GO-Brief_411_Inkulturation_Charisma


GO-Brief_411_Inkulturation_Charisma

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1. Brief des Generalobern
Die Inkulturation des salesianischen Charismas
„Da ich also von niemand abhängig war,
habe ich mich für alle zum Sklaven gemacht,
um möglichst viele zu gewinnen“ (1 Kor 9,19).
1. „Das Gesetz jeder Evangelisierung“. 2. Kultureller Paradigmenwechsel. Die Globalisierung. – Der
interreligiöse Dialog – Die Situation der Jugend – Der „digitale Kontinent“, der durchsäuert werden muss.. 3.
Die Urkirche, Modell und Norm der inkulturierten Evangelisierung. Eine gelungene, weil gut inkulturierte
Mission. – Einheit im Glauben, Verschiedenheit im Leben. – An die Armen denken. – Ein problematisches
Zusammenleben als Folge. – Die Tatsache und das Prinzip. 4. Auf Don Bosco schauen. Eine viel bewunderte
Geste. – „Einige besondere Empfehlungen“ – „Wir wollen Seelen und nichts anderes“. – „Denke immer
daran, dass Gott unsere Anstrengungen zu Gunsten der armen und verlassenen Kinder will.“ – „Wenn eine
Mission begonnen wurde, sei das Bemühen immer darauf gerichtet, Schulen zu errichten und zu
stabilisieren“. – „Gott berief die arme salesianische Kongregation, um unter der armen Jugend die
kirchlichen Berufe zu fördern“. – „Alle, alle könnt ihr glaubwürdige Arbeiter der Evangelisierung sein“. –
„Handelt so, dass die Welt erkennt, dass ihr arm seid.“. – „Mit der Sanftmut des heiligen Franz von Sales
werden die Salesianer die Völker Amerikas zu Jesus Christus führen“. – „Empfehlt ständig die Verehrung
Mariens, der Helferin der Christen, und des eucharistischen Jesus“. – 5. Schluss.
16. August 2011
am Jahrestag der Geburt Don Boscos
Liebe Mitbrüder!
Ich schreibe Euch an dem Tag, an welchem ich das Triennium der Vorbereitung auf die
Zweihundertjahrfeier der Geburt Don Boscos eröffnet habe. Wir wünschen uns gegenseitig,
dass wir eine getreue Verkörperung („incarnazione“) unseres geliebten Vaters seien, um – wie
er – Zeichen der Liebe Gottes, besonders für die Jugendlichen, zu sein (vgl. K 2).
Ich wollte als Ausgangspunkt für diesen Rundbrief einen wunderschönen und
aussagekräftigen Text aus dem ersten Brief an die Korinther nehmen, in dem der hl. Paulus
erklärt, dass er durch den Verzicht auf das sich aus seiner Freiheit ergebende Recht gerne
Sklave aller geworden ist, um eine Vielzahl von Menschen zum Glauben an Christus zu
führen. Er wurde „Jude mit den Juden“, Mensch ohne mosaisches Gesetz mit denen, die
diesem Gesetz nicht unterworfen sind; er wurde schwach mit den Schwachen; in einem Wort:
er ist „allen alles geworden“. Und so schließt er: „ Alles tue ich für das Evangelium, um ein
Teil von ihnen zu werden“ (vgl. 1 Kor 9,19-23). Hier finden wir das Modell des Missionars:
Er ist derjenige, der sich vollkommen mit einer jeden seiner Zielgruppen identifiziert, und
zwar mit dem einzigen Ziel, die größtmögliche Zahl für seinen Herrn zu gewinnen!
In meinem letzten Brief habe ich Euch, liebe Mitbrüder, eingeladen, „in jedem Teil der Welt
mit einem glaubwürdigen missionarischen Geist zu leben“. Dafür bot ich Euch „eine
Reflexion über den missionarischcn Geist der Kirche und der Kongregation an, insbesondere
über die Evangelisierung als Horizont des ordentlichen Handelns der Kirche“ und damit auch
der Kongregation. Heute möchte ich mit Euch über ein Thema nachdenken, das in engster
Verbindung mit dem zuvor behandelten einen äußerst wichtigen Aspekt entwickelt, um die
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Glaubwürdigkeit und die Wirksamkeit unserer Sendung in der Kirche zu gewährleisten. Ich
möchte über die Inkulturation des salesianischen Charismas sprechen, ein Thema, dem ich
umso mehr große Dringlichkeit beimesse, je mehr ich die gesamte Wirklichkeit der
Kongregation kennen lerne.
„Das Charisma des Gründers bildet das Fundament für die Einheit der Kongregation. Seine
Wirkkraft steht am Ursprung der verschiedenen Formen, die eine salesianische Berufung zu
leben“ (K 100), wenn es uns gelingt, es gleichzeitig mit Treue und Kreativität dort
einzupflanzen, wohin wir gesandt sind und wo wir arbeiten. Wir können sagen, dass dieses
„Einpflanzen des Charismas“ in den verschiedenen Kulturen ein mehr als hundertjähriges
Bestreben unserer Kongregation ist, angefangen von den ersten Aussendungen durch Don
Bosco nach Argentinien bis heute. Und wir dürfen sehen, dass es nicht an ermutigenden
Früchten gefehlt hat. Dennoch müssen wir anerkennen, dass die Herausforderung heute viel
anspruchsvoller ist, da wir in allen Kontinenten präsent sind und in Kontakt mit den
verschiedensten Kulturen stehen. Wir sind davon überzeugt, dass wir, um gegenüber Gott, der
uns sendet, und gegenüber den Jugendlichen, die unsere bevorzugte Zielgruppe sind, treu zu
sein, mit Großherzigkeit die salesianische Identität leben müssen. Das aber bedeutet nicht,
dass man sie überall auf die gleiche Weise verwirklichen muss. Die salesianische Sendung
wird bedeutsam und wirksam sein und wird Zukunft haben, wenn es ihr gelingt, zugleich treu
zu sein zu sich selber und „zu Hause“ in dem kulturellen Bereich, in dem man sie
verwirklicht; d.h. mit anderen Worten: wenn Don Bosco es versteht durch seine Söhne das
jeweilige Angesicht einer jeden Kultur anzunehmen, die ihn aufnimmt.
1. „Das Gesetz jeder Evangelisierung“
„Die salesianische Berufung stellt uns mitten ins Leben der Kirche und ganz in den Dienst
ihrer Sendung.“ (K 6). Es sind erneut die Konstitutionen, die daran erinnern, dass „die
Sendung unserem ganzen Dasein seine konkrete Prägung gibt“ und dass sie unserer Aufgabe
in der Kirche ihre Besonderheit verleiht“ (K 3). Das bedeutet, dass die Sendung Teil unserer
charismatischen Identität ist. Das so sehr, dass das Scheitern der Sendung das Scheitern des
Charismas nach sich zöge. Eine nicht hinreichend inkulturierte Sendung ist ohne Zweifel eine
gescheiterte Sendung: „Die ‚inkulturierte Verkündigung (accomodata praedicatio) des
geoffenbarten Wortes muss das Gesetz jeder Evangelisierung bleiben“ (GS 44).
Nicht von der Kirche geht die Sendung aus, sondern vom auferstandenen Herrn (vgl. Mt
28,19; Apg 1,8), der sie seinen Zeugen anvertraut (vgl. Lk 24,46-48), indem er ihnen die
Gegenwart und den Beistand seines Geistes zusichert. (vgl. Joh 20,22-23). Im Übrigen hat die
Sendung Christi nicht in ihm ihren eigentlichen Ursprung, sondern im Vater, „der die Welt so
sehr geliebt hat“ (Joh 3,16), dass er „seinen Sohn gesandt hat, geboren von einer Frau und
dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufte, die unter dem Gesetz stehen und damit wir die
Sohnschaft erlangten“ (Gal 4,4-5). Die Sendung ist also aus dem innersten Wesen Gottes
hervorgegangen, das den Sohn gezeugt und ihn gesandt hat, um in der Geschichte Fleisch
(Mensch) zu werden und auf diese Weise seine göttliche Liebe zu offenbaren und sein
Heilswerk zu vollenden. Von Gott, dem Vater, geht auch der Tröster aus, den Jesus seiner
Kirche gesandt hat (Joh 15,26); sie hat, wie es bereits durch Jesus geschehen ist (Lk 4,18-19),
ihre Sendung begonnen, als sie das Geschenk des Geistes erhalten und angenommen hat (Apg
2,1-33). Wie für die Kirche so gilt auch für die Kongregation: Mission ist vorrangig nicht all
das, was man in irgendeiner Form zu Gunsten der Anderen tut; Mission ist vielmehr darin
begründet, dass Gott sich in der Person seiner Gesandten präsent setzt: im Sohn, im Geist, in
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der Gemeinschaft. Auf diese Weise wird die Mission entlastet von dem exzessiven Gewicht
der Verantwortung für die Ergebnisse und wird zur wirksamen und sichtbaren Proklamation
der Liebe Gottes, die zuerst im Sein erscheint und dann erst im Wirken seiner Gesandten. Die
Kirche hat ihren Sinn nur als Zeichen und Werkzeug zur Vermittlung dieser
„missionarischen“ Liebe des dreieinigen Gottes. In der Tat sind alle Aktivitäten der Kirche
„von der göttlichen Liebe durchdrungen“. Diese ist „die Quelle der Sendung der Kirche“.1
Und es ist gerade dies unsere Sendung, zu der wir uns durch unsere Berufung
zusammengeschlossen haben, dass wir in der Kirche „Zeichen und Botschafter der Liebe
Gottes zur Jugend, besonders zur ärmeren“ sind (K 2).
Als also „die Fülle der Zeit “ gekommen war und Gott die befreien wollte, die unter dem
Gesetz standen, um sie zu Adoptivkindern zu machen, „sandte er seinen Sohn zu uns, das
ewige Wort des Vaters (Joh 1,14). Er trat in die Welt ein, um Teil der menschlichen
Geschichte zu werden, indem er hinabstieg in den Schoß einer Frau und damit in den Kontext
einer besonderen Kultur. Und es ist gerade dieses „Sich-Klein-Machen“ des Wortes, diese
Annahme der Bedingungen eines Sklaven, ohne sich an seiner Gleichheit mit Gott
festzuklammern (vgl. Phil 2,6-7), sondern sich selbst entäußernd, und dieses Sich-zufällig
Machen in Zeit und Raum – aber dies nicht als Fiktion, sondern in Wahrheit –, das die
Weitherzigkeit Gottes gegenüber dem Menschen und seine unendliche Liebe proklamiert. Das
ist in Wirklichkeit Jesus von Nazareth, der ganz und gar die Kultur der Zeitgenossen mit all
ihrer Größe und mit ihren Grenzen annahm, Sohn eines spezifischen Volkes, dem Israel jener
Zeit; wahrhaft gehorsam gegenüber dem Vater und wahrhaft gehorsam gegenüber dem
Menschen!
Und gerade indem er Gehorsam gegenüber dieser Heilsordnung übte, wurde der Sohn unser
Erlöser. „Quod non est assumptum, non est sanatum“; „quod semel assumpsit, numquam
dimisit“. – Was nicht aufgenommen worden ist, ist nicht geheilt;“ „was er einmal
aufgenommen hat, hat er niemals mehr preisgegeben“.2 Diese beiden bekannten Axiome der
Väter drücken gut dieses paradoxale Heilsgesetz aus: Es gibt kein Heil ohne Menschwerdung
und keine Menschwerdung ohne Inkulturation. Das der Kirche innewohnende missionarische
Wesen zu bekräftigen, bedeutet wesentlich zu bezeugen, dass die Aufgabe der Inkulturation
als integrale Verbreitung des Evangeliums und ihre folgerichtige Übertragung in die
Gedankenwelt und das Leben von heute noch weiterwirkt und das Herz, die Mitte und den
Zweck der neuen Evangelisierung darstellt.3
2. Kultureller Paradigmenwechsel
Subjekt der salesianischen Sendung in der Welt von heute ist eine Gemeinschaft von ungefähr
16.000 Mitgliedern, verstreut in allen Kontinenten und in gut 132 verschiedenen Ländern.
Auch wenn sich nicht alle Mitbrüder dessen bewusst sind, ist das bekannte Phänomen der
Globalisierung eine in unserer Kongregation gelebte Tatsache. Das konfrontiert uns mit der
immer dringenderen Herausforderung, das eine salesianische Charisma in einer Vielfalt von
unterschiedlichen sozialen, religiösen und kulturellen Umweltbedingungen zu verwirklichen.
1 BENEDIKT XVI, Ansprache an die Teilnehmer an der 10. Vollversammlung des päpstlichen Rates für den
interreligiösen Dialog, Rom , 7. Juni 2008.
2 Vgl. A. GRILLMEIER, LThK2, Bd. 8, S. 954f; ders., Jesus der Christus im Glauben der Kirche, I, Freiburg
1979.
3 JOHANNES PAUL II, Ansprache zum Abschluss der Arbeiten des Internationalen Rates für die Katechese,
Rom, 26. September 1992.
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Es gibt keinen Zweifel daran, dass das salesianische Charisma eines ist, gültig für alle und für
jeden. Aber es kann nicht in einförmiger Weise gelebt werden. Wenn es nicht gut verwurzelt
ist in der Kultur, in der die Gemeinschaft ihre Sendung entfaltet, wird es nicht in der Lage
sein, die Heilskraft auszustrahlen, die es in sich birgt. Es wird nicht bedeutsam sein im Heute
unserer Geschichte, und es wird morgen nicht bestehen können.
Nicht selten habe ich während meiner Besuche in den Provinzen den Eindruck, dass viele
unserer Mitbrüder, eingenommen von den apostolischen Dringlichkeiten des Augenblicks,
dieser Verantwortung nicht die geschuldete Aufmerksamkeit schenken. Es kommen auch
Zweifel auf bezüglich der Grundausbildung. Es ist offensichtlich, dass man in den Jahren der
Ausbildung der persönlichen Aneignung des Charismas im jungen Mitbruder den Vorzug
gibt. Vielleicht aber vernachlässigt man die Erziehung zu einer angemessenen kulturellen
Sensibilität, insbesondere im Hinblick auf die Jugendkulturen, und misst dieser nicht das
rechte Gewicht bei.
Wir durchleben gerade eine epochale Wende, der sich weder die Kirche noch die
Kongregation entziehen können. Eine Wende, die Krisen und Unsicherheiten hervorbringt,
die aber nichtsdestoweniger Anstöße für neue Perspektiven gibt und echte Gelegenheiten
bietet, die noch vor kurzem kaum vorstellbar waren. Mir scheint es notwendig zu sein, hier –
wenngleich nur kurz – einige Fakten zu betonen, die den Wandel, der zur Zeit im Gange ist,
besser identifizieren und die unsere Form, als gottgeweihte Erzieher zu leben und unsere
Sendung auszuüben, zur Diskussion stellen.
Die Globalisierung
Die Globalisierung charakterisiert zweifellos den historischen Moment, in dem wir leben. Sie
ist ein unaufhaltsames und neues Phänomen, das an erster Stelle die neuen Formen der
rechtlichen, produktiven und finanziellen Organisation betrifft. Entstanden ist sie in der
sogenannten „ersten Welt“ mit der Absicht, auf der Welt einen einzigen Markt zu schaffen
und die Gewinne zu maximieren. Die Globalisierung ist nicht nur entstanden, um die
wirtschaftlichen Bedingungen zu vereinigen und anzugleichen, sondern auch um die
Lebensstile und die Kultur und, allgemeiner noch, die „politisch korrekten“ Ideologien in
Übereinstimmung mit dem westlichen Modell zu bringen. Die Globalisierung hat
Entfernungen und Grenzen aufgehoben und hat Völker und Personen einander angenähert.
Heute ist es möglich, in jeden Teil der Welt eine fast unendliche Anzahl von Informationen zu
schicken. Die Möglichkeit, in wenigen Sekunden tausende von Kilometern entfernte Orte
miteinander zu verbinden, hat bewirkt, dass man auch die Systeme der Produktion und der
Geschäftswelt voneinander abhängig machen kann. Das Kapital hat kein Vaterland mehr; es
sind auch nicht mehr die festen Arbeitsplätze oder die Sicherheit der Bürger gewährleistet,
wenn man die Flüsse von Migranten und die mit ihnen verbundenen Phänomene betrachtet.
Es wird zweifellos anerkannt, dass die Globalisierung Vorteile gebracht hat. Es wird aber
auch gesagt, dass sie jeden Kontext in der aktuellen Gesellschaft konditioniert hat und
weiterhin konditioniert; sie hat sie in ein „Weltdorf“ verwandelt, und zwar der Art, dass
Gesellschaften, die sich bis gestern nach Kulturen, Traditionen, Volksglauben und Moden
unterschieden, sich heute in einem Schmelztiegel befinden, der ihre je eigenen Identitäten
bedroht.
Es handelt sich also um eine mehrdeutige Realität, die dazu neigt, alles und alle zu nivellieren
nach Parametern, die die Differenzen nicht beachten und alle ausschließen, die sich nicht
angleichen. „Man hat den Eindruck, dass die komplexen Kräfte, die von der Globalisierung
der Wirtschaft und der Kommunikationsmittel ins Leben gerufen wurden, darauf ausgerichtet
4

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sind, den Menschen allmählich zurückzuführen auf eine der Variablen des Marktes, auf eine
Tauschware, auf einen völlig unbedeutenden Macher im Bereich der wichtigsten
Entscheidungen. Der Mensch läuft Gefahr, sich auf diese Weise erdrückt zu fühlen von
Mechanismen weltweiten Ausmaßes und ohne Gesicht. Er läuft Gefahr, zunehmend seine
Identität und seine Würde als Person zu verlieren. Auf Grund dieser Kräfte laufen auch die
Kulturen, wenn sie in ihrer Originalität und ihrem Reichtum nicht angenommen und
respektiert werden, sondern gewaltsam an die Forderungen des Marktes und der Moden
angepasst werden, Gefahr, der Zulassung und der offiziellen Bestätigung anheim zu fallen.
Daraus ergibt sich dann ein kulturelles Produkt, das gekennzeichnet ist von oberflächlichem
Synkretismus, in dem sich Werteskalen durchsetzen, die oftmals von willkürlichen,
materialistischen und konsumorientierten Kriterien herrühren, die sich gegenüber jeder
Öffnung zur Transzendenz verschließen.“4
In der Kongregation wie auch in der Kirche ist uns dieser Prozess nicht fremd, und wir
müssen ernsthaft die Herausforderung annehmen, „eine Kultur zu fördern und zu überliefern,
die in der Lage ist, die Kommunikation und die Brüderlichkeit zwischen den verschiedenen
Gruppen und zwischen den verschiedenen Bereichen der menschlichen Kreativität zu fördern.
Mit anderen Worten: Die Welt von heute fordert uns heraus, einander in der Verschiedenheit
unserer Kulturen und durch diese zu kennen und zu respektieren“.5 Durch unsere
apostolischen Präsenzen und vor allem im Inneren unserer Ordensgemeinschaften mit
Mitgliedern aus immer mehr verschiedenen Kulturen sind wir aufgerufen, eine Einheit zu
leben und zu bezeugen, „in denen die gegenseitige Aufmerksamkeit die Einsamkeit
überwinden hilft, die Kommunikation alle dazu anspornt, sich mitverantwortlich zu fühlen,
und in denen Vergebung die Wunden heilt und in jedem einzelnen den Vorsatz zur
Gemeinschaft stärkt. In derartigen Gemeinschaften lenkt die Natur des Charismas die Kräfte,
festigt die Treue und richtet die apostolische Arbeit aller auf die eine Sendung aus. Um der
heutigen Menschheit ihr wahres Gesicht zu zeigen, braucht die Kirche dringend solche
brüderliche Gemeinschaften, die schon allein durch ihr Bestehen einen Beitrag zur
Neuevangelisierung leisten, da sie konkret die Früchte des ‚neuen Gebotes’ erbringen“ (VC
45).6
Wenn wir unter uns als Brüder und als Arbeiter für Frieden und Solidarität mit allen leben,
fördern wir die Einheit der menschlichen Familie und die Umformung der Welt gemäß dem
Herzen Gottes; „aus dem mit Mut gelebten Glauben geht auch heute wie in der Vergangenheit
jene fruchtbare Kultur aus, die aus Liebe zum Leben entstanden ist“7 und die dem
salesianischen Charisma seine Prägung gibt und es von anderen unterscheidet. So können wir
mit Wirksamkeit auf unsere Aufgabe antworten und einen originellen Beitrag leisten, nämlich
den, „die Herausforderung der Inkulturation kreativ anzugehen und gleichzeitig die [eigene]
Identität zu wahren“ (VC 51).8
4 JOHANNES PAUL II., Ansprache an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie anlässlich ihrer 6. öffentlichen
Sitzung, Rom, 8. November 2001.
5 JOHANNES PAUL II, Ansprache an die Vertreter von Kultur und Wissenschaft, Tiphlis, Georgien, 9.
November 1999.
6 Vgl. auch BENEDIKT XVI, Predigt zum Fronleichnamsfest, 23. Juni 2011.
7 BENEDIKT XVI; Ansprache vor der II. Versammlung von Aquileia, 7. Mai 2011, Das Reich. Documenti 56
(2011), S. 322-323.
8 „Die Herausforderung der Inkulturation wird von den Personen des geweihten Lebens als Appell zu einem
fruchtbaren Zusammenwirken mit der Gnade bei der Annäherung an die verschiedenen Kulturen aufgegriffen“
(VC 79).
5

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Der interreligiöse Dialog
Im Bild unserer apostolischen Aktivität sehen wir, außer dem Prozess der Inkulturation, uns
immer mehr angesprochen und zuweilen gar herausgefordert vom kulturellen Pluralismus und
insbesondere vom religiösen Pluralismus, Phänomene, die die Welt von heute überziehen. Der
Tendenz, alles zu nivellieren, die den augenblicklichen Prozess der Globalisierung
kennzeichnet, steht eine starke Bejahung besonderer Kulturen und Religionen – sei es alter
wie neuer – gegenüber. Sie verlangen Anerkennung und Respekt, suchen sich zu bestätigen
oder zu verteidigen, indem sie manchmal fundamentalistische Reaktionen an den Tag legen,
wenn sie Bedrohungen ihrer Identität und der Freiheit ihrer Aussagen gewärtigen. So hat der
interreligiöse Dialog unter den gegenwärtigen historischen Umständen eine neue und
unumgängliche Dringlichkeit angenommen, indem er ein strategisches Element der Sendung
geworden ist.
Die Kirche ist schon eine Zeit lang bemüht, „Brücken der Freundschaft mit den Mitgliedern
aller Religionen zu bauen, mit dem Ziel, das Wohl jeder Person und der Gesellschaft in ihrem
Gesamt zu finden“.9 Wenngleich das Evangelium auch weiterhin die „bleibende Priorität“
ihrer Sendung ist, gehört der interreligiöse Dialog zur evangelisierenden Sendung der
Kirche“10: Durch die Hingabe an die Evangelisierung ist jeder Gläubige und sind alle
Gemeinschaften aufgerufen, diesen Dialog zu praktizieren.
Für die Salesianer, die heute zum Wohl der Jugendlichen in allen möglichen Kontexten
arbeiten, die Missio ad Gentes (Völkermission) inbegriffen, kann der interreligiöse Dialog
keine Randaktivität im Leben der Gläubigen und im Dienst am Glauben bleiben, auch keine
rein eigene Entscheidung der Person oder der Kongregation; vielmehr wird er als „ein für die
Menschheit notwendiger Dienst“ anerkannt.11 Mehr noch: er geht „aus den dem Glauben
eigenen Forderungen hervor. Er entsteht aus dem Glauben und muss vom Glauben genährt
werden.“12
In der Tat: einen Dialog führen unter Gläubigen unterschiedlichen Glaubens und sogar mit
Nichtgläubigen, „ist ein Weg des Glaubens“13. Er erfordert nicht, irgendeinem Element
unserer christlichen Identität zu entsagen, sei es in dem, was wir glauben, sei es in dem, was
wir praktizieren. Wir brauchen es auch nicht in Klammern zu setzen oder gar in Zweifel zu
ziehen. Im Gegenteil: Unsere Gesprächspartner, seien es die Kinder, die wir erziehen, oder
Personen, die unsere Erziehungsarbeit teilen, wünschen mit vollem Recht, klar erkennen zu
können, wer wir sind, was wir denken und für WEN wir arbeiten. Gewiss, wir erziehen und
begleiten die christlichen Jugendlichen auf ihrem Glaubensweg. Wir sind uns aber
andererseits dessen bewusst, dass in immer stärkerem Maße Jugendliche oder Mitarbeiter, die
anderen Religionen angehören oder religiös indifferent oder sogar ungläubig sind, uns als
Erzieher, Gefährten und Wegbegleiter suchen. Wir nähern uns ihnen deshalb mit herzlichem
Interesse, leben und arbeiten mit ihnen im absoluten Respekt vor ihrer Freiheit und bieten uns
9 BENEDIKT XVI., Ansprache an die Repräsentanten der Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften und der
nichtchristlichen Religionen, Rom, 25. April 2005.
10 JOHANNES PAUL II., Redemptoris Missio. Enzyklika über die fortdauernde Gültigkeit des missionarischen
Auftrags, 44.55, Rom, 12. September 1990.
11 Jean Luis, Kardinal TAURAN, Beitrag auf der VI. Konferenz von Doha über den interreligsiösen Dialog, 13.
Mai 2008.
12 Päpstlicher Rat für den interreligiösen Dialog, Brief an die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen über die
Spiritualität des Dialogs, 3. März 1999, 1.
13 BENEDIKT XVI., Rede an die Teilnehmer der X. Vollversammlung des Päpstlichen Rates für den
interreligiösen Dialog, Rom, 7. Juni 2008.
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ihnen immer an als freudige Zeugen Jesu Christi und als loyale Mitglieder einer
Glaubensgemeinschaft.
Für uns ist der Dialog weniger eine Methode, um die salesianische Sendung auszuüben, als
vielmehr eine Weise, sie zu verwirklichen. Und wenn es ein „Dialog der Aktion“ ist, der uns
anspornt, konkrete Formen der loyalen Zusammenarbeit zu finden, müssten wir uns, während
wir unsere religiösen [und charismatischen] Intuitionen auf die Aufgabe verwenden, die
gesamtmenschliche Entwicklung zu fördern, indem wir für den Frieden, die Gerechtigkeit und
die Erhaltung der Schöpfung arbeiten, als Erzieher vor allem auf den „Dialog des Lebens“
konzentrieren, der einfach bedeutet, „Seite an Seite zu leben und voneinander zu lernen, und
zwar so, dass man im gegenseitigen Verständnis und im gegenseitigen Respekt wächst“.14
Es verhält sich so, dass der Dialog sich in Verkündigung umwandelt: „zwei Formen, die
Sendung der Kirche einzupflanzen“.15 Wir verwirklichen dies als Glaubende und Erzieher: Im
Dialog mit anderen Glaubenden bezeugen wir Christus und folgen seinem Beispiel „in seiner
Sorge und in seinem Mitleid für jeden und im Respekt vor der Freiheit der Person“.16 In einer
Welt, die vom religiösen Pluralismus gekennzeichnet ist, hat die Verkündigung des eigenen
Glaubens neue Resonanzen, die noch ausgekundschaftet werden müssen; vollkommen
hingegeben an Gott, gehen wir zusammen mit Personen verschiedenen Glaubens und
verschiedener Kulturen dem einzigen Vater entgegen, indem wir sie ins Zentrum unsrer
Aufmerksamkeit stellen, ihre Fragen, die sie bedrängen hören, und uns zu eigen machen und
indem wir zusammen nach Antworten suchen, die unserer gemeinsamen Geschichte einen
Sinn verleihen.
Die Situation der Jugend
Während die Globalisierung und der interreligiöse Dialog Vorgänge sind, die aus dem
aktuellen kulturellen Paradigmenwechsel hervorgehen und die salesianische Sendung von
außen herausfordern, scheint mir in der Kongregation ein sehr besorgniserregendes Phänomen
wahrnehmbar zu sein, das die unausweichliche Verantwortung aufs Spiel setzen kann, die wir
haben, um das salesianische Charisma zum Wohl der Jugendlichen durch die Erziehung und
die Evangelisierung zu inkulturieren. Da und dort bemerke ich unter den Mitbrüdern einen
mehr oder weniger bewussten Widerstand und zuweilen eine erklärte Unfähigkeit, sich mit
Sympathie den Jugendlichen zu nähern und mit durch Studium erworbenen Weitblick die
neuen Ausdrucksformen zu beleuchten und herzlich anzunehmen, welche die jungen
Menschen von heute kennzeichnen. Dies gilt umso mehr, als sie die kollektiven Erfahrungen,
mit denen sie ihren „spektakulären“ Lebensstilen17 Ausdruck verleihen, normalerweise in der
Freizeit und damit fast immer am Rande der üblichen sozialen Institutionen ausleben.
Früchte des tiefen kulturellen Wandels, in den wir im Westen einbezogen sind, sind z. B. eine
Interpretation der Wirklichkeit, die mehr als eine sich verändernde Geschichte denn als stabile
Natur gesehen wird, oder das Anspruchsdenken des Individuums, welches sich selbst als
absoluten Wert sieht und auch ein solcher sein will und welches, ausgestattet mit einer fast
14 BENEDIKT XVI., Rede an die institutionellen Vertreter und Mitglieder der anderen Religionen, London, 17.
September 2010.
15 Päpstlicher Rat für den interreligiösen Dialog, Dialog und Verkündigung. Eine Reflexion und Orientierungen
über den interreligiösen Dialog du die Verkündigung des Evangeliums, 82, Rom, 19. Mai 1991.
16 Päpstlicher Rat für den interreligiösen Dialog, Brief an die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen über die
Spiritualität des Dialogs, 6. Rom, 3. März 1999.
17 Vgl. J. GONZÁLES-ANLEO – J.M. GONZÁLES-ANLEO, La juventud actual, Verbo Divino, Estella 2008, 44.
Für eine Beschreibung der jugendlichen Lebensstile in den westlichen Gesellschaften, vgl. die Monographie „De
las ‚tribus urbanas’ a las culturas juveniles“, Revista de estudios de Juventud 64 (2004), S. 39-136.
7

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unbegrenzten Freiheit des Experimentierens und stolz auf seine persönliche Autonomie, auf
der beständigen Suche nach sich selbst ist. In diesem Zusammenhang werden die
Jugendlichen – die Hälfte der Weltbevölkerung ist unter 20 Jahre alt –, leider eher zu Opfern
denn zu handelnden Hauptpersonen. Ihrer Wurzeln beraubt und losgelöst von festen
Beziehungen, sind sie gezwungen, sich, allein auf sich selbst gestellt, eine persönliche
Identität zu erwerben und sich einen präzisen Weg der Verwirklichung zu wählen. Sie finden
in der Gesellschaft und auch oft in der Kirche keine Modelle zur Übernahme, keine
anziehenden zu verfolgenden Ziele und nicht einmal vertrauenswürdige Leiter, an die sie sich
wenden können; dies ist umso schwerwiegender, als die Familie oft abwesend oder
unvorbereitet ist, während die Schule sich als weit weg von der Jugendwelt erweist sowie
unwirksam in den erzieherischen und den didaktischen Methodologien ist.18 Während sie
immer mehr Nutznießer einer Freiheit ohne Grenzen und ohne Horizonte und dabei
eingetaucht in ein immer komplexeres und konfuseres kulturelles Klima sind, manchmal
überwältigt von einem Markt vielfältiger und verschiedenartiger religiöser und moralischer
Werte, sind die jungen Menschen verpflichtet, „das eigene Leben zu erfinden, ohne dafür ein
Handbuch mit Anleitungen zur Verfügung zu haben“.19
Das 26. GK illustriert diese Situation, wenn es bei der Behandlung der neuen Tätigkeitsfelder
bekräftigt: „Wir anerkennen auch die Erwartungen der kulturell und spirituell verarmten
Jugendlichen, die unseren Einsatz fordern: Jugendliche, die den Sinn des Lebens verloren
haben, die auf Grund der Instabilität ihrer Familien gefühlsarm oder auf Grund der
Konsummentalität enttäuscht und entleert oder die religiös indifferent oder die durch den
permissiven Laxismus, den ethischen Relativismus und die verbreitete Kultur des Todes
demotiviert sind“ (26. GK, 98).
Diese affektive Einsamkeit ist nicht die einzige und, so meine ich, nicht die am meisten
verbreitete Form existentieller Armut, auf die die Jugendlichen von heute treffen. Die
überwiegende Mehrheit derer, die die sogenannte „Dritte Welt“ bevölkern, kennt gut die
wirtschaftliche Bedürftigkeit, das familiäre Prekariat, die Rassendiskriminierung,
erzieherische und kulturelle Mängel, mangelnde Vorbereitung auf die Arbeit, die
niederträchtige Ausbeutung durch Dritte, die missbräuchliche Beschäftigung als
Arbeitskräfte, die Schließung von Horizonten, was das Leben erstickt, verschiedene
Abhängigkeitsverhältnisse und sonstige sozialen Abweichungen.
Die aktuelle Liste der jugendlichen Verirrung ist ein so trostloses Bild, das sowohl zu einer
dringlichen Umkehr zum Mitleid („compassione“) (vgl. Mk 6,34; 8,23) aufruft als auch zu
konkretem Tun (vgl. Mk 6,35; 8,4-5), damit wir uns alles miteinander gesandt fühlen, für die
jungen Menschen „Zeichen und Botschafter der Liebe Gottes zu sein“ (K 2). Es genüge eine
schlichte Auflistung der Situationen, um die gegenwärtige Dringlichkeit zu verstehen:
Die ca. 100 Millionen Straßenkinder, die es vorgezogen haben, die Straße als
„natürliche Wohnung“ zu wählen, so unerträglich war ihre familiäre Situation. Einige
finden Zuflucht in Höhlen, Löchern und Abwasserkanälen, etwa 1000 allein in
Bukarest, eine Million in Osteuropa, 12 Millionen weltweit.
Die etwa 300.000 Kindersoldaten, die im regulären Heer oder als Killer angeheuert
werden; sie sind noch Kinder, stehen aber schon im Dienst des Todes!
18 „Liegt nicht in dieser Vernachlässigung der Jugendlichen das wahre Zeichen des Sonnenuntergangs unserer
Kultur?“ (U. GALIMBERTI, L’ospite inquietante. Il nichilismo e i giovani, Feltrinelli, Milano, 2008, S. 13)
19 J. A. MARINA, Aprender a vivir, Ariel, Barcelona 2004, S. 183.
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1.9 Page 9

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Die ständig wachsende Zahl von Kindern, denen als Opfer von Pädophilie und des
sogenannten Sextourismus Gewalt angetan wird: Nach den Schätzungen von UNICEF
sollen es eine Million Kinder sein, die Jahr für Jahr dem „Sex-Markt“ zugeführt
werden, ein „Markt“, der schätzungsweise 13 Milliarden Dollar jährlich bewegt.
Man zählt 250 Millionen Minderjährige, Jungen und Mädchen zwischen 5 und 15
Jahren, die zu Arbeiten gezwungen werden, welche wegen physischer, psychischer
oder mentaler Gefährlichkeit verboten sind. Sie sind wie Sklaven, und das mehr als
100 Jahre nach der gesetzlichen Abschaffung der Sklaverei!
Die Zahl der armen und ausgegrenzten jungen Menschen, ohne Zugang zu all jenen
Gütern, auf die jeder Mensch ein Recht hat, übersteigt unsere Vorstellungskraft: Mehr
als 600 Millionen leben unter der Armutsgrenze; 160 Millionen sind unterernährt; 6
Millionen sterben jedes Jahr an Hunger, das sind 17.000 täglich, 708 jede Stunde…!
Die „Niemands-Kinder“, die ohne Eltern, Zuhause und Vaterland auf sich allein
gestellt sind, belaufen sich auf etwa 50 Millionen. Die jungen Menschen ohne
Schulbildung, die Analphabeten, erreichen 130 Millionen. Wenigstens 6 Millionen
Kinder sind verstümmelt; und man spricht von 4 Millionen Frauen und Kindern, die
wider Willen zu Organspenden gezwungen wurden.
Jede Minute ziehen sich auf den fünf Kontinenten fünf Kinder AIDS zu. Insgesamt 11
Millionen Minderjährige sind aidskrank. Und allein in Afrika registriert man 13
Millionen Aids-Waisen. Wie viele mögen ferner von Tuberkulose, Malaria,
Meningitis, Hepatitis, Cholera, Ebola… heimgesucht sein?
Es gibt mehr als 50 Millionen minderjährige Flüchtlinge und Vertriebene, die Opfer
von Rassenhass, Kriegen und Verfolgungen sind, die in Flüchtlingslagern getötet
wurden oder hier und da verstreut sind.
Angesichts dieses so dramatischen Panoramas der Plagen in der Welt der Jugend „müssen wir
Salesianer wie Don Bosco an der Seite der Jugendlichen stehen, weil wir Vertrauen in sie
haben, in ihren Willen zu lernen, ihren Willen zu studieren, ihren Willen, aus der Armut
herauszukommen und die eigene Zukunft in die Hand zu nehmen… Wir stehen auf der Seite
der Jugendlichen, weil wir an den Wert der Person, an die Möglichkeit einer anderen Welt,
und vor allem an die große Möglichkeit des erzieherischen Einsatzes glauben.“20 Soviel
Unheil hat unsere Gewissen aufgerüttelt. Am Ende des 25. Generalkapitels, am 20. April
2002, habe ich zusammen mit 231 Repräsentanten der Salesianer in der Welt einen Appell
unterzeichnet, der an all jene gerichtet war, die Verantwortung für die Jugendlichen haben,
der aber vor allem uns selber verpflichtet: „Bevor es zu spät ist, retten wir die Kinder und
Jugendlichen, die Zukunft der Welt“.21
Der „digitale Kontinent“, der „durchsäuert“ werden muss
„Wenn die Kirche ihrer Sendung als universales Heilssakrament treu bleiben will, muss sie
die Sprache der Männer und Frauen aller Zeiten, aller Völker und aller Gebiete lernen. Und
wir Salesianer müssen insbesondere die Sprache der Jugend lernen und gebrauchen… Dabei
handelt es sich im Grunde um ein Kommunikationsproblem, um ein Problem der
20 Vgl. „Aufruf zu einem globalen Netzwerk für Erziehung und Bildung“, in: Die salesianische Gemeinschaft
heute. Dokumente des 25. Generalkapitels, der Gesellschaft des heiligen Franz von Sales, Rom, 24.2.-20.4.2002,
Amtsblatt des Generalrates, 83 (2002) Nr. 378, S. 109f.
21 Vgl. ebd.
9

1.10 Page 10

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Inkulturation des Evangeliums in die Gesellschaft und in die Kultur, um ein Problem der
Glaubenserziehung der jungen Generationen.“22 – Dieses Bemühen, die salesianische Vision
vom Leben in die gegenwärtige Welt zu inkulturieren, muss in ihre Zielsetzung unbedingt den
neuen digitalen Kontinent mit einschließen, welcher keine rein instrumentale Wirklichkeit ist.
Er schafft neue kulturelle Codices. Und wenn es auch wahr ist, dass er unzählige
Möglichkeiten der kommunikativen Interaktion hervorbringt, so stellt er doch auch eine
bisher nicht bekannte Gefahr dar.
Der Begriff „digitaler Kontinent“ ist eine geglückte Intuition Papst Benedikts XVI., die er in
seiner Botschaft für den 43. Welttag der Sozialen Kommunikationsmittel 2009 in einem
Kontext zum Ausdruck gebracht, der die Jugendlichen aufruft, ihren Altersgenossen das
Evangelium zu bezeugen.23
Es gibt ein biblisches Bild, das uns helfen kann, zu verstehen, was es bedeutet, das Charisma
in den digitalen Kontinent zu inkulturieren. Wir finden es in Mt 13,33 (und Lk 13,20-21) im
Gleichnis von der Frau, die Hefe unter drei Maß Mehl vermengt, damit alles durchsäuert wird.
Was kann das heißen, den digitalen Kontinent zu „durchsäuern“? Es ist ein einfaches Bild,
das aber gut unsere Sorge zu einer Zeit zum Ausdruck bringt, in der das weltweite Web (um
nur ein Beispiel zu nennen) gerade den Übergang vollzieht vom Web 2.0 zum Web 3.0; von
einem Web, das sich auf die interaktive Verbindung von Personen konzentrierte, zu einem
Web, das mehr und mehr bedeutsame Daten hervorbringt, die interagieren. Das ist eine
Wandlung, die sich in subtiler Weise vor unseren Augen vollzieht und die der Hefe in der
Teigmasse nicht unähnlich ist. Wer von uns hat noch nicht auf den Link einer großen Stadt
geklickt und dabei eine Unmenge von Optionen erscheinen sehen – Hotels zum Übernachten,
Ereignisse zur Teilnahme, besuchenswerte Orte – und das alles in Übereinstimmung mit
seinen persönlichen Interessen? Vielleicht, weil der Computer diese persönlichen Interessen
kannte? Mitnichten! Aber er hat es vermocht, eine Verbindung herzustellen zwischen
Bedeutungen; in diesem Fall zwischen Interessen und Angeboten. Die Antwort liegt in der
Semantik, der Wissenschaft von der Bedeutung; aber nur die Menschen können diese
Bedeutungen in der Weise anbieten, dass es den Maschinen gelingt, sie zu deuten. Und das
sollten wir nicht aus dem Blick verlieren: Die Menschen können es tatsächlich.
Die klassische geistliche Tradition bietet uns ein anderes Bild an, das uns in diesem Kontext
helfen kann. Wir finden es in der Seelenburg der hl. Theresia von Avila, einem Text, der in
seiner Anwendung keine zeitlichen Grenzen kennt. „Ich habe begonnen, unsere Seele als eine
Burg zu betrachten, die ganz aus einem Diamanten oder einem sehr klaren Kristall gebaut
wurde und in der es viele Gemächer gibt“.24 Und dann führt die hl. Theresia uns durch sieben
„Aufgaben“ oder Zimmer, die jeweils eine Station auf dem Weg zur letztendlichen Einheit
mit Gott darstellen, welche sich wiederum im Zentrum der Burg vollzieht. Wir denken an die
Burg als digitaler Kontinent, eine Burg mit vielen „Zimmern“ und „Wohnungen“. Wie finden
wir den Weg, um das Zentrum zu erreichen? Sind die Räume untereinander in bedeutsamer
Weise verbunden? Ist es möglich, Wege zu finden, um das Ziel zu erreichen? Das Zentrum ist
natürlich immer noch Gott, und Jesus Christus ist unser Anführer. Aber „die Verkündigung
22 Don PASCUAL CHÁVEZ V.: Ansprache des Generalobern zum Abschluss des 26. Generalkapitels, in: „Da
mihi animas, cetera tolle“, Amtsblatt des Generalrates, 89 (2008) Nr. 401, S. 181.
23 BENEDIKT XVI., Botschaft anlässlich des XLIII. Welttags der Sozialen Kommunikationsmittel, Rom,
24.01.2009; http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/messages/communications/documents/hf_ben-
xvi_mes_20090124_43rd-world-communications-day_ge.html.
24 TERESA D’AVILA, (1515-1582), Moradas del castillo interior I, 1,1, in Obras Completas, Efrén de la Madre
de Dios – Otger Steggiink (eds), BAC, Madrid 1982, S. 365.
10

2 Pages 11-20

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2.1 Page 11

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Christi bedarf in der Welt der neuen Technologien für deren angemessenen Gebrauch der
vertieften Kenntnis“.25
Ein drittes Bild kann uns hilfreich sein: Denken wir an einen vielleicht verwilderten Garten,
der aber Wege hat und eine Unzahl von Lianen und Kletterpflanzen. Wir könnten uns in
diesem Garten bewegen, indem wir den Wegen folgen oder die Lianen benutzen. Wir können
uns aber auch vorstellen, wie es unter der Erde aussieht, wo sich ein komplexes, vielleicht
sehr unordentlich scheinendes Ökosystem entwickelt, das aber voller Leben ist.
Alle drei Bilder – Hefe, Burg, Ökosystem – helfen uns, besser zu verstehen, was es heißt, das
Charisma auf dem digitalen Kontinent zu inkulturieren. Dies ist eine der Aufgaben der Neuen
Evangelisierung. In gewisser Weise handelt es sich um eine Aufgabe im Verborgenen, aber
mit Hinweisen, denen wir folgen können. Es gibt einen wahren Anführer in die virtuelle Burg,
wenn wir den Technologien helfen, der Sendung zu dienen. Und wir sind eingeladen, in das
komplexe und vielleicht verwilderte Ökosystem, das voller Leben ist, einzutreten, wobei wir
uns dessen bewusst sind, dass Jesus will, dass wir dort in Seinem Namen anwesend sind.
Wir können es nicht vermeiden, wenigstens teilweise auf dem digitalen Kontinent von heute
zu leben. Mit Recht sagt Manuel Castell: „Jemand könnte sagen: ‚Warum lässt du mich nicht
in Frieden? Ich will mit deinem Internet, deiner technologischen Kultur, deiner
‚Netzwerksgesellschaft’ nichts zu tun haben. Ich will bloß mein Leben in Ruhe leben.’ …
Wenn das deine Position ist, habe ich schlechte Nachrichten für dich. Wenn auch du dich
nicht mit den Netzwerken beschäftigen magst, so beschäftigen sich die Netzwerke aber mit
dir. Denn solange du in dieser Gesellschaft leben willst, und zwar hier und heute, wirst du mit
der ‚Netzwerksgesellschaft’ zu tun haben“.26
Statt gegen den eigenen Willen auf dem digitalen Kontinent mitgeschleift zu werden, haben
wir die Pflicht, dass wir in realer und wirksamer Weise dort anwesend sind. Das bedeutet
heute unter anderem, bedeutsame Strukturen zu unterhalten und in unseren Dokumenten und
Daten wertvolle Verbindungen zu schaffen. Wir können z.B. Forschungsprojekte mit
Dokumenten anleiten, die mehr auf die semantische Struktur zielen als darauf, schön und
anziehend zu erscheinen. Die erste Aufgabe kommt jedem Salesianer zu, dass er „twittert“,
mit E-Mail kommuniziert oder schreibt. Die letzte Aufgabe nur denjenigen, die die
Verantwortung haben für die Tausende von salesianischen Homepages weltweit.
Die letztgenannte Gruppe ist keine kleine Schar in der Kongregation! Nur wenige
Gemeinschaften, Zentren oder Werke haben keine eigene Homepage. Die Verantwortlichen,
ob Salesianer oder Laienmitarbeiter, entwickeln eine immer wichtigere Rolle darin, wie das
Charisma auf dem digitalen Kontinent verstanden und inkulturiert wird. Sie können z.B. in
der Tat dafür sorgen, dass das Wort „Charisma“ heute ein wichtiges Suchwort werde, und sie
können es in Kontexte tragen, die wir selbst bestimmen, statt dies Suchmaschinen zu
überlassen, die es in zufälliger oder falscher Weise erraten.
Mit anderen Worten: In dieses Feld einzutreten und hier zu handeln, verlangt Klarheit der
Ideen, ein lebendiges ethisches Bewusstsein, eine spürbare erzieherische und spirituelle
Sensibilität genauso wie eine angemessene Kenntnis der Instrumente und Gesetzmäßigkeiten,
die dort herrschen. Das Dikasterium für Soziale Kommunikation arbeitet bereits auf diesem
Feld und kann den Mitbrüdern und Laienmitarbeitern schon interessante Reflexionen
25 BENEDIKT XVI., Botschaft anlässlich des XLIII. Welttags der Sozialen Kommunikationsmittel, Rom,
24.01.2009.
26 M. CASTELLS, The Internet Galaxy: Reflections on the Internet, Business, and Society, University Press,
London 2001, S. 282.
11

2.2 Page 12

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anbieten, unter bestimmten Umständen auch gezielte technische Ratschläge. Dabei handelt es
sich nicht um Ratschläge für den Geschmack des Ratens und auch nicht um angebotene
Technologie für den Geschmack technologischer Mode. Das Dikasterium für die Soziale
Kommunikation arbeitet in voller Übereinstimmung mit den Dikasterien für Jugendpastoral,
für Ausbildung und für Mission zur Förderung des Charismas und der gemeinsam Sendung.
Zusammen helfen sie uns, in unserer sich schnell verändernden Welt eine
Glaubensperspektive zu inkulturieren, vorzuschlagen und zu verbreiten, die auf der
Sichtweise unseres Vaters Don Bosco basiert.
Zusammenfassung: Die Kongregation engagiert sich, um durch Erziehung und Prävention den
Jugendlichen das Wort zu bringen, um ihnen zu helfen, sich selbst zu finden, um sie mit
Geduld und Vertrauen auf ihrem persönlichen Weg zu begleiten und um ihnen Hilfsmittel an
die Hand zu geben, die ihnen helfen, das Leben zu erobern; zu gleicher Zeit engagieren wir
uns, um ihnen in angemessener Weise vorzuschlagen, mit Gott in Beziehung zu sein. Und das
wollen wir tun, indem wir ihre Welt bewohnen und ihre Sprache sprechen, indem wir ihnen
zur Seite stehen, nicht nur, insofern sie die ersten Adressaten unserer Sendung sind, sondern
vor allem insofern sie unsere Weggefährten sind. Oder hat uns die Tatsache etwa nichts zu
sagen, dass wir an jenem 18. Dezember 1859 mitten unter den Jugendlichen als Kongregation
geboren wurden? Dass es genauer gesagt 16 junge Menschen zwischen 15 und 21 Jahren
waren, die selbst die Förderung Don Boscos erfahren und deren gute Wirkung auf sie erlebt
hatten und daher an seiner Sendung teilnehmen wollten, indem sie in ihr eine aktive Rolle
übernahmen?
Um das salesianische Charisma in den verschiedenen Situationen, in denen wir uns befinden,
zu beleben, reicht es nicht aus, es an die verschiedenen jugendlichen Kontexte anzupassen.
Vielmehr müssen wir in die Jugendlichen investieren, indem wir sie zu Subjekten und
Mitarbeitern, machen, denen wir vertrauen, ohne dabei jemals zu vergessen, dass sie der
Grund unserer Weihe an Gott und unserer Sendung sind.
3. Die Urkirche, Modell und Norm der inkulturierten Evangelisierung27
Das Evangelium ist innerhalb einer besonderen Kultur entstanden, formuliert und proklamiert
worden. Wir wissen, dass die ersten Aussagen über die Auferstehung Jesu (vgl. 1 Kor 15,3-5;
Apg 2,24-35), über seine Messianität (vgl. Apg 5,42; 9,22) und seine universale Herrschaft
(vgl. Apg 2.36) wie auch die Einladungen zur Bekehrung (Apg 2,40; 3,19) in kulturellen
Kategorien formuliert wurden, wie sie in Israel üblich waren. Während dieser neue Glaube
den Juden dargelegt wurde, war es nicht nötig, lange Begriffserklärungen (vgl. Apg 3,21-26)
hinzuzufügen und eine Einführung in die zugrunde liegenden Gedanken zu geben (vgl. 2,25-
32. 34-35). Es genügt, an die erste Predigt des Petrus in Jerusalem am Pfingsttag (vgl. Apg
2,41) zu denken, um ein gutes Beispiel einer perfekt in die religiöse Mentalität sowohl des
Predigers wie seiner Zuhörer inkulturierten Evangelisierung zu finden.28
27 Für diese biblische Reflexion habe ich mich gestützt auf: J. BARTOLOMÉ, Paolo di Tarso. Una introduzione
alla vita e all’opera dell’apostolo di Cristo, LAS, Roma 2009, S. 177-192.
28 Ein anderes Beispiel für die Inkulturation des Evangeliums, in diesem Fall jedoch erfolglos, ist die Rede des
Apostels Paulus in Athen, einer „Stadt voller Götzenbilder“ (Apg 17,16-31). Als Paulus zu seinen neugierigen
Zuhörern von einem ihnen unbekannten Gott sprach, ließen sie ihn sprechen, bis er die Auferstehung der Toten
erwähnte …, eine Aussage, die damals kulturell inakzeptabel schien.
12

2.3 Page 13

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Eine gelungene, weil gut inkulturierte Mission
Nur 25 Jahre nach dem Tod Jesu und dank einer wunderbaren missionarischen Ausdehnung,
die von einer Gruppe „Hellennisten“ (vgl. Apg 6,1; 9,29) in den christlichen Gemeinden
vorangebracht wurde, stellten die Gläubigen heidnischer Herkunft und Kultur die Mehrheit.
Es ist offensichtlich, dass die ersten Jünger des Herrn nicht vorbereitet waren, der Situation
gegenüberzutreten, die als Konsequenz aus der Offenheit der heidnischen Völker für das
Evangelium und deren Einbindung in das Leben der Gemeinschaft entstanden war.
Es ging nicht mehr darum, einen Platz in der Gemeinschaft für einzelne Individuen zu finden,
wie es bei dem Eunuchen (Apg 8,26-40) oder dem Hauptmann Cornelius (Apg 10,1-11,18)
der Fall war. Man musste sich vielmehr auf die Anwesenheit ganzer Gemeinschaften von
andersartiger ethnischer Herkunft, von anderer Mentalität und mit anderen Sitten inmitten des
einen und abgegrenzten Volk Gottes einstellen. Sogar die Urgemeinde in Jerusalem, wo von
Anfang an Gläubige verschiedener kultureller Herkunft lebten (vgl. Apg 2,5-12; 6,1; 9,29),
hat die Schwierigkeiten dieses Zusammenlebens erfahren (Ap 6,1-6) und infolgedessen
Verfolgungen erlitten (Apg 8,1-3). Dabei stand die Identität der neuen Gemeinschaft selbst
auf dem Spiel, die aus dem einen Bekenntnis zu Jesus Christus hervorgegangen war.
Die detaillierte Information, die uns die Quellen bieten, bestätigt die Bedeutung, die sowohl
Paulus, einer der Protagonisten der Geschehnisse (Gal 1,10), wie auch Lukas (Apg 15,1-35)
diesem Konflikt beimaßen. Auch wenn beide Berichte kein kompletter protokollarischer und
nicht einmal ein neutraler Rechenschaftsbericht sind, kann man aus ihnen doch das
Wesentliche entnehmen. Die Debatte konzentrierte sich auf das Problem der Beschneidung.
War es notwendig, sie den neuen Christen aufzuerlegen, die nicht Juden waren, oder nicht?
Dem zu Grunde lag der Wunsch, die Heiden in das Judenvolk zu integrieren, die conditio
sine qua non (die unerlässliche Bedingung) für die Aufnahme in die christliche Gemeinschaft.
Die Beschneidung war das Zeichen des Bundes (Gen 17,11) gewesen und musste es bleiben,
das Identitätsmerkmal des Volkes Gottes und die Probe auf seine Treue. Folglich hielt man es
nicht für ausreichend, an Jesus zu glauben; diesen Glauben musste man aufpfropfen auf die
Herrschaft des mosaischen Gesetzes.
Die Praxis der hellenistischen Christen, die, anders als die Juden es mit den
„Gottesfürchtigen“ machten, die Beschneidung nicht auferlegten, um die Bekehrung der
Heiden nicht zu behindern, wurde von einigen als eine opportunistische Taktik angesehen, die
dem Heilswillen Gottes entgegen stände. Wir schulden es Paulus, dass er sich darüber klar
wurde und diese missionarische Praxis mit Leidenschaft verteidigte, welche den aus dem
Heidentum gekommenen Gläubigen die Judaisierung nicht auferlegte. Es stimmt, dass nicht er
es war, der diese Praxis eingeführt hatte; aber er hatte sie sich mit Zielstrebigkeit und innerer
Überzeugung zu Eigen gemacht (Apg 11,22). Paulus unterscheidet das ihm selbst anvertraute
„Evangelium für die Unbeschnittenen“ und das dem Petrus anvertraute „Evangelium für die
Beschnittenen“ (Gal 2,7). Es ist festzustellen, dass es sich um zwei einzigartige
Ausdrucksweisen in der gesamten antiken Literatur handelt. Auf diese Weise wird das eine
Evangelium (Gal 1,6-9) je nach der „kulturellen“ Perspektive der Zuhörer verschiedenartig
gehört. Gepredigt werden soll immer und allein Jesus Christus. Aber nicht auf dieselbe Weise
und nicht mit denselben praktischen Anwendungen für Juden und Heiden.
Einheit im Glauben, Verschiedenheit im Leben
Hinter diesen Ereignissen verbirgt sich ein Paradigma oder eine Norm, die eine
Handlungsorientierung darstellt. Es beginnt in der Tat ein großer Wandel in der Geschichte
des Judaismus, dem ein Erbe der eigenen Verheißungen entspringt; dieser fühlt sich nicht
13

2.4 Page 14

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mehr verpflichtet, das Gesetz zu beobachten, das bisher die einzige Gewähr dafür bot, um am
Treuebund mit Gott teilzuhaben. Diese Tatsache ist noch entscheidender wegen des
Entstehens der christlichen Gemeinschaft, zumal man schon dabei war, das Evangelium Jesu
„unabhängig vom mosaischen Gesetz“ zu leben (Röm 3,21), befreit also von jener
hebräischen Kultur, die bis dahin ihr Mutterschoß und ihr Bezug war.
Nicht weniger stand auf dem Spiel als das (Selbst-)Bewusstsein der christlichen
Gemeinschaft, das man zunehmend losgelöst vom Gesetz des Mose sah und somit nicht mehr
nur jüdisch. Nicht dass das Gesetz nutzlos geworden wäre; es behielt seinen Wert, wenn auch
nur für einige. Währenddessen wurde der Glaube an Jesus Christus allen und für das Heil aller
angeboten. Die Jünger Christi, ob Juden oder Heiden, wurden von diesem Moment an und für
immer das neue Volk Gottes, das wahre Israel.
Wenn man den Konvertiten aus dem Heidentum keine andere Knechtschaft auferlegen durfte,
außer dem „süßen Joch“ des Glaubens an Christus, wurden die heidenchristlichen Gemeinden
als Glieder mit vollem Recht im Leib der Kirche anerkannt; in ihrem Innern lebten alle den
einen Glauben, wenn auch nicht alle auf gleiche Weise. Wie Paulus Mitte der fünfziger Jahre
schreiben sollte, muss ein jeder weiterleben „gemäß der Bedingung, die der Herr ihm
zugedacht hat“ (1 Kor 7,17). Wie der Heide sich nicht zum Juden machen darf, um Christ sein
zu können, muss der Jude nicht aufhören, Jude zu sein, um Christ zu werden. Auf diese Weise
fügt sich das christliche Leben in eine Vielfalt von Kulturen ein, weil es die einzige
ausschließlich christliche Kultur nicht gibt.
Für die jüdisch-christlichen Gemeinschaften und für die Evangelisierung der Juden blieben
die Vorschriften bis zu jenem Zeitpunkt in Kraft. Zerbrochen war aber jenes judäische
Verständnis vom Gesetz, von der Heilsgeschichte und vom Gottesvolk, das neben sich keinen
anderen Weg zum Heil duldete. Das setzte einen gewaltigen, sicher sehr schmerzlichen
Wandel für die ersten Christen voraus, die allesamt Juden waren: Sie konnten weiterhin dem
Gesetz als Teil ihrer Gebräuche und angestammten Sitten gehorchen (1 Kor 9,20-21); aber
sie konnten die nichtjüdischen Brüder nicht vom Glauben ausschließen. Man strebte so nicht
die Fusion der kulturell heterogenen Gruppen an, indem man zwar auf das brüderliche
Zusammenleben pochte, ein jeder aber die eigene Identität bewahrte.
An die Armen denken
Die von den beiden Teilen erzielte Übereinkunft bot die Möglichkeit einer Verkündigung des
Evangeliums an eine doppelte Zuhörerschaft, diejenige der Heiden und die der Hebräer; und
sie bestätigte die Gleichberechtigung zwischen den beiden Missionen. Man konnte, vielmehr:
man musste Christ sein nach Art der Juden oder nach Art der Heiden (vgl. Gal 2,14).
Verschiedenartig war die Lebensform des Glaubens, während dieser selbst aber einer blieb,
wie auch das gemeinschaftliche Leben einig war.
Diese Einheit, die „als Zeichen der Gemeinschaft“ durch einen Händedruck (Gal 2,9)
besiegelt wurde, wurde durch die Bitte bekräftigt, „sich der Armen zu erinnern“, die Paulus
und Barnabas sich beeilten aufzugreifen (Gal 2,10). Dieses Zeichen ist nicht unbedeutsam.
Paulus bekennt sogleich, dass er sich diese Verpflichtung sehr zu Herzen nehme. Geld für die
Armen in Jerusalem zu sammeln, wurde für ihn ein integrativer Bestandteil seiner
evangelisierenden Mission (vgl. Gal 2,10; Röm 15,25-26; 1 Kor 16,1-3; 2 Kor 8-9). Die
„Armen“, an die man sich erinnern sollte, waren die Judenchristen aus Palästina, die in einem
Moment großer Begeisterung im Hinblick auf eine unmittelbare Rückkehr des Herrn ihr „Hab
und Gut“ der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt hatten (Apg 2,45; 4,32-35). Diese nicht zu
vergessen, wurde für Paulus eine wichtige pastorale Aufgabe, um die Gemeinschaft zwischen
14

2.5 Page 15

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den verschiedenen Kirchen zu stärken (vgl. 1 Kor 11,23-26; Röm 15,27); er tat dies umso
entschlossener, als man es bald als Kult ansah und ihn selbst als Diener Christi (Röm 15,16).
Das „Gedenken“ beschränkte sich nicht nur auf eine ökonomische Hilfe, sondern
verwirklichte konkret die Einheit der Kirchen; es war wie das Abtragen einer gegenseitigen
Liebesschuld (Röm 13,8). Paulus vermochte nicht zu begreifen, wie ein Gläubiger, Jude oder
Heide, denken konnte, dass er den anderen nicht brauche (vgl. 1 Kor 12,14-26).
Ein problematisches Zusammenleben als Folge
Eine wichtige Frage, die vom Apostelkonzil ungelöst geblieben worden war, jedenfalls nach
dem Zeugnis des Paulus selbst zu urteilen (vgl. Gal 2,11-21), war die freie Teilnahme von
Heidenchristen am gemeinsamen Tisch. Der soziale und kulturelle Widerstand der
christlichen Juden, mit wem auch immer zu Tisch zu sitzen (Lev 17,8-14; 18,6-9), entsprach
einer angestammten und tiefen Furcht, die für Gemeinschaften typisch ist, die immer in der
Minderheit gelebt haben; man befürchtete, angepasst zu werden und die eigene Identität zu
verlieren. Zwei Missionsmodelle mit verschiedenen rituellen und kulturellen Anforderungen
mussten wohl oder übel das gemeinschaftliche Leben in Schwierigkeiten bringen. Das
Zusammenleben von Juden und Heiden in ein und derselben christlichen Gemeinschaft wurde
so bedroht. Wäre es nicht besser gewesen, denselben Glauben in durch soziale, kulturelle und
religiöse Barrieren getrennten Gemeinschaften zu bekennen?
Wenngleich aus verschiedenen Motiven weder Lukas noch Paulus diesem Vorschlag folgten,
erwähnt Lukas das sogenannte „apostolische Dekret“ (vgl. Apg. 15,13-29; 21,25). In ihm wird
verboten, Götzenopferfleisch zu essen (vgl. Lk 17,8; 1Kor 8,10); es wird angeordnet, sich des
Blutes (Lev 17,10-12) sowie des Fleisches erstickter Tiere (vgl. Gen 9,4; Lev 17,15; Dt
14,21) zu enthalten. Ferner wird angeordnet, Unzucht (Heirat zwischen Blutsverwandten?) zu
meiden (vgl. Lev 18,6-18; 1 Kor 5,1-13). Diese im Grunde kulturellen Vorschriften basierten
auf alttestamentlichen Erlassen für in Israel wohnende Israeliten (vgl. Lev 17-18); nach
rabbinischer Tradition waren sie Teil der sieben Gebote, die jeden Menschen verpflichten
sollten.
Schon die Existenz dieses Dekrets setzt in der christlichen Gemeinschaft eine doppelte
Präsenz voraus: eine hebräische und eine heidnische. Und sie bezeugt die Fortdauer der
Schwierigkeiten des Zusammenlebens, welche die Mission unter den Heiden hatte entstehen
lassen. Die Verbote von verabscheuungswürdigen Dingen betrafen die Teilnahme an der
jüdisch-christlichen Gemeinschaft durch die Heidenchristen und pochten darauf, die
Beziehungen zwischen den zwei Gruppen zu erleichtern; sie strebten an, das Zusammenleben
zu begünstigen, indem sie die abstoßendsten Kennzeichen, die die Juden mit den Heiden
verbanden, ausmerzten. Indem sie nur diese Pflichten den Heidenchristen auferlegten (Apg
15,29), wurde deren christliche Identität nicht zur Diskussion gestellt. Vielmehr
sanktionierten sie die Freiheit von der Beschneidung und vom Gesetz, forderten aber einige
Entsagungen kultureller Art, um den Judenchristen die Lebensgemeinschaft mit ihnen zu
erleichtern. Hiervon leitet sich ein Prinzip ab: Wichtiger als die eigene Kultur ist der Bruder,
für den Christus gestorben ist, wie Paulus es anderswo zum Ausdruck brachte (1 Kor 8,11).
Paulus scheint diese Auferlegung ignoriert zu haben; er hinterlässt kein Wort darüber in seiner
Chronik der Ereignisse (Gal 2,9), und sie erscheint nie in seinen Briefen, auch wenn er
gelegentlich ähnliche Probleme zu lösen hatte (vgl. 1 Kor 5-6; 8,1-11,1; Röm 14). In jedem
Fall wurde schon bald das Fehlen einer Regelung offenbar, die mit all ihren Wirkungen die
Christen aus dem Heidentum als von Gott geliebte Brüder anerkannt hätte.
15

2.6 Page 16

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Die Tatsache und das Prinzip
Auf Grund dieser Spannungen war innerhalb der christlichen Gemeinschaft der fünfziger
Jahre eine gefährliche Situation entstanden, die nicht weit von einem Schisma entfernt war.
Dieses wollte und konnte die Versammlung in Jerusalem überwinden. Sie anerkannte, wenn
auch nicht ohne Mühe, dass das entstehende Christentum nicht nur eine messianische
Bewegung jüdischer Prägung war. Wenn das Bewusstsein um die eigene Identität lebendig
sein konnte, so musste die Verteidigung der Universalität des Heils noch viel lebendiger sein.
Die Versammlung von Jerusalem bietet uns Anhaltspunkte, um Lösungen für unsere
Probleme hinsichtlich der Inkulturation des Evangeliums zu finden, indem sie uns Wege
anbietet, wie man ihnen begegnen kann. Wir können zu sehen lernen:
1. Dass die wahren Probleme der christlichen Gemeinschaften diejenigen sind, die aus
der Verkündigung des Evangeliums entstehen. Die Sorge um die Bewahrung des
Evangeliums in seiner ganzen Wahrheit (Gal 2,5.14) folgte der Missionsarbeit und
erweist sich als ihre logische Konsequenz. Mehr noch: Im Hinblick auf das in
Jerusalem behandelte Problem hatten die Christen keine früheren Lösungen parat; sie
suchten diese in Gemeinschaft, durch den Dialog und die brüderliche
Entscheidungsfindung.
2. Dass die Verkündigung des Evangeliums, die sich an Juden und Heiden anpassen
musste, der geschichtlichen Konkretheit gehorcht und sich auf die Notwendigkeiten
der Hörer einstellen muss. Gerade deswegen wird es Probleme für das Bekenntnis des
einen Glaubens und für das Leben in Gemeinschaft geben. Aber solche Probleme,
soweit sie unvermeidlich sind, können die Einheit nicht zerstören, die aus der einen
Berufung zum Heil hervorgeht.
Wenn zur Mitteilung des Heils an den Hörer des Wortes die Verkündigung des Evangeliums
„inkulturiert“ werden muss, um das gemeinsame Heil zu leben, ist die eigene Kultur
zweitrangig. Paulus selbst bezeugt das: „Da ich also von niemand abhängig war, habe ich
mich für alle zum Sklaven gemacht, um möglichst viele zu gewinnen. Den Juden bin ich ein
Jude geworden, um Juden zu gewinnen; denen, die unter dem Gesetz stehen, bin ich, obgleich
ich nicht unter dem Gesetz stehe, einer unter dem Gesetz geworden, um die zu gewinnen, die
unter dem Gesetz stehen. Den Gesetzlosen war ich sozusagen ein Gesetzloser – nicht als ein
Gesetzloser vor Gott, sondern gebunden an das Gesetz Christi –, um die Gesetzlosen zu
gewinnen. Den Schwachen wurde ich ein Schwacher, um die Schwachen zu gewinnen. Allen
bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten. Alles aber tue ich um des
Evangeliums willen, um an seiner Verheißung teilzuhaben“ (1 Kor 9,19-23). Dagegen ist es
der Bruder, für den der Herr gestorben ist, der niemals geopfert werden kann. Die
unüberwindbare Grenze für die Verkündigung des Evangeliums ist also nicht die Kultur, die
sie befördert, und nicht jene, die sie aufnimmt, sondern der Glaubensgefährte, dem man nie
entsagen kann. Der Grund dafür besteht darin, dass die Kultur, die, wenngleich sie wichtig ist,
keinen absoluten Wert hat, weil nur die Liebe absolut ist.
4. Auf Don Bosco schauen
In den Sechzigerjahren gelangte Don Bosco „zum Höhepunkt seiner Unternehmung und
seiner Tätigkeit“, einzig und allein geleitet vom „erstrangigen Ziel, das er immer schon als die
Sendung seines Lebens angenommen hatte: die Rettung der Jugendlichen, die Assistenz, die
16

2.7 Page 17

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Erziehung“29. Zur Sorge um die nunmehr zahlreichen Jugendwerke und deren Ausbreitung
waren der Eifer und die mühevollen Prozesse zur Gründung und rechtlichen Anerkennung der
Organisationen hinzugekommen, die der Unterstützung und der Animation dienten: die
salesianische Kongregation, das Institut der Töchter Mariä, Hilfe der Christen, sowie die
Vereinigung der salesianischen Mitarbeiter. „Zeitgleich zu Letzterer entwickelte sich im Jahr
1875 die letzte Initiative, nämlich die missionarische… Ihr folgte schon sehr bald die
Universalisierung der Erziehungsmethoden und des sogenannten salesianischen Geistes,
indem eine ihrer Möglichkeit nach weltweit tätige geistliche Bewegung geboren wurde“.30
Das missionarische Ideal hatte Don Bosco immer begleitet:31 Er lebte in einer Periode eines
starken missionarischen Aufschwungs, weswegen seine Berufung, Apostel der Jugend zu
sein, entstand und sich entwickelte als eine „Ausdehnung der aufkeimenden Idee…, jener der
Eroberung der Seelen mittels der christlichen Erziehung der Jugend, insbesondere der armen,
und mit Hilfe des Stils und der Mittel, die er für sie [in seinem pädagogischen System]
konzipiert hatte“32. Und so wurden für Don Bosco die Missionen „der bevorzugte Bereich, wo
er seine spezifische Berufung zum Apostel der Jugendlichen ausüben konnte.“33 Während er
allmählich die Zeichen Gottes entdeckte, richtete er sich auf zwei verschiedene, aber sich
ergänzende Projekte aus: „Weiterhin galt seine Aufmerksamkeit der missionarischen Frage,
und gleichzeitig begann er, mit der Idee der Gründung eines eigenen Instituts zu
liebäugeln“.34
Gewiss, die Evangelisierung Patagoniens war eine „missio ad gentes“ (Völkermission), echte
Einpflanzung von Kirche. Intentional vorausgegangen ist ihr die Präsenz salesianischer
Missionare unter den italienischen Emigranten in Buenos Aires und in San Nicolás de los
Arroyos, 250 km nordwestlich von der Hauptstadt; dies nicht nur aus Gründen der kulturellen
Nähe und der gefühlsmäßigen Annäherung (in der Tat, „man sollte sich nicht isoliert erfahren,
sondern unter Freunden und unter Landsleuten“35), vor allem aber weil die verheerende
religiöse und moralische Situation der Immigranten die „Präsenz unter den Italienern
notwendiger als unter den Einheimischen“ machte36. Don Bosco war damit einverstanden,
dass die Seinen sich zuerst im priesterlichen Dienst und in der Erziehung der Kinder der
italienischen Arbeiterfamilien betätigten, ein Apostolat, das nicht sehr verschieden von dem
war, was die Salesianer überall verwirklichten; zudem war er der Meinung, dass sich so seine
Missionare im Gehorsam auf den Ruf Gottes besser auf die Mission unter den „Wilden“
29 PIETRO BRAIDO, Don Bosco prete dei giovani nel secolo delle libertà. Bd. II, LAS, Roma 20093, S. 9.
30 Ebd., Bd. I, S. 370.
31 Vgl. MB X, S. 53-55. „Die alten missionarischen Bestrebungen, die ihn in den Jahren des Konvikts ein wenig
Spanisch lernen und die Koffer packen ließen, um sich den Oblaten der Jungfrau Maria anzuschließen, so
bekennt Don Bosco selbst, waren nie erloschen“ (PIETRO STELLA, Don Bosco nella Storia della Religosità
cattolica. Vol. I: Vita e Opere, LAS, Roma 21979, S. 168).
32 ALBERTO CAVIGLIA, “La concezione missionaria di Don Bosco e le sue attuazioni salesiane”, in: Omnis
terra adoret Te 24 (1932) S. 5.
33 LUIGI RICCERI, “Il progetto missionario di Don Bosco”, in: Centenario delle Missoni Salesiane 1875-1975.
Discorsi commemorativi, LAS, Rom 1980, S. 14.
34 AGOSTINO FAVALE, Il pogetto missionario di Don Bosco e i suoi presupposti storico-dottrinali, LAS, Roma
1976, S. 10. Das missionarische Projekt Don Boscos rief ein beachtliches Anwachsen der Berufungen hervor.
„Der Zuwachs von Anfragen bezüglich des Eintritts in die Kongregation … war gerade eine der Wirkungen der
Aussendung von Missionaren“, wie Don Bosco selbst gesagt hat (MB XI, S. 408).
35 Vgl. PIETRO STELLA, Don Bosco nella Storia della Religiosità cattolica, Vol. I: Vita e Opere, LAS, Roma
21979, S. 171.
36 DON CAGLIERO, Lettera a Don Bosco (04.03.1876), ASC A1380802.
17

2.8 Page 18

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(„selvaggi“37), wie er sie nannte, vorbereiten konnten.38 In seiner tiefsten Absicht aber
richtete er sich primär auf die Missionen in Patagonien aus.39
Aber sowohl im Apostolat unter den italienischen Emigranten wie in den missionarischen
Präsenzen unter den Eingeborenen bevorzugte Don Bosco die bedürftigsten Jugendlichen und
pflegte das erzieherische Angebot. So sagte er beispielsweise: „Wir wissen – und ich habe es
im Traum so gesehen –, dass ein Missionar voran kommt und viel Gutes tun kann, wenn er
von einer ansehnlichen Schar von Kindern und Jugendlichen umgeben ist“ (MB XII, S. 280).
Und im Gespräch mit dem Papst über die Evangelisierung von Patagonien, sagte er, dass er
versuchen wolle, „eine Kette von Schulen zu gründen, die Patagonien umgeben sollten und es
quasi vom Rest Amerikas unterscheiden würden“ (MB XII, S. 223). An dieser Stelle“, so
berichtet Don Barberis, begründete er seine rosigen Hoffnungen einer glücklichen Zukunft
der eigenen Missionen, wenn sich unsere Leute an die arme Jugend halten: wer sich auf
diesen Weg begibt, so bekräftigte der Selige, verlässt ihn nicht mehr“ (MB XII, S. 280). Die
Option, „sich an die Volksmasse durch die Erziehung der armen Jugend zu binden“40, war
nicht nur eine neuartige, weil wirkungsvolle Methode der Evangelisierung41, sondern war und
ist die strategische Wahl, die die missionarische Dimension des salesianischen Charismas
definiert.42 „Ohne Erziehung gibt es in der Tat keine dauerhafte und tiefgreifende
Evangelisierung, kein Wachstum und keine Reifung, keinen Wandel der Mentalität und der
Kultur.“43
Die Missionen erschienen in den Konstitutionen bis 1966 als eines der apostolischen Werke
„zum Wohl der Jugend, besonders der armen und verlassenen“ (Art. 7); und in den aktuellen
Konstitutionen heißt es, dass die missionarische Arbeit „als Wesenszug unserer
Kongregation“ gesehen wird und „dass sie alle erzieherischen und pastoralen Kräfte weckt,
die unserem Charisma zueigen sind“ (K 30).
Beim Tod Don Boscos hatte sich die salesianische Präsenz in Amerika in Argentinien,
Uruguay, Brasilien, Chile und Ecuador angesiedelt. Es waren verschiedene Nationen mit der
Notwendigkeit verschiedener Antworten, die missionarische Strategie Don Boscos aber blieb
unverändert. Er hatte dieses Vertrauen in seine Intuition, dass er keinen Zweifel hatte, 1876
37 „Der Begriff ‘selvaggi – Wilde’ aus der Feder Don Boscos ist ein einschließender Begriff, der alle Bewohner
Patagoniens bezeichnet und nicht nur alle indianischen Ureinwohner; so erklärt es sich, wie man hoffen konnte,
Söhne der Indianer zu finden, die bereit waren, sich auf das Priestertum vorzubereiten” (EUGENIO CERIA,
Commento alle lettera 1493, A don Giovanni Cagliero, 12.09.1876; Epistolario III Ceria, 9). Vgl. FRANCIS
DESRAMAUT, Don Bosco en son temps (1815-1888), SEI, Torino, 1996, S. 957-958.
38 Vgl. die Abschiedsrede Don Bosco bei der Verabschiedung am 11. November 1875, in: GIULIO BARBERIS,
Cronichetta, quad. 3 bis, 3-9; Documenti XV, 311-319. Die Idee der Völkermission erscheint auch bei der
Verabschiedung der abreisenden Missionare durch Don Bosco in den folgenden Jahren.
39 Vgl. PIETRO BRAIDO, „Dalla pedagogia dell’Oratorio alla pastorale missionaria“, in: ders. (Hg.), Don
Bosco Educatore. Scritti e Testimonianze, LAS, Roma 31997, S. 200.
40 Die Ausdruckweise scheint von Don Bosco selbst zu stammen, und zwar in einem langen Gespräch mit Don
Barberis, das am 12.08.l876 stattgefunden hat. Vgl. GIULIO BARBERIS, Cronichetta, Quaderno 8, S. 75, ASC
A0000108.
41 „Wenn man die Jugendlichen angezogen hat, kann man durch die Erziehung der Kinder sich auch daran
machen, die christliche Religion unter den Eltern zu verbreiten“ (GUILIO BARBERIS, „La Repubblica
Argentina e Patagonia“, In: Letture Cattoliche 291-292 [1877] 94)
42 „Eine ‚salesianische Mission’ wird in ihrer Stärke, den ersten Kern des Volkes Gottes zu formen, in der
wachsenden Kirche das Kennzeichen der Sensibilität des Charismas Don Boscos, insbesondere für die
Jugenderziehung und für die Jugendprobleme, einprägen (Il Progetto di Vita dei Salesiani di Don Bosco. Guida
alla lettura delle Costituzioni salesiani, Editrice SDB, Roma 1986, S. 279-280).
43 Brief seiner Heiligkeit Papst BENEDIKT XVI. an Don Pascual Chávez Villanueva, den Generalobern der
Salesianer Don Boscos, anlässlich der Eröffnung des 26. Generalkapitel, a.a.O. S. 108f.
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2.9 Page 19

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seiner missionarischen Strategie eine erfreuliche Zukunft vorauszusagen: „Mit der Zeit wird
sie auch in allen anderen Missionen angenommen werden. Warum sollte man in Afrika und
im Orient anders verfahren?“ 44
Als solche, denen der Auftrag, Gott zu den Jugendlichen zu bringen, sehr am Herzen liegt,
nehmen wir, liebe Mitbrüder, die Herausforderung der Inkulturation des salesianischen
Charismas als fundamentalen Teil unserer Sendung an, „als einen Aufruf zu einer fruchtbaren
Zusammenarbeit mit der Gnade in der Annäherung an die verschiedenen Kulturen“ (VC 79)
der Jugendlichen, mit denen und für die wir arbeiten. Schauen wir nun auf Don Bosco, weil
wir von ihm und von seiner weitsichtigen apostolischen Weisheit lernen können, ja sogar von
ihr lernen müssen. Denn sie ist bei der Einpflanzung des Lebens und der salesianischen
Sendung in Amerika, die „das größte Unternehmen unserer Kongregation war“45,
unübersehbar evident geworden ist.
Deshalb möchte ich Euch einige Elemente präsentieren, die ich für unverzichtbar halte,
wenn es um die Einpflanzung und die Entwicklung unseres Charismas geht, wo immer
wir als Salesianer die Sendung der Kirche voranbringen. Während wir in allen denkbaren
politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Umfeldern leben und arbeiten, müssen wir
immer mit Don Bosco identifiziert werden, mit seinen nicht verhandlungsfähigen pastoralen
Optionen und mit seiner treffsicheren pädagogischen Methodologie.
Eine viel bewunderte Geste
„Als der ehrwürdige Don Bosco seine ersten Söhne nach Amerika sandte“, schrieb Don Rua
am 1. Dezember 1909, „wollte er, dass die Fotografie ihn in ihrer Mitte darstellte, und zwar
zum Zeitpunkt der Übergabe des Buches unserer Konstitutionen an Don Giovanni Cagliero,
den Leiter der Missionsexpedition. Wie viel wollte Don Bosco mit dieser Haltung aussagen!
Es war, als wollte er sagen: Ihr werdet die Meere überqueren, werdet euch in unbekannte
Länder begeben, ihr werdet es mit Menschen verschiedener Sprachen und Sitten zu tun haben,
ihr werdet vielleicht schweren Prüfungen ausgesetzt sein. Ich selbst möchte euch begleiten,
euch stärken, euch trösten, euch schützen. Aber das, was ich nicht selber tun kann, wird dieses
Büchlein tun“.46
Don Rua bezog sich auf die historische Fotografie, die heute – welch gut getroffene Wahl! -
ein Teil unserer Konstitutionen ist, weil sie dem Text vorangestellt wurde.47 Auf ihr und in
einer ausdrücklich von ihm gewählten Pose, verewigte Don Bosco die persönliche Übergabe
der Konstitutionen an Don Cagliero. Durch sie übergab er sich selbst. Dass Don Bosco in den
44 GIULIIO BARBERIS, Cronichetta, Quaderno 8, S. 84. Vgl. JESÚS BORREGO, “Originalità delle Missione
Patagoniche di Don Bosco”, in: Mario Midali (Hg.): Don Bosco nella Storia. Atti del 1° Congresso
Internazionale di Studi su Don Bosco, LAS, Roma 1990, S. 468.
45 DON BOSCO, Lettera a don Giuseppe Fagnano (31.01.1881): Epistolario IV Ceria, S. 14. Zu Beginn der
Mission hatte er an den Papst geschrieben, dass Patagonien Hauptfeld der salesianischen Missionen sei, vgl.
Lettera a Pio IX (09.04.1876): Epistolario III Ceria, S. 34.
46 DON MICHELE RUA, Lettere circolari ai salesiani, Direzione Generale Opere Don Bosco, Turin 1965, S.
498.
47 Es war die erste Photographie, die Don Bosco ausdrücklich gewollt hat. Er bediente sich dazu des bekannten
und teuren Turiner Studios von Michele Schemboche. Don Bosco wollte das Ereignis verewigen und bekannt
machen. Der argentinische Konsul Giovanni B. Gazzolo, den man eigens von Savona kommen ließ, trägt seine
Uniform. Die Missionare tragen das spanische Gewand mit Mantel sowie das Missionskreuz. Don Bosco trägt
sein Festtagsgewand. „Wir können dieses Bild als für ihn sinnbildlich betrachten. Es ist sein ‚offizielles Photo’“
(GIUSEPPE SOLDÀ, Don Bosco nella fotografia dell’800 (1861-1888), SEI Torino 1887, S. 124.
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2.10 Page 20

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Konstitutionen präsent ist, ist keine geistreiche Schöpfung seiner Nachfolger.48 Die
Identifizierung kommt von ihm selbst, der in der Tat wollte, dass seine Söhne die
Konstitutionen betrachteten als geschätztes Andenken an ihn und als sein lebendiges
Testament:49 „Wenn ihr mich in der Vergangenheit geliebt habt, so fahrt fort, mich auch in
Zukunft zu lieben durch die genaue Beobachtung unserer Konstitutionen“, schrieb er in
seinem geistlichen Testament.50 Die salesianische Tradition, angefangen von Don Rua, hat in
den Konstitutionen „immer Don Bosco mit seinem Geist und seiner Heiligkeit präsent
gesehen, seinen Geist, seine Heiligkeit“.51
Die Inkulturation des salesianischen Charismas hat also als vorausgehendes und
unverzichtbares Requisit die Praxis der Konstitutionen, eine freudige und treue Praxis, ohne
Hinzufügungen, die aber den Zeiten und den Orten der jeweiligen Sendung angemessen ist;
eine Praxis, die offen gegenüber der Kultur, der Umwelt und den Jugendlichen ist; eine Praxis
der Art, dass sie – über die Absicherung des Gehorsams gegenüber ihren Worten und der
Angleichung an ihre Entscheide hinaus – ein glaubwürdiger Ausdruck dafür ist, „bei Don
Bosco zu bleiben“, und eine vertrauensvolle Verpflichtung, zum Heil der Jugendlichen „zu
handeln wie er“. Don Bosco wird uns dorthin begleiten können, wohin wir gesandt wurden; er
wird uns stärken und trösten, uns beschützen und leiten, wenn wir uns in ihn hineinversetzen
und leben wie er und mit ihm. Die Konstitutionen leben bedeutet, Don Bosco zu verkörpern.
Der Salesianer, der die Konstitutionen praktiziert, repräsentiert Don Bosco und lässt ihn zu
den Jugendlichen zurückkehren. Für sie gibt es nichts Dringenderes: Sie brauchen ihn, und sie
haben ein Recht auf ihn.
„Einige besondere Empfehlungen“
In der Ansprache während der feierlichen und bewegenden Feier der Verabschiedung der
ersten salesianischen Missionare am 11. November 187552 versprach Don Bosco, ihnen
„einige spezielle Empfehlungen“ (ricordi speciali), quasi ein väterliches Testament an seine
Söhne, die er möglicherweise nicht mehr sehen würde, zu hinterlassen. Er hatte sie während
einer Zugfahrt kurz zuvor mit Bleistift in sein Notizbuch geschrieben, davon Kopien
anfertigen lassen und übergab sie den Missionaren nun eigenhändig, während sie vom Maria-
Hilf-Altar weggingen (MB XI, 389)53.
Selbst geschrieben und dies beinahe ohne Korrekturen, schien der kurze Text eine Sammlung
verschiedener Ratschläge hauptsächlich asketischer Art zu sein. In Wirklichkeit sind es
48 „Man kann sagen, dass wir in den Konstitutionen den ganzen Don Bosco haben und darin sein einzigartiges
Ideal vom Heil der Seelen, seine Vollkommenheit in der Erfüllung der Gelübde, seinen Geist der Sanftmütigkeit,
der Freundlichkeit, der Toleranz, der Frömmigkeit, der Nächstenliebe und des Opfers“ (DON FILIPPO
RINALDI, „Il Giubileo d’oro delle nostre Costituzioni, ACS 23 [1924] S. 177).
49 „Bemüht euch, dass jeder Punkt in der hl. Regel eine Erinnerung an mich sei“ (MB X, S.647; vgl. MB XVII, S.
296).
50 DON BOSCO, Memorie dal 1841 als 1884-5-6 pel Gio. Bosco a’ suoi figlioli salesiani (Testamento
spirituale), hg. von Francesco Motto, in: Pietro Braido, Don Bosco educatore. Scritti e testimonianze, LAS,
Roma, 31997, S. 410.
51 Il Progetto di Vita dei Salesiani di Don Bosco, a.a.O. S. 74.
52 Man kann einen bewegenden und zeitgenössischen Bericht über dieses Ereignis finden in: CESARE CHIALA,
Da Torino alla Repubblica Argentina. Lettere dei missionari salesiani, in: Letture Cattoliche 286-287 (1876), S.
41-60; “Partenza dei missionari salesiani per la Repubblica Argentina”, in: L’Unità Cattolica 266 (1875), S.
1062: MB XI, S. 590f.
53 Vgl. auch dt. Text: „Empfehlungen des Heiligen Johannes Bosco an die Missionare, in: Konstitutionen und
Satzungen (1984), S. 265f.
20

3 Pages 21-30

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3.1 Page 21

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„Anhaltspunkte für eine echte Abhandlung einer pastoralen missionarischen Praxis“54 oder
„eine kurze Synthese der missionarischen Pastoral und Spiritualität“55, die sich auf vier
Hauptideen konzentriert: Eifer für das Heil der Seelen; apostolische, erzieherische und
brüderliche Liebe; tiefes religiöses Leben und Elemente einer missionarischen Strategie.
Als Don Bosco diese „Empfehlungen“ zwischen September und Oktober 1875 redigierte, war
seine missionarische Erfahrung spärlich, und die seiner Söhne existierte noch gar nicht. Er
schrieb diese Sätze kurz vor der der ersten Missionsaussendung, ergriffen von den Umständen
und von einer väterliche Liebe zu seinen jungen Missionaren. „Er versuchte, sie glücklich zu
machen, indem er ihnen die Schätze seiner Erfahrung mitteilte“ (MB XI, S. 391);56 einer
Erfahrung, erworben im persönlichen oder brieflichen Kontakt mit großen Missionaren
während und nach dem I. Vatikanischen Konzil. Und er selbst sollte seine Erfahrungen
während der folgenden Jahre noch heranreifen lassen, während er sein missionarisches
Projekt in Amerika verwirklichte.57
Trotzdem bestand Don Bosco wiederholt darauf, dass die „Empfehlungen“ nicht vergessen
werden sollten. Die ersten Missionare waren noch auf dem hohen Meer in Richtung
Argentinien unterwegs, und schon bat er Don Cagliero, „gemeinsam die Empfehlungen zu
lesen, die ich euch vor der Abreise gegeben habe.“58 Es ist eine Bitte, die er oft wiederholen
sollte.59 Während der 10 Jahre von 1875 bis 1885 war seine Korrespondenz nichts anderes als
„eine warmherzige, ausdrückliche und eindringliche Empfehlung der Erinnerungen“.60
Warum legte Don Bosco so großen Wert auf diese Ratschläge, obwohl er kein erfahrener
Missionar war und keine spezifische Kompetenz in dieser Thematik besaß? Zweifellos, weil
es ihn interessierte, dass die jungen Missionare das persönliche und gemeinschaftliche
religiöse Leben pflegten und dabei den typischen salesianischen Optionen treu bleiben
sollten. Das hielt er noch für wichtiger als sich als geschickte Apostel und kompetente
Missionare zu präsentieren. Alles entstand aus dem Bewusstsein, dass die Mission in
Argentinien, welche die erste „missio ad gentes“ war, dass seine jungen Missionare neue
Formen des Apostolates ins Leben rufen mussten – sei es zwischen den Emigranten wie auch
den Eingeborenen –, dass sie ein neues Charisma einpflanzen mussten, das noch nicht
definiert war; und dies fern von ihm und von dem religiösen und kulturellen Umfeld, in dem
sie aufgewachsen waren.
Meines Erachtens kann man in den „Empfehlungen“ die Sorge des Gründers sehen, sozusagen
die Besorgnis des Vaters (MB XI, S. 386f) um das Schicksal der Mission,61 und das seit den
54 ANGEL MARTÍN, Orígen de las Missiones Salesiana. La evangelización de las gentes según el pensamiento
de San Juan Bosco, Instituto Teológico Salesiano, Guatemala 1978, S. 172.
55 PIETRO BRAIDO, Don Bosco prete dei giovani, a.a.O. Bd. II, S. 156.
56 Vgl. CHIALA, a.a.O.S. 57-58.
57 So AGOSTINO FAVALE, Il progetto missionario di Don Bosco e i suoi presupposti storico-dottrinali, LAS
Roma 1976, S. 76; FRANCIS DESRAMAUT, Il pensiero missionario di Don Bosco. Dagli scritti e discorsi di
1870-1885, in: Missoni Salesiane 1875-1975, a.a.O. S. 49f.
58 Lettera a Don Cagliero (04.12.1875), in: Epistolario II, Ceria S.531.
59 Vgl. Lettera a Don Cagliero (14.11.1876), ebd. II, S. 113; Lettera a Don Valentino Cassinis (07.03.1876), ebd.
S. 27.
60 JESÚS BORREGO, „Recuerdos de San Juan Bosco a los primeros misioneros. Edición critica – Posibles
fuentes – Breve comentario en la correspondencia de Don Bosco”, RSS 4 (1988), S. 181, ein Artikel, in dem
viele Briefe an Missionare zitiert werden.
61 In seiner Abschiedsrede an die Missionare sagte Don Bosco: „Ich sage euch nur: Wenn auch meine Seele im
Moment wegen eurer Abreise betrübt ist, so freut sich mein Herz über den großen Trost, dass unsere
Kongregation im Begriff steht, sich weiter zu festigen.“ – „Vergesst nicht, dass ihr in Italien einen Vater habt,
21

3.2 Page 22

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Anfängen des großartigen salesianischen Unternehmens, welches die Präsenz in Argentinien
bedeutete. Es sind in ihnen auch Direktiven zu ermitteln, um noch entschiedenere
missionarische Aktivitäten und Präsenzen anzuspornen, einige sichere Spuren, um sich mit
Sicherheit auf die aktuelle Herausforderung der Inkulturation des salesianischen
Charismas einzulassen. Was ich im Folgenden anmerken werde, ist sicher nicht all das, was
man tun muss, aber, davon bin ich überzeugt, doch das Wesentliche. Anderes kann es auch
geben; aber das hier darf nicht fehlen. Es ist Don Bosco selbst, der hier zu uns spricht:
„Wir wollen Seelen und nichts anderes“
Die absolute Zielsetzung, der fundamentale Grund des missionarischen „Abenteuers“, der
Ausgangspunkt und das Kriterium der Überprüfung für jedwedes Bemühen der salesianischen
Inkulturation unterscheidet sich nicht – und dies kann auch gar nicht anders sein – von
demjenigen der Kongregation, d.h.: das Heil der Seelen, nichts anderes. Von Anfang an
bekräftigte es Don Bosco den Missionaren gegenüber, sowohl in seinen Abschiedsworten
(„Gott … sendet euch zum Wohl ihrer Seelen“, MB XI, S. 385) als auch in der ersten der
ihnen übergebenen Empfehlungen („Sucht Seelen, aber kein Geld und keine Ehren oder
Würden“, MB XI, S. 389). Er sollte dies fortwährend in den Briefen an die jüngsten
Missionare (bezeichnenderweise!) wiederholen.62 Zehn Jahre später schrieb er an Don
Lasagna: „Wir wollen Seelen und nichts anderes. Sorge dafür, dass dies in den Ohren unserer
Mitbrüder widerhallt“.63 Und auf dem Totenbett sagte er in einem Moment „großer Qual“ zu
Bischof Cagliero nur diese Worte: „Rettet viele Seelen in den Missionen“ (MB XVIII, S.
530).
„Denke immer daran, dass Gott unsere Anstrengungen zu Gunsten der armen und
verlassenen Kinder will“
Unter den prägenden Kennzeichen der missionarischen Strategie Don Boscos war das
originellste und bedeutsamste seine „Auswahl der Klasse“, „eine konstant und
unveränderliche Wahl, die sich auf den zwei Parallellinien der Armen und der Jugendlichen
bewegt… An den Orten der Mission ist dies von sonnenklarer Evidenz“64. Don Bosco wollte,
dass seine grundsätzliche Option, seine persönliche und die seiner jungen Kongregation, von
den ersten Missionaren in Amerika eingepflanzt werde; er zeigte das in seinem fünften
Ratschlag an die Missionare: „Nehmt euch besonders der Kranken, der Kinder, der Alten und
die Armen an!“ (MB XI, 389). Dies sollte er mit beinahe denselben Worten zehn Jahre später
wiederholen: „Nimm dich besonders der Kinder, der Kranken und der Alten an“65. Es war
noch kein Jahr seit der ersten Missionsaussendung vergangen, da dachte Don Bosco schon
daran, weitere „zwanzig Helden für die andere Welt“ auszusenden, als er an Don Cagliero
schrieb: „Tue, was du kannst, um arme Jungen zu sammeln, bevorzuge aber nach Möglichkeit
solche, die aus den unzivilisierten Regionen kommen“66. Und zwei Wochen später betonte er:
„Denke immer daran, dass Gott unsere Kräfte zu Gunsten der Pampas und der Patagonier, der
der euch im Herrn liebt, und eine Kongregation, die in jedem Fall an euch denkt, für euch sorgt und euch als
Brüder aufnimmt“ (MB XI, S. 386f).
62 Vgl. Brief an den Kleriker A. Paseri (31.01.1881): Epistolario IV Ceria, S. 10; Brief an den Kleriker A.
Peretto (31.01.1881), ebd. IV, S. 11; Brief an den Kleriker L. Calcagno (31.01.1881), ebd. S. 13; Brief an den
kleriker J. Rodríguez (31.01.1881), ebd. S. 17.
63 Im italienischen Original kein Beleg angegeben.
64 SEBASTIANO KARDINAL BAGGIO, „La formula missionaria salesiana“, in: Centenario delle Missoini
Salesiani, a.a.O. S. 43.
65 Brief an Don Pietro Allaneva (24.09.1885), Epistolario IV Ceria, S. 339.
66 Brief an Don Giovanni Cagliero (13.07.1876), Epistolario III Ceria, S. 72.
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3.3 Page 23

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armen und verlassenen Kinder will“67. Dass diese Vorliebe nicht einfach eine
opportunistische Taktik war, geht klar aus seinem „Testament“ hervor: Nachdem er der
Kongregation eine „glückliche Zukunft“ gewünscht hat, die von der göttlichen Vorsehung
wohl vorbereitet sei, fügte er hinzu: „Die Welt wird uns immer mit Freude empfangen,
solange unsere Sorgen auf die ‚Wilden’, die ärmsten Kinder und auf die am meisten
Gefährdeten der Gesellschaft gerichtet sind“ (MB XVII, 273)68. Den jungen Menschen, und
unter ihnen den Bedürftigsten, zu dienen und sie zu evangelisieren, ist der Grund unserer
Existenz in der Kirche (vgl. K 6). Dabei handelt es ich um einen „sehr spezifischen Grundzug
des Charismas Don Boscos“69. Wohin wir auch immer gesandt werden, müssen wir uns für
die Jugendlichen entscheiden, und unter ihnen für die verführten oder verlassenen, wenn wir
wahre Salesianer sein wollen. Es ist an uns, die wir in der ganzen Welt anwesend sind und so
vielen Jugendlichen nahe sind, Gott Mensch werden zu lassen und die salesianische Mission
zu inkulturieren.
„Wenn eine Mission begonnen wurde, sei das Bemühen immer darauf gerichtet, Schulen
zu errichten und zu stabilisieren“
Die von Don Bosco nach Argentinien entsandten Missionare mussten keine Schulen eröffnen,
um den italienischen Immigranten beizustehen und auch nicht um die Einheimischen zu
evangelisieren. Wenn sie es aber wagten, dies dennoch zu tun, geschah es auf Grund der
präzisen Hinweise Don Boscos. „Wenn eine Mission im Ausland begonnen worden ist“, so
notiert er in seinem „Geistlichen Testament“, „sei das Bemühen immer darauf gerichtet,
Schulen zu errichten und zu stabilisieren“ (MB XVII, S. 273)70. Das ist in der Tat die
missionarische Strategie, wie sie in Patagononien angewandt wurde, von der Don Bosco
selbst bekannte: „Ich möchte die letzten Tage meines Lebens nur damit verbringen“71; man
verwirklichte die Projekte durch ganz und gar erzieherische Entscheidungen: „Kollegs in allen
Städten eröffnen, die an die Gebiete der Indianer angrenzen; Söhne aus den noch nicht
zivilisierten Gegenden sammeln; sich mittels ihrer den Erwachsenen annähern. Es war eine
Taktik, die analog war zu derjenigen, die er in seiner langen Erfahrung als Erzieher und Leiter
von Erziehungswerken in den zivilisierten Ländern als wirksam erlebt hatte“.72
Missio ad gentes und Erziehung waren für Don Bosco keine zwei verschiedenen oder
aufeinander folgenden apostolischen Aktivitäten; die Erziehung war ein charakteristisches
Kennzeichen seiner Art, in der Kirche die Mission zu praktizieren73; für eine wirksame
Mission musste man in der Erziehung der Jugend aufgehen. „Der Dreh- und Angelpunkt des
67 Brief an Don Giovanni Cagliero (01.08.1876), ebd. S. 81. Don Cagliero überzeugte sich davon sehr schnell.
68 S. auch: DON BOSCO, Memorie dal 1841 al 1884-5-6, a.a.O. S. 437.
69 Vgl. PASCUAL CHÁVEZ, Ansprache zum Abschluss des 26. Generalkapitels, a.a.O. S. 178.
70 S. auch: DON BOSCO, Memorie dal 1841 al 1884-5-6, a.a.O. S. 438.
71 DON BOSCO, Brief an Kardinal Alessandro Franchi (10.05.1876), in: Epistolario III, Ceria, S. 60.
72 PIETRO STELLA: Don Bosco nella Storia della Religiosità cattolica, Bd. 1, S. 174. Vgl. auch JESÚS
BORREGO, “Estrategia misionera de Don Bosco”, in: Pietro Braido (Hg.): Don Bosco nella Chiesa a servizio
dell’umanità. Studi e testimonianze, LAS, Rom 1987, s. 152-164.
73 Die Präferenz Don Boscos für die Erziehung erzeugte schon bald Überraschung und Kritik: „Einige
beobachten, dass die Missionen Don Boscos in Amerika nur darin bestehen, Kollegien und Heime zu eröffnen”
(Giovanni B. Francesia, Francesco Ramello, chierico salesiano, missionario nell’America del Sud, Tip.
Salesiana, San Benigno Canavese 1888, S. 117). Und Don P. Collachini, ein Scalabrinianer, schrieb einem
befreundeten Priester im Jahre 1887: „Die Salesianer von Rio, San Paolo, Montevideo, Buenos Aires und alle
Salesianer der Welt beschäftigen sich nicht mit Mission, mit Ausnahme einiger weniger in Patagonien […] Sie
kommen, um Lehrer und Präfekten in den Kollegs oder Handwerksmeister zu sein….: Dies ist eine große
Mission, aber ganz und gar verschieden von jener, die man bisher kennt“ (M. FRANCESCONI, Inizi della
Congregazione Scalabriniana [1886-1888], CSE, Rom 1969, S. 104).
23

3.4 Page 24

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Handelns und das vitale Prinzip der salesianischen Missiologie ist …. die Erlösung der
Ungläubigen mit Hilfe des Erziehungsdienstes unter der Jugend und den Kindern. Wo die
Mission salesianisch ist, will man neben der priesterlichen Funktion und zusammen mit ihr,
dass es den Dienst und das Lehramt der Schule gibt. Alle salesianischen Häuser sind eine
Schule…, ein spezifisches Hilfsmittel der christlichen Durchdringung.“74
Diese strategische Entscheidung Don Boscos, liebe Mitbrüder, muss uns nachdenken lassen.
Ja, sie lädt uns sogar ein, unser apostolisches Angebot zu überdenken und (warum nicht?) neu
zu organisieren: Wenn die Jugendlichen „das Vaterland unserer Sendung sind“ (Don Egidio
Viganò), ist ihre Erziehung unser ordentlicher Weg, uns ihnen zu nähern, und die stabile Art
und Weise, als Boten des Evangeliums bei ihnen zu sein. Eine Präsenz, die nicht eindeutig
erzieherisch wäre, eine Provinz, die nicht die formale und informale Bildung der Jugendlichen
förderte,…. wie könnte man sie salesianisch nennen? Unser erzieherisches Angebot in der
ganzen Welt und in jedem unserer Werke zu vervielfältigen und zu stärken, ist eine
authentische Art, unser Charisma zu inkulturieren.
„Gott berief die arme salesianische Kongregation, um unter der armen Jugend die
kirchlichen Berufe zu fördern“.
In einer gerade begonnen Mission hatte das Bemühen, Schulen zu stabilisieren, das Ziel, „die
eine oder andere Berufung für den kirchlichen Stand oder eine Schwester für die Kinder zu
gewinnen“ (MB XVII, S. 273).75 Berufungen suchen und formen war für Don Bosco das
„verborgene“ Projekt, das seine wichtigsten Entscheidungen leitete, besonders auf dem Gebiet
der Erziehung.76 Wie er in seinem „Geistlichen Testament“ schrieb, war er davon überzeugt,
dass „Gott die arme salesianische Kongregation dazu berufen hat, die kirchlichen Berufungen
unter der armen und einfachen Jugend zu fördern“ (MB XVII, S. 261).77
Es waren gerade sechs Monate vergangen seit der ersten Aussendung, als er im Juli 1876 die
Erlaubnis erbeten und erhalten hatte, in Amerika ein Noviziat zu eröffnen. Die Salesianer –
damals nur zehn und davon viele junge78 – hatten, so erzählt Don Bosco Papst Pius IX.,
„einige Jugendliche gefunden, die den Wunsch haben, den kirchlichen Stand zu ergreifen, und
sieben von ihnen wurden nach ihrer Anfrage in die salesianische Kongregation aufgenommen.
Ihr Wunsch ist es, Missionare zu werden und – wie sie sagen – zum Predigen unter den
Eingeborenen auszuziehen.“ (MB XII, S. 859)79 Außer dass er die Berufungsbegeisterung
anzeigt, welche die Präsenz der jungen Missionare hervorrief, enthüllt diese Anmerkung auch
die tiefe Absicht Don Boscos, dafür Sorge zu tragen, dass „die Patagonier selbst die
Patagonier evangelisieren werden“. Berufungen unter den Eingeborenen zu gewinnen, war für
ihn das „geeignetste Instrument, um die Erwachsenen zum Glauben zu führen und um
Patagonien sein neues christliches und ziviles Gesicht zu geben“.80 Die einheimischen
Berufungen waren also das bevorzugte Mittel, die Erziehung und die Evangelisierung in den
Missionen voranzubringen und sicherzustellen. „Es haben sich schon Berufungen unter den
74 ALBERTO CAVIGLIA, „La concezione missionaria di Don Bosco“, a.a.O. S. 5-10.12.20.24-26.
75 Vgl. auch DON BOSCO, Memorie dal 1841 al 1884-5-6, a.a.O. S. 438.
76 Vgl. ARTHUR J. LENTI, Don Bosco. Historia y Carisma, Juan J. Bartolomé – Jesùs G. Graciliano (Hg.),
CCS, Madrid 2010f, I: Origen: De I Becchi a Valdocco. S. 495-96; II: Expansiòn: De Valdocco a Roma; S. 558-
559. 574.
77 Vgl. auch DON BOSCO, Memorie dal 1841 al 1884-5-6, a.a.O. S. 415.
78 Alle waren zwischen 20 (der Kleriker Giovanni B. Allavena) und 37 Jahren (Don Cagliero) alt.
79 Brief an Papst Pius IX. (07.1876): Epistolario III Ceria, S. 70.
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3.5 Page 25

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Eingeborenen zu zeigen begonnen, und ich hoffe, dass es in einigen Jahren nicht mehr oder
nur noch selten notwendig sein wird, Aussendungen von neuen Missionaren zu tätigen.“81
„Wohin du auch gehen wirst“, so schreibt er an Don Fagnano, der gerade zum Apostolischen
Präfekten von Südpatagonien ernannt war, „bemühe dich, Schulen und auch kleine Seminare
zu gründen, mit dem Ziel einige Berufungen für die Schwestern und die Salesianer zu pflegen
oder wenigstens zu suchen.“82 Und in seiner Denkschrift, die er Leo XIII. präsentierte, zählte
er unter den Zielen der salesianischen Missionen in Amerika auf: „Heime in der Nähe der
Eingeborenen eröffnen, damit sie als kleines Seminar und als Zufluchtsort für die Ärmsten
und Verlassensten dienen könnten. Auf diese Weise den Weg bereiten zur Verkündigung des
Glaubens unter den Indianern.“83
Don Bosco war so sehr von der Dringlichkeit der Berufungsförderung unter den
Einheimischen und vom sofortigen Erfolg überzeugt, dass er den Missionaren vor ihrer
Aussendung in seinen „Empfehlungen“ eine kleine Abhandlung für eine Berufungsförderung
anbot, die ganz auf Liebe, Prävention und den regelmäßigen Empfang der Sakramente
konzentriert ist.84
Dass Don Bosco selbst in seinem Leben diesen Traum nicht mehr verwirklicht sah85,
schwächt die Kraft seiner Überzeugung nicht, sondern stärkt sie eher. Wie er, so sind auch wir
Salesianer überzeugt davon, „dass es viele Jugendliche gibt, die an geistlichen Begabungen
reich sind und den Keim einer apostolischen Berufung in sich tragen“ (K 28). Der in manchen
Provinzen erlebbare Mangel an Berufungen und deren Zerbrechlichkeit, die uns ein wenig
überall betrifft, fordern uns noch mehr heraus als schon in den Tagen Don Boscos, „in jedem
Umfeld eine Kultur der Berufung zu schaffen, so dass die Jugendlichen das Leben als Ruf
entdecken“ (26. GK, 53).
Eine Pastoral, auch wenn sie gut entworfen und in ihren Ergebnissen wirksam ist, die aber in
unseren Präsenzen keine Berufungskultur fördert, wäre nicht salesianisch. Norm, Kriterium
und Verlauf der Inkulturation des salesianischen Charismas war und muss die Förderung der
Berufungen in der Kirche bleiben. Das Erwachen der Berufungen ist nicht nur eine Probe auf
die Wirksamkeit unserer apostolischen Arbeit; vielmehr ist sie Verwirklichung unsres
spezifischen Charismas.
„Alle, alle könnt ihr echte Arbeiter der Evangelisierung sein.“
Beim Einpflanzen von Leben und salesianischer Mission in Amerika, setzte Don Bosco
immer Vertrauen auf alle lebendigen Kräfte, die man finden konnte, sei es im Inneren der
Ordensfamilie, sei es in der Kirche und in der Gesellschaft. Allen voran waren es die
80 PIETRO SCOPPOLA, Commemorazione civile di Don Giovanni Bosco nel centenario della sua morte.
Tipografia Don Bosco, Roma 1988, S. 22.
81 Quelle im Original nicht angegeben.
82 Lettera a Don Fagnano (18.08.1885): Epistolario IV Ceria, S. 334. “Wenn Du in den Missionen oder auf
andere Weise dazu gelangst, den einen oder anderen Jugendlichen zu entdecken, der etwas Hoffnung zum
Priestertum gibt, wisse, dass Gott Dir einen Schatz in die Hände gibt“ (Lettera a don Pietro Allavena
(24.09.1885), a.a.O. S. 339.
83 Memoriale sulle Missioni salesiane presentato a Leone XIII (13.04.1880): Epistolario III Ceria S. 569.
84 JESÚS BORREGO, „Recuerdos de San Juan Bosco a los primeros misioneros“, a.a.O. S. 203. Der Text des
18. Ratschlags befindet sich auf S. 208. Im “Geistlichen Testament” sollte er diese berufungspastoralen Anstöße
etwas erweitert aufnehmen.
85 Man musste bis zum Jahre 1900 warten, um im Aspirantat von Bernal in Argentinien zwei Indianerjungen
unter 12 zu haben, die aus der Region des Río Negro kamen (Lino Carbajal, Le missioni salesiane nella
Patogina e regioni magallaniche. Studio storico-statistico, Tip. Salesiana, San Benigno Canavese1900, S. 104).
25

3.6 Page 26

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salesianischen Brüder, die bei keiner Missionsaussendung fehlten, angefangen von der ersten.
So war im Januar 1880 unter den acht Pionieren der Mission in Patagonien auch ein Bruder,
wie Don Bosco es dem Erzbischof von Buenos Aires versprochen hatte, nicht nur für die
katechetische Arbeit86, sondern um „die Landwirtschaft sowie die gebräuchlichsten
Fertigkeiten und Handwerke zu lehren“.87
Noch charakteristischer für das Denken Don Boscos war die baldige und zahlreiche Präsenz
der Töchter Mariä, Hilfe der Christen. Die ersten sechs „Salesianerinnen“ (Don-Bosco-
Schwestern) – drei von ihnen waren noch minderjährig, während die Oberin, Sr. Angela
Vallese, gerade einmal 24 Jahre alt war – schlossen sich der dritten Missionsaussendung am
Ende des Jahres 1877 an (MB XIII, S. 314.322-324). Ihre Präsenz war denkbar ungewöhnlich:
„Es ist das erste Mal, dass man Schwestern in diesen abgelegenen Regionen sieht“. Aber dies
wurde schon bald als Fügung der Vorsehung angesehen. Ihre sprichwörtliche Nächstenliebe
trug „zweifellos sehr viel zur Bekehrung der Indianer und zur Erziehung der armen und
verlassenen Kinder bei“88. Im Jahre 1884 hatten sie circa hundert Mädchen erzogen und
darüber hinaus zu einem erbaulichen Leben geführt. Im Jahre 1900 gab es schon die ersten
Professen von Einheimischen. In der praktischen Sendung vereint, pflanzten Salesianer und
Salesianerinnen gemeinsam das salesianische Leben und das salesianische Charisma in
Amerika ein.
„Mit-Apostel Patagoniens“ und „Werkzeug des Heils Tausender von Jugendlicher“89 – das
waren die Mitarbeiter, die auf dem alten und dem neuen Kontinent wirkten und die Don
Bosco als „äußere Front“, als moralische, spirituelle und materielle Hilfe für seine
apostolischen Initiativen angesehen hatte. Als er formell eingeladen wurde, sich der
Menschen in Patagonien anzunehmen, schrieb er den Mitarbeitern, dass „die Zeit der
Barmherzigkeit für diese noch nicht zivilisierten Einheimischen“ gekommen sei; und er
bezeugte, dass er nur „voller Vertrauen in Gott und in eure Nächstenliebe dieses harte
Unternehmen“ habe annehmen können.“90. Der Glaube an Gott und das Vertrauen auf die
Liebe der Guten waren die Ressourcen, die das Fundament für seine apostolischen Träume
bildeten. Gerade dafür sah er die Präsenz der Mitarbeiter, „für jedes salesianische Haus quasi
als eine Notwenigkeit (an), damit es Leben hat und Zuwachs empfängt.“91
Immer angespornt von der Notwendigkeit, die Bedarfe der Missionare an Personal und Geld
zufrieden zu stellen, wollte Don Bosco die Gruppe der Mitarbeiter vermehren: Jugendliche
und Erwachsene, Priester und Laien, Bischöfe und sogar der Papst wurden von ihm
eingeladen, sein apostolisches Projekt anzunehmen: „Alle, die ihr hier seid“, sollte er in der
berühmten Konferenz in Valdocco am 19. März 1876 sagen, „sowohl Priester als auch
Studenten, Handwerker und Brüder, alle, alle könnt ihr echte Arbeiter der Evangelisierung
sein“ (MB XII, S. 626).
86 „Don Bosco gab ihnen den offiziellen Titel Katechisten“ (CESARE CHIALA, Da Torino alla Repubblica
Argentina, a.a.0. S. 36).
87 Brief an Bischof Aneiros (13.09.1879): RAÚL A. ENTRAIGAS, Los Salesianos en la Argentina. III, Plus Ultra,
Buenos Aires 1969, S. 85.
88 “Los verdaderos héroes del desierto”, in: La America del Sur 4 (188O) 1152.
89 “Tre pensieri di Don Bosco ai Cooperatori e alle Cooperatrici”, in: Bollettino Salesiano 11 (1886), S. 32.
90 Vgl. „Don Bosco ai benemeriti Cooperatori e Cooperatrici“, in Bollettino Salesiano 11 (1886) S. 3. Als er die
Missionsausssendung von 1886 vorbereitete, appellierte er von neuem an ihre Nächstenliebe: „Hört auch ihr
wie ich die Stimme unserer lieben Missionare und den Schrei, den uns so viele arme und verlassene Menschen
von jenen so fernen Straßen senden“ (Circolare ai Cooperatori [15.10.1886]: Epistolario IV Ceria, S. 362).
91 „Monsignore Cagliero nel Chili“, in: Bolletino Salesiano 11 (1887) 111.
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3.7 Page 27

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Es gibt keinen Zweifel, als die Unbegrenztheit seines missionarischen Projektes feststand und
er sich seiner Unzulänglichkeit und der seiner Institutionen bewusst wurde, suchte Don Bosco
immer weitere Formen der Zusammenarbeit und machte so den Anfang, und zwar tatsächlich
und nicht unbewusst, einer sowohl kirchlichen als auch zivilen Bewegung, einer umfassenden
Bewegung „in der Menschen auf verschiedene Weise zum Heil der Jugend wirken. … Sie
leben in Verbindung untereinander aus demselben Geist und setzen mit ihrer je eigenen
Berufung die von ihm begonnene Sendung fort“ (K 5). Aus der Salesianischen Familie „eine
echte apostolische Bewegung zum Wohl der Jugendlichen zu machen“ (26.Gk, 31), ist für
uns, außer einem Aktivierungsprozess für die Bekehrung der Herzen, der Mentalitäten und
Strukturen, ein wahrer Weg der Inkulturation des Charismas. Es ist eine Übung der Treue zu
Don Bosco. Wir müssen bekräftigen, was Don Bosco so am Herzen lag, und es auf die gleiche
Weise und für dieselben Ziele fördern.
„Handelt so, dass die Welt erkennt, dass ihr arm seid“
Als erste der „Empfehlungen“ („Ricordi“), quasi als Grundprinzip des evangelisierenden
Engagements der Missionare, hielt Don Bosco fest: „Sucht Seelen, aber kein Geld“. Dies
blieb in der Situation, in der in Argentinien der größte Teil der italienischen Priester lebte, die
gekommen waren, um die Tausende von Immigranten zu begleiten, nicht verborgen. „Die
Mehrzahl kommt, mir schnürt es das Herz zusammen, es sagen zu müssen“, schrieb der
Erzbischof von Buenos Aires an Don Bosco, „um Geld zu machen und nichts anderes“.92
Gerade weil die Kargheit der Ressourcen, des Personals und der Finanzmittel in den
apostolischen Unternehmungen Don Boscos sprichwörtlich waren und „unsere Armut eine
tatsächliche sein soll…. im Zimmer, in der Kleidung, bei Tisch, bei den Büchern, auf Reisen
etc.“ (MB IX, S. 701.), lebten die Missionare in Knappheit und inmitten großer
Schwierigkeiten. Als Don Tomatis gefragt wurde, was sie gewöhnlich in der Gemeinschaft
aßen, antwortete er mit einem Lächeln: „ Morgens Brot und Zwiebeln, abends Zwiebeln und
Brot.“93
Es ist nichts Befremdendes, wenn Don Bosco in den Briefen an die Missionare nicht zu sehr
auf dieses Argument pochte. Er zeigte sich vielmehr besorgt bezüglich der eingegangenen
Verschuldungen oder der Rückerstattungen der Darlehen, ein Thema, das in den regelmäßigen
Mitteilungen an die Mitarbeiter präsent ist. Seine Armut war eine ehrliche, fleißige, reich an
Initiativen („in unseren Knappheiten werden wir jedes Opfer bringen, um euch zu Hilfe zu
kommen“94); sie wurde gestützt von seinem unerschütterlichen Vertrauen in die göttliche
Vorsehung. Aber gerade deshalb, weil die ersten missionarischen Gemeinschaften „von
Anleihen und ohne organisierte Kooperation lebten“95, erscheint der 12. Ratschlag Don
Boscos an die Missionare noch viel einsichtiger: „Macht, dass die Welt euch daran erkennt,
dass ihr arm seid in der Kleidung, in den Speisen, in den Wohnungen; und ihr werdet reich
sein im Angesicht Gottes und ihr werdet Herrn über die Herzen der Menschen sein.“
Für Don Bosco war die Armut im persönlichen Leben ein unbestrittener Wert und kein
Mangel an Mitteln in den Erziehungswerken.96 Als fundamentale Empfehlung an alle
92 Brief von Mons. Aneiros a Don Bosco (18.12.1875), in: MB XI, S. 603.
93 Cronaca di San Nicolàs de los Arroyos (1875-1876), S. 10, ASC F 910.
94 Brief an Giovanni Cagliero (06.08.1885): Epistolario IV Ceria, S. 328. Vgl. auch Lettera a Don Giacomo
Costamagna (31.01.1881): ebd. S. 7; Circolare ai Cooperatori Salesiani (15.10.1886), ebd. S. 360-363.
95 JUAN E. BELZA, Luis Lasasgna, el obispo misionero. Inroducción e la historia salesiana del Uruguaay, el
Brasil y el Paraguay, Editorial Don Bosco, Buenos Aires 1969, S. 169.
96 Man lese die Anekdote, die von Don Rinaldi im Hinblick auf Don Boscos Denken über die salesianische Armut
erzählt wird: MB XIV, S. 549f.
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3.8 Page 28

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Salesianer hinterließ er schriftlich in seinem sog. Geistlichen Testament: „Liebt die Armut…
Sorgt dafür, dass keiner sagen kann: Dieser Hausrat hat keine Anzeichen von Armut, dieser
Tisch, diese Kleidung, dieses Zimmer zeigt keine Armut. Wer vernünftige Gründe für solche
Gespräche bringt, fügt unserer Kongregation, die sich immer des Gelübdes der Armut rühmen
muss, Schaden zu. Wehe uns, wenn diejenigen, von denen wir Gaben der Nächstenliebe
empfangen, sagen können, dass wir ein wohlhabenderes Leben führen als sie.“ Und er stellte
die Zukunft der Kongregation verbunden mit der Armut des Lebens ihrer Mitglieder dar:
„Unsere Kongregation hat eine glückliche Zukunft vor sich, die ihr von der göttlichen
Vorsehung bereitet ist … Wenn aber unter uns Bequemlichkeit und Wohlstand beginnen
werden, hat unsere fromme Gesellschaft ihren Lauf vollendet“.
Wie Jesus seine Apostel arm aussandte und ihnen auftrug, nichts auf die Reise mitzunehmen,
weil sie das Evangelium hatten (vgl. Mk 6,8), wollte Don Bosco, dass seine Salesianer arm
seien, um in den armen Jugendlichen ihren Schatz zu haben: Unser Eifer im Dienst sei auf die
noch nicht zivilisierten Menschen gerichtet, auf die ärmsten und am meisten gefährdeten
Kinder der Gesellschaft. Dies soll unser wahrer Wohlstand sein, um den uns keiner beneidet
und den uns keiner rauben wird“.97
Unsere bevorzugten Zielgruppen, die bedürftigsten Jugendlichen, sind der Grund dafür, dass
wir uns mit der apostolischen Armut „vermählen“. Unser Zeugnis der Armut „hilft der
Jugend, den Hang nach selbstsüchtigem Besitz zu überwinden, und macht sie aufgeschlossen
für den christlichen Sinn des Miteinanderteilens“ (K 73). Mit unserem Leben verkünden, dass
Gott unser einziger Schatz ist, trennt uns von all dem, was uns für Gott unsensibel macht, und
macht uns offen und verfügbar für die Bedürfnisse der Jugendlichen. Die evangelische Armut
wirklich dort zu leben, wohin wir gesandt worden sind, hilft uns einerseits, das salesianische
Charisma zu verkörpern, und ist andererseits ein sicheres Kriterium, das seine Einpflanzung
leitet und jedwede geschichtliche Realisierung verifiziert.
„Mit der Sanftmut des heiligen Franz von Sales werden die Salesianer die Bevölkerung
Amerikas zu Jesus Christus führen“
Don Bosco entwickelte die missionarische Aktivität in Amerika als Fortsetzung dessen, was
er in Turin und in den anderen Präsenzen in Europa getan hatte und noch zu tun gedachte.
„Die ungenauen Zielsetzungen dieser Mission“, schrieb er dem Papst, waren, „für die Italiener
zu sorgen und einen Schritt in die Pampas zu versuchen […] An das erste Ziel hatte man
schon Hand angelegt [….] Bezüglich des zweiten, das Evangelium zu den noch nicht
zivilisierten Eingeborenen zu tragen, hatte man festgelegt, in der Nähe der Indianerstämme
Kollegs, Heime und Unterkünfte zu eröffnen“.98 In der salesianischen Missionsarbeit den
Jugendlichen und der Schule den Vorzug zu geben, war Don Boscos feste Überzeugung. Die
Evangelisierung durch Erziehung oder, wie er sich ausdrückte, „sich mit Hilfe der Erziehung
der armen Jugend an das Volk binden“, war jedoch als missionarische Methode eine Neuheit,
die nicht allen verständlich war. Darüber hinaus gab es, wo sie schon angewandt wurde,
einige Misserfolge, weil, so dachte jedenfalls Don Bosco, „diejenigen, denen man Kinder zum
Erziehen anvertraut, entweder keine geeignete Methode benutzen, nicht den nötigen Geist
haben oder weil sie schlichtweg unfähig sind“.99
97 DON BOSCO, Memorie dal 1841 als 1884-5-6, a.a.O. S. 437f.
98 Offizieller Bericht an Papst Pius IX. (16.06.1876), S. 4, ASC A8290109.
99 DON GIULIO BARBERIS, Chronichetta 8, S. 75, ASC A0000108. Vgl. MB XVII, S. 279-280.
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3.9 Page 29

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Gerade deswegen lenkt Don Bosco in den „Ricordi“ an die Missionare die Aufmerksamkeit
auf das Präventivsystem. In Wirklichkeit hätte es dessen gar nicht bedurft. Indem er die
Seinen in Missionsländer entsandte, tat er nichts anderes, als die großen Entscheidungen,
seine pädagogische Methodologie und seinen Erziehungsstil, zu verpflanzen, die er selbst in
Valdocco angewandt hatte und in denen seine Missionare wiederum herangewachsen und
erzogen worden waren. Dennoch bestand er darauf, dass die apostolische Liebe (carità
apostolica: „Sucht Seelen…“; „kümmert euch um die Kranken, die Kinder, die Alten und die
Armen“) gelebt werden soll als brüderliche Liebe (carità fraterna: „Liebt einander, gebt
einander Rat, korrigiert einander, aber bringt euch nie Neid oder Groll entgegen; das Wohl
des einen sei vielmehr das Wohl aller…“)100 und als pädagogische Liebe („Nächstenliebe,
Geduld, Sanftmut, niemals demütigende Tadel, niemals Strafen; wem immer möglich Gutes
erweisen, aber niemandem Böses zufügen! Das gelte für die Salesianer untereinander, unter
den Schülern, und anderen gegenüber, sowohl Externen wie Internen“) (MB XVII, S. 626).
Obwohl Don Bosco die Praxis seines Stils modifizierte, war dessen Einpflanzung in die
Länder Amerikas nicht leicht. Nicht alle salesianischen Häuser, so schreibt Don Rua an
Bischof Cagliero, „werden mit Milde und mit dem Präventivsystem geführt“. Und Don Bosco
schickte Don Costamagna, der nach dem Tod von Don Bodrato seit 1880 Provinzial war,
einen Brief, der als eine Kurzfassung des Erziehungsgedankens des Gründers angesehen
werden kann: „Das Präventivsystem sei uns ganz und gar eigen: Niemals rechtliche Strafen,
niemals demütigende Worte, niemals strenge Tadel in Anwesenheit anderer… Man verwende
negative Strafen, und so, dass diejenigen, die ermahnt werden, mehr als vorher unsere
Freunde werden und nie gedemütigt von uns gehen… Die Milde im Sprechen, im Handeln,
im Ermahnen gewinnt alles und alle.“101
Heute gibt es, in anderen Kontinenten als damals in Amerika, echte Herausforderungen für
die Umsetzung des Präventivsystems, die kulturellen Gründen oder den veränderten
Lebensbedingungen der Jugendlichen geschuldet sind. Im ersten Fall stellt man hier und da
Schwierigkeiten dabei fest, das Präventivsystem zu verstehen und anzuwenden; und oft
rechtfertigt man eine nicht salesianische Haltung gegenüber den Jugendlichen, indem man
sagt, dass an dem jeweiligen Ort in der Welt die Stimme und die Hauptrolle den Erwachsenen
gehöre und dass es den Jugendlichen lediglich gezieme, zu gehorchen. In anderen Fällen hat
der Erziehungsstil eine Form von Autoritarismus angenommen, der keinen Spielraum mehr
lässt für die Vernunft und noch weniger für die Liebenswürdigkeit. Schließlich wird es in
anderen Teilen der Welt tatsächlich besonders schwierig, das Präventivsystem zu
interpretieren, einzuwurzeln und umzusetzen, wo die kulturellen Veränderungen den
Jugendlichen sehr viel Selbstbestimmung gebracht haben, so dass sie mitunter meinen, alle
möglichen Rechte ohne irgendeine Verantwortung zu haben.
Es ist absolut notwendig, das Präventivsystem gut zu kennen, um seine großen Kräfte
entfalten, seine Anwendungen aktualisieren und seine fundamentalen Ideen (die größere Ehre
Gottes und das Heil der Seelen; der lebendige Glaube, die feste Hoffnung, die theologisch-
pastorale Liebe; der gute Christ und der ehrenwerte Bürger; Fröhlichkeit, Studium und
Frömmigkeit; Gesundheit, Studium und Heiligkeit; Frömmigkeit, Sittlichkeit und Kultur;
Evangelisierung und soziale Bildung) sowie seine wichtigen methodischen Orientierungen
(dafür sorgen, dass man geliebt, statt dass man gefürchtet werde; Vernunft, Religion,
Liebenswürdigkeit; Vater, Bruder, Freund; Familiarität, vor allem in der Freizeit; das Herz
gewinnen; weitgehende Freiheit zu springen, zu laufen und zu schreien nach Herzenslust) neu
100 MB XI, S. 389f.; JESÚS BORREGO, “Recuerdos de San Juan Bosco”, RSS 4 (1988), S. 207f.
101 Brief an Don Giacomo Costamagna (10.08.1885), in: Epistolario IV Ceria, S. 332f.
29

3.10 Page 30

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interpretieren zu können. Das alles zur Bildung neuer Jugendlicher, die fähig sind, diese Welt
umzuformen.
Mir liegt es sehr am Herzen zu sagen, dass das Präventivsystem ein wesentliches Element
unseres Charismas ist, das kennen gelernt und entsprechend der philosophischen,
anthropologischen, theologischen, wissenschaftlichen, historischen und pädagogischen
Entwicklung angepasst (aggiornato – „verheutigt“) werden soll, und dass seine Inkulturation
in die Verschiedenheit der ökonomischen, sozialen, politischen, kulturellen und religiösen
Kontexte, je nach dem, wo unsere Zielgruppen leben, unentbehrlich und unerlässlich ist, wenn
wir wirklich Don Bosco treu bleiben und sein Charisma inkulturieren wollen. Ich wage zu
sagen, dass dies eine der dringendsten Aufgaben der Kongregation ist.
„Empfehlt ständig die Verehrung Mariens, der Helferin der Christen, und die Anbetung
des eucharistischen Jesus“
Wesentliches Element in der salesianischen Mission ist die Präsenz Mariens; dies ist eine
typischerweise am Evangelium ausgerichtete Überzeugung (vgl. Joh 2,1.12; Apg 1,14) und
eine von Don Bosco intensiv gelebte Glaubensgewissheit.102 Die aktive Präsenz Mariens im
Leben der Kirche ist mit dem Titel „Helferin der Christen“ treffend ausgedrückt. Die
Empfehlungen Don Boscos an die Missionare erinnern an die marianische Frömmigkeit, die
mit Eifer gepflegt werden soll. „Wir hier“, so sagte Don Bosco in seiner Abschiedsansprache,
„werden keinen Tag vergehen lassen, ohne sie (die ersten Missionare) Maria, der Helferin der
Christen, anzuempfehlen, und mir scheint, dass Maria, die jetzt eure Abreise segnen möge,
nicht aufhören wird, den Fortschritt der Mission zu segnen“ (MB XI, S. 386).103
Mit der Einführung des Titels „Maria, Helferin (der Christen)“ öffnete sich das salesianische
Charisma für den missionarischen Horizont. Das salesianisch-missionarische Wirken
zeichnete sich fortan aus durch die volkstümliche Ausbreitung der Verehrung Mariens als
Helferin der Christen, die Feier der wichtigen Marienfeste, die Veröffentlichung von
marianischen Schriften und Bildern, den Bau von marianischen Heiligtümern in jedem Teil
der Welt. All dies wurde zum greifbaren Ausdruck der Ausstrahlung des apostolischen und
erzieherischen Charismas Don Boscos. „Die heilige Jungfrau Maria“, so schreibt Don Bosco
in seinem „Geistlichen Testament“, „wird sicherlich fortfahren, unsere Kongregation und die
salesianischen Werke zu beschützen, wenn wir nicht aufhören, auf sie zu vertrauen, und wenn
wir auch weiterhin ihre Verehrung fördern“ (MB XVII, S. 261).104
Die nunmehr seit 1875 ununterbrochene Tradition, den abreisenden Missionaren in der Maria-
Hilf-Basilika in Turin das Missionskreuz zu überreichen, drückt diese Überzeugung aus und
wird gleichzeitig zur Bedingung, die das salesianische Charisma in der Zeit hervorbringt und
erneuert: Maria, wie sie auf dem Altarbild von Lorenzone dargestellt ist, ist die Mutter der
Kirche und die Königin der Apostel, die dem salesianischen Werk in der Welt hilft und es
begleitet. Das Missionskreuz, das überreicht wird, drückt die konkrete Möglichkeit aus, von
102 Dies ist ein fortwährender Wunsch Don Boscos an die Missionare: Maria leite dich, um viele Seelen zu
gewinnen bzw. um in den Himmel zu gelangen: vgl. Lettera a Mons. Cagliero (10.02.1885): Epistolario IV
Ceria, S. 314; Lettera a Don Costamagna (10.08.1885), ebd. S. 333; Lettera a Don Tomatis (14.08.1885), ebd.
S. 3337; Lettera a Don Lasagna (30.09.1885), ebd. S. 340f.
103 Am Vorabend der Einschiffung überreichte Don Bosco an Don Cagliero eine handschriftliche Liste von
Ratschlägen und Aufträgen, die er folgendermaßen beendete: „Tut das, was ihr könnt. Gott wird das tun, was
wir nicht vermögen. Vertraut alles Jesus Christus im Sakrament und Maria, der Hilfe der Christen, an, und ihr
werdet sehen, was Wunder sind“ (MB XI, S. 395).
104 Vgl. auch: DON BOSCO, Memorie dal 1881-1884-5-6, a.a.O. S. 415.
30

4 Pages 31-40

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4.1 Page 31

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Gott zu Horizonten einer Großherzigkeit ohne Grenzen gerufen zu sein. Viele Söhne Don
Boscos wurden durch ihren Mut und ihre Treue befähigt, im Martyrium ihr Leben zu geben.
Eine typische Frucht des pastoralen und erzieherischen Stils, der die Präsenz Mariens, der
Helferin der Christen, durch den Bau von Heiligtümern und die Errichtung von ihr geweihten
Statuen äußerlich sichtbar macht, ist der Sieg über entgegen stehende Denkweisen und über
die Aktionen von Gewalt, um eine Kultur des Friedens und der Versöhnung zwischen
Völkern, Gruppen und Familien zu fördern, indem ihre Präsenz als „Stern der
Evangelisierung“ bei der Geburt und dem Wachstum der Kirche gepriesen wird.
Ursprünglich ist die Verbindung der marianischen Frömmigkeit mit einem sakramentalen
Bezug zu Jesus, dem Herrn, der in der Eucharistie gegenwärtig ist. Das bringt zum Ausdruck,
dass unser Vertrauen zu Maria ihren Höhepunkt findet in ihrer Annahme als „eucharistische
Frau“105. Je mehr Maria uns eucharistisch macht, desto mehr verwirklicht sie ihre Sendung,
nämlich uns zu Jesus zu führen, uns zu helfen, Christus in uns zu tragen, und uns zu lehren,
aus unserem Leben ein Gott wohlgefälliges Opfer zu machen, das in Einheit steht mit dem
vollkommenen Opfer des Sohnes. Aus typisch salesianischer Sicht finden die Tätigkeit der
Erziehung und das Werk der Evangelisierung in der Beziehung mit dem Herrn Jesus Christus
und mit Maria die beiden „Säulen“ und damit die Stützen und den Ausdruck eines starken
Glaubens an Gott, dem nichts unmöglich ist, sowie eines Vertrauens auf Maria, in welcher
Gott „große Dinge vollbracht hat“ (Lk 1,49).
Was sollen wir, liebe Mitbrüder, von salesianischen Präsenzen denken, manchmal mehr als
Hunderte, wo es uns nicht gelungen ist, unsere Jugendlichen und Mitarbeiter die mütterliche
Präsenz Mariens spüren zu lassen, oder schlimmer noch, wo man ein fortschreitendes Sich-
Entfernen vom sakramentalen Christus um sich greifen ließ? Können wir sie „salesianisch“
nennen, auch wenn sie fortfahren, zu erziehen und zu evangelisieren? Ich glaube aufrichtig:
Wenn wir dem ursprünglichen Projekt unseres Vaters treu bleiben wollen, müssen Maria als
Motiv und Anführerin unserer Evangelisierung und die Eucharistie als ihr Zentrum und ihre
missionarische Form zurückkehren.
6. Schluss
Liebe Mitbrüder, als Kongregation haben wir eine glänzende Geschichte der Inkulturation des
Evangeliums in den Missionsländern. Es gab und es gibt Salesianer, die sich vollkommen in
die Völker hineinbegeben haben, indem sie ihre Sprache erlernten, ihre Weltsicht wieder
aufbauten, ihre Traditionen und Gebräuche sammelten, Grammatiken und Wörterbücher
erarbeiteten, ihren Landbesitz und ihre Organisation verteidigten und Vereinigungen von
eingeborenen Volksgruppen gründeten. Es ist eine Geschichte, auf die wir stolz sein sollen.
Ihnen gehört unsere Anerkennung, unsere Hochachtung und Bewunderung und unsere
Dankbarkeit. Dennoch wollte ich in diesem Brief besonders das Thema der Inkulturation
angehen, nicht so sehr aus der Sicht des Evangeliums, sondern vielmehr des Charismas, um
anzuzeigen, dass auf jedem Kontinent (Europa, Amerika, Asien, Afrika, Ozeanien und auf
dem „digitalen Kontinent“), in jedem Kontext (sozial, politisch, kulturell und religiös) und in
jedem Typus von Werk (der formalen oder informalen Erziehung, der primären, sekundären
oder universitären Bildung, der Evangelisierung oder der Mission oder auch der sozialen
Förderung) unser Charisma inkulturiert werden muss. Darum habe ich mich bemüht, die in
seinen „Ricordi“ an die ersten Missionare von Don Boscos selbst angegebenen Kriterien
herauszuarbeiten. Weder unsere Zielgruppen, noch unsere Sendung, noch unsere Methoden
105 Vgl. JOHANNES PAUL II:, Enzyklika ECCLESIA DE EUCHARISTIA über die Eucharistie in ihrer
Beziehung zur Kirche; 17.04.2003, 53-58.
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sind für uns optional. Sie wurden uns als anzunehmendes, zu bewahrendes und weiter zu
entwickelndes Erbe anvertraut.
Ich möchte gern schließen mit zwei aussagekräftigen und anspruchsvollen Texten des
nachsynodalen Schreibens „Vita Consecrata“106, das gerade von der gegenseitigen
Bereicherung zwischen Inkulturation und Charisma spricht und dabei sagt: „Die
Herausforderung der Inkulturation wird von den Personen des geweihten Lebens als Appell
zu einem fruchtbaren Zusammenwirken mit der Gnade bei der Annäherung an die
verschiedenen Kulturen aufgegriffen. Voraussetzung dafür sind ernsthafte persönliche
Vorbereitung, reifes Unterscheidungsvermögen, treues Festhalten an den unverzichtbaren
Kriterien für die Rechtgläubigkeit in der Lehre sowie für die Authentizität und kirchliche
Gemeinschaft. Gestützt auf das Charisma der Stifter und Stifterinnen haben viele Personen
des geweihten Lebens es verstanden, den verschiedenen Kulturen in der Verhaltensweise Jesu
nahezukommen, der „sich entäußerte und wurde wie ein Sklave“ (Phil 2,7), und in
geduldigem und mutigem Bemühen um Dialog haben sie nützliche Kontakte zu den
verschiedensten Völkern hergestellt und dabei allen den Weg zum Heil verkündet“ (VC 79).
Und im folgenden Artikel heißt es ergänzend: „Eine echte Inkulturation wird ihrerseits den
Personen des geweihten Lebens helfen, entsprechend dem Charisma ihres Instituts und dem
Wesen der Menschen, mit denen sie in Kontakt treten, die Radikalität des Evangeliums zu
leben. Aus solch einer fruchtbaren Beziehung gehen Lebensweisen und pastorale Methoden
hervor, die sich als echter Reichtum für das ganze Institut werden erweisen können, wenn sich
deren Übereinstimmung mit dem vom Stifter vorgesehenen Charisma und mit dem Einheit
stiftenden Wirken des Heiligen Geistes ergibt“ (VC 80).
Zusammen mit euch beginne ich dieses Triennium der Vorbereitung auf die
Zweihundertjahrfeier der Geburt Don Boscos, die für uns alle eine spirituelle, missionarische
und charismatische Wiedergeburt sein soll. Maria, der Helferin der Christen, unserer Mutter
und Erzieherin, empfehle ich alle und einen jeden von euch.
Don Pascual Chávez Villanueva
Generaloberer
106 JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben VITA CONSECRATA über das geweihte
Leben und seine Sendung in Kirche und Welt, 25. März 1996, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 125, hg.
vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1996.
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