwendigkeit, die „starken Erfahrungen“ mit den „gewöhnlichen Wegen des alltäglichen Lebens“ zu verbinden; die positive und reflexive Vision im Hinblick auf die Zeitgestaltung; die verantwortliche Annahme des eigenen Lebens und des eigenen spirituellen Wachstumsweges durch das tagtägliche Bemühen; die Fähigkeit, das eigene Leben gemäß einem Berufungsprojekt auszurichten.
Eine österliche Spiritualität der Freude und des Optimismus
Die entscheidende Wahrheit des christlichen Glaubens ist, dass der Herr wahrhaft auferstanden ist! Deshalb ist das Leben mit Gott unser letztes Ziel und auch im gegenwärtigen Leben unser Ziel, weil es im Leib Christi zur Wirklichkeit geworden ist. Die salesianische Jugendspiritualität ist österlich und sie lässt sich von dieser endzeitlichen Ausrichtung durchdringen.
Die am tiefsten verwurzelte Tendenz im Herzen des Jugendlichen sind der Wunsch und die Suche nach Glück. Die Freude ist die edelste Ausdrucksform des Glücks, zusammen mit dem Fest und der Hoffnung ist sie für die salesianische Spiritualität charakteristisch. Der christliche Glaube ist eine Mitteilung radikalen Glücks, Verheißung und Verleihung „ewigen Lebens“. Diese Wirklichkeiten sind keine Eroberung, sondern ein Geschenk, das uns aufzeigt, dass Gott die Quelle der wahren Freude und der Hoffnung ist. Ohne ihren pädagogischen Wert auszuschließen, hat die Freude vor allem einen theologischen Wert; Don Bosco sieht in ihr eine unverzichtbare Erscheinungsform des Lebens der Gnade.
Don Bosco hat verstanden und hat seine Jugendlichen verstehen lassen, dass Engagement und Freude zusammen gehören, dass Heiligkeit und Freude ein unzertrennliches Paar sind. Don Bosco ist der Heilige der Lebensfreude. Seine Jugendlichen verstanden die Lektion des Lebens so gut, dass sie mit einer typisch oratorianischen Redeweise bekräftigten: „Die Heiligkeit besteht darin, froh zu sein“. Die salesianische Jugendspiritualität schlägt einen Weg der einfachen, fröhlichen und heiteren Heiligkeit vor.
Die Bewertung der Freude als geistliche Wirklichkeit sowie als Quelle des Engagements und als seine Folge erfordert es, in den Jugendlichen einige Grundhaltungen und Erfahrungen zu fördern: ein intensives Umfeld der Teilnahme und Teilhabe; aufrichtige freundschaftliche und geschwisterliche Beziehungen, verbunden mit der freudigen Erfahrung der gegenseitigen Zuneigung; Jugendfeste (Festivals) mit freien Ausdrucksformen und Gruppenbegegnungen; das Stauen über und der Sinn für die Freuden, die der Schöpfer uns auf unserem Weg bereitet hat: die Natur, das Schweigen, die gemeinsam vollbrachten Taten; die anspruchsvolle Freude des Opfers und der Solidarität; die Gnade, unter dem Zeichen und dem Trost des Kreuzes mit Leiden leben zu können.
Eine Spiritualität der Freundschaft und der persönlichen Beziehung zum Herrn Jesus Christus
Die salesianische Jugendspiritualität möchte den jungen Menschen zur Begegnung mit Jesus Christus führen und eine Beziehung der Freundschaft mit ihm und des Vertrauens auf ihn fördern, indem sie ein lebendiges Band und eine treue Verbindung schafft. Viele Jugendliche tragen den aufrichtigen Wunsch in sich, Jesus zu kennen, und versuchen Antwort zu geben auf die Fragen nach dem Sinn des eigenen Lebens, auf die allerdings nur Gott eine wahre Antwort zu geben vermag.
Freund, Meister und Heiland sind die Bezeichnungen, die die zentrale Bedeutung der Person Jesu im spirituellen Leben des Jugendlichen beschreiben. Es ist interessant, daran zu erinnern, dass Jesus von Don Bosco als Freund der Jugendlichen dargestellt wird: „Die Jugendlichen sind die Freude Jesu“, pflegte er zu sagen; als Lehrmeister des Lebens und der Weisheit; als Vorbild eines jeden Christen; als Erlöser, der sein ganzes Leben bis hin zu seinem Heilstod in Liebe hingibt; als einer der gegenwärtig ist unter den Kleinen und den Armen.
Für einen Weg der Gleichförmigkeit mit Christus gibt es einige Grundhaltungen und Erfahrungen zu entwickeln: die Teilnahme am Glauben in der Gemeinschaft, die vom Gedächtnis und der Gegenwart des Herrn lebt und ihn in den Sakramenten der christlichen Initiation (Taufe, Firmung, Eucharistie) feiert; die Pädagogik der Heiligkeit, die Don Bosco aufgezeigt hat in der durch das Bußsakrament geschenkten Versöhnung mit Gott und den Brüdern und Schwestern; das Erlernen des persönlichen und des gemeinschaftlichen Gebets als bevorzugte Momente zum Wachstum in der Liebe und in der persönlichen Beziehung zu Jesus Christus; die systematische Vertiefung des Glaubens, der erleuchtet wird durch die Lektüre und die Meditation des Wortes Gottes.
Eine Spiritualität der kirchlichen Gemeinschaft
Die Erfahrung und das angemessene Verständnis der Kirche ist einer der entscheidenden Punkte der christlichen Spiritualität. Die Kirche ist eine geistliche „communio“ und Gemeinschaft, die sich sichtbar macht durch Zeichen und gemeinsame Handlungen; sie verwirklicht sich im Dienst an den Menschen, von denen sie sich nicht löst wie eine „Sekte“, die nur die Werke als gut ansieht, die das Zeichen der eigenen Zugehörigkeit tragen; sie ist der von Christus erwählte und angebotene Ort, wo man ihm begegnen kann. Er hat der Kirche Sein Wort, die Taufe, Seinen Leib und Sein Blut, die Gnade der Vergebung der Sünden und die übrigen Sakramente, die Erfahrung der Gemeinschaft und die Kraft des Geistes anvertraut, die zur Liebe zu den Brüdern und Schwestern bewegen. Die Don-Bosco-Familie zählt zu ihren Schätzen ferner eine reiche Tradition der Treue zum Nachfolger Petri sowie der Gemeinschaft und Zusammenarbeit mit den Ortskirchen.
Gerade weil die Salesianische Jugendspiritualität eine kirchliche ist, ist sie eine marianische Spiritualität. Maria wurde berufen von Gott, dem Vater, durch die Gnade des Geistes, Mutter des Wortes zu sein, um es dann der Welt zu schenken. Die Kirche schaut zu Maria als Leitbild des Glaubens auf. Don Bosco tat es, und auch wir sind berufen, es in Einheit mit der Kirche zu tun. Maria wird gesehen als Mutter Gottes und unsere Mutter; als Immaculata, voll der Gnade, ganz verfügbar für Gott, und als Vorbild der Heiligkeit durch ein Leben, das sie in Stimmigkeit und Ganzhingabe gelebt hat; als Helferin der Christen, im großen Kampf des Glaubens und der Errichtung des Reiches Gottes beisteht. Sie schützt und leitet die Kirche. Deshalb betrachtet Don Bosco sie als Madonna für die schwierigen Zeiten, als Halt und Stütze für den Glauben und die Kirche. In Maria, der Helferin der Christen, haben wir ein Leitbild und eine Führerin für unser erzieherisches und apostolisches Handeln.
Die zu fördernden Grundhaltungen und Erfahrungen sind daher: das konkrete Umfeld des salesianischen Hauses als einem Ort, an dem man das Bild einer frischen, sympathischen und aktiven Kirche erfahren wird, das auf die Erwartungen der Jugendlichen antworten kann; die Gruppen und vor allem die Erziehungsgemeinschaft, die Jugendliche und Erzieher in einem familiären Umfeld auf der Basis eines ganzheitlichen Erziehungskonzeptes vereint; die Teilnahme an der Ortskirche, wo sich in einem konkreten Territorium alle Kräfte der Gläubigen in einer sichtbaren Einheit und in einem wahrnehmbaren Dienst vereinen; die Wertschätzung und das Vertrauen gegenüber der Universalkirche, die wahrnehmbar und erlebbar ist in der Beziehung der Liebe zum Papst; die Liebe, die Bewunderung, die Verehrung und die Nachahmung Mariens, der Immaculata und Hilfe der Christen; das Kennenlernen der Heiligen und der in ihrem Denken und Handeln in einem bestimmten Gebiet exemplarischen Christen.
Eine Spiritualität des verantwortlichen Dienstes
Das als Begegnung mit Gott angenommene Leben, der Weg der wachsenden Identifikation mit Jesus Christus, die Kirche, die als Gemeinschaft und Dienst verstanden wird, wo jeder seinen Platz hat und wo es der Gaben aller bedarf: all das lässt die Überzeugung wachsen, dass das Leben sich innerhalb einer Berufung zum Dienst vollzieht. Don Bosco forderte von seinen Jugendlichen, „gute Christen und verantwortungsbewusste Bürger“ zu werden.
Angefangen von seinem Traum mit neun Jahren hat Don Bosco als Jugendlicher und später als Jugendapostel die eigene Existenz als Berufung erfahren und gelebt. Er antwortet mit großzügigem Herzen auf die Einladung, sich unter die Jugendlichen zu begeben und sie zu retten. Don Bosco lud dann seine Jugendlichen zu einem „praktischen Dienst der Nächstenliebe ein“. Die salesianische Jugendspiritualität ist eine apostolische Spiritualität, weil sie von der Überzeugung ausgeht, dass wir berufen sind, in einer Sendung mit Gott zusammenzuarbeiten, indem wir mit Hingabe, Freude, Vertrauen und totaler Verfügbarkeit auf seinen Ruf antworten. Den Jugendlichen werden also die apostolischen Berufungen und die Berufungen der besonderen Gottesweihe (= Ordensberufungen) vorgestellt.
Der verantwortliche Dienst erfordert einige Grundhaltungen und Erfahrungen, die der Förderung bedürfen: sich auf die Wirklichkeit und den menschlichen Kontakt hin öffnen; in allen Kontexten die menschliche Würde und Menschenrechte fördern; mit Großherzigkeit in der Familie leben und sich darauf einstellen, sie auf der Grundlage gegenseitiger Hingabe zu bilden; die Solidarität fördern, besonders gegenüber den Ärmsten; die eigene Arbeit mit Gewissenhaftigkeit und professioneller Kompetenz vollziehen; in der Politik die Gerechtigkeit, den Frieden und das Allgemeinwohl fördern; die Schöpfung respektieren; die Kultur fördern; den Ruf Gottes für das eigene Leben ergründen; als Dienst an der Kirche und an den Menschen allmählich fortschreitende und stimmige Entscheidungen reifen lassen; den eigenen Glauben bezeugen und in einem bestimmten Umfeld, wie z.B. Erziehung, Pastoral, Kulturarbeit, konkretisieren; das Volontariat und das missionarische Engagement; Kennenlernen der Berufungen besonderer Gotthingabe und die Offenheit dafür.
3.4 Laikale Spiritualität und Don-Bosco-Familie
Die Gruppen der Don-Bosco-Familie umfassen in ihrer Sendung zahlreiche Laien. Wir sind uns dessen bewusst, dass es keine vollständige Einbeziehung geben kann, wenn es nicht auch ein Teilen desselben Geistes gibt. Die salesianische Spiritualität den Laien mitzuteilen, die zusammen mit uns verantwortlich sind für das erzieherisch-pastorale Handeln, wird zu einer fundamentalen Aufgabe. Die Salesianer haben, auch in Beziehung zu den anderen Gruppen, beim 24. Generalkapitel eine ausdrückliche Arbeit der Formulierung einer laikalen salesianischen Spiritualität geleistet.39 Ohne Zweifel bilden die Laiengruppen der Don-Bosco-Familie, besonders die Salesianischen Mitarbeiter und die Ehemaligen beiderlei Geschlechts, eine Quelle der Inspiration für diese Spiritualität.
Wir sind uns bereits mehr dessen bewusst geworden, dass es keine Jugendpastoral geben kann ohne Familienpastoral; daher stellen wir die Frage, auf der Basis welcher salesianischen Familienspiritualität wir sie ausarbeiten und vorschlagen sollen. Es gibt Familienerfahrungen, die sich an Don Bosco inspirieren. Hier befinden wir uns noch am Anfang; es ist aber ein Weg, der uns hilft, über unsere Sendung zur Jugend auch unsere Sendung zum einfaschen Volk zu entwickeln. Man muss die Familienpastoral fördern und dann spirituelle Erfahrungen mit den Familie und den Ehepaaren und in der Vorbereitung der Jugendlichen auf die Familie teilen.
4.1 Wir bemühen uns um die Vertiefung der Frage, was die spirituelle Erfahrung Don Boscos und sein spirituelles Profil waren, um den „mystischen Don Bosco“ zu entdecken; so werden wir ihn nachahmen können, indem wir mit charismatischer Identität eine spirituelle Erfahrung leben. Ohne uns die von Don Bosco gelebte spirituelle Erfahrung anzueignen, werden wir uns nicht unserer spirituellen salesianischen Erfahrung bewusst werden können. Nur so werden wir Jünger und Apostel des Herrn Jesus Christus sein, wenn wir Don Bosco als Leitbild und Lehrmeister unseres geistlichen Lebens haben. Die salesianische Spiritualität, die mit der spirituellen Erfahrung der Kirche nach dem Konzil und mit der Reflexion der spirituellen Theologie von heute neu interpretiert und angereichert wird, stellt uns einen spirituellen Weg vor, der zur Heiligkeit führt. Wir anerkennen, dass die salesianische Spiritualität eine wahre und vollständige Spiritualität ist: Sie hat aus der Geschichte der christlichen Spiritualität, besonders vom hl. Franz von Sales, geschöpft, sie hat ihre Quelle in der Besonderheit und Originalität der Erfahrung Don Boscos, sie hat sich angereichert mit der kirchlichen Erfahrung und ist zu der neuen Lesart und reifen Synthese von heute gelangt.
4.2. Wir Leben das Zentrum und die Synthese der salesianischen Spiritualität, welche die pastorale Liebe ist. Sie ist von Don Bosco als Suche nach der Ehre Gottes und dem Heil der Seelen gelebt worden und ist für ihn im Da mihi animas, cetera tolle Gebet und Lebensprogramm geworden. Es ist eine Liebe, die sich vom Gebet nähren muss und sich auf dieses gründen muss, indem sie auf das Herz Christi schaut, den Guten Hirten nachahmt, die Hl. Schrift meditiert, die Eucharistie lebt, dem persönlichen Gebet Raum gibt und die Grundhaltung des Dienstes an den Jugendlichen annimmt. Sie ist eine Liebe, die sich in konkreten Gesten der Annäherung, der Zuneigung, der Arbeit und der Hingabe verwirklicht und sichtbar macht. Wir übernehmen das Präventivsystem als spirituelle Erfahrung und nicht nur als Vorschlag der Evangelisierung und pädagogischen Methodologie. Es findet seine Quelle in der Liebe Gottes, „der jedem Menschen mit seiner Vorsehung zuvorkommt, ihn mit seiner Gegenwart begleitet und rettet, indem er ihm sein Leben verleiht“.40 Es macht uns bereit, in den Jugendlichen Gott zu hören, und beruft uns, ihm in ihnen zu dienen, indem wir ihre Würde erkennen, das Vertrauen in ihre Kräfte zum Guten erneuern und sie zur Fülle des Lebens erziehen.
4.3. Wir teilen gemäß der Verschiedenheit der Berufungen den Vorschlag der salesianischen Spiritualität, besonders im Hinblick auf die Jugendlichen, die Laien, die in die Sendung Don Boscos einbezogen sind, und die Familien. Die salesianische Spiritualität muss gemäß der Berufung, die jeder von Gott erhalten hat, gelebt werden. Wir erkennen die gemeinsamen spirituellen Grundzüge der verschiedenen Gruppen der Don-Bosco-Familie an, wie sie in der „Charta der Identität“41 angegeben sind. Wir machen die Zeugen der salesianischen Heiligkeit bekannt. Wir erflehen die Fürsprache unserer Seligen, Verehrungswürdigen und Diener Gottes und erbitten für sie die Gnade ihrer Heiligsprechung. Wir bieten den Jugendlichen, die wir begleiten, die salesianische Jugendspiritualität an. Den Laien, die bemüht sind, die Sendung Don Boscos mit uns zu teilen, schlagen wir die salesianische Spiritualität vor. Unter Beachtung der Familienpastoral zeigen wir den Familien eine Spiritualität auf, die ihrer Lebenssituation angepasst ist. Schließlich laden wir auch Jugendliche, Laien und Familien unserer Erziehungs- und Pastoralgemeinschaften oder unserer Gruppen und Vereinigungen, die zu anderen Religionen gehören oder sich in Situationen der Indifferenz gegenüber Gott befinden, dazu ein, eine geistliche Erfahrung zu machen; auch für sie ist die spirituelle Erfahrung als Raum der Innerlichkeit, des Schweigens, des Dialogs mit dem eigenen Gewissen und der Öffnung auf das Übernatürliche hin möglich.
4.4. Lesen wir einige Texte Don Boscos, die wir als Quellen der salesianischen Spiritualität ansehen können. Vor allem lade ich euch ein, den „Traum mit den zehn Diamanten“ zu lesen und zu aktualisieren. Er stellt das spirituelle Profil eines jeden von uns dar, die wir uns an Don Bosco orientieren. Ich lege euch sodann eine Sammlung von spirituellen Schriften Don Boscos vor, in denen er als ein wahrer Lehrmeister des spirituellen Lebens erscheint. 42 Wir können so von Seiten schöpfen, die weniger bekannt sind, aber unmittelbar von der gelebten salesianischen Spiritualität sprechen.
5. Schluss
Dieses Mal schließe ich den Kommentar zum Jahresleitgedanken nicht mit einer Geschichte, sondern mit einer Botschaft, die Don Pasquale Liberatore (1911-2003), der jahrelang Postulator der Heiligsprechungsprozesse der Don-Bosco-Familie und auch selbst heilig war, in einem Gedicht hinterlassen hat. Es trägt den Titel: „Die Heiligen“.
Es handelt sich um ein kleines und persönliches „Credo“, das all das in sich schließt, was die salesianische Spiritualität ausmacht. In ihrer Authentizität und Gültigkeit kann man sie, angefangen bei unserem geliebten Gründer und Vater Don Bosco, in den überaus reichen und verschiedenartigen Früchten der Heiligkeit der Don-Bosco-Familie konkretisiert sehen. Wir haben dieses Gedicht am Tag nach Ostern im Arbeitszimmer von Don Liberatore gefunden. In ihm preist er die Heiligen und benutzt eine Vielfalt von Bildern, deren Schönheit wir mit Freude entdecken. Beim Lesen dieses Gedichts können wir die ausgeprägte und feine menschliche und spirituelle Sensibilität unsrer Heiligen berühren und ihr Streben nach der Fülle des Lebens, der Liebe und des Glücks in Gott spüren. Wir bemerken ihre innere Kraft und ihre spirituelle Erfahrung, die zu leben und in leidenschaftlicher und überzeugender Form anderen, besonders den Jugendlichen, vorzuschlagen wir auch selbst berufen sind.
Mein erster Brief als Generaloberer trug den Titel: „Salesianer, seid heilig!“, ein Brief, den ich für mein Rektorat als programmatisch betrachtete. Und ich bin glücklich, dass meine letzte Schrift als Nachfolger Don Boscos eine besorgte Einladung dazu ist, unseren Durst nach Spiritualität zu stillen. Liebe Mitglieder der Don-Bosco- Familie und liebe Jugendliche, hier findet sich all das, was ich leben und euch allen vorschlagen möchte.
Die Heiligen
„Sie werden wie die Sterne am Himmel sein;
sie werden funkeln wie das Firmament.“
Sichtbar zu Tausenden sind sie
wie die Sterne am Himmel für das bloße Auge,
und noch viel zahlreicher,
wie die Sterne, die sichtbar werden durch ein Teleskop,
das auch jene erkennbar macht, die keinen Strahlenkranz haben.
Wie glühende Vulkane sind sie,
gleichsam Spalten
im Geheimnis des dreieinigen Feuers.
Ihre Lebensgeschichten sind abenteuerliche Liebesgeschichten,
geschrieben vom Hl. Geist,
in denen die Überraschung das Normale ist.
Literarisch vielgestaltige Figuren stellen sie dar,
doch immer mit faszinierenden Geschichten:
nach Art eines Dramas bis hin zum Märchen.
Als Lehrer der Seligpreisungen
sind sie immer überzeugend
dank ihrer freudigen Existenz.
Wie Weltraumfahrern
verdanken wir ihnen die kühnsten Entdeckungen,
die nur dem möglich sind, der sich von der Erde entfernt.
Als Giganten sind sie von uns so verschieden,
wie es das Genie immer ist,
und doch sind sie uns Gefährten von unserer Art.
Menschen mit Irrtümern und Misserfolgen sind sie,
aber immer auch außergewöhnliche Menschen,
die mehr sind als Weggefährten.
Die Freigebigkeit Gottes zeigen sie,
der beschenkt und erhöht
gemäß Kriterien, die in seiner Freiheit verborgen sind.
In einem unerschütterlichen Frieden wohnen sie
über den gemeinen menschlichen Konflikten
und sind doch immer unzufrieden,
weil sie nicht aufhören, nach dem Höheren zu streben.
Auf der Umlaufbahn ums Wesentliche
sind sie Propheten des Absoluten.
Große Künstler sind sie
in der Schmiede des Schönen,
vor dem das menschliche Herz in Ekstase gerät.
Als glückliche Männer und Frauen
sind sie Zeugen der geheimen Harmonie
von Natur und Gnade.
Als Menschen, die verrückt sind nach Gott,
sind sie so sehr verliebt,
dass sie eine verwirrende Sprache gebrauchen.
Von jeder Schuld halten sie sich instinktiv
am weitesten entfernt
und sind doch den schuldig Gewordenen jeglicher Art
immer am nächsten.
Als Bühnen, auf denen das Göttliche seine Vorstellung gibt,
sind sie selbst demütige Zuschauer,
eingedenk ihrer eigenen Nichtigkeit.
Fortwährend bemüht, sich zu verbergen,
leuchten sie doch unweigerlich
wie die Stadt auf dem Berge.
Ewige Botschaften bringen sie,
die alle Zeiten, Kulturen und Rassen übersteigen.
Worte wie von Feuer sind sie,
die der Herr spricht, um uns in unserer Trägheit aufzurütteln,
und mit denen der göttliche Meister uns, seine schläfrigen Jünger, aufzuwecken sucht.
Lebendige Wunder sind sie,
für die es keine Experten braucht,
um die Einmaligkeit des Evangeliums, gelebt ohne Worte, zu erkennen.
Auf heroische Weise vom Menschlichen gelöst,
sind sie doch Experten für die feinsten menschlichen Regungen.
Als wahre Meister der Psychologie
erreichen sie auf dem Weg der Liebe
die verborgensten Winkel des menschlichen Herzens.
Unsere besten Wurzeln vermögen sie zum Schwingen zu bringen;
indem sie ein altes Echo erklingen lassen,
erwecken sie das Verlangen nach der Zukunft.
Wie die Sterne des Himmels
so verschieden sind sie untereinander
und sind doch in ihrer Tiefe vom selben Feuer entbrannt.
(Don Pasquale Liberatore SDB)
Don Pascual Chávez Villanueva SDB
Generaloberer
1 E. Ceria, Don Bosco con Dio, Torino 1930. Vgl. auch gekürzte deutsche Fassung: E. Ceria: Don Boscos Leben in Gott, Benediktbeurer Schriftenreihe zur Lebensgestaltung im Geiste Don Boscos, Nr. 28, Benediktbeuern 1991.
2 W. Nigg, Don Bosco. Ein zeitloser Heiliger, DBV München 1977, S. 94 u. 128.
3 Vgl. G. Bosco, Piano di regolamento per l’Oratorio maschile di S. Francesco di Sales in Torino nella regione Valdocco. Introduzione, in P. Braido (Hg.), Don Bosco Educatore. Scritti e Testimonianze. Roma, LAS 1997, 111.
4 Ebd., 108-109.
5 D. Ruffino, Cronache dell’Oratorio di S. Francesco di Sales, n. 2. 1861, 8-9, 42.
6 G. Barberis, Cronichetta, quad 4, 52.
7 G. Bosco, Costituzioni della società di S. Francesco di Sales [1858] – 1875. Testi critici, hg. v. F. Motto, Rom 1982, 70-71.
8 Ebd., 82.
9 G. Bosco, Epistolario, hg. v. F. Motto, Bd. I, Rom 1991, 405.
10 Epistolario di S. Giovanni Bosco, hg. v. E. Ceria, Bd. III, Turin 1958, 544.
11 Epistolario, hg. v. F. Motto, Bd. II, Rom 1996, 1050.
12 F. Motto, Ricordi e riflessioni di una educazione ricevuta, in: Ricerche Storiche Salesiane 11 (1987) 365.
13 Anm. d. Red.: Die Quelle dieses Zitates ist nicht angegeben und konnte auch nicht verifiziert werden. Don Luigi Orione (1872-1940) war von 1886 bis 1889 Schüler in Valdocco und hatte den Wunsch Priester zu werden. Als er beim schon von Alter und Krankheit gezeichneten Don Bosco beichten durfte, sagte ihm dieser die Worte, die er Zeit seines Lebens nicht vergessen sollte: „Wir werden immer Freunde sein!“ Dennoch verließ er nach dem Tod Don Boscos die Salesianer, trat in das Priesterseminar von Tortona (AL) ein und wurde 1895 Diözesanpriester. Noch als Seminarist setzte im Geist Don Boscos die Idee der Oratorien fort. 1903 gründete er als männlichen Zweig die Kongregation der „Piccola Opera della Divina Provvidenza – Kleines Werk der Göttlichen Vorsehung“, 1915 den weiblichen Zweig der „Piccole Suore Missionarie della Carità – der Kleinen Missionarinnen der Nächstenliebe“, die sich dem Dienst an den Kleinen und Armen widmen. 1980 wurde Aloisius Orione selig-, 2004 heiliggesprochen. Vgl. hierzu auch: Otto Wahl, Art. „ Orione, Luigi“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 6 (1993), Sp. 1272-1274.
14 F. Motto, Verso una storia di Don Bosco più documentata e più sicura, in: Ricerche Storiche Salesiane 41 (2002) 250-251.
15 Anm. d. Red.: Hier wird angespielt auf 1 Joh 4,16: „Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen. Gott ist die Liebe …“.
16 1 Kor 2,14: „Der irdisch gesinnte Mensch aber lässt sich nicht auf das ein, was vom Geist Gottes kommt.“
17 Bollettino Salesiano 8 (1884) Nr. 6, 89-90.
18 Vgl. Papst Paul VI.: Apostolisches Schreiben „Evangelii nuntiandi“ über die Evangelisierung in der Welt von heute, Rom 8. Dezember 1975, hier insbes. Nr. 21.
5
19 Zit. in: Konstitutionen und allgemeine Satzungen der Gesellschaft des hl. Franz von Sales, Rom 1984, Nr. 2.
20 Ebd.
21 Vgl. ebd. Nr. 10; vgl. auch: Konstitutionen und Ausführungsbestimmungen des Instituts der Töchter Mariä Hilfe der Christen, Rom 1982, Nr. 80.
22 Vgl. FRANZ VON SALES, Abhandlung über die Gottesliebe. Theotimus, Buch 10, Kap. 1, in: Deutsche Ausgabe der Werke des hl. Franz von Sales, Eichstätt, 3. Auflage 2003, Bd. 4, S. 168. – Anm. d. Red.: Die romanischen Sprachen kennen, anders als das Deutsche, zwei Bezeichnungen für die Liebe: amor (lat,; franz.: amour; italien.: amore) und caritas (lat.; franz.: charité; italien.: carità). Erstere meint die Liebe, die einem natürlichen menschlichen Streben (z.B. der natürlichen Neigung, dem Verlangen, der Sehnsucht, der Lust, der Begierde oder auch dem Geschlechtstrieb) entspringt (z.B. Liebe des Vaters, der Mutter, des Freundes, des Partners, des Verliebten etc.), letztere die vom Geist Gottes eingegebene selbstlose, sich verschenkende und hingebende Liebe, die sich z.B. in der echten Gottes- und Nächstenliebe zeigt.
23 MB XV, 183. Vgl. dort die gesamte Traumerzählung.
24 Konstitutionen SDB (1984), Nr. 196
25 LG 41. Anm. d. Red.: An dieser Stelle wendet der Verfasser ein Wort des II. Vatikanums über das Hirtenamt der Bischöfe aus der dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen Gentium“ auf alle an, die ihrerseits zum Hirtendienst in der Kirche, in welcher Form auch immer, bestellt sind.
26 Vgl. Joh 10.
27 G. Bosco, Vita di San Domenico Savio, SEI, Torino, 1963 Kapitel VIII, 34.
28 Die Feier der heiligen Messe. Eigenfeiern der Salesianer Don Boscos, der Don-Bosco-Schwestern und aller Gruppen der Salesianischen Familie, hg. v. den Provinzialen der deutschsprachigen Provinzen der Salesianer Don Boscos, München 1995, S.29. Vgl. im Italienischen: „Suscita anche in noi la stessa carità apostolica, che ci spinga a cercare la salvezza dei fratelli per servire te, unico e sommo bene.“
29 MB VII, 622. – Anm. d. Red.: So schrieb Don Bosco in einem Begleittext, als er am 12. Februar 1864 einen Entwurf der Regeln für die Gesellschaft des hl. Franz von Sales an Papst Pius IX. sandte. – Das Wort wird auch oft wie folgt überliefert: „Omnium divinorum divinissimum est cooperari Deo in salutem animarum – Das göttlichste aller göttlichen Dinge ist es, mit Gott zum Heil der Seelen zusammenzuarbeiten.“. Es handelt sich um eine Sentenz, die bei Dionysius Areopagita (um 500) belegt ist (De caelest. Hyer. c. 3) und in der geistlichen Literatur häufig zitiert wird. Don Eugenio Ceria bezieht es auch auf Don Bosco, vgl. Eugenio Ceria: Don Bosco con Dio, c. VII, Colle Don Bosco (Asti), 3. Aufl. 1952, 121.
30 MB V, 9.
31 P. Brocardo, Don Bosco profondamente uomo – profondamente santo, Rom 1985, 84.
32 Ebd, 85.
33 Anm. d. Red.: Es ist erhellend, einige unterschiedliche Versionen der Übersetzung dieses Verses zur Kenntnis zu nehmen: „Gib mir die Leute zurück, die Habe behalte!“ (Einheitsübersetzung) – „Gib mir die Leute, die Güter behalte für dich!“ (Luther 1984) - „Gib mir die Seelen, die Habe aber nimm für dich!“ (Elberfelder Bibel) – „Gib mir nur meine Leute zurück - alles andere kannst du behalten!" (Hoffnung für alle) – „Gib mir die Seelen, und die Habe behalte für dich!“ (Schlachter 2000) – „Gib mir das Menschenwesen, die Habe nimm dir.“ (Martin Buber)
34 Erg. d. Red.: „Du hast uns auf dich hin geschaffen und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir, o Herr.“ (Augustinus: Confessiones - Bekenntnisse, I 1).
35 P. Stella, Don Bosco nella storia della religiosità cattolica, Bd. II, Zürich, 13.
36 Anm. d. Red.: Es handelt sich um ein berühmtes Wort des hl. Augustinus von Hippo (354-430): Ursprünglich lautet es: „dilige et quod vis fac" (In epistulam Ioannis ad Parthos, tractatus VII, 8).
37 Charta der charismatischen Identität der Don-Bosco-Familie, Arbeitstext Heft 33, hg. v. Institut für Salesianische Spiritualität, Benediktbeuern 2013.
38 Ebd. Art. 22-37, S. 47-64.
39 24. GK, Salesianer und Laien: Gemeinschaft und Teilen im Geist und in der Sendung Don Boscos, Rom 1996, Nr. 89-100.
40 Konstitutionen SDB (1984), Nr. 20.
41 Vgl. Anm. 37.
42 San Giovanni Bosco, Insegnamenti di vita spirituale. Un’antologia, hg. v. A. Giraudo, Roma 2013. Anm. d. Red.: vgl. auch G. Bosco, Scritti spirituali. Edizione del Centenario della morte di san Giovanni Bosco, hg. v. J. Aubry, 3. Aufl. Rom 1988.