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Der Heilige Stuhl
APOSTOLISCHES SCHREIBEN
GAUDETE ET EXSULTATE
DES HEILIGEN VATERS
PAPST FRANZISKUS
ÜBER DEN RUF ZUR HEILIGKEIT IN DER WELT VON HEUTE
1. »Freut euch und jubelt« (Mt 5,12), sagt Jesus denen, die um seinetwillen verfolgt oder
gedemütigt werden. Der Herr fordert alles; was er dafür anbietet, ist wahres Leben, das Glück, für
das wir geschaffen wurden. Er will, dass wir heilig sind, und erwartet mehr von uns, als dass wir
uns mit einer mittelmäßigen, verwässerten, flüchtigen Existenz zufriedengeben. Der Ruf zur
Heiligkeit ist nämlich von den ersten Seiten der Bibel an auf verschiedene Weise präsent. So
erging die Aufforderung des Herrn an Abraham: »Geh vor mir und sei untadelig!« (Gen 17,1).
2. Es soll hier nicht um eine Abhandlung über die Heiligkeit gehen, mit vielen Definitionen und
Unterscheidungen, die dieses wichtige Thema bereichern könnten, oder mit Analysen, die über
die Mittel der Heiligung anzustellen wären. Mein bescheidenes Ziel ist es, den Ruf zur Heiligkeit
einmal mehr zum Klingen zu bringen und zu versuchen, ihn im gegenwärtigen Kontext mit seinen
Risiken, Herausforderungen und Chancen Gestalt annehmen zu lassen. Denn der Herr hat jeden
von uns erwählt, damit wir in der Liebe »heilig und untadelig leben vor ihm« (Eph 1,4).
ERSTES KAPITEL
DER RUF ZUR HEILIGKEIT

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Die Heiligen, die uns ermutigen und begleiten
3. Im Hebräerbrief werden verschiedene Zeugen genannt, die uns ermutigen sollen, »mit
Ausdauer in dem Wettkampf [zu] laufen, der vor uns liegt« (12,1). Die Rede ist von Abraham,
Sara, Mose, Gideon und einigen anderen (vgl. Kapitel 11); vor allem werden wir eingeladen, zu
erkennen, dass wir »eine solche Wolke von Zeugen um uns haben« (12,1), die uns dazu
anspornen, auf unserem Weg nicht stehen zu bleiben, und uns ermutigen, weiter dem Ziel
entgegen zu gehen. Unter ihnen sind vielleicht unsere eigene Mutter, eine Großmutter oder
andere Menschen, die uns nahestehen (vgl. 2 Tim 1,5). Vielleicht war ihr Leben nicht immer
perfekt, aber trotz aller Fehler und Schwächen gingen sie weiter voran und gefielen dem Herrn.
4. Die Heiligen, die bereits in der Gegenwart Gottes sind, unterhalten mit uns Bande der Liebe und
der Gemeinschaft. Das Buch der Offenbarung des Johannes bezeugt dies, wenn es von den
Märtyrern spricht, die für uns eintreten: Ich sah »unter dem Altar die Seelen aller, die
hingeschlachtet worden waren wegen des Wortes Gottes und wegen des Zeugnisses, das sie
abgelegt hatten. Sie riefen mit lauter Stimme und sagten: Wie lange zögerst du noch, Herr, du
Heiliger und Wahrhaftiger, Gericht zu halten?« (6,9-10). Wir können sagen: »Wir sind von den
Freunden Gottes umgeben, geleitet und geführt. [...] Ich brauche nicht allein zu tragen, was ich
wahrhaftig allein nicht tragen könnte. Die Schar der Heiligen Gottes schützt und stützt und trägt
mich.«[1]
5. In den Selig- und Heiligsprechungsprozessen werden neben den Zeichen eines heroischen
Tugendgrades und der Hingabe des Lebens im Martyrium auch diejenigen Fälle berücksichtigt, in
denen eine bis zum Tod durchgehaltene Aufopferung des eigenen Lebens für andere erfolgt ist.
Diese Hingabe ist Ausdruck einer vorbildlichen Nachahmung Christi und der Bewunderung der
Gläubigen würdig.[2] Erinnern wir uns zum Beispiel an die selige Maria Gabriela Sagheddu, die ihr
Leben für die Einheit der Christen aufopferte.
Die Heiligen von nebenan
6. Denken wir nicht nur an die, die bereits selig- oder heiliggesprochen wurden. Der Heilige Geist
verströmt Heiligkeit überall, in das ganze heilige gläubige Gottesvolk hinein, denn es hat Gott
gefallen, »die Menschen nicht einzeln und unabhängig von aller wechselseitigen Verbindung zu
heiligen und zu retten, sondern sie zu einem Volke zu machen, das ihn in Wahrheit anerkennen
und ihm in Heiligkeit dienen soll«.[3] Der Herr hat in der Heilsgeschichte ein Volk gerettet. Es gibt
keine vollständige Identität ohne Zugehörigkeit zu einem Volk. Deshalb kann sich niemand allein,
als isoliertes Individuum, retten, sondern Gott zieht uns an, wobei er das komplexe Geflecht
zwischenmenschlicher Beziehungen berücksichtigt, das der menschlichen Gemeinschaft
innewohnt: Gott wollte in eine soziale Dynamik eintreten, in die Dynamik eines Volkes.

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3
7. Es gefällt mir, die Heiligkeit im geduldigen Volk Gottes zu sehen: in den Eltern, die ihre Kinder
mit so viel Liebe erziehen, in den Männern und Frauen, die arbeiten, um das tägliche Brot nach
Hause zu bringen, in den Kranken, in den älteren Ordensfrauen, die weiter lächeln. In dieser
Beständigkeit eines tagtäglichen Voranschreitens sehe ich die Heiligkeit der streitenden Kirche.
Oft ist das die Heiligkeit „von nebenan“, derer, die in unserer Nähe wohnen und die ein
Widerschein der Gegenwart Gottes sind, oder, um es anders auszudrücken, „die Mittelschicht der
Heiligkeit“.[4]
8. Lassen wir uns anregen von den Zeichen der Heiligkeit, die uns der Herr durch die einfachsten
Glieder dieses Volkes schenkt, das auch teilnimmt »an dem prophetischen Amt Christi, in der
Verbreitung seines lebendigen Zeugnisses vor allem durch das Leben in Glauben und
Liebe«.[5] Denken wir mit der heiligen Teresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein) daran, dass
viele von ihnen die Gestalter der wahren Geschichte sind: »Aus der dunkelsten Nacht treten die
größten Propheten – Heiligengestalten hervor. Aber zum großen Teil bleibt der gestaltende Strom
des mystischen Lebens unsichtbar. Sicherlich werden die entscheidenden Wendungen in der
Weltgeschichte wesentlich mitbestimmt durch Seelen, von denen kein Geschichtsbuch etwas
meldet. Und welchen Seelen wir die entscheidenden Wendungen in unserem persönlichen Leben
verdanken, das werden wir auch erst an dem Tage erfahren, an dem alles Verborgene offenbar
wird.«[6]
9. Die Heiligkeit ist das schönste Gesicht der Kirche. Aber auch außerhalb der Katholischen
Kirche und in sehr unterschiedlichen Umgebungen weckt der Geist »Zeichen seiner Gegenwart,
die selbst den Jüngern Christi helfen«.[7] Im Übrigen erinnerte uns der heilige Johannes Paul II.
daran, dass »das Zeugnis für Christus bis hin zum Blutvergießen […] zum gemeinsamen Erbe von
Katholiken, Orthodoxen, Anglikanern und Protestanten geworden«[8] ist. Bei der schönen
ökumenischen Gedächtnisfeier im Jubiläumsjahr 2000 im Kolosseum sagte er, dass die Märtyrer
»ein Erbe [sind], das lauter spricht als die Faktoren der Trennung«.[9]
Der Herr ruft
10. All dies ist wichtig. Was ich jedoch mit diesem Schreiben in Erinnerung rufen möchte, ist vor
allem der Ruf zur Heiligkeit, den der Herr an jeden und jede von uns richtet, den Ruf, den er auch
an dich richtet: »Seid heilig, weil ich heilig bin« (Lev 11,44; 1 Petr 1,16). Das Zweite Vatikanische
Konzil hat das sehr deutlich hervorgehoben: »Mit so reichen Mitteln zum Heile ausgerüstet, sind
alle Christgläubigen in allen Verhältnissen und in jedem Stand je auf ihrem Wege vom Herrn
berufen zu der Vollkommenheit in Heiligkeit, in der der Vater selbst vollkommen ist.«[10]
11. »Je auf ihrem Wege«, sagt das Konzil. Es geht also nicht darum, den Mut zu verlieren, wenn
man Modelle der Heiligkeit betrachtet, die einem unerreichbar erscheinen. Es gibt Zeugnisse, die

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als Anregung und Motivation hilfreich sind, aber nicht als zu kopierendes Modell. Das könnte uns
nämlich sogar von dem einzigartigen und besonderen Weg abbringen, den der Herr für uns
vorgesehen hat. Worauf es ankommt, ist, dass jeder Gläubige seinen eigenen Weg erkennt und
sein Bestes zum Vorschein bringt, das, was Gott so persönlich in ihn hineingelegt hat (vgl. 1 Kor
12,7), und nicht, dass er sich verausgabt, indem er versucht, etwas nachzuahmen, das gar nicht
für ihn gedacht war. Wir sind alle aufgerufen, Zeugen zu sein, aber es gibt »viele existentielle
Weisen der Zeugenschaft«.[11] Als der große heilige Mystiker Johannes vom Kreuz seinen
Geistlichen Gesang schrieb, zog er es fürwahr vor, feste allgemeingültige Regeln zu vermeiden,
und erklärte, dass seine Verse so geschrieben seien, dass jeder sie »gemäß seiner
Eigenart«[12] nutzen könne. Denn das göttliche Leben teilt sich »den einen auf diese, den
anderen auf jene Weise«[13] mit.
12. In Bezug auf diese verschiedenen Weisen möchte ich eigens betonen, dass sich der
„weibliche Genius“ auch in weiblichen Stilen der Heiligkeit manifestiert, die unentbehrlich sind, um
die Heiligkeit Gottes in dieser Welt widerzuspiegeln. Gerade auch in Zeiten, in denen die Frauen
stark eingeschränkt waren, hat der Heilige Geist Heilige erweckt, deren Leuchtkraft zu neuen
geistlichen Dynamiken und wichtigen Reformen in der Kirche geführt hat. Wir können hier etwa die
heilige Hildegard von Bingen, die heilige Birgitta von Schweden, die heilige Katharina von Siena,
die heilige Teresa von Ávila oder die heilige Thérèse von Lisieux nennen. Aber ich möchte hier
besonders auch an so viele unbekannte oder vergessene Frauen erinnern, die, jede auf ihre
eigene Art und Weise, Familien und Gemeinschaften mit der Kraft ihres Zeugnisses getragen und
verwandelt haben.
13. Das sollte jeden und jede dazu anregen und ermutigen, alles zu geben, um auf den
einzigartigen und unwiederholbaren Entwurf hin zu wachsen, den Gott von Ewigkeit her für ihn
oder sie wollte: »Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du
aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt« (Jer 1,5).
Auch für dich
14. Um heilig zu sein, muss man nicht unbedingt Bischof, Priester, Ordensmann oder Ordensfrau
sein. Oft sind wir versucht zu meinen, dass die Heiligkeit nur denen vorbehalten sei, die die
Möglichkeit haben, sich von den gewöhnlichen Beschäftigungen fernzuhalten, um viel Zeit dem
Gebet zu widmen. Es ist aber nicht so. Wir sind alle berufen, heilig zu sein, indem wir in der Liebe
leben und im täglichen Tun unser persönliches Zeugnis ablegen, jeder an dem Platz, an dem er
sich befindet. Bist du ein Gottgeweihter oder eine Gottgeweihte? Sei heilig, indem du deine
Hingabe freudig lebst. Bist du verheiratet? Sei heilig, indem du deinen Mann oder deine Frau
liebst und umsorgst, wie Christus es mit der Kirche getan hat. Bist du ein Arbeiter? Sei heilig,
indem du deine Arbeit im Dienst an den Brüdern und Schwestern mit Redlichkeit und

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Sachverstand verrichtest. Bist du Vater oder Mutter, Großvater oder Großmutter? Sei heilig, indem
du den Kindern geduldig beibringst, Jesus zu folgen. Hast du eine Verantwortungsposition inne?
Sei heilig, indem du für das Gemeinwohl kämpfst und auf deine persönlichen Interessen
verzichtest.[14]
15. Lass zu, dass die Taufgnade in dir Frucht bringt auf einem Weg der Heiligkeit. Lass zu, dass
alles für Gott offen ist, und dazu entscheide dich für ihn, erwähle Gott ein ums andere Mal neu.
Verlier nicht den Mut, denn du besitzt die Kraft des Heiligen Geistes, um das möglich zu machen.
Im Grunde ist die Heiligkeit die Frucht des Heiligen Geistes in deinem Leben (vgl. Gal 5,22-23).
Wenn du die Versuchung verspürst, dich in deiner Schwäche zu verstricken, dann richte deine
Augen auf den Gekreuzigten und sage: „Herr, ich bin ein armseliger Mensch, aber du kannst das
Wunder vollbringen, mich ein wenig besser zu machen.“ In der Kirche, die heilig ist und zugleich
aus Sündern besteht, findest du alles, was du brauchst, um auf dem Weg zur Heiligkeit zu
wachsen. Der Herr hat sie mit reichen Gaben beschenkt: mit dem Wort, den Sakramenten, den
Heiligtümern, dem Leben der Gemeinschaften, dem Zeugnis der Heiligen und mit einer vielfältigen
Schönheit, die aus der Liebe zum Herrn kommt, »wie eine Braut, die ihr Geschmeide anlegt« (Jes
61,10).
16. Diese Heiligkeit, zu der der Herr dich ruft, wächst und wächst durch kleine Gesten. Eine Frau
geht beispielsweise auf den Markt zum Einkaufen, trifft dabei eine Nachbarin, beginnt ein
Gespräch mit ihr, und dann wird herumkritisiert. Trotzdem sagt diese Frau innerlich: „Nein, ich
werde über niemanden schlecht reden.“ Das ist ein Schritt hin zur Heiligkeit. Zu Hause möchte ihr
Kind dann über seine Phantasien sprechen, und obwohl sie müde ist, setzt sie sich zu ihm und
hört ihm mit Geduld und Liebe zu. Das ist ein weiteres Opfer, das heilig macht. Dann erlebt sie
etwas Beängstigendes, aber sie erinnert sich an die Liebe der Jungfrau Maria, nimmt den
Rosenkranz und betet gläubig. Das ist ein weiterer Weg der Heiligkeit. Dann geht sie aus dem
Haus, trifft einen Armen und bleibt stehen, um liebevoll mit ihm zu reden. Das ist ein weiterer
Schritt.
17. Manchmal stellt einen das Leben vor größere Herausforderungen und durch sie lädt uns der
Herr zu neuen Veränderungen ein, die es ermöglichen, dass seine Gnade in unserer Existenz
deutlicher offenbar wird, »damit wir Anteil an seiner Heiligkeit gewinnen« (Hebr 12,10). Ein
anderes Mal geht es nur darum, etwas, das wir bereits tun, auf eine vollkommenere Art und Weise
zu tun: »Es gibt Eingebungen, die nur auf eine außergewöhnliche Vollkommenheit gewöhnlicher
Übungen des christlichen Lebens hinzielen.«[15] Als Kardinal François-Xavier Nguyên Van Thuân
im Gefängnis saß, verzichtete er darauf, sich in Erwartung seiner Freilassung aufzureiben. Er
entschied: »Ich lebe in diesem Augenblick und werde ihn mit Liebe füllen«; und die Art und Weise,
in der dies konkret wird, ist folgende: »Nütze jeden Tag die Gelegenheit, um kleine Dinge in
großartiger Weise zu erledigen.«[16]
18. So verleihen wir durch den Anstoß der göttlichen Gnade mit vielen Gesten jener Heiligkeit

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Gestalt, die Gott uns zugedacht hat, aber nicht als sich selbst genügende Wesen, sondern »als
gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes« (1 Petr 4,10). Die neuseeländischen Bischöfe
haben uns gezeigt, dass es möglich ist, mit der bedingungslosen Liebe des Herrn zu lieben, weil
der Auferstandene sein machtvolles Leben mit unserem zerbrechlichen Leben teilt: »Seine Liebe
kennt keine Grenzen, und einmal gewährt, wurde sie nie zurückgenommen. Sie war
bedingungslos und blieb treu. So zu lieben ist nicht einfach, weil wir oft so schwach sind. Aber
gerade der Versuch, so zu lieben, wie Christus uns geliebt hat, zeigt, dass Christus sein eigenes
Leben als Auferstandener mit uns teilt. Auf diese Weise zeugt unser Leben von seiner Wirkmacht,
selbst inmitten menschlicher Schwäche.«[17]
Deine Sendung in Christus
19. Für einen Christen ist es unmöglich, an seine eigene Sendung auf Erden zu denken, ohne sie
als einen Weg der Heiligkeit zu begreifen, denn das »ist es, was Gott will: eure Heiligung«
(1 Thess 4,3). Jeder Heilige ist eine Sendung; er ist ein Entwurf des Vaters, um zu einem
bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte einen Aspekt des Evangeliums widerzuspiegeln und ihm
konkrete Gestalt zu verleihen.
20. Diese Sendung hat ihren vollen Sinn in Christus und kann nur von ihm her verstanden werden.
Im Tiefsten bedeutet Heiligkeit, in Einheit mit ihm die Geheimnisse seines Lebens zu leben. Sie
besteht darin, sich auf einzigartige und persönliche Weise mit dem Tod und der Auferstehung des
Herrn zu verbinden, ständig mit ihm zu sterben und mit ihm aufzuerstehen. Es kann aber auch
beinhalten, in der eigenen Existenz verschiedene Aspekte des irdischen Lebens Jesu
nachzubilden: sein verborgenes Leben, sein Leben in der Gemeinschaft, seine Nähe zu den
Geringsten, seine Armut und andere Erscheinungsformen seiner Hingabe aus Liebe. Die
Betrachtung dieser Geheimnisse, wie sie der heilige Ignatius von Loyola vorgeschlagen hat, führt
uns dazu, sie in unseren Entscheidungen und Haltungen immer mehr zu verwirklichen.[18] Denn
»im Leben Jesu ist alles [...] Zeichen seines innersten Geheimnisses«,[19] »das ganze Leben
Christi ist [...] Offenbarung des Vaters«,[20] »das ganze Leben Christi ist
Erlösungsgeheimnis«,[21] »das ganze Leben Christi ist ein Mysterium der erneuten
Zusammenfassung von allem unter ein Haupt«[22] und »alles, was Christus gelebt hat, lässt er
uns in ihm leben und er lebt es in uns«.[23]
21. Der Heilsplan des Vaters ist Christus, und wir in ihm. Letztendlich ist es Christus, der in uns
liebt, denn Heiligkeit ist »nichts anderes als die in Fülle gelebte Liebe«.[24] Deshalb ist das Maß
der Heiligkeit durch die Gestalt gegeben, die Christus in uns annimmt, dadurch, wie sehr wir in der
Kraft des Heiligen Geistes unser ganzes Leben nach seinem Leben formen.[25] So ist jeder
Heilige eine Botschaft, die der Heilige Geist aus dem Reichtum Jesu Christi schöpft und seinem
Volk schenkt.

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22. Um zu erkennen, welches Wort der Herr durch einen Heiligen sagen will, ist es nicht ratsam,
sich mit Details aufzuhalten, denn es kann da auch Fehler und Schwächen geben. Nicht alles,
was ein Heiliger sagt, ist dem Evangelium vollkommen treu, nicht alles, was er tut, ist authentisch
oder perfekt. Was wir betrachten müssen, ist die Gesamtheit seines Lebens, sein ganzer Weg der
Heiligung, jene Gestalt, die etwas von Jesus Christus widerspiegelt und die zum Vorschein
kommt, wenn es gelingt, den Sinn der Gesamtheit seiner Person auszumachen.[26]
23. Das ist ein starker Aufruf an uns alle. Auch du musst dein Leben im Ganzen als eine Sendung
begreifen. Versuche dies, indem du Gott im Gebet zuhörst und die Zeichen recht deutest, die er
dir gibt. Frage immer den Heiligen Geist, was Jesus von dir in jedem Moment deiner Existenz und
bei jeder Entscheidung, die du treffen musst, erwartet, um herauszufinden, welchen Stellenwert es
für deine Sendung hat. Und erlaube dem Geist, in dir jenes persönliche Geheimnis zu formen, das
Jesus Christus in der Welt von heute widerscheinen lässt.
24. Hoffentlich kannst du erkennen, was dieses Wort ist, diese Botschaft Jesu, die Gott der Welt
mit deinem Leben sagen will. Lass dich verwandeln, lass dich vom Geist erneuern, damit dies
möglich wird und damit deine wertvolle Sendung nicht scheitert. Der Herr wird sie auch inmitten all
deiner Fehler und schlechten Momente zur Vollendung führen, wenn du nur den Weg der Liebe
nicht verlässt und immer offen bleibst für sein übernatürliches Wirken, welches reinigt und
erleuchtet.
Heiligmachendes Tun
25. Wie man Christus nicht verstehen kann ohne das Reich, das zu bringen er gekommen war, so
ist auch deine eigene Sendung untrennbar mit dem Aufbau jenes Reiches verbunden: »Sucht
aber zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit« (Mt 6,33). Deine Identifikation mit Christus und
seinen Wünschen impliziert das Bemühen, mit ihm das Reich der Liebe, der Gerechtigkeit und des
Friedens für alle zu errichten. Christus selbst will es mit dir leben, in all den Anstrengungen oder
Entsagungen, die es mit sich bringt, wie auch in den Freuden und der Fruchtbarkeit, die es für
dich bereithält. Deshalb wirst du dich nicht heiligen, ohne dich mit Leib und Seele hinzugeben, um
in diesem Bemühen dein Bestes zu geben.
26. Es ist nicht gesund, die Stille zu lieben und die Begegnung mit anderen zu meiden, Ruhe zu
wünschen und Aktivität abzulehnen, das Gebet zu suchen und den Dienst zu verachten. Alles
kann als Teil der eigenen Existenz in dieser Welt akzeptiert und integriert werden und sich in den
Weg der Heiligung einfügen. Wir sind aufgerufen, die Kontemplation auch inmitten des Handelns
zu leben, und wir heiligen uns in der verantwortlichen und großherzigen Ausübung der eigenen
Sendung.

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27. Kann der Heilige Geist uns etwa dazu anspornen, eine Mission zu erfüllen, und uns
gleichzeitig auffordern, vor ihr zu flüchten oder uns nicht ganz hinzugeben, um den inneren
Frieden zu bewahren? Manchmal sind wir jedenfalls versucht, die pastorale Hingabe oder das
Engagement in der Welt als zweitrangig zu betrachten, als wären sie „Ablenkungen“ auf dem Weg
der Heiligung und des inneren Friedens. Man vergisst dabei, dass »das Leben nicht eine Mission
hat, sondern eine Mission ist«.[27]
28. Ein Einsatz, der von der Angst, vom Stolz oder vom Bedürfnis, gut dazustehen und zu
herrschen, motiviert ist, wird sicherlich nicht heiligend sein. Die Herausforderung besteht darin, die
eigene Selbsthingabe so zu leben, dass die Bemühungen einen dem Evangelium entsprechenden
Sinn haben und uns immer mehr Jesus Christus angleichen. Deshalb ist es üblich, z.B. von einer
Spiritualität des Katecheten, von einer Spiritualität des Diözesanklerus, von einer Spiritualität der
Arbeit zu sprechen. Aus demselben Grund schloss ich Evangelii gaudium mit einer Spiritualität der
Mission, Laudato si’ mit einer ökologischen Spiritualität und Amoris laetitia mit einer Spiritualität
des Familienlebens.
29. Das bedeutet nicht, die Momente der Ruhe, der Einsamkeit und der Stille vor Gott zu
verachten. Ganz im Gegenteil. Die ständig neuen technologischen Errungenschaften, die
Attraktivität des Reisens, die unzähligen Konsumangebote lassen nämlich dem Erklingen der
Stimme Gottes manchmal keinen Raum. Alles füllt sich in immer größerer Geschwindigkeit mit
Worten, oberflächlichem Genuss und Lärm. Dort herrscht keine Freude, sondern die
Unzufriedenheit derer, die nicht wissen, wofür sie leben. Wie können wir da nicht erkennen, dass
wir dieses hektische Rennen stoppen müssen, um einen persönlichen Raum wiederzuerlangen,
was manchmal schmerzhaft, aber letztlich immer fruchtbar ist, in dem ein aufrichtiger Dialog mit
Gott aufgenommen wird? Irgendwann werden wir uns mit der Wahrheit über uns selbst
konfrontieren müssen, um sie vom Herrn durchdringen zu lassen, und das gelingt nicht immer,
»wenn man nicht auf einmal an den Rand des Abgrunds, der schwersten Versuchung gerät,
ausgesetzt auf den Klippen der Verlassenheit, ausgesetzt auf einem einsamen Gipfel, wo man
den Eindruck hat, völlig im Stich gelassen zu sein«.[28] Auf diese Weise finden wir die wichtigen
Beweggründe, die uns antreiben, unsere Aufgaben bis in die Tiefe zu leben.
30. Die gleichen Ablenkungsmöglichkeiten, die das moderne Leben überfluten, führen auch zu
einer Verabsolutierung der Freizeit, in der wir die Geräte, die uns Unterhaltung oder kurzlebige
Vergnügen bieten, uneingeschränkt nutzen können.[29] Die Konsequenz ist, dass unsere
eigentliche Sendung darunter leidet, dass das Engagement schwächer wird und der großzügige
und bereitwillige Dienst nachzulassen beginnt. Dies entstellt das spirituelle Leben. Kann denn ein
spiritueller Eifer gesund sein, der mit einer Trägheit in der Verkündigung des Glaubens oder im
Dienst an den anderen einhergeht?
31. Wir brauchen einen Geist der Heiligkeit, der sowohl die Einsamkeit als auch den Dienst, die
Innerlichkeit wie auch den Einsatz für die Verkündigung durchdringt, damit jeder Moment ein

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Ausdruck hingebungsvoller Liebe unter den Augen Gottes ist. So werden all diese Momente zu
Stufen auf unserem Weg der Heiligung.
Lebendiger, menschlicher
32. Hab keine Angst vor der Heiligkeit. Sie wird dir nichts an Kraft, Leben oder Freude nehmen.
Ganz im Gegenteil, denn du wirst dabei zu dem Menschen werden, an den der Vater dachte, als
er dich erschaffen hat, und du wirst deinem eigenen Wesen treu bleiben. Von Gott abzuhängen
befreit uns von der Sklaverei und lässt uns unsere Würde erkennen. Dies wird an der heiligen
Josephine Bakhita sichtbar. Sie wurde »im zarten Alter von sieben Jahren als Sklavin verkauft und
hatte unter grausamen Herren schwere Leiden zu ertragen. Dennoch verstand sie die tiefe
Wahrheit, dass Gott, und nicht der Mensch, der wahre Herr eines jeden Menschen und
Menschenlebens ist. Diese Erfahrung wurde für diese demütige Tochter Afrikas zur Quelle großer
Weisheit.«[30]
33. In dem Maß, in dem er sich heiligt, wird jeder Christ umso fruchtbarer für die Welt. Die
Bischöfe Westafrikas haben uns gelehrt: »Im Geist der Neuevangelisierung sind wir berufen,
dadurch evangelisiert zu werden und zu evangelisieren, dass ihr Getauften alle befähigt werdet,
eure Rolle als Salz der Erde und Licht der Welt zu übernehmen, wo immer ihr seid.«[31]
34. Fürchte dich nicht davor, höhere Ziele anzustreben, dich von Gott lieben und befreien zu
lassen. Fürchte dich nicht davor, dich vom Heiligen Geist führen zu lassen. Die Heiligkeit macht
dich nicht weniger menschlich, denn sie ist die Begegnung deiner Schwäche mit der Kraft der
Gnade. Im Grunde genommen gibt es, wie Léon Bloy sagte, »nur eine Traurigkeit im Leben: kein
Heiliger zu sein«.[32]
ZWEITES KAPITEL
ZWEI SUBTILE FEINDE DER HEILIGKEIT
35. In diesem Rahmen möchte ich die Aufmerksamkeit auf zwei Verfälschungen der Heiligkeit
lenken, die uns vom Weg abbringen könnten: der Gnostizismus und der Pelagianismus. Es sind
zwei Häresien, die in den ersten christlichen Jahrhunderten aufgekommen sind, die aber weiterhin
von alarmierender Aktualität sind. Auch heute lassen sich die Herzen vieler Christen, vielleicht
ohne dass sie es bemerken, von diesen trügerischen Angeboten verführen. In ihnen kommt ein als

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katholische Wahrheit getarnter anthropozentrischer Immanentismus zum
Ausdruck.[33] Betrachten wir diese zwei Formen vermeintlicher doktrineller oder disziplinarischer
Sicherheit, »die Anlass gibt zu einem narzisstischen und autoritären Elitebewusstsein, wo man,
anstatt die anderen zu evangelisieren, sie analysiert und bewertet und, anstatt den Zugang zur
Gnade zu erleichtern, die Energien im Kontrollieren verbraucht. In beiden Fällen existiert weder für
Jesus Christus noch für die Menschen ein wirkliches Interesse.«[34]
Der gegenwärtige Gnostizimus
36. Der Gnostizismus setzt einen im Subjektivismus eingeschlossenen Glauben voraus, »bei dem
einzig eine bestimmte Erfahrung oder eine Reihe von Argumentationen und Kenntnissen
interessiert, von denen man meint, sie könnten Trost und Licht bringen, wo aber das Subjekt
letztlich in der Immanenz seiner eigenen Vernunft oder seiner Gefühle eingeschlossen bleibt«.[35]
Ein Geist ohne Gott und ohne Fleisch
37. Gott sei Dank wurde im Laufe der Geschichte der Kirche sehr deutlich, dass die
Vollkommenheit der Menschen an ihrer Nächstenliebe gemessen wird, nicht an der Fülle
erworbener Daten und Kenntnisse. Die „Gnostiker“ unterliegen in diesem Punkt einem
Missverständnis und beurteilen die anderen ausgehend von der Überprüfung, ob sie in der Lage
sind, die Tiefe bestimmter Lehren zu verstehen. Sie stellen sich einen Geist ohne Menschwerdung
vor, der nicht in der Lage ist, das leidende Fleisch Christi in den anderen zu berühren, einen Geist,
der in das Korsett einer Enzyklopädie von Abstraktionen geschnürt wird. Indem sie das Geheimnis
entleiblichen, bevorzugen sie schließlich »eine[n] Gott[…] ohne Christus, eine[n] Christus ohne
Kirche, ein[e] Kirche ohne Volk«.[36]
38. Letztendlich handelt es sich um eine selbstgefällige Oberflächlichkeit: viel Bewegung an der
Oberfläche des Geistes, aber die Tiefe des Denkens bewegt sich nicht, noch wird sie angerührt.
Dennoch gelingt es, manche mit einer betrügerischen Faszination in den Bann zu ziehen, denn
das gnostische Gleichgewicht ist formal und vermeintlich unpersönlich und kann den Anschein
einer gewissen Harmonie oder einer allumfassenden Ordnung annehmen.
39. Aber geben wir acht. Ich beziehe mich nicht auf die Rationalisten, die Feinde des christlichen
Glaubens sind. Das hier kann innerhalb der Kirche vorkommen, ebenso sehr unter den Laien in
den Pfarreien wie unter denjenigen, die in Bildungszentren Philosophie oder Theologie lehren.
Denn es ist gerade den Gnostikern eigen zu glauben, dass sie mit ihren Erklärungen den ganzen
Glauben und das ganze Evangelium vollkommen verständlich machen können. Sie

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2.1 Page 11

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11
verabsolutieren ihre eigenen Theorien und verpflichten die anderen, sich den von ihnen genutzten
Argumentationen zu unterwerfen. Eine Sache ist der gesunde und demütige Gebrauch der
Vernunft, um über die theologische und moralische Lehre des Evangeliums nachzudenken; etwas
anderes ist es, danach zu streben, die Lehre Jesu auf eine kalte und harte Logik zu reduzieren,
die alles zu beherrschen sucht.[37]
Eine Lehre ohne Geheimnis
40. Der Gnostizismus ist eine der schlimmsten Ideologien. Er überbetont nämlich die Erkenntnis
oder eine bestimmte Erfahrung und hält gleichzeitig seine eigene Sicht der Wirklichkeit für
vollkommen. Auf diese Weise nährt sich diese Ideologie, vielleicht ohne es zu merken, von sich
selbst und wird noch verblendeter. Zuweilen wird sie besonders trügerisch, wenn sie sich als
entleiblichte Spiritualität tarnt. Denn der Gnostizismus will »von Natur aus dem Geheimnis die
Flügel stutzen«,[38] dem Geheimnis Gottes und seiner Gnade genauso wie dem Geheimnis des
Lebens der anderen.
41. Wenn jemand Antworten auf alle Fragen hat, zeigt er damit, dass er sich nicht auf einem
gesunden Weg befindet; möglicherweise ist er ein falscher Prophet, der die Religion zu seinem
eigenen Vorteil nutzt und in den Dienst seiner psychologischen und geistigen sinnlosen
Gedankenspiele stellt. Gott übersteigt uns unendlich, er ist immer eine Überraschung, und nicht
wir bestimmen, unter welchen geschichtlichen Umständen wir auf ihn treffen, denn Zeit und Ort
sowie Art und Weise der Begegnung hängen nicht von uns ab. Wer es ganz klar und deutlich
haben will, beabsichtigt, die Transzendenz Gottes zu beherrschen.
42. Genauso wenig kann man beanspruchen festzulegen, wo Gott nicht ist, weil er geheimnisvoll
im Leben jeder Person anwesend ist, im Leben eines jeden, so, wie er will; wir können dies mit
unseren vermeintlichen Gewissheiten nicht leugnen. Auch wenn jemandes Existenz eine
Katastrophe gewesen sein sollte, auch wenn wir ihn von Lastern und Süchten zerstört sehen, ist
Gott in seinem Leben da. Wenn wir uns mehr vom Geist als von unseren Überlegungen leiten
lassen, können und müssen wir den Herrn in jedem menschlichen Leben suchen. Dies ist Teil des
Mysteriums, das die gnostische Denkweise letztlich ablehnt, weil sie es nicht kontrollieren kann.
Die Grenzen der Vernunft
43. Es gelingt uns kaum, die Wahrheit, die wir vom Herrn empfangen haben, zu verstehen. Unter
größten Schwierigkeiten gelingt es uns, sie auszudrücken. Deshalb können wir nicht
beanspruchen, dass unsere Art, die Wahrheit zu verstehen, uns ermächtigt, eine strenge

2.2 Page 12

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12
Überwachung des Lebens der anderen vorzunehmen. Ich möchte daran erinnern, dass in der
Kirche unterschiedliche Arten und Weisen der Interpretation vieler Aspekte der Lehre und des
christlichen Lebens berechtigterweise koexistieren, die in ihrer Vielfalt »helfen, den äußerst
reichen Schatz des Wortes besser deutlich zu machen«. Gewiss, »denjenigen, die sich eine
monolithische, von allen ohne Nuancierungen verteidigte Lehre erträumen, mag das als
Unvollkommenheit und Zersplitterung erscheinen«.[39] Genau genommen haben einige
gnostische Strömungen die so konkrete Einfachheit des Evangeliums verachtet und versucht, den
trinitarischen und menschgewordenen Gott durch eine höhere Einheit zu ersetzen, in der sich die
reiche Vielfalt unserer Geschichte verflüchtigt hat.
44. In Wirklichkeit ist die Lehre, oder besser unser Verständnis und unsere Ausdrucksweise
derselben, »kein geschlossenes System, ohne Dynamiken, die Probleme, Fragen, Zweifel
hervorbringen können«. »Die Fragen unseres Volkes, seine Leiden, seine Auseinandersetzungen,
seine Träume, seine Kämpfe, seine Sorgen besitzen einen hermeneutischen Wert, den wir nicht
unbeachtet lassen dürfen, wenn wir das Prinzip der Menschwerdung ernst nehmen wollen. Seine
Fragen tragen dazu bei, dass wir uns Fragen stellen, seine Probleme stellen uns vor
Probleme.«[40]
45. Vielfach entsteht eine gefährliche Verwirrung: zu glauben, dass wir, weil wir etwas wissen oder
es mit einer bestimmten Logik erklären können, schon heilig, vollkommen, besser als die
„unwissende Masse“ sind. Der heilige Johannes Paul II. hat alle, die in der Kirche die Möglichkeit
einer höheren Bildung haben, vor der Versuchung gewarnt, ein »gewisse[s]
»Überlegenheitsgefühl gegenüber den anderen Gläubigen«[41] zu entwickeln. In Wirklichkeit
sollte das, was wir zu wissen glauben, immer ein Ansporn sein, auf die Liebe Gottes besser zu
antworten, denn »man lernt für das Leben: Theologie und Heiligkeit gehören untrennbar
zusammen«.[42]
46. Als der heilige Franz von Assisi sah, dass einige seiner Jünger in der Lehre unterrichteten,
wollte er die Versuchung des Gnostizismus unterbinden. Deshalb schrieb er dem heiligen
Antonius von Padua: »Es gefällt mir, dass du den Brüdern die heilige Theologie vorträgst, wenn
du nur nicht durch dieses Studium den Geist des Gebetes und der Hingabe auslöschst.«[43] Er
erkannte die Versuchung, die christliche Erfahrung in eine Ansammlung von geistigen
Gedankenspielen umzuwandeln, die uns letztlich von der Frische des Evangeliums entfernen. Der
heilige Bonaventura machte seinerseits darauf aufmerksam, dass die wahre christliche Weisheit
nicht von der Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten getrennt werden darf: »Die größte
Weisheit, die es geben kann, besteht darin, das fruchtbringend zu verteilen, was man zu geben
hat, das, was man eben empfangen hat, um es auszuteilen […] Deshalb ist, so wie die
Barmherzigkeit Freundin der Weisheit ist, der Geiz ihr Feind.«[44] »Es gibt Tätigkeiten, die, wenn
sie sich mit der Kontemplation verbinden, diese nicht behindern, sondern erleichtern, wie die
Werke der Barmherzigkeit und der Frömmigkeit.«[45]

2.3 Page 13

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13
Der gegenwärtige Pelagianismus
47. Der Gnostizismus hat zu einer weiteren alten Häresie geführt, die auch heute anzutreffen ist.
Im Laufe der Zeit begannen viele zu erkennen, dass es nicht die Erkenntnis ist, welche uns besser
oder heiliger macht, sondern das Leben, das wir führen. Das Problem ist, dass dies langsam auf
subtile Weise verfremdet wurde, so dass der gleiche Fehler der Gnostiker bloß verwandelt, aber
nicht überwunden wurde.
48. Denn einige begannen, die Macht, welche die Gnostiker dem Verstand beimaßen, dem
menschlichen Willen zuzuerkennen, der persönlichen Anstrengung. So kamen die Pelagianer und
die Semipelagianer auf. Es war nicht mehr der Verstand, der den Platz des Geheimnisses und der
Gnade einnahm, sondern der Wille. Man vergaß, dass »es nicht auf das Wollen und Laufen des
Menschen ankommt, sondern auf den sich erbarmenden Gott« (Röm 9,16), und dass »er uns
zuerst geliebt hat« (1 Joh 4,19).
Ein Wille ohne Demut
49. Diejenigen, die dieser pelagianischen oder semipelagianischen Mentalität entsprechen,
verlassen sich, auch wenn sie mit süßlichen Reden von der Gnade Gottes sprechen, »letztlich
einzig auf die eigenen Kräfte« und fühlen sich »den anderen überlegen […], weil sie bestimmte
Normen einhalten oder weil sie einem gewissen katholischen Stil der Vergangenheit
unerschütterlich treu sind«.[46] Wenn einige von ihnen sich an die Schwachen wenden und ihnen
sagen, dass man mit der Gnade Gottes alles kann, pflegen sie im Grunde die Idee zu vermitteln,
dass man alles mit dem menschlichen Willen kann, als ob dieser etwas Reines, Vollkommenes,
Allmächtiges wäre, zu dem die Gnade hinzukommt. Man gibt vor, nicht darum zu wissen, dass
»nicht alle alles können«,[47] und dass in diesem Leben die menschliche Hinfälligkeit nicht
vollständig und ein für alle Mal durch die Gnade geheilt wird.[48] Wie der heilige Augustinus lehrte,
lädt Gott in manchen Fällen ein, das zu tun, was man kann, und »das zu erbitten, was man nicht
kann«,[49] oder aber dem Herrn demütig zu sagen: »Gib, was du verlangst, dann verlange, was
du willst.«[50]
50. Wenn es keine aufrichtige, erlittene und durchbetete Anerkennung unserer Grenzen gibt, wird
die Gnade im Grunde daran gehindert, wirksam in uns tätig zu sein. Denn es wird ihr kein Raum
gelassen, um gegebenenfalls das Gut zu entwickeln, das zu einem ehrlichen und echten
Wachstumsprozess beiträgt.[51] Gerade weil sie unsere Natur voraussetzt, macht uns die Gnade
nicht auf einen Schlag zu Übermenschen. Diesen Anspruch zu erheben, hieße übermäßig auf uns
selbst zu vertrauen. In diesem Fall könnten unsere Haltungen, hinter der Rechtgläubigkeit

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14
versteckt, nicht dem entsprechen, was wir über die Notwendigkeit der Gnade behaupten; und wir
vertrauen in den Taten letztlich wenig auf sie. Denn wenn wir unsere konkrete und begrenzte
Wirklichkeit nicht erkennen, werden wir auch die wirklichen und möglichen Schritte nicht sehen,
die der Herr jeden Augenblick von uns erbittet, nachdem er uns mit seiner Gabe an sich gezogen
und befähigt hat. Die Gnade wirkt geschichtlich und ergreift und verwandelt uns üblicherweise
nach und nach.[52] Sollten wir diese geschichtliche und fortschreitende Art und Weise ablehnen,
könnten wir tatsächlich dazu kommen, sie zu verneinen und zu blockieren, auch wenn wir sie mit
unseren Worten preisen.
51. Als Gott sich an Abraham wendet, sagt er: »Ich bin Gott, der Allmächtige. Geh vor mir und sei
untadelig!« (Gen 17,1). Um untadelig sein zu können, wie es ihm wohlgefällt, müssen wir demütig
in seiner Gegenwart leben, eingehüllt in seine Herrlichkeit, wir müssen vereint mit ihm gehen und
seine beständige Liebe in unserem Leben erkennen. Wir müssen die Angst vor dieser Gegenwart
verlieren, die uns nur guttun kann. Es ist der Vater, der uns das Leben gegeben hat und uns so
sehr liebt. Wenn wir dies einmal akzeptieren und aufhören, unsere Existenz ohne ihn zu denken,
verschwindet die Drangsal der Einsamkeit (vgl. Ps 138,7). Und wenn wir Gott nicht mehr auf
Abstand halten und in seiner Gegenwart leben, werden wir zulassen können, dass er unsere
Herzen prüft, um zu erkennen, ob sie auf dem rechten Weg sind (Ps 139,23-24). So werden wir
den liebenden und vollkommenen Willen Gottes erkennen (vgl. Röm 12,1-2) und zulassen, dass
er uns wie ein Töpfer formt (vgl. Jes 29,16). Wir haben oft gesagt, dass Gott in uns wohnt, aber es
ist besser zu sagen, dass wir in ihm wohnen, dass er uns erlaubt, in seinem Licht und seiner Liebe
zu leben. Er ist unser Tempel: »Dieses erbitte ich: im Haus des Herrn zu wohnen alle Tage
meines Lebens« (Ps 27,4). »Besser ist ein einziger Tag in deinen Höfen als tausend andere« (Ps
84,11). In ihm sind wir geheiligt.
Eine oftmals vergessene Lehre der Kirche
52. Die Kirche hat wiederholt gelehrt, dass wir nicht durch unsere Werke oder unsere
Anstrengungen gerechtfertigt werden, sondern durch die Gnade des Herrn, der die Initiative
ergreift. Die Kirchenväter haben schon vor Augustinus mit Klarheit diese grundlegende
Überzeugung zum Ausdruck gebracht. Der heilige Johannes Chrysostomos sagte, dass Gott uns
die eigentliche Quelle aller Gaben eingießt, »bevor wir in den Kampf eingetreten sind«.[53] Der
heilige Basilius der Große unterstrich, dass der Gläubige sich nur in Gott rühmt, weil »er erkennt,
dass er der wahren Gerechtigkeit beraubt worden ist und dass er einzig durch den Glauben an
Christus gerechtfertigt wird«.[54]
53. Die zweite Synode von Orange lehrte mit sicherer Autorität, dass kein Mensch die Gabe der
göttlichen Gnade einfordern, verdienen oder käuflich erwerben kann und dass jede Mitwirkung mit
ihr vorausgehend von der derselben Gnade geschenkt ist: Sogar der Wunsch, rein zu sein, wird

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15
»durch die Eingießung und das Wirken des Heiligen Geistes in uns« geweckt.[55] Als das Konzil
von Trient später die Bedeutung unserer Mitwirkung für das geistige Wachstum betont hat,
bekräftigte es zugleich diese dogmatische Lehre: »Dass wir aber umsonst gerechtfertigt würden,
wird deshalb gesagt, weil nichts von dem, was der Rechtfertigung vorhergeht, ob Glaube oder
Werke, die Gnade der Rechtfertigung selbst verdient; „wenn sie nämlich Gnade ist, dann nicht
mehr aufgrund von Werken; sonst wäre (wie derselbe Apostel sagt) Gnade nicht mehr Gnade“
[Röm 11,6].«[56]
54. Der Katechismus der Katholischen Kirche erinnert uns auch daran, dass das Geschenk der
Gnade »über die Verstandes- und Willenskräfte des Menschen und jedes Geschöpfes
hinausgeht«,[57] denn »gegenüber Gott gibt es vonseiten des Menschen kein Verdienst im
eigentlichen Sinn. Zwischen ihm und uns besteht eine unermessliche Ungleichheit«.[58] Seine
Freundschaft übertrifft uns unendlich, sie kann von uns nicht mit unseren Taten erkauft werden,
und sie kann nur ein Geschenk seiner Liebesinitiative sein. Dies lädt uns dazu ein, in einer
freudigen Dankbarkeit für dieses Geschenk zu leben, das wir niemals verdienen werden, da
»nachdem jemand die Gnade schon besitzt, die schon empfangene Gnade nicht unter das
Verdienst fallen kann«.[59] Die Heiligen vermeiden es, das Vertrauen in ihre eigenen Handlungen
zu setzen: »Am Abend dieses Lebens werde ich mit leeren Händen vor dir erscheinen, denn ich
bitte dich nicht, Herr, meine Werke zu zählen. Alle unsere Gerechtigkeiten sind befleckt in deinen
Augen.«[60]
55. Dies ist eine der wichtigen, von der Kirche definitiv errungenen Überzeugungen, und sie
kommt im Wort Gottes so klar zum Ausdruck, dass sie unbestreitbar ist. So wie das oberste
Liebesgebot müsste diese Wahrheit unseren Lebensstil kennzeichnen. Sie speist sich aus dem
Herzen des Evangeliums und will, dass wir sie nicht nur geistig annehmen, sondern auch in eine
ansteckende Freude verwandeln. Wir werden aber das ungeschuldete Geschenk der
Freundschaft mit dem Herrn nicht mit Dankbarkeit feiern können, wenn wir nicht anerkennen, dass
auch unsere irdische Existenz und unsere natürlichen Fähigkeiten ein Geschenk sind. Uns tut es
not, »jubelnd einzuwilligen, dass unsere Wirklichkeit Gabe ist und dass wir auch unsere Freiheit
als Gnade annehmen. Dies ist heutzutage die Schwierigkeit in einer Welt, die glaubt, etwas als
Frucht der eigenen Originalität oder der Freiheit für sich selbst zu besitzen.«[61]
56. Nur ausgehend von der in Freiheit aufgenommenen und in Demut angenommenen Gabe
Gottes können wir mit unseren Bemühungen daran mitwirken, dass wir uns immer mehr
verwandeln lassen.[62] An erster Stelle steht, Gott anzugehören. Es geht darum, dass wir uns ihm
darbringen, der uns gegenüber die Initiative ergreift, und ihm unsere Fähigkeiten, unser
Engagement, unseren Kampf gegen das Böse und unsere Kreativität schenken, damit seine
ungeschuldete Gabe wachsen und sich in uns entwickeln kann: »Ich ermahne euch also, Brüder
und Schwestern, kraft der Barmherzigkeit Gottes, eure Leiber als lebendiges, heiliges und Gott
wohlgefälliges Opfer darzubringen« (Röm 12,1). Die Kirche hat schon immer gelehrt, dass allein
die Liebe das Wachstum im Leben der Gnade ermöglicht, denn »hätte [ich] die Liebe nicht, wäre

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16
ich nichts« (1 Kor 13,2).
Die Neopelagianer
57. Dennoch gibt es Christen, die einen anderen Weg gehen wollen: jenen der Rechtfertigung
durch die eigenen Kräfte, jenen der Anbetung des menschlichen Willens und der eigenen
Fähigkeit; das übersetzt sich in eine egozentrische und elitäre Selbstgefälligkeit, ohne wahre
Liebe. Dies tritt in vielen scheinbar unterschiedlichen Haltungen zutage: dem Gesetzeswahn, der
Faszination daran, gesellschaftliche und politische Errungenschaften vorweisen zu können, dem
Zurschaustellen der Sorge für die Liturgie, die Lehre und das Ansehen der Kirche, der mit der
Organisation praktischer Angelegenheiten verbundenen Prahlerei, oder der Neigung zu
Dynamiken von Selbsthilfe und ich-bezogener Selbstverwirklichung. Hierfür verschwenden einige
Christen ihre Kräfte und ihre Zeit, anstatt sich vom Geist auf den Weg der Liebe führen zu lassen,
sich für die Weitergabe der Schönheit und der Freude des Evangeliums zu begeistern und die
Verlorengegangenen in diesen unermesslichen Massen, die nach Christus dürsten, zu
suchen.[63]
58. Oftmals verwandelt sich das Leben der Kirche, dem Antrieb des Heiligen Geistes entgegen, in
ein Museumsstück oder in ein Eigentum einiger weniger. Dies geschieht, wenn einige christliche
Gruppierungen der Erfüllung bestimmter eigener Vorschriften, Gebräuche und Stile übermäßige
Bedeutung beimessen. Auf diese Weise pflegt man das Evangelium zu beschränken und
einzuschnüren und man nimmt ihm so seine fesselnde Einfachheit und sein Aroma. Es ist
vielleicht eine subtile Form des Pelagianismus, weil es das Leben der Gnade menschlichen
Strukturen zu unterwerfen scheint. Dies betrifft Gruppen, Bewegungen und Gemeinschaften, und
es erklärt, wieso sie oftmals mit einem intensiven Leben im Geist beginnen, aber später
versteinert enden ... oder verdorben.
59. Wenn wir denken, dass alles von der menschlichen Anstrengung abhängt, die durch
Vorschriften und kirchliche Strukturen gelenkt wird, verkomplizieren wir unbewusst das
Evangelium und werden wieder zu Sklaven eines Schemas, das wenige Poren für das Wirken der
Gnade offenlässt. Der heilige Thomas von Aquin hat uns daran erinnert, dass die von der Kirche
dem Evangelium hinzugefügten Gebote maßvoll eingefordert werden müssen, »um das Leben der
Gläubigen nicht beschwerlich zu machen«, weil sich sonst »unsere Religion in eine Sklaverei
verwandeln würde«.[64]
Die Zusammenfassung des Gesetzes

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17
60. Um dies zu vermeiden, ist es heilsam, oft daran zu erinnern, dass es eine Hierarchie der
Tugenden gibt, die uns einlädt, das Wesentliche zu suchen. Der Vorrang kommt den göttlichen
Tugenden zu, die Gott zum Gegenstand und Beweggrund haben. In ihrem Zentrum steht die
Liebe. Das, was wirklich zählt, sagt der der heilige Paulus, ist »der Glaube, der durch die Liebe
wirkt« (Gal 5,6). Wir sind aufgerufen, die Liebe aufmerksam zu pflegen: »Wer den andern liebt,
hat das Gesetz erfüllt […] Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes« (Röm 13,8.10). »Denn
das ganze Gesetz ist in dem einen (ení) Wort erfüllt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst« (Gal 5,14).
61. Mit anderen Worten: Inmitten des Dickichts von Geboten und Vorschriften schlägt Jesus eine
Bresche, die uns erlaubt, zwei Gesichter zu erkennen, das des Vaters und das des Bruders. Er
überreicht uns nicht zwei weitere Formeln oder Gebote. Er gibt uns zwei Angesichter oder besser
ein einziges, das Angesicht Gottes, das sich in vielen widerspiegelt. Denn in jedem Bruder oder in
jeder Schwester, besonders in dem oder der kleinsten, gebrechlichsten, wehrlosesten und
bedürftigsten, ist das Bild Gottes selbst gegenwärtig. Mit dieser verwundbaren Menschheit, die
ausgesondert wurde, wird nämlich der Herr am Ende der Zeit sein letztes Werk formen. Denn
»was bleibt, was ist wertvoll im Leben, welche Reichtümer schwinden nicht dahin? Sicher zwei:
der Herr und der Nächste. Diese beiden Reichtümer schwinden nicht dahin!«[65]
62. Möge der Herr die Kirche von den neuen Formen des Gnostizismus und des Pelagianismus
befreien, die sie auf ihrem Weg der Heiligkeit beschweren und aufhalten! Diese Irrwege nehmen
verschiedene Formen an, entsprechend dem jeweiligen Temperament und Charakter. Deshalb
ermahne ich jeden, sich zu fragen und vor Gott zu prüfen, auf welche Weise sie in seinem Leben
auftreten können.
DRITTES KAPITEL
IM LICHT DES MEISTERS
63. Es mag viele Theorien darüber geben, was die Heiligkeit ist, mit ausführlichen Erklärungen
und Unterscheidungen. Diese Reflexion kann nützlich sein, doch ist nichts erhellender, als sich
dem Wort Jesu zuzuwenden und seine Art, die Wahrheit weiterzugeben, umfassender zu
betrachten. Jesus erklärte mit aller Einfachheit, was es heißt, heilig zu sein, und er tat dies, als er
uns die Seligpreisungen hinterließ (vgl. Mt 5,3-12; Lk 6,20-23). Sie sind gleichsam der
Personalausweis des Christen. Wenn sich also jemand von uns die Frage stellt: „Wie macht man
es, ein guter Christ zu werden?“, dann ist die Antwort einfach: Es ist notwendig, dass ein jeder auf
seine Weise das tut, was Jesus in den Seligpreisungen sagt.[66] In ihnen zeichnet sich das Antlitz

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18
des Meisters ab; wir sind gerufen, es im Alltag unseres Lebens durchscheinen zu lassen.
64. Das Wort „glücklich“ oder „selig“ wird zum Synonym für „heilig“, denn es drückt aus, dass der
Mensch, der Gott treu ist und nach seinem Wort lebt, in seiner Selbsthingabe das wahre Glück
erlangt.
Gegen den Strom
65. Die Worte Jesu mögen uns poetisch erscheinen, sie richten sich jedoch deutlich gegen den
Strom der Gewohnheit, gegen das, was man in der Gesellschaft so tut; und wenn uns diese
Botschaft Jesu auch anzieht, treibt uns die Welt im Grunde zu einem anderen Lebensstil. Die
Seligpreisungen sind in keiner Weise unbedeutend oder oberflächlich; im Gegenteil, wir können
sie nur leben, wenn uns der Heilige Geist mit seiner ganzen Kraft durchdringt und uns von der
Schwäche des Egoismus, der Bequemlichkeit und des Stolzes befreit.
66. Hören wir wieder auf Jesus, mit all der Liebe und Achtung, die der Meister verdient. Gestatten
wir ihm, dass er uns mit seinen Worten trifft, uns herausfordert, uns zu einer tatsächlichen
Änderung des Lebens aufruft. Anderenfalls wird die Heiligkeit nur in Worten bestehen. Rufen wir
uns nun die verschiedenen Seligpreisungen in der Version des Matthäusevangeliums in
Erinnerung (Mt 5,3-12).[67]
»Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.«
67. Das Evangelium lädt uns ein, die Wahrheit unseres Herzens zu erkennen, um zu sehen,
worauf wir die Sicherheit unseres Lebens setzen. Normalerweise fühlt sich der Reiche sicher mit
seinen Reichtümern, und er glaubt, dass, wenn diese gefährdet sind, der ganze Sinn seines
Lebens auf Erden zerfällt. Jesus selbst sagte es uns im Gleichnis vom reichen Mann, wenn er von
diesem sicheren Mann erzählt, der gleich einem Narren nicht daran dachte, dass er noch am
gleichen Tag sterben könnte (vgl. Lk 12,16-21).
68. Die Reichtümer bieten dir keine Sicherheit. Es ist vielmehr so: Wenn das Herz sich reich fühlt,
ist es so zufrieden mit sich selbst, dass kein Platz bleibt für das Wort Gottes, dafür, die Brüder und
Schwestern zu lieben oder sich an den wichtigsten Dingen des Lebens zu erfreuen. So beraubt es
sich der größten Güter. Daher nennt Jesus die Armen im Geiste glücklich, die ein armes Herz
haben, in das der Herr mit seiner steten Neuheit eintreten kann.
69. Diese Armut im Geiste hängt eng mit jener „heiligen Indifferenz“ zusammen, die der heilige

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Ignatius von Loyola darlegte. In ihr erlangen wir eine schöne innere Freiheit: »Deshalb ist es nötig,
dass wir uns gegenüber allen geschaffenen Dingen in allem, was der Freiheit unserer freien
Entscheidungsmacht gestattet und ihr nicht verboten ist, indifferent machen. Wir sollen also nicht
unsererseits mehr wollen: Gesundheit als Krankheit, Reichtum als Armut, Ehre als Ehrlosigkeit,
langes Leben als kurzes, und genauso folglich in allem sonst.«[68]
70. Lukas spricht nicht von einer Armut „im Geiste“, sondern nur davon, „arm“ zu sein (vgl. Lk
6,20). So lädt er uns auch zu einem schlichten und genügsamen Leben ein. Auf diese Weise ruft
er uns auf, das Leben mit den Notleidenden zu teilen, das Leben, das die Apostel führten, und uns
letztendlich Jesus gleichförmig zu machen: »Er, der reich war, wurde […] arm« (2 Kor 8,9).
Im Herzen arm sein, das ist Heiligkeit.
»Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben.«
71. Das ist eine starke Aussage in einer Welt, die seit Anbeginn ein Ort der Feindschaft ist, wo
überall gestritten wird, wo auf allen Seiten Hass herrscht, wo wir ständig die anderen
klassifizieren, nach ihren Ideen und Gewohnheiten bis hin zu ihrer Art zu sprechen oder sich
anzuziehen. Letztendlich ist es ein Reich des Stolzes und der Eitelkeit, wo ein jeder glaubt, das
Recht zu haben, sich über die anderen zu erheben. Obwohl es unmöglich erscheint, schlägt Jesus
dennoch einen anderen Stil vor: Sanftmut. Das ist es, was er mit seinen eigenen Jüngern
praktiziert, und was wir bei seinem Einzug in Jerusalem beobachten können: »Siehe, dein König
kommt zu dir. Er ist sanftmütig und er reitet auf einer Eselin« (Mt 21,5; vgl. Sach 9,9).
72. Er sagte: »Lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe
finden für eure Seele« (Mt 11,29). Wenn wir hochmütig und stolz vor den anderen leben, sind wir
am Ende müde und erschöpft. Wenn wir aber ihre Grenzen und Fehler mit Milde und Sanftmut
sehen, ohne uns für besser zu halten, dann können wir ihnen zur Hand gehen und vermeiden,
unsere Energie in unnützen Klagen zu verschwenden. Für die heilige Thérèse von Lisieux besteht
»die vollkommene Liebe darin […], die Fehler der anderen zu ertragen, sich nicht über ihre
Schwächen zu wundern«.[69]
73. Paulus erwähnt die Sanftmut als eine Frucht des Heiligen Geistes (vgl. Gal 5,23). Er schlägt
vor, dass wir, wenn uns die Verfehlungen des Bruders oder der Schwester Sorgen machen, uns
nähern sollen, um ihn oder sie zurechtzuweisen, aber »im Geist der Sanftmut« (Gal 6,1). Dabei
mahnt er: »Gib Acht, dass du nicht selbst in Versuchung gerätst!« (ebd.). Auch wenn man seinen
Glauben und seine Überzeugung verteidigt, muss man es »bescheiden« tun (1 Petr 3,16), und
selbst die Gegner müssen »mit Güte« behandelt werden (2 Tim 2,25). In der Kirche haben wir uns
oft verfehlt, weil wir diesem Auftrag des göttlichen Wortes nicht entsprochen haben.

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74. Die Sanftmut ist ein anderer Ausdruck für die innere Armut dessen, der sein Vertrauen allein
auf Gott setzt. Deswegen verwendet die Bibel für gewöhnlich das gleiche Wort anawim in Bezug
auf die Armen und auf die Sanftmütigen. Es könnte jemand einwenden: „Wenn ich so sanftmütig
bin, werden sie denken, ich sei ein Dummkopf, ich sei blöd oder schwach.“ Manchmal mag es so
sein, doch lassen wir es zu, dass die anderen das denken. Es ist besser, immer sanftmütig zu
sein; unsere größten Wünsche werden sich dann erfüllen: Die Sanftmütigen »werden das Land
erben«, das heißt, in ihrem Leben werden sich die Verheißungen Gottes erfüllen. Denn gegen alle
Umstände hoffen die Sanftmütigen auf den Herrn, »die aber auf den Herrn hoffen, sie werden das
Land besitzen […] ihre Lust haben an der Fülle des Friedens« (Ps 37,9.11). Gleichzeitig vertraut
der Herr auf sie: »Auf den blicke ich: auf den Armen und auf den, der zerschlagenen Geistes ist
und der zittert vor meinem Wort« (Jes 66,2).
Mit demütiger Sanftmut reagieren, das ist Heiligkeit.
»Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden.«
75. Die Welt schlägt uns das Gegenteil vor: Unterhaltung, Genuss, Zerstreuung, Vergnügen. Eben
das macht das Leben gut, so sagt sie uns. Der weltlich Gesinnte beachtet es nicht, er schaut weg,
wenn es in der Familie oder in seiner Umgebung Probleme durch Krankheit oder Leid gibt. Die
Welt will nicht trauern: Sie zieht es vor, leidvolle Situationen zu ignorieren, zu verdecken oder zu
verstecken. Man verschwendet viel Energie darauf, den Umständen zu entkommen, in denen das
Leiden gegenwärtig ist, und glaubt dabei, dass es möglich ist, die Wirklichkeit zu verschleiern, in
der nie, niemals, das Kreuz fehlen kann.
76. Der Mensch, der die Dinge sieht, wie sie wirklich sind, der sich vom Schmerz durchdringen
lässt und in seinem Herzen weint, ist fähig, die Tiefen des Lebens zu berühren und wahrhaft
glücklich zu sein.[70] Dieser Mensch wird getröstet, aber mit dem Trost Jesu und nicht mit dem
der Welt. So kann er sich trauen, fremdes Leid zu teilen, und hört auf, vor den schmerzvollen
Situationen zu fliehen. Auf diese Weise findet er, dass das Leben Sinn hat, wenn man dem
anderen in seinem Schmerz beisteht, wenn man die fremde Angst versteht, wenn man den
anderen Erleichterung verschafft. Dieser Mensch spürt, dass der andere Fleisch von seinem
Fleisch ist; er fürchtet sich nicht davor, sich zu nähern und sogar seine Wunde zu berühren; er hat
solches Mitleid, das ihn erfahren lässt, dass alle Distanz verschwindet. So kann man die
Ermahnung des heiligen Paulus annehmen: »Weint mit den Weinenden!« (Röm 12,15).
Mit den anderen zu trauern wissen, das ist Heiligkeit.

3 Pages 21-30

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3.1 Page 21

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21
»Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden.«
77. Hunger und Durst sind sehr intensive Erfahrungen, weil sie den Grundbedürfnissen
entsprechen und mit dem Selbsterhaltungstrieb zu tun haben. Es gibt Menschen, die mit
derselben Intensität die Gerechtigkeit begehren und mit großer Sehnsucht nach ihr streben. Jesus
sagt, sie werden gesättigt werden, da früher oder später die Gerechtigkeit kommt. Wir können
daran mitarbeiten, damit das möglich wird, selbst wenn wir nicht immer die Früchte dieses
Einsatzes sehen.
78. Die Gerechtigkeit, die Jesus anbietet, ist jedoch nicht wie die, nach der die Welt trachtet, die
oft von schäbigen Interessen befleckt und von der einen oder anderen Seite manipuliert wird. Die
Realität zeigt uns, wie leicht es ist, Korruptionsbanden beizutreten oder die tägliche Politik des „do
ut des“ mitzumachen, wo alles Geschäft ist. Und wie viele Menschen leiden unter Ungerechtigkeit,
wie viele müssen ohnmächtig zusehen, wie die anderen abwechselnd den Kuchen des Lebens
unter sich aufteilen. Einige geben auf, für die wahre Gerechtigkeit zu kämpfen, und entscheiden
sich dafür, sich auf die Siegerseite zu schlagen. Das hat nichts mit dem Hunger und Durst nach
Gerechtigkeit zu tun, den Jesus lobpreist.
79. Diese Gerechtigkeit wird im Leben eines jeden Wirklichkeit, wenn er in seinen eigenen
Entscheidungen gerecht ist, und drückt sich dann in der Suche nach Gerechtigkeit für die Armen
und Schwachen aus. Gewiss kann das Wort „Gerechtigkeit“ Synonym für die Treue zu Gottes
Willen in unserem ganzen Leben sein. Wenn wir sie jedoch in sehr allgemeinen Sinn verstehen,
vergessen wir, dass sie sich vor allem in der Gerechtigkeit gegenüber den Hilflosen zeigt: »Sucht
das Recht! Schreitet ein gegen die Unterdrücker! Verschafft den Waisen Recht, streitet für die
Witwen! (Jes 1,17).
Voll Hunger und Durst die Gerechtigkeit suchen, das ist Heiligkeit.
»Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.«
80. Die Barmherzigkeit beinhaltet zwei Aspekte: den anderen geben, helfen, dienen und ebenso
vergeben, verstehen. Matthäus fasst es in der Goldenen Regel so zusammen: »Alles, was ihr
wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen!« (7,12). Der Katechismus erinnert uns,
dass dieses Gesetz »in allen Fällen«[71] gilt, besonders, wenn jemand »zuweilen vor Situationen
[steht], die das Gewissensurteil unsicher und die Entscheidungen schwierig machen«.[72]
81. Geben und vergeben heißt zu versuchen, in unserem Leben einen kleinen Widerschein der
Vollkommenheit Gottes, der überreichlich gibt und vergibt, abzubilden. Aus diesem Grund hören
wir im Lukasevangelium nicht mehr das Wort: »Seid also vollkommen« (Mt 5,48), sondern: »Seid

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barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet
werden! Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden! Erlasst einander die Schuld,
dann wird auch euch die Schuld erlassen werden! Gebt, dann wird auch euch gegeben werden!«
(Lk 6,36-38). Und dann fügt Lukas etwas hinzu, dass wir nicht übersehen dürfen: »Denn nach
dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird auch euch zugeteilt werden« (6,38). Das Maß, das
wir verwenden, um zu verstehen und zu vergeben, wird bei uns angewendet werden, um uns zu
vergeben. Das Maß, das wir anwenden, um zu geben, wird im Himmel bei uns angewendet
werden, um uns zu vergelten. Das sollten wir nicht vergessen.
82. Jesus sagt nicht: „Selig, die auf Rache sinnen“, sondern er preist die selig, die vergeben und
es »bis zu siebzigmal siebenmal« (Mt 18,22) tun. Wir müssen daran denken, dass wir alle ein
Heer von Begnadigten sind. Wir alle wurden mit göttlichem Erbarmen angeschaut. Wenn wir uns
ehrlich dem Herrn nähern und genau hinhören, werden wir möglicherweise einige Male diesen
Tadel vernehmen: »Hättest nicht auch du mit deinem Mitknecht Erbarmen haben müssen, so wie
ich mit dir Erbarmen hatte?« (Mt 18,33).
Mit Barmherzigkeit sehen und handeln, das ist Heiligkeit.
»Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen.«
83. Diese Seligpreisung bezieht sich auf die, welche ein einfaches, reines Herz haben, frei von
Schmutz. Denn ein Herz, das zu lieben weiß, lässt nichts in sein Leben eintreten, was gegen
diese Liebe verstößt, nichts, was sie abschwächt oder gefährdet. In der Bibel steht das Herz für
unsere wahren Absichten, also für das, was wir über das hinaus, was wir vorgeben, wirklich
suchen und ersehnen: »Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz«
(1 Sam 16,7). Der Herr möchte uns zu Herzen reden (vgl. Hos 2,16) und will sein Gesetz darauf
schreiben (vgl. Jer 31,33). Letztendlich will er uns ein neues Herz schenken (vgl. Ez 36,26).
84. »Mehr als alles hüte dein Herz« (Spr 4,23). Nichts, was durch Falschheit beschmutzt ist, hat
echten Wert für den Herrn. Er »flieht vor der Falschheit, er entfernt sich von unverständigen
Gedanken« (Weish 1,5). Der Vater, der »das Verborgene sieht« (Mt 6,6), erkennt, was nicht rein
ist, das heißt, was nicht ehrlich ist, sondern nur Schale und Anschein, so wie auch der Sohn weiß,
was in jedem Menschen ist (vgl. Joh 2,25).
85. Gewiss, es gibt keine Liebe ohne Werke der Liebe, aber diese Seligpreisung ruft uns in
Erinnerung, dass der Herr eine Hingabe an den Bruder oder die Schwester erwartet, die aus dem
Herzen entspringt, denn »wenn ich meine ganze Habe verschenkte, und wenn ich meinen Leib
opferte, um mich zu rühmen, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts« (1 Kor 13,3). Im
Matthäusevangelium sehen wir ebenso: Das, was »aus dem Herzen [kommt,] macht den

3.3 Page 23

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23
Menschen unrein« (15,18), denn von dort kommen Mord, Diebstahl, falsche Zeugenaussagen und
andere böse Taten (vgl. 15,19). In den Absichten des Herzens haben die Wünsche und die
tieferen Entscheidungen, die uns wirklich bewegen, ihren Ursprung.
86. Wenn das Herz Gott und den Nächsten liebt (vgl. Mt 22,36-40), wenn dies seine echte Absicht
ist und nicht leere Worte, dann ist dieses Herz rein und kann Gott schauen. Der heilige Paulus ruft
uns in seinem Hohelied der Liebe in Erinnerung: »Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen
nur rätselhafte Umrisse« (1 Kor 13,12), aber in dem Maß, in dem die Liebe wirklich herrscht,
werden wir fähig werden, zu schauen »von Angesicht zu Angesicht« (ebd.). Jesus verheißt: Die
reinen Herzens sind, »werden Gott schauen«.
Das Herz rein halten von allem, was die Liebe befleckt, das ist Heiligkeit.
»Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.«
87. Diese Seligpreisung lässt uns an die zahlreichen Kriegssituationen denken, die sich
wiederholen. Es kommt häufig vor, dass wir Auseinandersetzungen oder zumindest
Missverständnisse verursachen. Zum Beispiel, wenn ich etwas über jemanden höre, zu einem
anderen gehe und es ihm weitersage; dabei mache ich vielleicht eine zweite, etwas erweiterte
Version daraus und verbreite sie. Wenn ich damit mehr Schaden anrichten kann, scheint es mir
größere Befriedigung zu bereiten. Die Welt des Geredes, gemacht von Menschen, die gerne
kritisieren und zerstören, baut den Frieden nicht auf. Diese Menschen sind vielmehr Feinde des
Friedens und in keiner Weise selig.[73]
88. Die Friedfertigen sind Quelle des Friedens, sie bauen Frieden und soziale Freundschaft auf.
Denen, die sich darum bemühen, überall Frieden zu säen, macht Jesus eine schöne Verheißung:
»Sie werden Kinder Gottes genannt werden« (Mt 5,9). Er trug seinen Jüngern auf, beim Betreten
eines Hauses zu sagen: »Friede diesem Haus!« (Lk 10,5). Das Wort Gottes fordert jeden
Gläubigen dazu auf, »zusammen mit allen« nach Frieden zu streben (vgl. 2 Tim 2,22), denn »die
Frucht der Gerechtigkeit wird in Frieden für die gesät, die Frieden schaffen« (Jak 3,18). Wenn wir
manchmal in unserer Gemeinschaft Zweifel darüber haben, was zu tun ist, dann »lasst uns also
dem nachjagen, was dem Frieden dient« (Röm 14,19), denn die Einheit steht über dem
Konflikt.[74]
89. Es ist nicht einfach, diesen Frieden des Evangeliums aufzubauen, der niemanden ausschließt,
sondern der auch die einschließt, die etwas seltsam sind, die schwierigen und komplizierten
Menschen, diejenigen, die nach Aufmerksamkeit verlangen, die verschieden sind, die vom Leben
schwer getroffen wurden, die andere Interessen haben. Es ist hart und erfordert eine große Weite
des Denkens und des Herzens, weil es nicht um »einen Konsens auf dem Papier […] oder einen

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oberflächlichen Frieden für eine glückliche Minderheit«[75] geht, noch um einen »Plan einiger
weniger für einige wenige«.[76] Ebenso wenig geht es darum zu versuchen, die Konflikte zu
ignorieren oder sie zu verschleiern, sondern um »die Bereitschaft, den Konflikt zu erleiden, ihn zu
lösen und zum Ausgangspunkt eines neuen Prozesses zu machen«.[77] Es geht darum,
Handwerker des Friedens zu sein, weil den Frieden aufzubauen eine Kunst ist, die Gelassenheit,
Kreativität, Feingefühl und Geschicklichkeit erfordert.
Um uns herum Frieden säen, das ist Heiligkeit.
»Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich.«
90. Jesus selbst betont, dass dieser Weg gegen den Strom geht, ja so weit führt, dass wir zu
Menschen werden, die mit ihrem Leben die Gesellschaft infrage stellen, zu Personen, die stören.
Jesus erinnert daran, wie viele Menschen verfolgt werden und wurden, einfach weil sie für die
Gerechtigkeit gekämpft haben, weil sie ihr Engagement für Gott und für die anderen gelebt haben.
Wenn wir nicht in einer blassen Mittelmäßigkeit versinken wollen, dürfen wir kein bequemes Leben
anstreben, denn »wer sein Leben retten will, wird es verlieren« (Mt 16,25).
91. Man kann nicht erwarten, dass alles um uns herum günstig dafür ist, um das Evangelium zu
leben. Oft stehen nämlich Machtambitionen und weltliche Interessen im Weg. Der heilige
Johannes Paul II. sagte: »Entfremdet wird eine Gesellschaft, die in ihren sozialen
Organisationsformen, in Produktion und Konsum, die Verwirklichung [der] Hingabe und die
Bildung [der] zwischenmenschlichen Solidarität erschwert.«[78] In einer solchen entfremdeten
Gesellschaft, die gefangen ist in einem politischen, medialen, wirtschaftlichen, kulturellen und
sogar religiösen Geflecht, das ihre authentische menschliche und soziale Entwicklung behindert,
gestaltet es sich schwierig, die Seligpreisungen zu leben, ja dies kann geradezu verpönt,
beargwöhnt oder lächerlich gemacht werden.
92. Das Kreuz, vor allem die Erschöpfung und die Schmerzen, die wir ertragen, um das Gebot der
Liebe zu leben und den Weg der Gerechtigkeit zu gehen, ist Quelle der Reifung und der Heiligung.
Denken wir daran, dass das Neue Testament, wenn es von den Leiden spricht, die um des
Evangeliums willen ertragen werden müssen, sich eben auf die Verfolgungen bezieht (vgl. Apg
5,41; Phil 1,29; Kol 1,24; 2 Tim 1,12; 1 Petr 2,20; 4,14-16; Offb 2,10).
93. Wir sprechen jedoch von den unausweichlichen Verfolgungen, nicht von denen, die wir selbst
durch eine missverständliche Art und Weise, die anderen zu behandeln, verursachen können. Ein
Heiliger ist kein abgehobener Sonderling, der unausstehlich wird wegen seiner Eitelkeit, seiner
Negativität und seinem Unmut. Die Apostel Christi waren nicht so. Die Apostelgeschichte erzählt
nachdrücklich, dass sie Gunst »beim ganzen Volk« fanden (Apg 2,47; vgl. 4,21.33; 5,13), während

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manche, die etwas zu sagen hatten, sie drangsalierten und verfolgten (vgl. Apg 4,1-3; 5,17-18).
94. Die Verfolgungen sind keine Realität der Vergangenheit; auch heute erleiden wir sie, sei es
auf blutige Weise, wie viele Märtyrer unserer Zeit, oder auf subtilere Weise durch Verleumdungen
und Unwahrheiten. Jesus sagt, dass wir selig sein werden, wenn man »alles Böse über euch redet
um meinetwillen« (Mt 5,11). Andere Male handelt es sich um Verspottungen, die unseren Glauben
verzerren und uns als lächerlich darstellen wollen.
Jeden Tag den Weg des Evangeliums annehmen, auch wenn er Schwierigkeiten mit sich bringt,
das ist Heiligkeit.
Der große Maßstab
95. Im Kapitel 25 des Matthäusevangeliums (Verse 31-46) verweilt Jesus erneut bei einer dieser
Seligpreisungen, nämlich bei der, welche die Barmherzigen selig nennt. Wenn wir die Heiligkeit
suchen, die in Gottes Augen gefällt, dann entdecken wir gerade in diesem Text einen Maßstab,
nach dem wir geurteilt werden: »Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war
durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; ich
war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im
Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen« (25,35-36).
Aus Treue zum Meister
96. Heilig sein bedeutet daher nicht, in einer vermeintlichen Ekstase die Augen zu verdrehen. Es
sagte schon der heilige Johannes Paul II.: »Wenn wir wirklich von der Betrachtung Christi
ausgegangen sind, werden wir in der Lage sein, ihn vor allem im Antlitz derer zu erkennen, mit
denen er sich selbst gern identifiziert hat.«[79] Die Aussage von Matthäus 25,35-36 »ist nicht nur
eine Aufforderung zur Nächstenliebe; sie ist ein Stück Christologie, das einen Lichtstrahl auf das
Geheimnis Christi wirft«.[80] In diesem Aufruf, ihn in den Armen und Leidenden zu erkennen,
offenbart sich das Herz Christi selbst, seine Gesinnung und seine innersten Entscheidungen, die
jeder Heilige nachzuahmen sucht.
97. Angesichts dieser schlagkräftigen Aufforderungen Jesu ist es meine Pflicht, die Christen zu
bitten, sie anzunehmen und zu empfangen, und zwar „sine glossa“, das heißt, ohne Kommentar,
ohne Ausflüchte und Ausreden, die ihnen Kraft entziehen. Der Herr hat uns ganz deutlich gesagt,
dass die Heiligkeit weder verstanden noch gelebt werden kann, wenn man von seinen
Forderungen absieht, denn die Barmherzigkeit ist »das pulsierende Herz des Evangeliums«.[81]

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98. Wenn ich einem Menschen begegne, der in einer kalten Nacht unter freiem Himmel schläft,
kann ich fühlen, dass dieser arme Wicht etwas Unvorhergesehenes ist, das mir
dazwischenkommt, ein Nichtsnutz und Gauner, ein Störenfried auf meinem Weg, ein lästiger
Stachel für mein Gewissen, ein Problem, das die Politiker lösen müssen, und vielleicht sogar ein
Abfall, der den öffentlichen Bereich verschmutzt. Oder ich kann aus dem Glauben und der Liebe
heraus reagieren und in ihm ein menschliches Wesen erkennen, mit gleicher Würde wie ich, ein
vom Vater unendlich geliebtes Geschöpf, ein Abbild Gottes, ein von Jesus Christus erlöster
Bruder oder Schwester. Das heißt es, Christ zu sein! Oder kann man etwa die Heiligkeit abseits
dieses konkreten Anerkennens der Würde jedes menschlichen Wesens verstehen?[82]
99. Dies bringt für die Christen eine gesunde bleibende Unruhe mit sich. Auch wenn die
Unterstützung einer einzigen Person schon alle unsere Anstrengungen rechtfertigt, ist es nicht
genug für uns. Die Bischöfe Kanadas haben dies deutlich zum Ausdruck gebracht. In ihren
biblischen Katechesen über das Jubeljahr haben sie zum Beispiel gezeigt, dass es nicht bloß
darum geht, einige gute Werke zu vollbringen, sondern darum, einen gesellschaftlichen Wandel
anzustreben: »Damit die künftigen Generationen auch befreit wären, musste das Ziel klar darin
liegen, gerechte soziale und wirtschaftliche Systeme wiederherzustellen, damit es keine Exklusion
mehr geben könnte.«[83]
Die Ideologien, die den Kern des Evangeliums entstellen
100. Ich bedaure, dass uns die Ideologien oft zu zwei schädlichen Fehlern verleiten. Einerseits zu
dem jener Christen, die diese Forderungen des Evangeliums von ihrer persönlichen Beziehung
zum Herrn, von ihrer inneren Verbindung mit ihm, von der Gnade trennen. So wird das
Christentum zu einer Art NGO, es wird jener leuchtenden Spiritualität beraubt, die der heilige
Franz von Assisi, der heilige Vinzenz von Paul, die heilige Teresa von Kalkutta und viele andere
so klar gelebt und sichtbar gemacht haben. Weder das Gebet noch die Liebe zu Gott oder das
Lesen des Evangeliums gaben diesen großen Heiligen Anlass dazu, die Leidenschaft und die
Wirksamkeit ihrer Hingabe an den Nächsten zu verringern, ganz im Gegenteil.
101. Schädlich und ideologisch ist ebenso der Fehler derer, die in ihrem Leben dem sozialen
Einsatz für die anderen misstrauen, weil sie ihn für oberflächlich, weltlich, säkularisiert,
immanentistisch, kommunistisch oder populistisch halten, oder die ihn relativieren, als würde es
wichtigere Dinge geben bzw. als würde er nur eine bestimmte von ihnen verteidigte Ethik oder ein
entsprechendes Argument betreffen. Die Verteidigung des ungeborenen unschuldigen Lebens
zum Beispiel muss klar, fest und leidenschaftlich sein, weil hier die Würde des menschlichen
Lebens, das immer heilig ist, auf dem Spiel steht und es die Liebe zu jeder Person unabhängig
von ihrer Entwicklungsstufe verlangt. Aber gleichermaßen heilig ist das Leben der Armen, die
schon geboren sind und sich herumschlagen mit dem Elend, mit der Verlassenheit, der

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Ausgrenzung, dem Menschenhandel, mit der versteckten Euthanasie der Kranken und Alten,
denen keine Aufmerksamkeit geschenkt wird, mit den neuen Formen von Sklaverei und jeder
Form des Wegwerfens.[84] Wir können kein Heiligkeitsideal in Erwägung ziehen, das die
Ungerechtigkeit dieser Welt nicht sieht, wo einige feiern, fröhlich verbrauchen und ihr Leben auf
die Neuheiten des Konsums reduzieren, während andere nur von außen zuschauen können und
gleichzeitig ihr Leben weiter voranschreitet und armselig zu Ende geht.
102. Oft hört man, dass angesichts des Relativismus und der Grenzen der heutigen Welt
beispielsweise die Lage der Migranten eine weniger wichtige Angelegenheit wäre. Manche
Katholiken behaupten, es sei ein nebensächliches Thema gegenüber den „ernsthaften“ Themen
der Bioethik. Dass ein um seinen Erfolg besorgter Politiker so etwas sagt, kann man verstehen,
aber nicht ein Christ, zu dem nur die Haltung passt, sich in die Lage des Bruders und der
Schwester zu versetzen, die ihr Leben riskieren, um ihren Kindern eine Zukunft zu bieten. Sehen
wir, dass es genau das ist, was Jesus von uns verlangt, wenn er uns sagt, dass wir in jedem
Fremden ihn selbst aufnehmen (vgl. Mt 25,35)? Der heilige Benedikt hat dies ohne Vorbehalte
angenommen. So hat er, auch wenn dies das Leben der Mönche „verkomplizieren“ könnte,
festgelegt, dass alle Gäste, die zum Kloster kommen, »wie Christus«[85] aufgenommen werden
sollen, indem ihnen sogar Zeichen der Verehrung erwiesen werden[86], und dass die Armen und
Pilger vor allem mit »Eifer und Sorge«[87] behandelt werden sollen.
103. Ähnliches legt das Alte Testament dar, wenn es sagt: »Einen Fremden sollst du nicht
ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid im Land Ägypten Fremde gewesen« (Ex 22,20).
»Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der
sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich
selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen« (Lev 19,33-34). Es handelt sich daher
nicht um die Erfindung eines Papstes oder um eine momentane Begeisterung. Auch wir sind im
gegenwärtigen Kontext berufen, den Weg der geistlichen Erleuchtung zu leben, den uns der
Prophet Jesaja zeigt, wenn er sich fragt, was dem Herrn gefällt: »Bedeutet es nicht, dem
Hungrigen dein Brot zu brechen, obdachlose Arme ins Haus aufzunehmen, wenn du einen
Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deiner Verwandtschaft nicht zu entziehen. Dann wird
dein Licht hervorbrechen wie das Morgenrot« (58,7-8).
Der Gottesdienst, der Gott mehr gefällt
104. Wir denken vielleicht, dass wir Gott die Ehre nur mit dem Gottesdienst und dem Gebet geben
oder wenn wir lediglich einige ethische Vorschriften beachten – in der Tat kommt der Beziehung
zu Gott der Vorrang zu –, und vergessen dabei, dass das Kriterium für die Beurteilung unseres
Lebens vor allem darin besteht, was wir den anderen getan haben. Das Gebet ist wertvoll, wenn
es eine tägliche liebende Hingabe fördert. Unser Gottesdienst ist dem Herrn wohlgefällig, wenn wir

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dort unsere Vorsätze, großherzig zu leben, hineintragen und wenn wir zulassen, dass die Gabe
Gottes, die wir im Gottesdienst empfangen haben, in der Hingabe an die Brüder und Schwestern
sichtbar wird.
105. Aus demselben Grund besteht die beste Art und Weise zu beurteilen, ob unser Weg des
Gebets authentisch ist, darin zu beobachten, in welchem Maß sich unser Leben im Licht der
Barmherzigkeit verwandelt. Denn die »Barmherzigkeit [ist] nicht nur eine Eigenschaft des
Handelns Gottes […] Sie wird vielmehr auch zum Kriterium, an dem man erkennt, wer wirklich
seine Kinder sind.«[88] Sie ist »der Tragebalken, der das Leben der Kirche stützt«.[89] Ich möchte
einmal mehr unterstreichen: Wenngleich die Barmherzigkeit die Gerechtigkeit und Wahrheit nicht
ausschließt, »müssen wir [vor allem] erklären, dass die Barmherzigkeit die Fülle der Gerechtigkeit
und die leuchtendste Bekundung der Wahrheit Gottes ist«.[90] Sie ist »der Schlüssel zum
Himmel«.[91]
106. Ich kann nicht umhin, an die Frage zu erinnern, die sich der heilige Thomas von Aquin
bezüglich unserer größten Handlungen, der äußeren Werke, die unserer Liebe zu Gott am besten
Ausdruck verleihen, stellte. Ohne zu zweifeln antwortete er, dass es die Werke der Barmherzigkeit
gegenüber dem Nächsten[92] sind, mehr als die Akte des Gottesdienstes: »Wir ehren Gott durch
die äußeren Opfer und Geschenke nicht seinetwegen, sondern unseretwegen und des Nächsten
wegen; denn er bedarf unserer Opfer nicht, sondern will, dass sie ihm dargebracht werden um
unserer Hingabe und um des Nutzens des Nächsten willen. Deshalb ist das Erbarmen, durch das
wir dem Elend der anderen zu Hilfe kommen, ein Opfer, das ihm wohlgefälliger ist, weil es dem
Nutzen des Nächsten näherkommt.«[93]
107. Wer in Wahrheit Gott mit seinem Leben ehren möchte, wer sich wirklich nach der Heiligung
sehnt, damit sein Dasein Gott, den Heiligen, verherrlicht, der ist berufen, sich voll Leidenschaft zu
verzehren und abzuplagen im Bemühen, die Werke der Barmherzigkeit zu leben. Eben dies hat
die heilige Teresa von Kalkutta sehr gut verstanden: »Ja, ich habe viele menschliche Schwächen,
viele menschliche Armseligkeiten. […] Aber er erniedrigt sich und bedient sich unser – deiner und
meiner –, damit wir seine Liebe und sein Mitleid in der Welt sind, trotz unserer Sünden, trotz
unserer Armseligkeiten und unserer Fehler. Er hängt von uns ab, um die Welt zu lieben und ihr zu
zeigen, wie sehr er sie liebt. Wenn wir uns zu sehr um uns selbst kümmern, bleibt uns keine Zeit
für die anderen.«[94]
108. Der hedonistische Konsumismus kann uns einen bösen Streich spielen, denn in der
Vergnügungssucht sind wir schließlich allzu sehr konzentriert auf uns selbst, auf unsere Rechte
und auf die verbissene Jagd auf freie Zeit, um das Leben zu genießen. Kraft zur Hilfe für
Notleidende aufzubringen und einzusetzen fällt uns schwer, wenn wir nicht eine gewisse
Genügsamkeit pflegen und gegen den fieberhaften Kaufzwang der Konsumgesellschaft
ankämpfen, der uns am Ende bloß zu unzufriedenen Armen macht, die alles haben und
ausprobieren wollen. Auch der Konsum oberflächlicher Nachrichten und die Formen schneller

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virtueller Kommunikation können ein Faktor von Verblödung sein, der uns unsere ganze Zeit raubt
und uns vom leidenden Fleisch der Brüder und Schwestern entfernt. Inmitten dieses aktuellen
Trubels erschallt wieder das Evangelium, um uns ein anderes, gesünderes und glücklicheres
Leben anzubieten.
***
109. Die Kraft des Zeugnisses der Heiligen liegt darin, die Seligpreisungen und den Maßstab
des Jüngsten Gerichts zu leben. Es sind wenige, einfache Worte, aber praktisch und für alle gültig;
das Christentum ist nämlich vor allem dafür gemacht, gelebt zu werden; wenn es auch
Gegenstand von Reflexion ist, so hat dies nur Wert, wenn es hilft, das Evangelium im Alltag zu
leben. Ich empfehle nachdrücklich, diese großen biblischen Texte immer wieder zu lesen, sich an
sie zu erinnern, mit ihnen zu beten und zu versuchen, sie Gestalt werden zu lassen. Sie werden
uns gut tun und uns wahrhaft glücklich machen.
VIERTES KAPITEL
EINIGE MERKMALE DER HEILIGKEIT IN DER WELT VON HEUTE
110. Innerhalb des großen Rahmens der Heiligkeit, die uns die Seligpreisungen und Matthäus
25,31-46 vorlegen, möchte ich einige Merkmale oder spirituelle Ausdrücke aufgreifen, die meines
Erachtens nicht fehlen dürfen, um den Lebensstil zu verstehen, zu dem der Herr uns ruft. Ich
werde mich nicht dabei aufhalten, die Mittel der Heiligung zu erklären, die wir bereits kennen: die
verschiedenartigen Methoden des Gebets, die kostbaren Sakramente der Eucharistie und der
Versöhnung, das Opferbringen, die verschiedenen Frömmigkeitsformen, die geistliche Begleitung
und viele andere. Ich werde mich nur auf einige Aspekte des Rufes zur Heiligkeit beziehen, von
denen ich hoffe, dass sie in besonderer Weise Resonanz finden.
111. Diese Merkmale, die ich hervorheben will, umfassen beileibe nicht alle, die einem Modell von
Heiligkeit Gestalt geben können. Es sind jedoch fünf große Bekundungen der Liebe zu Gott und
zum Nächsten, die ich als von besonderer Wichtigkeit erachte aufgrund einiger Gefahren und
Grenzen der heutigen Kultur. In ihr zeigen sich: die nervöse und heftige Unruhe, die uns zerstreut
und schwächt; die negative Einstellung und die Traurigkeit; die bequeme, konsumorientierte und
egoistische Trägheit; der Individualismus und viele Formen einer falschen Spiritualität ohne
Gottesbegegnung, die den aktuellen Religionsmarkt beherrschen.

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Durchhaltevermögen, Geduld und Sanftmut
112. Das erste dieser wichtigen Merkmale ist, auf Gott hin, der uns liebt und trägt, zentriert und in
ihm gefestigt zu sein. Von dieser inneren Gefestigtheit her ist es möglich, die Unannehmlichkeiten
zu ertragen und zu erdulden, die Höhen und Tiefen des Lebens, aber auch die Aggressionen der
anderen, ihre Treulosigkeiten und Fehler: »Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?« (Röm 8,31).
Dies ist die Quelle des Friedens, der sich im Verhalten eines Heiligen zeigt. Ausgehend von einer
solchen inneren Gefestigtheit besteht in unserer beschleunigten, unbeständigen und aggressiven
Welt das Zeugnis der Heiligkeit aus Geduld und Beständigkeit im Guten. Es ist die Treue der
Liebe, denn wer sich auf Gott stützt (griech. pistis), der kann auch den Brüdern und Schwestern
gegenüber treu sein (griech. pistós), lässt sie in schlechten Zeiten nicht im Stich, lässt sich nicht
von ihrer Angst anstecken und bleibt beharrlich an der Seite der anderen, auch wenn ihm das
keine unmittelbaren Genugtuungen bringt.
113. Der heilige Paulus lud die Römer dazu ein, »niemandem Böses mit Bösem« zu vergelten
(Röm 12,17), sich »nicht selbst« Gerechtigkeit zu verschaffen (12,19) und sich nicht vom Bösen
besiegen zu lassen, sondern »das Böse durch das Gute zu besiegen« (12,21). Diese Haltung ist
nicht Ausdruck von Schwäche, sondern von wahrer Stärke, denn Gott selbst »ist langmütig und
groß an Kraft« (Nah 1,3). Das Wort Gottes fordert uns auf: »Jede Art von Bitterkeit und Wut und
Zorn und Geschrei und Lästerung mit allem Bösen verbannt aus eurer Mitte!« (Eph 4,31).
114. Wir müssen kämpfen und aufmerksam sein gegenüber unseren eigenen aggressiven und
egozentrischen Neigungen, um sie nicht Wurzeln schlagen zu lassen: »Wenn ihr zürnt, sündigt
nicht! Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen« (Eph 4,26). Wenn es belastende
Umstände gibt, können wir immer auf den Anker der inständigen Bitte zurückgreifen, der uns
wieder in den Händen Gottes und an der Quelle des Friedens fest macht: »Sorgt euch um nichts,
sondern bringt in jeder Lage betend und flehend eure Bitten mit Dank vor Gott! Und der Friede
Gottes, der alles Verstehen übersteigt, wird eure Herzen […] bewahren« (Phil 4,6-7).
115. Auch Christen können über das Internet und die verschiedenen Foren und Räume des
digitalen Austausches Teil von Netzwerken verbaler Gewalt werden. Sogar in katholischen Medien
können die Grenzen überschritten werden; oft bürgern sich Verleumdung und üble Nachrede ein,
und jegliche Ethik und jeglicher Respekt vor dem Ansehen anderer scheinen außen vor zu
bleiben. So entsteht ein gefährlicher Dualismus, weil in diesen Netzwerken Dinge gesagt werden,
die im öffentlichen Leben nicht tolerierbar wären, und man versucht, im wütenden Abladen von
Rachegelüsten die eigene Unzufriedenheit zu kompensieren. Es ist auffällig, dass unter dem
Vorwand, andere Gebote zu verteidigen, das achte Gebot – »Du sollst kein falsches Zeugnis
geben« – zuweilen komplett übergangen und das Ansehen anderer gnadenlos zerstört wird. Dort
zeigt sich ohne Kontrolle, dass die Zunge »eine Welt voll Ungerechtigkeit ist« und »das Rad des
Lebens in Brand setzt«, während sie selbst »von der Hölle in Brand gesetzt« wird (Jak 3,6).

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4.1 Page 31

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31
116. Die innere Gefestigtheit ist ein Werk der Gnade und bewahrt uns davor, uns von der Gewalt
mitreißen zu lassen, die sich im sozialen Leben verbreitet. Denn die Gnade schwächt die Eitelkeit
ab und ermöglicht die Sanftmut des Herzens. Der Heilige verschwendet seine Energien nicht
damit, über fremde Fehler zu klagen; er kann über die Schwächen seiner Brüder und Schwestern
schweigen und vermeidet verbale Gewalt, die zerstört und misshandelt; er hält sich nämlich nicht
für würdig, den anderen gegenüber hart zu sein, sondern schätzt sie vielmehr »höher ein als sich
selbst« (Phil 2,3).
117. Es tut uns nicht gut, von oben herabzuschauen, die Rolle gnadenloser Richter einzunehmen,
die anderen für unwürdig zu halten und ständig Belehrungen geben zu wollen. Dies ist eine subtile
Form der Gewalt.[95] Der heilige Johannes vom Kreuz schlug etwas anderes vor: »Sei stets mehr
ein Freund davon, von allen belehrt zu werden, als auch nur den geringsten von allen belehren zu
wollen.«[96] Und er fügte einen Ratschlag hinzu, um den Feind fernzuhalten: »Indem du dich über
das Gute bei den anderen genauso freust wie über das deine und wünschst – und zwar mit
aufrichtigem Herzen –, dass man ihnen in allem den Vorrang vor dir gebe. Auf diese Weise wirst
du das Böse durch das Gute besiegen und den bösen Geist weit vertreiben und Herzensfreude
erlangen. Bemühe dich, das noch mehr denen gegenüber zu üben, die dir am wenigsten gefallen.
Und wisse, dass du, wenn du dies nicht ausübst, weder zur wahren Nächstenliebe gelangen, noch
in ihr vorankommen wirst.«[97]
118. Die Demut kann im Herzen nur durch Demütigungen Wurzeln schlagen. Ohne sie gibt es
weder Demut noch Heiligkeit. Wenn du nicht fähig bist, einige Demütigungen zu ertragen und
aufzuopfern, so bist du nicht demütig und befindest dich nicht auf dem Weg der Heiligkeit. Die
Heiligkeit, die Gott seiner Kirche schenkt, kommt durch die Demütigung seines Sohnes, das ist der
Weg. Die Demütigung macht dich Jesus ähnlich, sie ist unumgänglicher Teil der Nachfolge Christi:
»Christus hat für euch gelitten und euch ein Beispiel gegeben, damit ihr seinen Spuren folgt«
(1 Petr 2,21). Er bringt seinerseits die Demut des Vaters zum Ausdruck, der sich demütigt, um mit
seinem Volk unterwegs zu sein, der dessen Treulosigkeiten und Murren erträgt (vgl. Ex 34,6-9;
Weish 11,23-12,2; Lk 6,36). Aus diesem Grund »freuten sich« die Apostel nach ihrer Demütigung,
»dass sie gewürdigt worden waren, für Jesu Namen Schmach zu erleiden« (Apg 5,41).
119. Ich beziehe mich nicht nur auf die grausamen Situationen des Martyriums, sondern auf die
alltäglichen Demütigungen jener, die schweigen, um ihre Familie zu retten; oder die es vermeiden,
gut von sich selbst zu sprechen, und es vorziehen, andere zu preisen, anstatt sich selbst zu
rühmen; die weniger glanzvolle Aufgaben wählen, und es sogar manchmal vorziehen, etwas
Ungerechtes zu ertragen, um es dem Herrn aufzuopfern: »Wenn ihr aber recht handelt und
trotzdem Leiden erduldet, das ist eine Gnade in den Augen Gottes« (1 Petr 2,20). Das bedeutet
nicht, mit gesenktem Kopf umherzulaufen, wenig zu sprechen oder die Gesellschaft zu fliehen.
Manchmal kann jemand – gerade weil er von der Ichbezogenheit befreit ist – es wagen, auf
liebevolle Weise zu diskutieren, Gerechtigkeit einzufordern oder die Schwachen vor den
Mächtigen zu verteidigen, auch wenn ihm das negative Folgen für sein Ansehen einbringt.

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32
120. Ich sage nicht, dass die Demütigung etwas Angenehmes ist – denn das wäre Masochismus
–, sondern dass es sich um einen Weg handelt, um Jesus nachzuahmen und in der Vereinigung
mit ihm zu wachsen. Das ist nicht auf natürliche Weise zu verstehen und die Welt spottet über
einen solchen Vorschlag. Es ist eine Gnade, die wir erbitten müssen: „Herr, wenn die
Demütigungen kommen, so hilf mir, zu erkennen, dass ich dir folge, auf deinem Weg.“
121. Eine solche Haltung setzt ein durch Christus befriedetes Herz voraus, befreit von dieser
Aggressivität, die aus einem überhöhten Ich hervorgeht. Ebendiese gnadengewirkte Befriedung
erlaubt uns, eine innere Sicherheit zu bewahren sowie im Guten durchzuhalten und auszuharren,
selbst wenn ich »durch das trostlose Tal« gehe (Ps 23,4), oder selbst wenn »ein Heer mich
belagert« (Ps 27,3). Fest gegründet im Herrn, dem Fels, können wir singen: »In Frieden leg’ ich
mich nieder und schlafe ein; denn du allein, Herr, lässt mich sorglos wohnen« (Ps 4,9). Letzten
Endes »ist« Christus »unser Friede« (Eph 2,14), er kam, »um unsre Schritte zu lenken auf den
Weg des Friedens« (Lk 1,79). Er übermittelte der heiligen Faustyna Kowalska: »Die Menschheit
wird keinen Frieden finden, solange sie sich nicht mit Vertrauen an die göttliche Barmherzigkeit
wendet.«[98] Verfallen wir also nicht der Versuchung, die innere Sicherheit in den Erfolgen, in den
leeren Vergnügungen, in den Besitztümern, in der Herrschaft über andere oder im
gesellschaftlichen Ansehen zu suchen: »Meinen Frieden gebe ich euch; nicht, wie die Welt ihn
gibt« (Joh 14,27).
Freude und Sinn für Humor
122. Das bisher Gesagte impliziert nicht einen apathischen, traurigen, säuerlichen,
melancholischen Geist oder ein schwaches Profil ohne Kraft. Der Heilige ist fähig, mit Freude und
Sinn für Humor zu leben. Ohne den Sinn für die Wirklichkeit zu verlieren, erleuchtet er die anderen
mit einem positiven und hoffnungsfrohen Geist. Christ sein bedeutet »Freude im Heiligen Geist«
(Röm 14,17), denn »auf die heilige Liebe folgt mit Notwendigkeit die Freude. Denn der Liebende
freut sich über die Verbindung mit dem Geliebten […] Daher ist die Gefolgschaft der Liebe die
Freude.«[99] Wir haben die Schönheit seines Wortes empfangen und es mit offenen Armen »trotz
großer Bedrängnis mit der Freude aufgenommen, die der Heilige Geist gibt« (1 Thess 1,6). Wenn
wir zulassen, dass der Herr uns aus unserem Korsett herausholt und unser Leben verwandelt,
dann werden wir verwirklichen können, was der heilige Paulus forderte: »Freut euch im Herrn zu
jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch!« (Phil 4,4).
123. Die Propheten kündigten die Zeit Jesu, die wir nun leben, als eine Offenbarung der Freude
an: »Jauchzt und jubelt!« (Jes 12,6). »Steig auf einen hohen Berg, Zion, du Botin der Freude!
Erheb deine Stimme mit Macht, Jerusalem, du Botin der Freude!« (Jes 40,9). »Freut euch, ihr
Berge! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und sich seiner Armen erbarmt« (Jes 49,13). »Juble
laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir. Gerecht ist er

4.3 Page 33

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33
und Rettung wurde ihm zuteil« (Sach 9,9). Vergessen wir nicht die Aufforderung Nehemias: »Seid
nicht besorgt, denn die Freude am Herrn ist eure Stärke« (8,10).
124. Maria hat verstanden, die Neuheit zu entdecken, die Jesus uns brachte, und sang: »Mein
Geist jubelt über Gott, meinen Retter« (Lk 1,47). Jesus selbst war »vom Heiligen Geist erfüllt, voll
Freude« (Lk 10,21). Wenn er vorüberging, »freute sich das ganze Volk« (Lk 13,17). Nach seiner
Auferstehung herrschte dort, wo die Jünger hinkamen, »große Freude« (Apg 8,8). Uns gibt Jesus
eine Sicherheit: »Ihr werdet traurig sein, aber eure Trauer wird sich in Freude verwandeln […] ich
werde euch wiedersehen; dann wird euer Herz sich freuen und niemand nimmt euch eure
Freude« (Joh 16,20.22). »Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit
eure Freude vollkommen wird« (Joh 15,11).
125. Es gibt schwere Momente, Zeiten des Kreuzes, doch nichts kann die übernatürliche Freude
zerstören: »Sie passt sich an und verwandelt sich, und bleibt immer wenigstens wie ein
Lichtstrahl, der aus der persönlichen Gewissheit hervorgeht, jenseits von allem grenzenlos geliebt
zu sein.«[100] Es ist eine innere Sicherheit, eine hoffnungsfrohe Gelassenheit, die eine geistliche
Zufriedenheit schenkt, die für weltliche Maßstäbe unverständlich ist.
126. Normalerweise wird die christliche Freude von einem Sinn für Humor begleitet, sehr markant
zum Beispiel beim heiligen Thomas Morus, beim heiligen Vinzenz von Paul oder beim heiligen
Philipp Neri. Missmut ist kein Zeichen von Heiligkeit: »Halte deinen Sinn von Ärger frei!« (Koh
11,10). Es ist so viel, was wir vom Herrn erhalten, »um es zu genießen« (1 Tim 6,17), dass die
Traurigkeit mitunter mit Undankbarkeit zu tun hat: Man ist so in sich selbst verschlossen, dass
man unfähig wird, die Geschenke Gottes anzuerkennen.[101]
127. Seine väterliche Liebe lädt uns ein: »Mein Sohn, tu dir selbst Gutes […] Versag dir nicht das
Glück des heutigen Tages« (Sir 14,11.14). Er will, dass wir positiv sind, dankbar und nicht zu
kompliziert: »Am Glückstag erfreue dich […] Gott hat die Menschen recht gemacht, sie aber
haben sich in allen möglichen Berechnungen versucht« (Koh 7,14.29). In jedem Fall muss man
einen beweglichen Geist bewahren und es wie der heilige Paulus machen: »Ich habe gelernt,
mich in jeder Lage zurechtzufinden« (Phil 4,11). Dies lebte der heilige Franz von Assisi. Er konnte
angesichts eines Stücks harten Brotes von Dankbarkeit ergriffen werden oder Gott allein wegen
der Windbrise, die sein Gesicht streichelte, glücklich lobpreisen.
128. Ich rede nicht von der konsumorientierten und individualistischen Freude, die in einigen
kulturellen Ausprägungen von heute so präsent ist. Denn der Konsumismus stopft das Herz nur
voll; er kann gelegentliches und vorübergehendes Vergnügen bieten, aber keine Freude. Ich
beziehe mich vielmehr auf die Freude, die man in Gemeinschaft erlebt, die man teilt und verteilt,
denn »geben ist seliger als nehmen« (Apg 20,35) und »Gott liebt einen fröhlichen Geber« (2 Kor
9,7). Die geschwisterliche Liebe vervielfacht unsere Fähigkeit zur Freude, weil sie uns fähig
macht, uns über das Wohl der anderen zu freuen: »Freut euch mit den Fröhlichen« (Röm 12,15).

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34
»So ist es uns eine Freude, wenn wir schwach dastehen, ihr aber euch als stark erweist« (2 Kor
13,9). Wenn wir uns dagegen »vor allem auf unsere eigenen Bedürfnisse konzentrieren,
verurteilen wir uns dazu, mit wenig Freude zu leben«.[102]
Wagemut und Eifer
129. Zugleich bedeutet Heiligkeit auch parrhesía: sie ist Wagemut, ist Antrieb zur Evangelisierung,
die eine Spur in dieser Welt hinterlässt. Damit das möglich ist, kommt Jesus selbst uns entgegen
und sagt uns einmal mehr mit Gelassenheit und Entschlossenheit: »Fürchtet euch nicht!«
(Mk 6,50). »Ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt« (Mt 28,20). Diese Worte helfen
uns, voranzuschreiten und zu dienen mit jener Haltung voller Mut, die der Heilige Geist in den
Aposteln weckte und die sie antrieb, Jesus Christus zu verkünden. Wagemut, Enthusiasmus, mit
Freimut sprechen, apostolischer Eifer – all das ist im griechischen Wort parrhesía enthalten, dem
Wort, mit dem die Bibel auch die Freiheit einer Existenz ausdrückt, die offen ist, weil sie für Gott
und für die anderen verfügbar ist (vgl. Apg 4,29; 9,28; 28,31; 2 Kor 3,12; Eph 3,12; Hebr 3,6;
10,19).
130. Der selige Paul VI. erwähnte unter den Hindernissen für die Evangelisierung gerade den
Mangel an parrhesía: »den Mangel an Eifer, der umso schwerwiegender ist, weil er aus dem
Innern entspringt«.[103] Wie oft sind wir versucht, aus Bequemlichkeit am Ufer zu bleiben! Doch
der Herr ruft uns, aufs Meer hinauszufahren und die Netze in tieferen Gewässern auszuwerfen
(vgl. Lk 5,4). Er lädt uns ein, unser Leben in seinem Dienst zu verausgaben. In ihm verankert
fassen wir Mut, alle unsere Charismen in den Dienst der anderen zu stellen. Hoffentlich fühlen wir
uns durch seine Liebe gedrängt (vgl. 2 Kor 5,14) und können mit dem heiligen Paulus sagen:
»Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!« (1 Kor 9,16).
131. Schauen wir auf Jesus: Sein tiefes Mitleid ließ ihn nicht in sich selbst zurückziehen, es war
kein lähmendes, furchtsames oder verschämtes Mitleid, wie es bei uns oft vorkommt, sondern das
genaue Gegenteil. Es war ein Mitleid, das ihn dazu bewegte, kraftvoll aus sich herauszugehen,
um zu verkünden, um in die Mission zu senden, um auszusenden, zu heilen und zu befreien.
Erkennen wir unsere Schwachheit, aber lassen wir zu, dass Jesus sie in seine Hände nimmt und
uns in die Mission hinaustreibt. Wir sind schwach, aber Träger eines Schatzes, der uns groß
macht und der die besser und glücklicher machen kann, die ihn empfangen. Wagemut und
apostolischer Mut sind konstitutiv für die Mission.
132. Die parrhesía ist Kennzeichen des Heiligen Geistes, Zeugnis für die Glaubwürdigkeit der
Verkündigung. Sie ist frohe Sicherheit, die uns dazu bringt, uns des Evangeliums, das wir
verkünden, zu rühmen, sie ist unerschütterliches Vertrauen in die Treue des treuen Zeugen
schlechthin, der uns die Sicherheit gibt, dass nichts »uns scheiden« kann »von der Liebe Gottes«

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(Röm 8,39).
133. Wir brauchen den Anstoß des Heiligen Geistes, um nicht durch Furcht und Berechnung
gelähmt zu werden, um uns nicht daran zu gewöhnen, nur innerhalb sicherer Grenzen unterwegs
zu sein. Denken wir daran, dass verschlossene Räume am Ende nach Moder riechen und uns
krank machen. Als die Apostel die Versuchung spürten, sich vor Ängsten und Gefahren lähmen zu
lassen, begannen sie, gemeinsam zu beten und um die parrhesía zu bitten: »Doch jetzt, Herr, sieh
auf ihre Drohungen und gib deinen Knechten, mit allem Freimut dein Wort zu verkünden!« (Apg
4,29). Und die Antwort war: »Als sie gebetet hatten, bebte der Ort, an dem sie versammelt waren,
und alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und sie verkündeten freimütig das Wort Gottes.«
(Apg 4,31).
134. Wie der Prophet Jona sind wir immer latent in der Versuchung, an einen sicheren Ort zu
fliehen, der viele Namen haben kann: Individualismus, Spiritualismus, Einschließen in kleine
Welten, Abhängigkeit, Sich-Einrichten, Wiederholung bereits festgelegter Schemata,
Dogmatismus, Nostalgie, Pessimismus, Zuflucht zu den Normen. Womöglich haben wir uns
dagegen gesträubt, ein Gebiet zu verlassen, das uns bekannt und leicht handzuhaben war. Die
Schwierigkeiten können jedoch so etwas sein wie der Sturm, wie der Wal, wie der Wurm, der den
Rizinusstrauch des Jona vertrocknen ließ, oder wie der Wind und die Sonne, die Jona auf den
Kopf brannte; wie für ihn, so können sie auch für uns die Funktion haben, uns zu diesem Gott
zurückkehren zu lassen, der Zärtlichkeit ist und der uns auf eine ständige und erneuernde
Wanderung mitnehmen möchte.
135. Gott ist immer Neuheit, die uns antreibt, ein ums andere Mal aufzubrechen und uns an neue
Orte zu begeben, um über das Bekannte hinauszugehen, hin zu den Rändern und Grenzen. Er
bringt uns dort hin, wo die Menschheit am meisten verletzt ist und wo die Menschen – unter dem
Anschein der Oberflächlichkeit und des Konformismus – weiter die Antwort auf die Frage nach
dem Sinn des Lebens suchen. Gott hat keine Angst! Er hat keine Angst! Er geht immer über
unsere Schemata hinaus und hat keine Angst vor den Rändern. Er selbst hat sich zum „Rand“
gemacht (vgl. Phil 2,6-8; Joh 1,14). Deshalb werden wir, wenn wir es wagen, an die Ränder zu
gehen, ihn dort antreffen, er wird schon dort sein. Jesus kommt uns zuvor im Herzen unserer
Brüder und Schwestern, in ihrem verletzten Leib, in ihrem unterdrückten Leben, in ihrer
verdunkelten Seele. Er ist schon dort.
136. Es ist wahr, dass wir die Tür unseres Herzens öffnen müssen, denn er klopft an und ruft (vgl.
Offb 3,20). Allerdings frage ich mich manchmal, ob Jesus – wegen der stickigen Luft unserer
Selbstbezogenheit – in unserem Inneren nicht schon klopft, damit wir ihn hinauslassen. Im
Evangelium sehen wir: Jesus »wanderte von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf und verkündete
das Evangelium vom Reich Gottes« (Lk 8,1). Ebenso sehen wir es nach seiner Auferstehung, als
die Jünger überallhin auszogen: »Der Herr stand ihnen bei und bekräftigte das Wort durch die
Zeichen, die es begleiteten« (Mk 16,20). Dies ist die Dynamik, die aus der wahren Begegnung

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entspringt.
137. Die Gewohnheit verführt uns und behauptet, dass es keinen Sinn habe, etwas zu ändern zu
versuchen, dass wir angesichts dieser Situation nichts tun können, dass es immer so gewesen ist
und dass wir dennoch weitergelebt haben. Weil wir daran gewöhnt sind, treten wir dem Bösen
nicht mehr entgegen und lassen es zu, dass die Dinge „eben sind, wie sie sind“ oder wie einige
wenige entschieden haben, dass sie sein sollen. Lassen wir doch zu, dass der Herr kommt, um
uns aufzuwecken, um uns in unserer Schläfrigkeit einen Ruck zu versetzen, um uns von der
Trägheit zu befreien. Bieten wir der Gewohnheit die Stirn, öffnen wir weit unsere Augen und
Ohren, vor allem aber das Herz, um uns bewegen zu lassen durch das, was um uns herum
geschieht, und durch den Ruf des lebendigen und wirkmächtigen Wortes des Auferstandenen.
138. Das Vorbild vieler Priester, Ordensfrauen, Ordensmänner und Laien, die sich mit großer
Treue hingeben, um zu verkündigen und zu dienen – oftmals unter Einsatz ihres Lebens und
gewiss auf Kosten ihrer Bequemlichkeit –, versetzt uns in Bewegung. Ihr Zeugnis erinnert uns
daran, dass die Kirche nicht viele Bürokraten und Funktionäre braucht, sondern leidenschaftliche
Missionare, die verzehrt werden von der Begeisterung, das wahre Leben mitzuteilen. Die Heiligen
überraschen, verwirren, weil ihr Leben uns einlädt, aus der ruhigen und betäubenden
Mittelmäßigkeit hinauszugehen.
139. Bitten wir den Herrn um die Gnade, nicht zu zögern, wenn der Heilige Geist uns auffordert,
einen Schritt vorwärts zu tun; bitten wir um den apostolischen Mut, anderen das Evangelium
weiterzugeben und es zu unterlassen, aus unserem christlichen Leben ein Museum voller
Andenken zu machen. Lassen wir es unbedingt zu, dass der Heilige Geist bewirkt, dass wir die
Geschichte unter dem Vorzeichen des auferstandenen Jesus betrachten. Auf diese Weise wird die
Kirche, statt zu ermüden, weiter vorwärtsgehen und dabei die Überraschungen des Herrn
begrüßen.
In Gemeinschaft
140. Es ist sehr schwierig, gegen die eigene Begehrlichkeit und gegen die Nachstellungen und
Versuchungen des Bösen und der egoistischen Welt zu kämpfen, wenn wir uns absondern. Es ist
ein solches Bombardement, das uns verleitet, dass wir – wenn wir zu viel alleine sind – leicht den
Sinn für die Wirklichkeit, die innere Klarheit, verlieren und unterliegen.
141. Die Heiligung ist ein gemeinschaftlicher Weg, immer zu zweit. So spiegeln es einige heilige
Gemeinschaften wider. Bei verschiedenen Gelegenheiten hat die Kirche ganze Gemeinschaften
heiliggesprochen, die das Evangelium auf heroische Weise lebten oder Gott das Leben all ihrer
Mitglieder darbrachten. Denken wir zum Beispiel an die sieben heiligen Gründer des Ordens der

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Diener Mariens (Serviten), an die sieben seligen Ordensfrauen des ersten Heimsuchungsklosters
in Madrid (Salesianerinnen), an den heiligen Paul Miki und seine Gefährten, Märtyrer in Japan, an
den heiligen Andreas Kim Taegon und seine Gefährten, Märtyrer in Korea, an den heiligen Roque
González de Santa Cruz und seine Gefährten, Märtyrer in Südamerika. Wir erinnern uns auch an
das jüngste Zeugnis der Trappistenmönche von Tibhirine (Algerien), die sich gemeinsam auf das
Martyrium vorbereiteten. Ebenso gibt es viele heilige Ehepaare, bei denen jeder einzelne ein
Werkzeug Christi zur Heiligung des Ehepartners war. Mit anderen zusammen zu leben oder zu
arbeiten, ist zweifellos ein Weg der geistlichen Entwicklung. Der heilige Johannes vom Kreuz
sagte zu einem seiner Schüler: Du lebst mit anderen zusammen, »damit sie dich bearbeiten und
einüben«.[104]
142. Die Gemeinschaft ist dazu berufen, diesen »göttlichen Ort« zu schaffen, »an dem die
mystische Gegenwart des auferstandenen Herrn erfahren werden kann«.[105] Das Wort Gottes
miteinander zu teilen und die Eucharistie gemeinsam zu feiern, macht uns immer mehr zu Brüdern
und Schwestern und verwandelt uns in eine heilige und missionarische Gemeinschaft. Daraus
erwachsen auch echte mystische und in Gemeinschaft gelebte Erfahrungen, wie es beim heiligen
Benedikt und der heiligen Scholastika der Fall war oder bei jener erhebenden geistlichen
Begegnung, die der heilige Augustinus und seine Mutter, die heilige Monika, gemeinsam erlebten:
»Schon nahte der Tag, da sie aus diesem Leben scheiden sollte – du kanntest ihn, wir nicht –, da
traf es sich, wie ich glaube durch deine geheime Fügung, dass wir beide allein, ich und sie, an ein
Fenster gelehnt standen, das in den Garten innerhalb des Hauses ging, das uns beherbergte […]
Doch lechzte begierig unser Herz nach den Wassern aus der Höhe, den Wassern „deiner Quelle“,
der „Quelle des Lebens, die bei dir ist“ […] Und während wir so reden von dieser ewigen Weisheit,
voll Sehnsucht nach ihr, da streiften wir sie leise in einem vollen Schlag des Herzens […] dass so
nun ewig Leben wäre, wie jetzt dieser Augenblick Erkennen, dem unser Seufzen galt.«[106]
143. Doch diese Erfahrungen sind weder sehr häufig, noch sind sie das Wichtigste. Das
Gemeinschaftsleben – sei es in der Familie, in der Pfarrei, in der Ordensgemeinschaft oder in
irgendeiner anderen Gemeinschaft – besteht aus vielen kleinen alltäglichen Details. Das geschah
in der heiligen Gemeinschaft, die Jesus, Maria und Josef bildeten und wo sich auf vorbildhafte
Weise die Schönheit der Gemeinschaft der Dreieinigkeit widerspiegelte. Das ist es auch, was sich
in dem Gemeinschaftsleben ereignete, das Jesus mit seinen Jüngern und mit dem einfachen Volk
führte.
144. Erinnern wir uns daran, wie Jesus seine Jünger einlud, aufmerksam zu sein für die Details.
Das kleine Detail, dass bei einem Fest der Wein ausging.
Das kleine Detail, dass ein Schaf fehlte.
Das kleine Detail der Witwe, die zwei kleine Münzen als Opfergabe gab.Das kleine Detail, für die
Lampen Öl in Reserve zu haben, falls der Bräutigam sich verspätet.
Das kleine Detail, seine Jünger aufzufordern, sie sollten nachschauen, wie viele Brote sie hatten.
Das kleine Detail, ein Feuer vorbereitet und Fisch auf dem Grillrost liegen zu haben, während er

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die Jünger frühmorgens erwartete.
145. Die Gemeinschaft, die die kleinen Details der Liebe bewahrt,[107] wo die Mitglieder sich
umeinander kümmern und einen offenen und evangelisierenden Raum bilden, ist Ort der
Gegenwart des Auferstandenen, der sie entsprechend dem Heilsplan des Vaters heiligt.
Gelegentlich werden uns – durch ein Gnadengeschenk des Herrn – inmitten dieser kleines Details
tröstliche Erfahrungen Gottes geschenkt: »Eines Abends im Winter verrichtete ich wie gewöhnlich
meinen kleinen Dienst […] plötzlich hörte ich aus der Ferne den harmonischen Klang eines
Musikinstrumentes, da stellte ich mir einen wohlerleuchteten Salon vor, glänzend in Goldschmuck,
worin elegant gekleidete Mädchen Artigkeiten und weltliche Höflichkeiten austauschten; dann fiel
mein Blick auf die arme Kranke, die ich stützte; statt einer Melodie vernahm ich von Zeit zu Zeit ihr
klagendes Stöhnen […] Ich vermag nicht in Worte zu fassen, was in meiner Seele vorging; was ich
weiß, ist, dass der Herr sie mit den Strahlen der Wahrheit erleuchtete, die den trüben Glanz
irdischer Feste derart übertreffen, dass ich mein Glück nicht zu fassen vermochte.«[108]
146. Gegen die Tendenz zum konsumistischen Individualismus – der uns schließlich isoliert auf
der Suche nach dem Wohlergehen abseits von den anderen – dürfen wir auf unserem Weg der
Heiligung nicht aufhören, uns mit dem Wunsch Jesu zu identifizieren: »Alle sollen eins sein: Wie
du, Vater, in mir bist und ich in dir bin« (Joh 17,21).
In beständigem Gebet
147. Auch wenn es offenkundig scheinen mag, erinnern wir schließlich daran, dass die Heiligkeit
in einer gewohnheitsmäßigen Offenheit für die Transzendenz besteht, die sich in Gebet und
Anbetung äußert. Der Heilige ist ein Mensch mit einem betenden Geist, der die Kommunikation
mit Gott braucht. Er ist jemand, der es nicht erträgt, in der verschlossenen Immanenz dieser Welt
zu ersticken, sondern inmitten seiner Anstrengungen und Hingabe nach Gott Luft holt, der aus
sich herausgeht im Lobpreis und seine Grenzen weitet in der Betrachtung des Herrn. Ich glaube
nicht an eine Heiligkeit ohne Gebet, auch wenn es sich nicht notwendigerweise um ausgedehnte
Zeiten oder intensive Gefühle handeln muss.
148. Der heilige Johannes vom Kreuz empfahl, sich »zu bemühen, immer in der Gegenwart
Gottes zu wandeln – sei es in der wirklichen, in der imaginären oder in der einigenden –, in
Abstimmung mit dem, was die Werke erlauben, die man gerade ausführt«.[109] Im Grunde ist es
die Sehnsucht nach Gott, die sich unweigerlich auf irgendeine Weise inmitten unseres alltäglichen
Lebens zeigt: »Bemühen Sie sich, im Gebet beständig zu sein, und inmitten der körperlichen
Arbeiten unterlassen Sie es nicht. Sei es, dass Sie essen, trinken, mit anderen sprechen, oder
irgendeine Sache tun, wandeln Sie immer im Sehnen nach Gott und Ihr Herz ihm

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zuneigend.«[110]
149. Damit dies jedoch möglich ist, sind auch einige Momente nur für Gott notwendig, in
Abgeschiedenheit mit ihm. Für die heilige Teresa von Ávila ist das Gebet ein »freundschaftliches
Umgehen, indem wir uns viele Male ganz allein mit dem unterreden, von dem wir wissen, dass er
uns liebt«.[111] Ich möchte darauf bestehen, dass dies nicht nur für einige wenige Privilegierte gilt,
sondern für alle, weil »wir alle dieses von angebeteter Gegenwart erfüllte Schweigen nötig
haben«.[112] Das vertrauensvolle Gebet ist eine Reaktion des Herzens, das sich Gott von
Angesicht zu Angesicht öffnet, wo alles Gerede zum Verstummen kommt, um auf die sanfte
Stimme des Herrn zu horchen, die im Schweigen widerhallt.
150. In diesem Schweigen kann man im Licht des Heiligen Geistes die Wege der Heiligkeit
erkennen, die der Herr uns vorschlägt. Andernfalls werden alle unsere Entscheidungen nur
„Dekorationen“ sein können, die das Evangelium verdecken oder ersticken, anstatt es in unserem
Leben zu verherrlichen. Für jeden Jünger ist es unerlässlich, mit dem Meister zusammen zu sein,
auf ihn zu hören, von ihm zu lernen, immer zu lernen. Wenn wir nicht hinhorchen, werden alle
unsere Worte einzig und allein Lärm sein, der zu nichts dient.
151. Erinnern wir uns daran: »Es ist die Betrachtung des Antlitzes des gestorbenen und
auferstandenen Jesus, die unsere Menschheit wieder zusammenfügt, auch jene, die durch die
Mühen des Lebens zerteilt oder von der Sünde gezeichnet ist. Wir dürfen die Macht des Antlitzes
Christi nicht domestizieren.«[113] Also wage ich es, dich zu fragen: Gibt es Momente, in denen du
dich im Schweigen in seine Gegenwart versetzt, ohne Hast bei ihm verweilst und dich von ihm
anschauen lässt? Lässt du es zu, dass sein Feuer dein Herz entflammt? Wenn du ihm nicht
erlaubst, dass er die Wärme seiner Liebe und Zärtlichkeit nährt, wirst du kein Feuer besitzen. Wie
also wirst du dann das Herz der anderen mit deinem Zeugnis und deinen Worten entflammen
können? Und wenn du es vor dem Antlitz Jesu noch immer nicht schaffst, dich heilen und
verwandeln zu lassen, dann dring in das Innere Jesu ein, begib dich in seine Wunden, denn dort
hat die göttliche Barmherzigkeit ihren Sitz.[114]
152. Ich bitte aber, dass wir das betende Schweigen nicht als eine Flucht verstehen, welche die
Welt verneint, die uns umgibt. Der russische Pilger, der im immerwährenden Gebet unterwegs
war, erzählt, dass dieses Gebet ihn nicht von der äußeren Realität trennte: »Geschah es aber am
Tage, dass ich irgendjemanden traf, so erschienen mir alle ohne Ausnahme so lieb und nah, als
wären sie meine Verwandten […] Diese [Wonne] fühlte ich nicht nur im Inneren meiner Seele,
sondern auch die ganze Außenwelt schien mir wunderbar schön.«[115]
153. Ebenso wenig verschwindet die Geschichte. Das Gebet sollte – gerade weil es sich von der
Gabe Gottes nährt, die sich in unser Leben ergießt – immer ein gutes Gedächtnis besitzen. Das
Gedächtnis der Taten Gottes ist die Grundlage der Erfahrung des Bundes zwischen Gott und
seinem Volk. Da Gott in die Geschichte eintreten wollte, ist das Gebet aus Erinnerungen

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gewoben: nicht nur aus der Erinnerung des geoffenbarten Wortes, sondern auch aus der
Erinnerung des eigenen Lebens, des Lebens der anderen, dessen, was der Herr in seiner Kirche
gewirkt hat. Es ist das dankbare Gedächtnis, von dem auch der heilige Ignatius von Loyola in
seiner »Betrachtung, um Liebe zu erlangen«[116] spricht, wenn er uns auffordert, uns alle
Wohltaten Gottes in Erinnerung zu rufen, die wir vom Herrn empfangen haben. Schau auf deine
Lebensgeschichte, wenn du betest, und du wirst in ihr so viel an Erbarmen finden. Zugleich wird
dies in dir das Bewusstsein nähren, dass der Herr dich in seinem Gedächtnis behält und dich
niemals vergisst. Daher ist es sinnvoll, ihn zu bitten, dass er auch die kleinen Details deiner
Existenz, die ihm nicht entgehen, erleuchten möge.
154. Die inständige Bitte ist Ausdruck des Herzens, das auf Gott vertraut, das weiß, dass es
alleine nichts vermag. Im Leben des gläubigen Gottesvolkes finden wir viel an inniger Bitte, voll
gläubiger Zärtlichkeit und tiefen Vertrauens. Nehmen wir dem Bittgebet nicht seinen Wert, das oft
unser Herz beruhigt und uns hilft, mit Hoffnung weiter zu kämpfen. Die Fürbitte hat einen
besonderen Wert, weil sie ein Akt des Gottvertrauens und zugleich ein Ausdruck der
Nächstenliebe ist. Manche glauben aufgrund von spiritualistischen Vorurteilen, dass das Gebet
eine reine Kontemplation Gottes sein müsse, ohne Ablenkungen, so als ob die Namen und
Gesichter der Brüder und Schwestern eine zu vermeidende Störung wären. Die Realität ist
dagegen, dass das Gebet Gott gefälliger und heiligmachender wird, wenn wir darin durch die
Fürbitte versuchen, das uns von Jesus hinterlassene Doppelgebot zu leben. Die Fürbitte drückt
das brüderliche Engagement für andere aus, wenn wir in ihr fähig sind, das Leben anderer
aufzunehmen, mit ihren verstörenden Seelennöten und besten Träumen. Wer sich großmütig der
Fürbitte widmet, von dem kann man mit den Worten der Heiligen Schrift sagen: »Dieser ist der
Freund seiner Brüder, der viel für das Volk betet« (2 Makk 15,14).
155. Wenn wir wirklich glauben, dass Gott existiert, können wir es nicht unterlassen, ihn
anzubeten – bisweilen in einem von Anbetung erfüllten Schweigen – oder ihn in festlichem
Lobpreis zu besingen. So drücken wir das aus, was der selige Charles de Foucauld lebte, wenn er
sagte: »Sobald ich glaubte, dass es einen Gott gibt, wurde mir klar, dass ich nichts anderes tun
konnte, als für ihn allein zu leben.«[117] Auch im Leben des pilgernden Volkes Gottes gibt es viele
schlichte Gesten der reinen Anbetung, zum Beispiel wenn »der Blick des Pilgers […] auf einem
Abbild [ruht], das die zärtliche Zuwendung und Nähe Gottes symbolisiert. Die Liebe hält inne,
betrachtet das Mysterium und erfreut sich im Schweigen daran.«[118]
156. Das betende Lesen des Wortes Gottes, das »süßer als Honig« (Ps 119,103) und »schärfer
als jedes zweischneidige Schwert« (Hebr 4,12) ist, erlaubt uns, innezuhalten und dem Meister
zuzuhören, damit er eine Leuchte für unsere Schritte sei, Licht für unsere Wege (vgl. Ps 119,105).
Wie die Bischöfe Indiens uns richtig in Erinnerung gerufen haben, ist »die Verehrung des Wortes
Gottes […] nicht bloß eine von vielen Andachtsformen, schön, aber etwas Optionales. Sie gehört
zum Herzen und zur ureigenen Identität des christlichen Lebens. Das Wort Gottes hat eine ihm
innewohnende Kraft, das Leben der Menschen zu verwandeln.«[119]

5 Pages 41-50

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41
157. Die Begegnung mit Jesus in der Heiligen Schrift führt uns zur Eucharistie, wo eben dieses
Wort selbst seine größte Wirksamkeit erlangt, weil die Eucharistie Realpräsenz dessen ist, der das
Lebendige Wort ist. Dort empfängt der einzig Absolute die höchste Anbetung, die ihm diese Erde
geben kann, weil es Christus selbst ist, der sich hingibt. Und wenn wir ihn in der Kommunion
empfangen, erneuern wir unseren Bund mit ihm und erlauben ihm, dass er sein verwandelndes
Werk immer mehr verwirklicht.
FÜNFTES KAPITEL
KAMPF, WACHSAMKEIT UND UNTERSCHEIDUNG
158. Das Leben des Christen ist ein ständiger Kampf. Es bedarf Kraft und Mut, um den
Versuchungen des Teufels zu widerstehen und das Evangelium zu verkünden. Dieses Ringen ist
schön, weil es uns jedes Mal feiern lässt, dass der Herr in unserem Leben siegt.
Der Kampf und die Wachsamkeit
159. Es handelt sich nicht nur um einen Kampf gegen die Welt und die weltliche Mentalität, die
betrügt, betäubt und uns mittelmäßig werden lässt, ohne Engagement und freudlos. Ebenso wenig
beschränkt er sich auf ein Ringen mit der eigenen Schwäche und den eigenen Lastern (ein jeder
hat seine: Trägheit, Wollust, Neid, Eifersucht usw.). Es ist auch ein beständiger Kampf gegen den
Teufel, welcher der Fürst des Bösen ist. Jesus selbst feiert unsere Siege. Er freute sich, als seine
Jünger mit der Verkündigung des Evangeliums fortzuschreiten vermochten und den Widerstand
des Bösen überwanden. Da rief er jubelnd aus: »Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem
Himmel fallen« (Lk 10,18).
Mehr als ein Mythos
160. Wir würden die Existenz des Teufels nicht anerkennen, wenn wir darauf beharrten, das
Leben nur mit empirischen Kriterien und ohne übernatürlichen Sinn zu betrachten. Gerade die
Überzeugung, dass diese böse Macht unter uns gegenwärtig ist, lässt uns verstehen, weshalb das
Böse manchmal eine so zerstörerische Kraft besitzt. Gewiss hatten die biblischen Verfasser nur
ein begrenztes begriffliches Rüstzeug zur Verfügung, um einige Sachverhalte auszudrücken, und

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42
man konnte zu Jesu Zeiten zum Beispiel eine Epilepsie mit der Besessenheit durch den Teufel
verwechseln. Das darf uns jedoch nicht dazu verleiten, die Wirklichkeit so zu vereinfachen, dass
wir sagen, dass alle Fälle, von denen in den Evangelien berichtet wird, von psychischen
Krankheiten handeln und dass letztendlich der Teufel nicht existiert oder nicht tätig ist. Der Teufel
ist auf den ersten Seiten der Bibel gegenwärtig, an deren Ende aber steht der Sieg Gottes über
den Satan.[120] Als Jesus uns das Vaterunser lehrte, wollte er tatsächlich, dass wir am Ende den
Vater bitten, er möge uns von dem Bösen erlösen. Der dort benutzte Ausdruck bezieht sich nicht
auf etwas Böses im abstrakten Sinn, sondern lässt sich genauer mit „der Böse“ übersetzen. Er
weist auf ein personales Wesen hin, das uns bedrängt. Jesus lehrte uns, täglich um diese
Befreiung zu bitten, damit die Macht Satans uns nicht beherrsche.
161. Wir sollen also nicht denken, dass dies ein Mythos, ein Schauspiel, ein Symbol, ein Bild oder
eine Idee sei.[121] Dieser Irrtum bringt uns dazu, die Hände in den Schoß zu legen, nachlässig zu
sein und mehr Gefährdungen ausgesetzt zu sein. Der Teufel hat es nicht nötig, uns zu
beherrschen. Er vergiftet uns mit Hass, Traurigkeit, Neid, mit den Lastern. Er nützt dann unsere
Achtlosigkeit, um unser Leben, unsere Familien und unsere Gemeinschaften zu zerstören, denn
er »geht wie ein brüllender Löwe umher und sucht, wen er verschlingen kann« (1 Petr 5,8).
Wach und vertrauensvoll
162. Das Wort Gottes lädt uns mit deutlichen Worten ein, »den listigen Anschlägen des Teufels zu
widerstehen« (Eph 6,11) und »alle feurigen Geschosse des Bösen« (Eph 6,16) abzuwehren. Das
sind keine romantischen Phrasen, denn unser Weg auf die Heiligkeit zu ist auch ein ständiger
Kampf. Wer das nicht akzeptieren will, wird scheitern oder mittelmäßig bleiben. Für den Kampf
haben wir die wirksamen Waffen, die der Herr uns gibt: der im Gebet zum Ausdruck gebrachte
Glaube, die Betrachtung des Wortes Gottes, die Feier der heiligen Messe, die eucharistische
Anbetung, das Sakrament der Versöhnung, die guten Werke, das Gemeinschaftsleben, der
missionarische Einsatz. Wenn wir nachlässig werden, werden die falschen Versprechungen des
Bösen uns leicht verführen, wie der heilige Pfarrer Brochero sagt: »Was nützt es, wenn Luzifer
euch freimachen und mit all seinen Gütern überschütten will, wenn diese Güter verlogen sind,
wenn es vergiftete Güter sind.«[122]
163. Auf diesem Weg ist das Wachstum im Guten, in der geistlichen Reife und der Liebe das
beste Gegengewicht zum Bösen. Niemand widersteht, wenn er sich entscheidet, an einem toten
Punkt stehen zu bleiben; wenn er sich mit Wenigem begnügt; wenn er aufhört, davon zu träumen,
sich dem Herrn noch mehr hinzugeben. Am allerwenigsten, wenn er einem Gefühl der Niederlage
verfällt, denn »wer ohne Zuversicht beginnt, hat von vornherein die Schlacht zur Hälfte verloren
und vergräbt die eigenen Talente. […] Der christliche Sieg ist immer ein Kreuz, doch ein Kreuz,
das zugleich ein Siegesbanner ist, das man mit einer kämpferischen Sanftmut gegen die Angriffe

5.3 Page 43

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43
des Bösen trägt.«[123]
Die geistliche Korruption
164. Der Weg der Heiligkeit ist eine Quelle des Friedens und der Freude, die uns der Heilige Geist
schenkt. Zugleich verlangt er jedoch, dass unsere »Lampen brennen« (Lk 12,35) und dass wir
wachsam bleiben: »Meidet das Böse in jeder Gestalt!« (1 Thess 5,22). »Seid also wachsam!« (Mt
24,42; Mk 13,35). »Darum wollen wir nicht schlafen« (1 Thess 5,6). Denn wer meint, keine
schweren Fehler gegen das Gesetz Gottes zu begehen, kann in einer Art Verblödung oder
Schläfrigkeit nachlässig werden. Da er nichts Schlimmes findet, das er sich vorwerfen müsste,
bemerkt er die Lauheit nicht, die sich allmählich in seinem geistlichen Leben breitmacht, und am
Ende ist er aufgerieben und verdorben.
165. Die geistliche Korruption ist schlimmer als der Fall eines Sünders, weil es sich um eine
bequeme und selbstgefällige Blindheit handelt, wo schließlich alles zulässig erscheint:
Unwahrheit, üble Nachrede, Egoismus und viele subtile Formen von Selbstbezogenheit – denn
schon »der Satan tarnt sich als Engel des Lichts« (2 Kor 11,14). So passierte es seinerzeit
Salomon, während der große Sünder David sein Elend zu überwinden wusste. In einer Erzählung
warnte uns Jesus sehr vor dieser trügerischen Versuchung, die uns in die Korruption hineingleiten
lässt: Er spricht von einem Menschen, der von einem Dämon befreit wurde. Als dieser meint, dass
sein Leben schon rein wäre, wird er am Ende von sieben anderen bösen Geistern heimgesucht
(vgl. Lk 11,24-26). Ein weiterer biblischer Text verwendet ein drastisches Bild: »Der Hund kehrt
zurück zu dem, was er erbrochen hat« (2 Petr 2,22; vgl. Spr 26,11).
Die Unterscheidung
166. Wie wissen wir, ob etwas vom Heiligen Geist kommt oder ob es im Geist der Welt oder im
Geist des Teufels seinen Ursprung hat? Die einzige Methode ist die Unterscheidung, die nicht nur
ein gutes Denkvermögen und einen gesunden Menschenverstand voraussetzt. Sie ist auch eine
Gabe, um die man beten muss. Wenn wir sie vertrauensvoll vom Heiligen Geist erbitten und uns
zugleich darum bemühen, sie durch Gebet, Betrachtung, Lektüre und guten Rat zu entfalten,
können wir sicherlich in dieser geistlichen Fähigkeit wachsen.
Eine dringende Notwendigkeit

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44
167. Heutzutage ist die Haltung der Unterscheidung besonders notwendig. Das gegenwärtige
Leben bietet enorme Möglichkeiten der Betätigung und der Ablenkung. Die Welt präsentiert sie,
als wären sie alle wertvoll und gut. Alle, besonders die jungen Menschen, sind einem ständigen
Zapping ausgesetzt. Man kann auf zwei oder drei Bildschirmen gleichzeitig navigieren und
zugleich auf verschiedenen virtuellen Ebenen interagieren. Ohne die Weisheit der Unterscheidung
können wir leicht zu Marionetten werden, die den augenblicklichen Trends ausgeliefert sind.
168. Das erweist sich als besonders wichtig, wenn eine neue Situation in unserem Leben
auftaucht und wir dann unterscheiden müssen, ob es neuer Wein ist, der von Gott kommt, oder
aber eine trügerische Neuigkeit des Geistes der Welt oder des Geistes des Teufels. Bei anderen
Gelegenheiten geschieht das Gegenteil, wenn die Kräfte des Bösen uns verleiten, uns nicht zu
ändern, die Dinge so zu lassen, wie sie sind, sich für die Unbeweglichkeit und eine starre Haltung
zu entscheiden. So behindern wir das Wehen des Heiligen Geistes. Wir sind frei, mit der Freiheit
Jesu Christi; doch er ruft uns, das zu prüfen, was in uns ist – Wünsche, Ängste, Furcht,
Sehnsüchte – und das, was außerhalb von uns geschieht – die „Zeichen der Zeit“ –, damit wir die
Wege der Freiheit in Fülle erkennen: »Prüft alles und behaltet das Gute!« (1 Thess 5,21).
Immer im Licht des Herrn
169. Der Unterscheidung bedarf es nicht nur bei außergewöhnlichen Ereignissen, wenn es
schwierige Probleme zu lösen gilt oder wenn eine wichtige Entscheidung getroffen werden soll.
Sie ist ein Mittel im Kampf, um dem Herrn besser zu folgen. Wir brauchen sie immer, um fähig zu
sein, die Zeiten Gottes und seiner Gnade zu erkennen, um die Inspirationen des Herrn nicht zu
verpassen, um seine Einladung zum Wachstum nicht vorbeigehen zu lassen. Oftmals entscheidet
sich dies im Kleinen, in dem, was irrelevant erscheint, weil sich die Hochherzigkeit im Einfachen
und Alltäglichen zeigt.[124] Es handelt sich darum, dem Großen, dem Besten und Schönsten
keine Grenzen zu setzen, aber sich gleichzeitig auf das Kleine zu konzentrieren, auf die tägliche
Hingabe. Deshalb bitte ich alle Christen, es nicht zu unterlassen, jeden Tag im Gespräch mit dem
uns liebenden Herrn eine ehrliche Gewissenserforschung zu machen. Zugleich führt uns die
Unterscheidung dazu, die konkreten Mittel zu erkennen, die der Herr in seinem geheimnisvollen
Plan der Liebe vorbereitet hat, damit wir nicht nur bei guten Vorsätzen stehen bleiben.
Eine übernatürliche Gabe
170. In der Tat schließt die geistliche Unterscheidung die Hilfe der menschlichen, existentiellen,

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45
psychologischen, soziologischen oder moralischen Weisheit nicht aus. Sie transzendiert sie
jedoch. Nicht einmal die weisen Normen der Kirche reichen ihr aus. Erinnern wir uns immer daran,
dass die Unterscheidung eine Gnade ist. Sie schließt Vernunft und Besonnenheit mit ein,
übersteigt sie aber; denn sie trachtet danach, das Geheimnis des einzigartigen und
unwiederholbaren Plans zu erfassen, den Gott für jeden einzelnen Menschen hegt und der sich
inmitten der unterschiedlichsten Lebensumstände und Begrenzungen verwirklicht. Es geht nicht
nur um ein zeitlich begrenztes Wohlbefinden, noch um die Befriedigung, etwas Nützliches zu tun,
und nicht einmal um das Verlangen, ein ruhiges Gewissen zu haben. Es geht um den Sinngehalt
meines Lebens vor dem Vater, der mich kennt und liebt; es geht um den wahren Sinn meiner
Existenz, die niemand besser kennt als er. Die Unterscheidung führt letzten Endes zur Quelle des
Lebens selbst, das nicht stirbt, zur Erkenntnis des Vaters, des einzigen wahren Gottes, und
dessen, den er gesandt hat, Jesus Christus (vgl. Joh 17,3). Das erfordert weder besondere
Fähigkeiten, noch bleibt es nur den Klugen und Gebildeten vorbehalten. Der Vater offenbart sich
gerne den Demütigen (vgl. Mt 11,25).
171. Wenn auch der Herr auf verschiedene Weise zu uns spricht, inmitten unserer Arbeit, durch
die anderen und in jedem Augenblick, so kann man doch nicht auf die Stille des Gebets
verzichten, um seine Sprache besser wahrzunehmen, um die wirkliche Bedeutung von
Eingebungen zu interpretieren, die wir zu empfangen glauben, um die Angst zu verlieren und um
die Gesamtheit unserer eigenen Existenz im Licht Gottes wieder zusammenzufügen. So können
wir diese neue Synthese entstehen lassen, die aus einem vom Heiligen Geist erleuchteten Leben
entspringt.
Rede, Herr
172. Dennoch kann es sein, dass wir uns selbst beim Gebet nicht der Freiheit des Geistes, der
wirkt, wo er will, stellen wollen. Wir müssen uns bewusst sein, dass die Unterscheidung im Gebet
von einer Bereitschaft zum Hören ausgehen muss: auf den Herrn, auf die anderen, auf die
Wirklichkeit selbst, die uns immer auf neue Weisen fordert. Nur wer bereit ist zu hören, besitzt die
Freiheit, seine eigene partielle und unzulängliche Betrachtungsweise, seine Gewohnheiten und
seine Denkschemata aufzugeben. So ist man wirklich bereit, den Ruf zu hören, der die eigenen
Sicherheiten aufbricht und zu einem besseren Leben führt, weil es nicht genügt, dass alles soweit
gut geht und ruhig ist. Vielleicht will Gott uns Größeres schenken, und wir in unserer bequemen
Zerstreutheit merken es nicht.
173. Diese Haltung des Hörens schließt im Übrigen den Gehorsam gegenüber dem Evangelium
als letztes Kriterium ein, aber auch gegenüber dem Lehramt, das es bewahrt und versucht, im
Schatz der Kirche das zu finden, was am fruchtbarsten für das Heute des Heils ist. Es geht nicht
darum, Rezepte anzuwenden oder die Vergangenheit zu wiederholen; denn die gleichen

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46
Lösungen gelten nicht unter allen Umständen, und was in einem Zusammenhang nützlich war,
kann es in einem anderen nicht sein. Die Unterscheidung der Geister befreit uns von einer
Starrheit, die keinen Bestand hat vor dem ewigen Heute des Auferstandenen. Einzig und allein der
Heilige Geist weiß, in die dunkelsten Winkel der Wirklichkeit vorzudringen und alle ihre
Schattierungen im Auge zu haben, damit die Neuheit des Evangeliums in einem anderen Licht
aufleuchtet.
Die Logik des Geschenks und des Kreuzes
174. Eine wesentliche Bedingung für das Fortschreiten in der Unterscheidung besteht in der
Einübung in die Geduld Gottes und in seine Zeitmaßstäbe, die niemals unseren entsprechen. Er
lässt nicht Feuer über die Ungläubigen vom Himmel fallen (vgl. Lk 9,54); er gestattet es den
Eifernden nicht, das Unkraut auszureißen, das gemeinsam mit dem Weizen wächst (vgl. Mt
13,29). Zudem bedarf es der Großherzigkeit, denn »geben ist seliger als nehmen« (Apg 20,35).
Wir führen die Unterscheidung nicht durch, um herauszufinden, was wir sonst noch aus diesem
Leben herausholen können, sondern um zu erkennen, wie wir diese Sendung, die uns in der
Taufe anvertraut wurde, besser erfüllen können. Das bedeutet, zum Verzicht bereit zu sein und
sogar alles hinzugeben. Denn das Glück ist paradox, und es schenkt uns die tiefsten Erfahrungen,
wenn wir diese geheimnisvolle Logik, die nicht von dieser Welt ist, akzeptieren. So sagte der
heilige Bonaventura in Bezug auf das Kreuz: »Das ist unsere Logik.«[125] Wenn jemand diese
Dynamik annimmt, dann lässt er sein Gewissen nicht betäuben und öffnet sich großherzig der
Unterscheidung.
175. Wenn wir vor Gott die Wege des Lebens prüfen, gibt es keine Räume, die ausgeschlossen
bleiben. In allen Bereichen unserer Existenz können wir weiter wachsen und sie etwas mehr Gott
übergeben, auch dort, wo wir die größten Schwierigkeiten erfahren. Doch müssen wir den Heiligen
Geist darum bitten, dass er uns befreie und jene Angst vertreibe, die uns dazu bringt zu
verhindern, dass er in einige Bereiche unseres Lebens eintritt. Wer alles von ihm erbittet, dem gibt
er auch alles. Er will nicht bei uns eintreten, um zu verstümmeln oder zu schwächen, sondern um
die Fülle zu schenken. Dies lässt uns sehen, dass die Unterscheidung keine stolze Selbstanalyse
oder egoistische Nabelschau ist, sondern ein wahrer Ausgang von uns selbst auf das Geheimnis
Gottes zu, der uns hilft, die Sendung zu leben, zu der wir zum Wohl der Mitmenschen berufen
sind.
***
176. Mein Wunsch ist es, dass Maria diese Überlegungen kröne, weil sie wie keine andere die
Seligpreisungen Jesu gelebt hat. Sie erbebte vor Freude in der Gegenwart des Herrn, sie
bewahrte alles in ihrem Herzen und ließ es von einem Schwert durchdringen. Sie ist die Heilige

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47
unter den Heiligen, die Hochgebenedeite, die uns den Weg der Heiligkeit lehrt und uns begleitet.
Sie nimmt es nicht hin, dass wir fallen und liegen bleiben, und zuweilen nimmt sie uns in ihre
Arme, ohne uns zu verurteilen. Das Gespräch mit ihr tröstet uns, macht uns frei und heiligt uns.
Die Mutter braucht nicht viele Worte, sie hat es nicht nötig, dass wir uns anstrengen, um ihr zu
erklären, was uns passiert. Es genügt, ein ums andere Mal zu flüstern: »Gegrüßet seist du, Maria
…«
177. Ich hoffe, dass diese Seiten nützlich sind, damit sich die ganze Kirche um die Förderung des
Wunsches nach Heiligkeit bemüht. Bitten wir darum, dass der Heilige Geist uns eine große
Sehnsucht eingebe, heilig zu sein zur größeren Ehre Gottes. Ermutigen wir uns gegenseitig in
diesem Anliegen. So werden wir ein Glück teilen, das uns die Welt nicht nehmen kann.
Gegeben zu Rom, bei St. Peter, am 19. März, dem Hochfest des heiligen Josef, im Jahr 2018,
dem sechsten meines Pontifikats.
Franziskus
[1] Benedikt XVI., Predigt bei der heiligen Messe zur Amtseinführung (24. April 2005): AAS 97
(2005), 708.
[2] Vorausgesetzt ist in jedem Fall, dass die betreffende Person im Ruf der Heiligkeit steht und die
christlichen Tugenden zumindest im ordentlichen Grad gelebt hat – vgl. Apostolisches Schreiben
in Form eines Motu proprio Maiorem hac dilectionem (11. Juli 2017), Art. 2c: L’Osservatore
Romano (dt.), Jg. 47 (2017), Nr. 34 (25. August 2017), S. 7.
[3] Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium über die Kirche, 9.
[4] Vgl. Joseph Malègue, Pierres noires. Les classes moyennes du Salut, Paris 1958.
[5] Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium über die Kirche, 12.
[6]Verborgenes Leben und Epiphanie (1940), in: Gesamtausgabe Band 20, Freiburg i. Br. 2015, S.
124-125.
[7] Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo millennio ineunte (6. Januar 2001), 56: AAS

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48
93 (2001), 307.
[8] Apostolisches Schreiben Tertio millennio adveniente (10. November 1994), 37: AAS 87 (1995),
29.
[9] Predigt zur Gedächtnisfeier für die Zeugen des Glaubens im 20. Jahrhundert (7. Mai 2000),
5: AAS 92 (2000), 680-681.
[10] Dogm. Konst. Lumen gentium über die Kirche, 11.
[11] Hans Urs von Balthasar, Theologie und Heiligkeit, in: Communio 6 (1987), 486.
[12] Das Lied der Liebe, Vorrede, 2, Einsiedeln 41992, S. 10.
[13] Ebd., XIV-XV, 2, Einsiedeln 41992, S. 90.
[14] Vgl. Katechese bei der Generalaudienz am 19. November 2014: L’Osservatore Romano (dt.),
Jg. 44 (2014), Nr. 48 (28. November 2014), S. 2.
[15] Franz von Sales, Abhandlung über die Gottesliebe. Theotimus, VIII, 11, Eichstätt-Wien 1960,
S. 106.
[16] Hoffnungswege. Botschaft der Freude aus dem Gefängnis, Vallendar 2008, S. 23 u. 285.
[17] Neuseeländische Bischofskonferenz, Healing love (1. Januar 1988).
[18] Vgl. Geistliche Übungen, 101-312, Würzburg 32015, S. 63-126.
[19] Katechismus der Katholischen Kirche, 515.
[20] Ebd., 516.
[21] Ebd., 517.
[22] Ebd., 518.
[23] Ebd., 521.
[24] Benedikt XVI., Katechese bei der Generalaudienz am 13. April 2011: L’Osservatore Romano
(dt.), Jg. 41 (2011), Nr.16/17 (22. April 2011), S. 2.
[25] Vgl. ebd.

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49
[26] Vgl. Hans Urs von Balthasar, Theologie und Heiligkeit, in: Communio 6 (1987), 483-490.
[27]Xavier Zubiri, Naturaleza, historia, Dios, Madrid 31999, S. 427.
[28] Carlo M. Martini, Im Zweifel nicht untergehen, Freiburg i. Br. 1994, S. 66.
[29] Diese oberflächliche Ablenkung ist von einer gesunden Freizeitkultur zu unterscheiden,
welche uns in einem bereitwilligen und kontemplativen Geist offen macht für den anderen und für
die Wirklichkeit.
[30] Johannes Paul II., Predigt bei der Messe zur Heiligsprechung (1. Oktober 2000), 5: AAS 92
(2000), 852.
[31] Regionale Bischofskonferenz von Westafrika, Pastoralbotschaft zum Abschluss der 2.
Vollversammlung (29. Februar 2016), 2.
[32]La femme pauvre, II, 27, Paris, 1897.
[33] Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben Placuit Deo über einige Aspekte des
christlichen Heils (22. Februar 2018), Nr. 4 (L’Osservatore Romano [dt.], Jg. 48 [2018], Nr. 10 [9.
März 2018], S. 7): »Der Individualismus des Neu-Pelagianismus sowie die Leibverachtung des
Neu-Gnostizismus entstellen das Bekenntnis des Glaubens an Christus, den einzigen und
universalen Retter.« In diesem Dokument finden sich die lehramtlichen Grundlagen für das
Verständnis des christlichen Heils angesichts des heutigen Abdriftens zu neognostischen und
neopelagianischen Vorstellungen.
[34] Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 94: AAS 105 (2013), 1060.
[35] Ebd.: AAS 105 (2013), 1059.
[36] Predigt bei der Frühmesse in Santa Marta am 11. November 2016: L’Osservatore Romano
(dt.), Jg. 46 (2016), Nr. 48 (2. Dezember 2016), S. 12.
[37] Der heilige Bonaventura lehrt: »So muss alle Geistestätigkeit aufhören, damit die Spitze der
Liebe in Gott hinein getaucht und verwandelt wird. […] Weil hierin die Natur gar nichts und die
eigene Anstrengung nur wenig zu vollbringen vermag, deshalb sollte man wenig Wert legen auf
Forschung und viel auf Ergriffenheit; wenig auf das Reden, aber sehr viel auf die innere Freude;
wenig auf Wort und Schrift, aber alles auf die Gabe Gottes, also den Heiligen Geist; wenig oder
nichts sollte man auf das Geschöpf geben, alles aber auf das schöpferische Sein völlig, auf den
Vater und den Sohn und den Heiligen Geist« (Itinerarium mentis in Deum, VII, 4-5).

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50
[38] Brief an den Großkanzler der Päpstlichen Katholischen Universität von Argentinien zum
hundertjährigen Jubiläum der Theologischen Fakultät (3. März 2015): L’Osservatore Romano (it.),
9./10. März 2015, S. 6.
[39] Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 40: AAS 105 (2013), 1037.
[40] Videobotschaft anlässlich des internationalen theologischen Kongresses der Päpstlichen
Universität von Argentinien (1.-3. September 2015): AAS 107 (2015), 980.
[41] Nachsynodales Apostolisches Schreiben Vita consecrata (25. März 1996), 38: AAS 88 (1996),
412.
[42] Brief an den Großkanzler der Päpstlichen Katholischen Universität von Argentinien zum
hundertjährigen Jubiläum der Theologischen Fakultät (3. März 2015): L’Osservatore Romano (it.),
9./10. März 2015, S. 6.
[43] Brief an Bruder Antonius, 2, in: Franziskus-Quellen, Kevelaer 2009, S. 108.
[44] De septem donis, 9, 15.
[45] Ders., Comm. in IV Sent. 37, 1, 3, ad 6.
[46] Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 94: AAS 105 (2013), 1059.
[47] Vgl. Bonaventura, De sex alis Seraphim 3, 8: »Non omnes omnia possunt.« Dies muss im
Sinne des Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 1735 verstanden werden.
[48] Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I-II, q. 109, a. 9, ad 1: »Nun aber ist die Gnade in
gewissem Sinne unvollkommen, insofern sie den Menschen nicht völlig heilt.«
[49] Vgl. De natura et gratia, XLIII, 50: PL 44,2 71.
[50] Ders., Confessiones, X, 29, 40: PL 32, 769.
[51] Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 44: AAS 105 (2013),
1038.
[52] Im Verständnis des christlichen Glaubens kommt die Gnade all unserem Tun zuvor, begleitet
es und folgt ihm (vgl. Konzil von Trient, Sess. VI., Decr. de iustificatione, cap. 5: DH 1525).
[53] In Romanos IX, 11: PG 60, 470.

6 Pages 51-60

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6.1 Page 51

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51
[54] Hom. de humil.: PG 31, 530.
[55] Canon 4, DH 374.
[56] Sess. VI., Decr. de iustificatione, cap. 8: DH 1532.
[57] Nr. 1998.
[58] Ebd., 2007.
[59]Thomas von Aquin, Summa Theologiae I-II, q. 114, a. 5.
[60] Thérèse von Lisieux, Weiheakt an die barmherzige Liebe, in: Selbstbiographische Schriften,
Einsiedeln 131996, S. 281.
[61]Lucio Gera, Sobre el misterio del pobre, in: P. Grelot - L. Gera - A. Dumas, El Pobre, Buenos
Aires 1962, S. 103.
[62] Dies ist letztlich die katholische Lehre über das auf die Rechtfertigung folgende „Verdienst“.
Es geht dabei um die Mitwirkung des Gerechtfertigten am Wachstum im Leben der Gnade (vgl.
Katechismus der Katholischen Kirche, 2010). Aber diese Mitwirkung macht die Rechtfertigung
selbst und die Freundschaft mit Gott keineswegs zu einem Gegenstand menschlichen
Verdienstes.
[63] Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 95: AAS 105 (2013),
1060.
[64] Summa Theologiae I-II, q. 107, a. 4.
[65] Predigt bei der Eucharistiefeier zum Jubiläum der von der Gesellschaft Ausgeschlossenen
(13. November 2016): L’Osservatore Romano (dt.), Jg. 46 (2016), Nr. 46 (18. November 2016), S.
12.
[66] Vgl. Predigt bei der Frühmesse in Santa Marta (9. Juni 2014): L’Osservatore Romano (dt.),
Jg. 44 (2014), Nr. 25 (20. Juni 2014), S. 11.
[67] Die Reihenfolge der zweiten und dritten Seligpreisung variiert in der Textüberlieferung.
[68] Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, 23, 5-6, Würzburg 32015, S. 39.
[69] Selbstbiographische Schriften, Handschrift C, 12r, Einsiedeln 131996, S. 232.
[70] Seit der Zeit der Kirchenväter schätzt die Kirche die Gabe der Tränen, wie es auch in der

6.2 Page 52

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52
schönen Oration Ad petendam compunctionem cordis zu finden ist: »Allmächtiger und mildreicher
Gott, du ließest dem dürstenden Volke eine Quelle lebendigen Wassers aus dem Felsen strömen;
so entlocke auch unserem harten Herzen Tränen der Zerknirschung, damit wir unsere Sünden
beweinen können und durch dein Erbarmen deren Verzeihung erlangen« (Missale Romanum,
Editio typica 1962, S. [110]; Schott-Messbuch 1962, S. [167]).
[71] Katechismus der Katholischen Kirche, 1789; vgl. 1970.
[72] Ebd., 1787.
[73] Die üble Nachrede und die Verleumdung sind wie ein Terrorakt: Es wird eine Bombe
geworfen, es gibt Zerstörung und der Attentäter geht glücklich und ruhig davon. Dies
unterscheidet sich sehr von der Redlichkeit dessen, der sich mit gelassener Aufrichtigkeit
annähert, um ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht zu führen und dabei an das Wohl des
anderen denkt.
[74] Gelegentlich mag es notwendig sein, über die Schwierigkeiten eines Bruders oder einer
Schwester zu sprechen. In diesem Fall kann es vorkommen, dass man eine Geschichte anstelle
der objektiven Gegebenheit weitergibt. Die Gefühle verzerren die konkrete Wirklichkeit der
Gegebenheit, sie ändern sie in eine Geschichte um und geben am Ende diese subjektiv gefärbte
Geschichte weiter. So wird die Wirklichkeit zerstört und die Wahrheit des anderen nicht
respektiert.
[75] Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 218: AAS 105 (2013),
1110.
[76] Ebd., 239: AAS 105 (2013), 1116.
[77] Ebd., 227: AAS 105 (2013), 1112.
[78] Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), 41c: AAS 83 (1991), 844-845.
[79] Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo millennio ineunte (6. Januar 2001), 49: AAS
93 (2001), 302.
[80] Ebd.
[81] Verkündigungsbulle des außerordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit Misericordiae vultus
(11. April 2015), 12: AAS 107 (2015), 407.
[82] Denken wir an die Reaktion des barmherzigen Samariters angesichts des von Räubern am

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53
Straßenrand halbtot liegen gelassenen Mannes (vgl. Lk 10,30-37).
[83]Kommission für soziale Angelegenheiten der Kanadischen Bischofskonferenz, Open Letter to
the Members of Parliament, The Common Good or Exclusion: A Choice for Canadians (1. Februar
2001), 9.
[84] Die fünfte Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik lehrte
gemäß dem beständigen Lehramt der Kirche, dass der Mensch »vom Moment der Empfängnis an
durch alle Etappen seines Daseins hindurch bis zum natürlichen Tod und über den Tod hinaus
stets geheiligt« ist und das Leben »von der Empfängnis an in all seinen Entwicklungsstufen bis hin
zum natürlichen Tod« geschützt werden muss (Dokument von Aparecida [29. Juni 2007], 388;
464).
[85] Regel, 53,1: PL 66,749.
[86] Vgl. ebd., 53,7: PL 66,750.
[87] Ebd., 53,15: PL 66,751.
[88] Bulle Misericordiae vultus (11. April 2015), 9: AAS 107 (2015), 405.
[89] Ebd., 10: AAS 107 (2015), 406.
[90] Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris laetitia (19. März 2016), 311: AAS 108
(2016), 439.
[91] Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 197: AAS 105 (2013),
1103.
[92] Vgl. Summa Theologiae, II-II, q. 30, a. 4.
[93]Ebd., ad 1.
[94]Cristo en los Pobres, Madrid 1981, S. 37-38.
[95] Es gibt viele Formen von Bullying, die – obwohl sie elegant und respektvoll und sogar sehr
spirituell scheinen mögen – an der Selbstachtung der anderen viel Leid anrichten.
[96] Klugheitsregeln, 13, in: Worte von Licht und Liebe. Briefe und kleinere Schriften, Freiburg
32003, S. 161.
[97] Ebd.

6.4 Page 54

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54
[98] Tagebuch der Schwester Maria Faustyna Kowalska, Nr. 300 (Heft I), Hauteville 1990, S. 119.
[99] Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I-II, q. 70, a. 3.
[100] Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 6: AAS 105 (2013), 1021.
[101] Ich empfehle, das dem heiligen Thomas Morus zugeschriebene Gebet zu beten: »Schenke
mir eine gute Verdauung, Herr, und auch etwas zum Verdauen. Schenke mir Gesundheit des
Leibes, mit dem nötigen Sinn dafür, ihn möglichst gut zu erhalten. Schenke mir eine heilige Seele,
Herr, die das im Auge behält, was gut ist und rein, damit sie im Anblick der Sünde nicht
erschrecke, sondern das Mittel finde, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Schenke mir eine
Seele, der die Langeweile fremd ist, die kein Murren kennt und kein Seufzen und Klagen, und lass
nicht zu, dass ich mir übermäßig Sorgen mache über dieses sich breit machende Etwas, das sich
„Ich“ nennt. Herr, schenke mir Sinn für Humor, gib mir die Gnade, einen Scherz zu verstehen,
damit ich ein wenig Glück kenne im Leben und anderen davon mitteile.«
[102] Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris laetitia (19. März 2016), 110: AAS 108
(2016), 354.
[103] Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), 80: AAS 68 (1976), 73. Es
ist interessant festzustellen, dass der selige Paul VI. in diesem Text die Freude auf das engste mit
der parrhesía verbindet. Ebenso wie er den »Mangel an Freude und Hoffnung« beklagt, so lobt er
die »innige und tröstliche Freude der Verkündigung des Evangeliums«, die verbunden ist mit
einem »inneren Antrieb, den niemand und nichts ersticken kann«, damit die Welt das Evangelium
»nicht aus dem Munde trauriger und mutlos gemachter Verkünder« empfange. Im Heiligen Jahr
1975 widmete der selige Paul VI. der Freude das Apostolische Schreiben Gaudete in Domino (9.
Mai 1975): AAS 67 (1975), 289-322.
[104] Klugheitsregeln, 15, in: Worte von Licht und Liebe. Briefe und kleinere Schriften, Freiburg
32003, S. 161.
[105] Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Vita consecrata (25. März
1996), 42: AAS 88 (1996), 416.
[106] Confessiones, IX, 10, 23-25: PL 32, 773-775.
[107] Besonders erinnere ich an die drei Schlüsselworte „Darf ich?“, „Danke!“ und „Entschuldige!“,
denn es »schützen und nähren die passenden Worte, im richtigen Moment gesagt, die Liebe Tag
für Tag«: Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris laetitia (19. März 2016),133: AAS 108
(2016), 363.

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[108] Thérèse von Lisieux, Selbstbiographische Schriften, Handschrift C, 29v - 30r, Einsiedeln
131996, S. 262.
[109] Vier Anweisungen für einen Ordensmann. Stufen der Vollkommenheit, 2, in: Worte von Licht
und Liebe. Briefe und kleinere Schriften, Freiburg 32003, S. 170.
[110] Ders., Vier Anweisungen für einen Ordensmann. Stufen der Vollkommenheit, 9, in: Worte
von Licht und Liebe. Briefe und kleinere Schriften, Freiburg 32003, S. 171.
[111] Das Buch meines Lebens, 8, 5, Freiburg 32001, S. 156f.
[112] Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Orientale lumen (2. Mai 1995), 16: AAS 87
(1995), 762.
[113] Ansprache bei der Begegnung mit den Vertretern des 5. Nationalen Kongresses der Kirche
in Italien, Florenz (10. November 2015): AAS 107 (2015), 1284.
[114] Vgl. Bernhard von Clairvaux, Sermones in Canticum Canticorum 61, 3-5: PL 183, 1071-
1073.
[115] Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, Freiburg 112004, S. 36f u. 115.
[116] Vgl. Geistliche Übungen, 230-237, Würzburg 32015, S. 100-103.
[117] Brief an Henry de Castries, 14. August 1901.
[118] 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik, Dokument von
Aparecida (29. Juni 2007), 259.
[119] Konferenz der katholischen Bischöfe Indiens, Schlusserklärung der 21. Vollversammlung
(18. Februar 2009), 3.2.
[120] Vgl. Predigt bei der Frühmesse in Santa Marta (11. Oktober 2013): L’Osservatore
Romano (dt.), Jg. 43 (2013), Nr. 43 (25. Oktober 2013), S. 10.
[121] Vgl. Paul VI., Katechese bei der Generalaudienz am 15. November 1972 (L’Osservatore
Romano [dt.], Jg. 2 [1972], Nr. 47 [24. November 1972], S. 1): »Eines der größten Bedürfnisse der
Kirche ist die Abwehr jenes Bösen, den wir den Teufel nennen. […] Das Böse ist nicht mehr nur
ein Mangel, sondern es ist eine wirkende Macht, ein lebendiges, geistliches Wesen, verderbt und
verderbend, eine schreckliche Realität, geheimnisvoll und beängstigend. Wer die Existenz dieser
Realität bestreitet, stellt sich außerhalb der biblischen und kirchlichen Lehre; desgleichen, wer

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daraus ein eigenständiges Prinzip macht, das nicht, wie alles Geschaffene, seinen Ursprung aus
Gott nimmt; oder auch, wer es zu einer Pseudowirklichkeit erklärt, es für eine erfundene,
phantastische Personifikation der unbekannten Ursachen unseres Unheils hält.«
[122]José Gabriel del Rosario Brochero, Plática de las banderas, in: Argentinische
Bischofskonferenz, El Cura Brochero. Cartas y sermones, Buenos Aires 1999, S. 71.
[123] Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 85: AAS 105 (2013),
1056.
[124] Auf dem Grabmal des heiligen Ignatius von Loyola findet man die geistreiche Inschrift: »Non
coerceri a maximo, contineri tamen a minimo divinum est.« (Nicht vom Größten gedrängt zu
werden, sondern vom Kleinsten eingenommen zu werden, das ist göttlich.)
[125] Collationes in Hexameron, 1, 30.
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