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»Juvenum patris«
PAPSTBRIEF ZUR JAHRHUNDERTFEIER
DES TODES DON BOSCOS
An den geliebten Sohn Don Egidio Viganò,
Generaloberer der Salesianischen Gesellschaft,
zur Hundertjahrfeier
des Todes des hl. Johannes Bosco
JOHANNES PAUL II.

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Inhalt
AUS DEM LEBEN DON BOSCOS
Daten und Fakten .................................................................................... ................... 5
VORWORT
Der Generalobere der Salesianer Don Boscos, Don Egidio Viganò zum Papstbrief
»Juvenum patris« ..................................................................................................... 7
»JUVENUM PATRIS«
Papstbrief zur Hundertjahrfeier des Todes Johannes Boscos ................................ 13
Literatur zu Don Bosco ........................................................................................... 32
Herausgeber: Deutsche Provinz der Salesianer Don Boscos,
Referat für Öffentlichkeitsarbeit
Sieboldstraße 11, 8000 München 80
Druck: Salesianer-Druckerei, 8451 Ensdorf
Stand: 1985
»Juvenum patris«
PAPSTBRIEF ZUR JAHRHUNDERTFEIER
DES TODES DON BOSCOS
An den geliebten Sohn Don Egidio Viganò,
Generaloberer der Salesianischen Gesellschaft,
zur Hundertjahrfeier
des Todes des hl. Johannes Bosco
JOHANNES PAUL II.

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1815 16. August, Giovanni Melchiorre Bosco in Becchi (Asti) geboren,
Vater Francesco (1774-1817), Mutter Margherita geb. Occhiena
(1788-1856), Bruder Guiseppe (1813-1862), Stiefbruder Antonio
(1808-1849), Großmutter Margherita (1752-1826), lebte in der Familie.
1817 Tod des Vaters
1824 Traumerlebnis als Sendungsinitiative
1825 Beginn einer privaten Schulausbildung
1834 Abschluß des humanistischen Gymnasiums
1835 Eintritt in das Priesterseminar von Chieri
1841 Abschluß der theologischen Studien — Priesterweihe
1841 Leiter eines Heimes für körperbehinderte und kranke Kinder;
gleichzeitig offene Jugendarbeit in Turin
1842 Aufbau einer institutionalisierten Mitarbeiterorganisation.
Erarbeiten von Satzungen und Regeln für pädagogische Aktivitäten;
1846 Miete des Pinardi-Schuppens
Beginn der gebundenen Jugendarbeit (Heimerziehung)
Mutter Don Boscos zieht zu ihrem Sohn ins Oratorium
1850 Erste finanzielle Unterstützung vom Senat der Stadt Turin
1851 Kauf des Pinardi-Schuppens — Umbau zum ersten Heim;
Beginn institutionalisierter Heimerziehung — weitere Gründungen
1854 Mitarbeiter erhalten den Namen „Salesianer”
1856 Tod der Mutter
1859 Gründung der „Societas Salesiana” (Gesellschaft des heiligen Franz
von Sales)
1864 Erste Begegnung Don Boscos mit Maria Mazzarello (Mitbegründerin
der Don Bosco Schwestern)
1869 Vorläufige Anerkennung der Regeln und Satzungen der „Gesellschaft
des heiligen Franz von Sales”
1874 Endgültige Anerkennung der Regeln und Satzungen durch die Kurie
in Rom
1875 Ausbreitung der Salesianer in Europa (Frankreich, Spanien und Eng-
land) und in Süd-Amerika
1878 Gründung der Vereinigung der Salesianischen Mitarbeiter
1883 Reise nach Frankreich; Empfang in Paris
1886 Fahrt nach Spanien; großer Empfang in Barcelona
1888 31. Januar, Don Bosco stirbt
1916 Salesianer Don Boscos beginnen die Arbeit in Deutschland
1934 Heiligsprechung durch Papst Pius XI.
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Vorwort
DER GENERALOBERE DON EGIDIO VIGANÒ ZUM
BRIEF „JUVENUM PATRISVON PAPST JOHANNES
PAUL II.
Das schönste Geschenk, das die Salesianer Don Boscos gerade am 31. Januar erhalten
haben, war der Brief „Juvenum patris” von Papst Paul Johannes II. Ein wirklich
außergewöhnliches Geschenk, mit dem der Nachfolger Petri die Gestalt Don Boscos
als Lehrmeister der Erziehung hervorheben wollte. Der Brief ist nicht nur an die
Salesianer und an die Salesianische Familie gerichtet, sondern auch an die christlichen
Erzieher und Eltern.
Im Schlusskapitel bezieht sich der Papst in besonderer Weise auf die Priester unter den
Erziehern: Die Erziehung der Jugendlichen ruft an erster Stelle nach ihnen. Die
Jugendlichen sollen die Hauptsorge der Priester sein! Den Salesianern und der
ganzen Salesianischen Familie spendet er sodann den Apostolischen Segen, der Schutz
erflehen und etwas vermitteln soll von den himmlischen Gnadengaben; der ein Beweis
der Liebe dessen sein soll, der alle Mitglieder der großen Salesianischen Familie im
Glauben stärken und bewahren möge.
Das soll doch wohl heißen: In Treue zu Don Bosco haben die Salesianer auch die
besondere Verantwortung und Aufgabe, allen Erziehern die Werte der
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spirituellen und pädagogischen Erfahrung zu übermitteln, die der Geist des Herrn
unserem Gründer eingegeben hat.
Don Bosco — vorgestellt als Lehrmeister für die Erziehung
Während der Papst die verschiedenen Aspekte der Gestalt Don Boscos in Erinnerung
ruft, konzentriert er seine Betrachtung auf dessen erzieherischen Einsatz als den
hervorragenden Aspekt, der die kirchliche und soziale Bedeutung des Heiligen
ausmacht.
Er unterstreicht zwei besondere Elemente seines pädagogischen Beitrages: die
einzigartige und tiefe Innerlichkeit, ausgerichtet auf die pastorale Liebe (gleichsam die
Grundbedingung für die Persönlichkeit eines jeden christlichen Erziehers); und
schließlich die erste Erfahrung im Oratorium, betrachtet als bleibendes pastorales und
pädagogisches Kriterium, das maßgeblichen Einfluß hat auf das nachfolgende
Wachstum der notwendigen Strukturen, der erforderlichen Organisation für den
Bestand der Werke und der vielfältigen, möglichen Institutionen.
Das Präventivsystem — ein kirchliches Erbe
Der pädagogische Beitrag Don Boscos ist längst Teil der kirchlichen Erzie-
hungstradition. Die Kirche ist ja erfahren in Fragen der Menschlichkeit. Mit gutem
Recht kann sie sich auch als 'Expertin' in Erziehungsfragen bezeichnen. Die Erfahrung
Don Boscos erscheint als ein Charisma des Hl. Geistes, das den Verkündigungseinsatz
der Kirche an den Anfängen einer sozialen Umwandlung, in der die erste und wesentliche
Aufgabe der Kultur die Erziehung ist, bereichert hat.
Der Hl. Vater erinnert an die berühmten Worte von Papst Paul VI. über die
Einzigartigkeit und Genialität der Aktivitäten von Ordensleuten, die zur Bewunderung
Anlaß geben. In Bezug auf Don Bosco fügt er hinzu: „Man kann sagen, daß der
besondere Grundzug seiner Genialität geknüpft ist an die erzieherische Praxis, die er
selbst 'Präventivsystem' genannt hat.”
Der Brief will gerade diesen Beitrag vertiefen, der — wie der Papst sagt — die
Zusammenfassung der pädagogischen Weisheit Don Boscos ist und jene prophetische
Botschaft darstellt, die er den Seinen und der ganzen Kirche hinterlassen hat. Nachdem
er kurz auf die positive Bedeutung der 'Vorsorge' zu sprechen gekommen ist, erläutert er
die berühmten drei Begriffe „Vernunft, Religion, Liebenswürdigkeit” als ein Erbe, das
für alle Zeiten eine Herausforderung ist.
8
Die Bedeutung seiner Aktualität
Zweifellos sind die Lebensbedingungen der Jugend in der heutigen Welt ganz anders.
Sie bringen zahlreiche neuartige Probleme mit sich im Vergleich zum vergangenen
Jahrhundert in Turin. Aber auch heute gibt es „die gleichen Grundfragen”, die sich
Don Bosco gestellt haben. Man kann die Botschaft dieses großen Erziehers nicht auf die
Vergangenheit beschränken. Sie muß vielmehr „vertieft, angepaßt und mit Intelligenz
und Mut erneuert werden; und zwar gerade in Bezug auf die veränderte sozio-kulturelle,
kirchliche und pastorale Umwelt... Das Wesentliche seiner Lehre bleibt bestehen; die
Einzigartigkeit seines Geistes, seine Eingebungen und sein Charisma nehmen nicht ab,
weil sie sich an der transzendenten Pädagogik Gottes ausrichten.”
Diese Worte des Papstes betrachte ich als besondere Anregung, weil sie die Salesianer
auffordern, die grundlegenden Elemente und Kriterien weiterzuvermitteln, die die
Botschaft Don Boscos heute für eine 'neue Erziehung', deren Kirche und Gesellschaft so
dringend bedürfen, enthält.
Mit der Erinnerung an das traditionelle Lied „Don Bosco ritorna" ruft der Papst alle
Salesianer Don Boscos auf zu Don Bosco zurückzukehren. Er wünscht, daß sie in
seinem geistigen Erbe die Voraussetzungen finden, um auch heute auf die
Schwierigkeiten und Erwartungen der Jugend antworten zu können.
Genau auf dieser Linie ist die Kongregation in den Jahren nach dem Konzil
vorangeschritten. Dafür zeugen die drei letzten wichtigen Generalkapitel. Es wäre
betrüblich, wenn einige Salesianer — in Mißachtung des von der Kongregation
zurückgelegten Weges — nicht hinreichend oder gar nicht in der Lage wären, den
Fortschritt der Erziehungswissenschaften mit der Erneuerung des Charismas Don
Boscos in Einklang zu bringen.
Die heutige Erziehungsfrage
Gesellschaft und Kirche fühlen sich heute besonders angesprochen von der
Erziehungsfrage. Ausgehend vom lebendigen Erbe Don Boscos, unterstreicht der
Brief einige Dringlichkeiten. Diese sind:
die Vorliebe zur Jugend: „Gehen wir auf die Jugendlichen zu!";
die Fähigkeit, kraft einer inneren Energie eine Synthese herzustellen zwischen
Verkündigung und Erziehung; denn das Bemühen um die Evangelisierung gehört
zuinnerst zur menschlichen Förderung;
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eine besondere Sensibilität für die kulturellen Werte und Institutionen durch
vertiefte Kenntnis der humanen Wissenschaften; in Übereinstimmung mit den
Bestrebungen, den gesamten Erziehungsprozess auf das religiöse Ziel des
Heiles auszurichten; mit anderen Worten: durch Verkündigung erziehen und
umgekehrt;
die Wiederentdeckung einer realistischen Pädagogik der Heiligkeit, die der
Erziehungskunst Don Boscos eigen ist, so daß man ihn mit Recht den 'Lehrmeister
der jugendlichen Spiritualität' nennen darf;
der wichtige, soziale Aufruf, aus der Erziehung die eigene Existenzberechtigung zu
begründen, indem man sich ihr als der vorrangigen Zielsetzung widmet, mit der
erwähnten Verknüpfung zwischen Evangelisierung und menschlicher Förderung;
die außergewöhnliche erzieherische Bedeutung der Familie, der Schule, der
Hinführung zur Arbeit und der Gruppen- und Vereinsarbeit;
die Unverzichtbarkeit der zwei erzieherischen Elemente des Gesprächs und der
persönlichen Begegnung vielfältigster Art, die zu günstigen Gelegenheiten der
geistlichen Führung werden können; ist dies doch ein wichtiges pädagogisches
Mittel, das den Jugendlichen hilft, ihr Leben richtig einzuordnen und die rechte
Berufsentscheidung zu treffen.
Das Wirken des Hl. Geistes und der Schutz Mariens
Der Schluß des Briefes erinnert die Salesianer Don Boscos an das Verborgene und
mächtige Wirken des Hl. Geistes, dem wir die 'Geburt'des neuen Menschen und der
neuen Welt verdanken. Wenn die Erziehung — wie Don Bosco sagt —
„Herzenssache" ist, dann stimmt es froh, „daß der Weg der Kirche durch das Herz
des Menschen" führt und daß die Kirche unter dem Einfluß des Hl. Geistes das
„Herz der Menschheit" ist. Sie bezieht somit alle christlichen Erzieher in die
Ausübung ihrer „kirchlichen Mütterlichkeit" mit ein. Die Eltern und Erzieher sollten
also an die wirksame Gegenwart des Hl. Geistes glauben und ihr Vertrauen setzen in
das lautlose Werk der Umformung der Herzen im Gefolge ihres nicht leichten
erzieherischen Einsatzes.
Es wird gut sein, sich in diesem Sinne Maria anzuvertrauen, der „höchsten
Mitarbeiterin des Hl. Geistes", und von ihr erzieherischen Erfolg sowie echte und
zahlreiche Berufe für den Dienst an der Jugend zu erflehen.
Herzliche und brüderliche Grüße im Herrn
Don Egidio Viganò
Madonna Bella Consolata,
«Maria Trost», die erste
Marienstatue, die Don
Bosco in seinem Oratori-.
um aufstellte. Eine farbig
bemalte Madonna aus
Pappe, die ihn 25 Lire
kostete.
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»Juvenum patris«
PAPSTBRIEF ZUR HUNDERTJAHRFEIER
DES TODES DON BOSCOS
An den geliebten Sohn Don Egidio Viganò,
Generaloberer der Salesianischen Gesellschaft,
zur ersten Hundertjahrfeier des Todes des hl. Johannes Bosco
JOHANNES PAUL II.
Lieber Sohn, Gruß und Apostolischen Segen!
1. Die geliebte Gesellschaft der Salesianer schickt sich an, mit entsprechenden
Initiativen das erste Jahrhundert seit dem Tod des heiligen Giovanni Bosco, des
Vaters und Lehrers der Jugendlichen zu begehen. So ergreife ich gern die
Gelegenheit, erneut über das Problem der Jugendlichen nachzudenken und besonders
die Verantwortung zu betrachten, die die Kirche für ihre Vorbereitung auf die Zukunft
hat.
Die Kirche liebt nämlich die Jugendlichen sehr: schon immer, zumal aber heute, da
wir dem Jahr 2000 nahe sind, fühlt sie sich von ihrem Herrn aufgefordert, auf sie mit
besonderer Liebe und Hoffnung zu schauen und ihre Erziehung als eine ihrer
vorrangigen pastoralen Aufgaben anzusehen.
Das II. Vatikanische Konzil hat hellsichtig klargestellt: „Heute steht die
Menschheit in einer neuen Epoche ihrer Geschichte" (1); es hat zugleich anerkannt,
daß „überall Versuche unternommen (werden), das Erziehungswerk mehr und
mehr zu fördern" (2). In einer Zeit des kulturellen Übergangs stellt die Kirche auf dem
Gebiet der Erziehung mit Sorge die dringende Notwendigkeit fest, das Drama eines
tiefreichenden Bruchs zwischen Evangelium und Kultur (3) zu überwinden, der die
Heilsbotschaft Christi unterbewertet und an den Rand drängt.
In der Ansprache an die Mitglieder der UNESCO hatte ich Gelegenheit aus-
zuführen: „Es besteht kein Zweifel, daß das erste und grundlegende kulturelle
Faktum der geistig reife Mensch ist, d.h. der vollerzogene Mensch, der Mensch,
der fähig ist, sich selbst und andere zu erziehen" (4). Ich betonte eine gewisse
Tendenz zu einer „einseitigen Verlagerung auf den Unterricht", woraus sich
Manipulationen ergeben, die zu einer „echten Entfremdung der Erziehung"
führen können (5). Ich erinnerte deshalb daran, daß „die erste und wesentlichste
Aufgabe der Kultur im allgemeinen und auch jeder Kultur
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die Erziehung ist. Diese besteht doch darin, daß der Mensch immer mehr Mensch
wird, daß er mehr „sein" kann und nicht nur mehr „haben" kann; daß er versteht,
mehr und mehr voll Mensch zu sein" (6).
Bei den zahlreichen Begegnungen mit Jugendlichen aus verschiedenen Kontinenten
sowie in den Botschaften, die ich an sie gerichtet habe, zumal im Brief von 1985
„An die Jugendlichen in der Welt" habe ich meine Überzeugung ausgesprochen, daß
die Kirche bei ihnen ist und mit ihnen ihren Weg geht und gehen muß (7).
Hier möchte ich auf die gleichen Gedanken zurückkommen bei Gelegenheit der
Hundetjahrfeier des Heimgangs eines großen Sohnes der Kirche, des heiligen
Priesters Giovanni Bosco, den mein Vorgänger Pius XI. ohne Zögern als „Fürst der
Erzieher" (8) bezeichnet hat.
Dieser glückliche Gedenktag bietet mir Gelegenheit zu einem willkommenen
Gespräch, nicht nur mit Ihnen und Ihren Mitbrüdern sowie allen Mitgliedern der
Salesianischen Familie, sondern auch mit den Jugendlichen, die die Adressaten des
erzieherischen Bemühens sind, und mit den christlichen Erziehern und den Eltern, die
aufgerufen sind, einen so edlen menschlichen und kirchlichen Dienst auszuüben.
Willkommen ist mir auch die Feststellung, daß dieses Gedenken an den Heiligen ins
Marianische Jahr fällt, das unsere Gedanken auf jene richtet, „die geglaubt hat” : im
hochherzigen Ja ihres Glaubens entdecken wir die fruchtbare Quelle ihres
erzieherischen Wirkens (9), erst als Mutter Jesu, dann als Mutter der Kirche und
Helferin aller Christen.
I. Der hl. Giovanni Bosco als Freund der Jugendlichen
2. Giovanni Bosco starb in Turin am 31. Januar 1888. In den fast 73 Jahren
seines Lebens war er Zeuge tiefreichender und komplexer politischer, sozialer und
kultureller Wandlungen: von revolutionären Bewegungen, Kriegen und der
Auswanderung der Bevölkerung vom Land in die Städte, lauter Faktoren, die sich auf
die Lebensverhältnisse der Menschen, zumal auf die ärmeren Kreise auswirkten.
Zusammengedrängt an den Peripherien der Städte, werden die Armen und zumal die
Jugendlichen zu Objekten der Ausbeutung oder Opfer der Arbeitslosigkeit: bei ihrem
menschlichen, religiösen und beruflichen Wachsen werden sie nur ungenügend
betreut, und oft kümmert man sich überhaupt nicht um sie. Empfindsam für jeden
Wandel, bleiben die Jugendlichen oft unsicher und verloren. Angesichts dieser
entwurzelten Masse bleibt die traditionelle Erziehung überfordert: aus verschiedenen
14
Gründen bemühen sich Menschenfreunde, Erzieher und Männer der Kirche, sich der
neuen Bedürfnisse anzunehmen. Unter ihnen ragt in Turin Don Bosco hervor
wegen seiner klaren christlichen Prägung, wegen seines mutigen Vorgehens und
wegen der raschen und weiten Ausbreitung seines Werkes.
3. Er spürte, daß er eine besondere Berufung erhalten habe, und daß er bei der
Durchführung seiner Sendung vom Herrn begleitet, ja gleichsam an der Hand geführt
wurde sowie durch die mütterliche Fürbitte der Jungfrau Maria. Seine Antwort war
so, daß die Kirche ihn offiziell den Gläubigen als Vorbild der Heiligkeit vor Augen
gestellt hat. Als am Osterfest 1934 beim Abschluß des Jubiläums der Erlösung
mein Vorgänger unsterblichen Andenkens, Pius XI., ihn ins Buch der Heiligen
eintrug, hielt er ihm zugleich eine unvergeßliche Lobrede.
Der kleine Giovanni verlor im zarten Alter seinen Vater und wurde mit tiefem
menschlichen und christlichen Gespür von der Mutter erzogen. Die Vorsehung hatte
ihn mit Begabungen ausgestattet, die ihn von Anfang an zum hochherzigen und
eifrigen Freund seiner Altersgenossen machten. Seine Jugend ist die Vorwegnahme
einer außergewöhnlichen erzieherischen Sendung. Als Priester in einem in voller
Entwicklung stehenden Turin kam er in direkten Kontakt mit Jugendlichen im
Gefängnis und mit anderen dramatischen menschlichen Situationen.
Mit einer glücklichen Intuition der Wirklichkeit begabt, und als aufmerksamer
Kenner der Kirchengeschichte gewann er aus der Kenntnis solcher Situationen und aus
der Erfahrung anderer Apostel, zumal des hl. Philipp Neri und des hl. Karl
Borromäus, die Formel des „Oratoriums”. Dieser Name war ihm besonders teuer.
Das Oratorium kennzeichnet sein ganzes Werk, und er wird es nach einem seiner
ursprünglichen Aspekte gestalten, angepaßt an die Umwelt, an seine jugendlichen und
an ihre Bedürfnisse. Als Hauptpatron und als Vorbild für seine Mitarbeiter wählte er
den hl. Franz von Sales, den Heiligen des vielfältigen Eifers und einer äußerst
menschlichen Güte, die vor allem in der Milde seines Verhaltens zum Ausdruck kam.
4. „Das Werk der Oratorien” beginnt 1841 mit einem „einfachen Katechismus” und
verbreitet sich nach und nach, um auf dringende Situationen und Erfordernisse zu
antworten: das Hospiz zur Unterbringung der Obdachlosen, Werkstatt und Schule für
Künste und Handwerke, um den Jungen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben, so daß sie
sich selber in Ehren ihren Lebensunterhalt verdienen konnten, die humanistische Schule,
die für das Ideal der
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geistlichen Berufung offen war, die gute Presse, Initiativen und Methoden zur
Freizeitgestaltung, wie sie der Zeit eigen waren (Theater, Musikkapelle, Gesang und
herbstliche Spaziergänge).
Der glückliche Ausdruck: „Es genügt, daß ihr Jugendliche seid, dann liebe ich euch
herzlich” (10), ist ein grundlegendes Wort, und vorher noch der grundlegende
erzieherische Schwerpunkt des Heiligen. „Ich habe Gott versprochen, daß ich bis zum
letzten Atemzug für meine armen Jugendlichen da sein will” (11). Und gerade für sie
entfaltet er eine eindrucksvolle Tätigkeit durch seine Worte und Schriften, die
Institutionen und Reisen, die Begegnungen mit zivilen und religiösen
Persönlichkeiten; für sie vor allem offenbart er eine wache Aufmerksamkeit, die
ihnen als Personen gilt, denn in seiner Liebe als Vater sollten die Jugendlichen das
Zeichen einer erhabeneren Liebe entdecken können.
Die Dynamik seiner Liebe wird universal und drängt ihn, auch den Ruf ferner
Nationen aufzugreifen, bis zu den überseeischen Missionen, um dort eine
Evangelisierung zu leisten, die nie von einem echten Wirken zur Förderung des
Menschen getrennt wird.
Nach den gleichen Grundsätzen und im gleichen Geist sucht er auch eine Lösung für
die Probleme der weiblichen Jugend zu finden. Der Herr erweckt neben ihm eine
Mitgründerin, die heilige Maria Domenica Mazzarello mit einer Gruppe von jungen
Kolleginnen, die auf Pfarrebene bereits mit der christlichen Formung der
Mädchen beschäftigt sind. Seine pädagogische Haltung weckt weitere Mitarbeiter
— Männer und Frauen — die sich mit festen Gelübden Gott weihen, aber auch
„Mitarbeiter”, die seine pädagogischen und apostolischen Ideale teilen. Ferner zieht
er die ehemaligen Schüler heran und leitet sie ihrerseits zum Zeugnis und zur Förderung
der erhaltenen Erziehung an.
5. Ein solcher Geist zur Initiative ist die Frucht einer tiefen Innerlichkeit. Seine
Gestalt als Heiliger reiht ihn mit seiner Originalität unter die großen Gründer von
Ordensinstituten in der Kirche ein. Er ragt in vielfacher Hinsicht heraus: er ist der
Initiator einer wahren Schule neuer und anziehender apostolischer Spiritualität; er ist
der Förderer einer besonderen Verehrung Marias als Hilfe der Christen und Mutter
der Kirche; er ist der Zeuge für einen mutigen und loyalen Sinn für die Kirche, der
sich in heiklen Vermittlungen bei den damals schwierigen Beziehungen zwischen
Kirche und Staat zeigt; er ist der zugleich realistische und praktische Apostel,
offen für das, was die neuen Entdeckungen erbrachten; er ist der eifrige Organisator der
Missionen mit wahrhaft katholischem Gespür; er ist ganz besonders das Bei-
16
spiel für eine bevorzugte Liebe zu den Jugendlichen, zumal den am meisten
bedürftigen, zum Wohl der Kirche und der Gesellschaft; er ist der Meister einer
wirksamen und genialen pädagogischen Praxis, die er als kostbares, zu hütendes und zu
entfaltendes Geschenk hinterlassen hat.
In diesem Brief möchte ich bei Don Bosco vor allem die Tatsache bedenken, daß er
seine persönliche Heiligkeit im erzieherischen Bemühen verwirklicht, wobei er sich
eifrig und mit apostolischem Herzen einsetzt, und das zugleich die Heiligkeit als
konkretes Ziel seiner Pädagogik sichtbar macht. Gerade dieser Austausch
zwischen Erziehung und Heiligkeit ist der charakteristische Aspekt seiner Gestalt:
er ist ein heiliger Erzieher, der sich an einem Vorbild der Heiligkeit — Franz von Sales
— inspiriert; er ist Schüler eines heiligen Seelenführers — Guiseppe Cafasso — und
versteht es, unter seinen Jugendlichen einen heiligen Schüler heranzubilden —
Domenico Savio.
II. Die prophetische Botschaft des hl. Giovanni Bosco als Erzieher
6. Die Situation der Jugendlichen in der Welt von heute hat sich ein Jahrhundert nach
dem Tode des Heiligen sehr gewandelt und bietet vielfältige Situationen und Aspekte,
wie die Erzieher und Seelsorger wohl wissen. Und doch bleiben auch heute die gleichen
Fragen, die der Priester Giovanni Bosco von Anfang seines Dienstes an meditierte in
dem Wunsch zu verstehen, und weil er handeln wollte. Wer sind die Jugendlichen?
Was wollen sie? Wohin streben sie? Was haben sie nötig? Dies sind damals wie
heute die schwierigen, aber unausweichlichen Fragen, mit denen jeder Erzieher
sich auseinandersetzen muß.
Es fehlen unter den Jugendlichen aus der ganzen Welt heute nicht die Gruppen, die
für die Werte des Geistes echt aufgeschlossen sind und beim Reifen ihrer
Persönlichkeit nach Hilfe und Halt ausschauen. Auf der anderen Seite ist evident, daß
die Jugend negativen Einflüssen und Strömungen ausgesetzt ist, eine Frucht von
anderen ideologischen Ansichten. Der aufmerksame Erzieher wird sich die konkrete
Situation der Jugend klar machen und mit solider Fachkenntnis und Weisheit auf weite
Sicht eingreifen.
7. Dabei weiß er sich angeregt, erleuchtet und unterstützt von der unvergleichlichen
erzieherischen Tradition der Kirche.
In dem Bewußtsein, ein Volk zu sein, dessen Vater und Erzieher Gott ist, wie die
Heilige Schrift ausdrücklich lehrt (vgl. DT 1,31; 8,5; 31,10-12; Hos
11,1-14; Jes 1,3; Jes 3,14-15; Spr 3,11-12; Hehr. 12,5-11; Offb 3,19),
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kann die Kirche als „Expertin in Menschlichkeit” sich mit gutem Recht auch als
„Expertin im Erziehen” bezeichnen. Das bezeugt die lange und ruhmvolle
zweitausendjährige Geschichte, geschrieben von Eltern und Familien, Priestern und
Laien, Männern und Frauen, Ordensinstituten und kirchlichen Bewegungen, die im
erzieherischen Dienst ihrem eigenen Charisma Ausdruck gegeben haben, die göttliche
Erziehung, die ihren Gipfel in Christus hat, zu verlängern. Dank des Wirkens so vieler
Erzieher und Seelsorger, zahlreicher Orden und Ordensinstitute, die Institutionen
von unschätzbarem menschlichem und kulturellem Wert aufgebaut haben, fällt
die Geschichte der Kirche in nicht geringem Umfang mit der Geschichte der Erziehung
der Völker zusammen. Wie das II. Vatikanische Konzil festgestellt hat, gehorcht die
Kirche, wenn sie sich für die Erziehung interessiert, „dem Auftrag ihres göttlichen
Stifters, (nach dem sie) das Heilsmysterium allen Menschen verkünden und alles in
Christus erneuern" soll (12).
8. Als er vom Wirken der Ordensleute sprach und ihren Unternehmensgeist betonte,
stellte Papst Paul VI. verehrten Andenkens fest, ihr Apostolat sei „oft von einer
Originalität und Genialität gekennzeichnet, die Bewunderung abnötigen" (13). Für
den hl. Giovanni Bosco, den Gründer einer großen geistlichen Familie, kann man
feststellen, daß der besondere Zug seiner Genialität sich mit jener Erziehungspraxis
verbindet, die er das „vorbeugende System" nannte. Dies stellte in gewisser Weise
den Kern seiner pädagogischen Weisheit dar und bildet die prophetische Botschaft,
die er den Seinen und der ganzen Kirche hinterlassen hat, und für die er auch von seiten
zahlreicher Erzieher und Fachpädagogen Aufmerksamkeit und Anerkennung fand.
Der Ausdruck „vorbeugend", den er verwendet, wird weniger in seinem strengen
linguistischen Sinn verstanden als vielmehr in dem Reichtum der typischen Eigenart der
Erziehungskunst des Heiligen. Betont werden muß vor allem der Wille, dem
Hochkommen von negativen Erfahrungen zuvorzukommen, die die Kräfte des
Jugendlichen aufs Spiel setzen oder ihn zu langen und mühsamen Bemühungen um
das Wiederaufholen zwingen würden. Doch enthält der Ausdruck auch besonders
intensiv empfundene Intuitionen, klare Optionen und methodische Kriterien wie:
die Kunst, zum Positiven zu erziehen, indem man das Gute in entsprechenden und
überwältigenden Erfahrungen anbietet, die wegen ihres Adels und ihrer Schönheit
Anziehungskraft ausüben; die Kunst, die jugendlichen von innen her wachsen zu
lassen durch Ansprechen ihrer inneren Freiheit im Gegensatz zu den von außen
kommenden Zwängen und Formalismen; die Kunst, das Herz der
Jugendlichen zu gewinnen, um sie mit Freude und Befriedigung dem Guten
entgegenzuführen, die Abweichungen dabei zu korrigieren und sie auf das Morgen
durch eine solide Charakterbildung vorzubereiten.
Natürlich setzt diese pädagogische Botschaft beim Erzieher die Überzeugung
voraus, daß sich in jedem Jugendlichen, wie sehr er an den Rand geraten oder auf
Abwege gekommen sein mag, Kräfte des Guten finden, die, entsprechend angeregt, die
Entscheidung für Glauben und Ehrenhaftigkeit bestimmen können.
Wir wollen also kurz über das nachdenken, was als providentieller Widerhall des
Wortes Gottes einen der kennzeichnendsten Aspekte des Heiligen bildet.
9. Als vielfältig und unermüdlich tätiger Mensch hat Don Bosco mit seinem Leben die
wirksamste Lehre angeboten, so daß er schon von seinen Zeitgenossen als
hervorragender Erzieher gesehen wurde. Die wenigen Seiten, die er der Darstellung
seiner pädagogischen Erfahrungen widmete (14), gewinnen nur dann ihre volle
Bedeutung, wenn man sie zusammenschaut mit dem Ganzen der langen und reichen
Erfahrung, die er durch sein Leben unter den Jugendlichen erworben hatte.
Für ihn verlangt Erziehen eine besondere Haltung beim Erzieher und eine Fülle von
Vorgehensweisen, die sich auf Überzeugungen der Vernunft und des Glaubens
gründen und das erzieherische Wirken lenken. Im Mittelpunkt seiner Schau steht die
seelsorgliche Liebe, die er wie folgt beschreibt: „Die Praxis des Systems der
Vorbeugung stützt sich voll auf die Worte des hl. Paulus, wenn er sagt: „Die Liebe
ist gütig und geduldig; sie duldet alles, hofft alles, und erträgt alles". (15) Sie ist
geneigt, den Jugendlichen zu lieben, in welchem Zustand auch immer er sich
befindet, um ihn zur Fülle des Menschlichen, wie sie in Christus offenbar wurde,
hinzuführen, um ihm das Bewußtsein und die Möglichkeit zu geben, als
ehrenhafter Bürger und Kind Gottes zu leben. Die Liebe läßt die Energien ahnen
und nährt sie, die der Heilige in der schon berühmten Formel zusammenfaßt:
„Vernunft, Religion, Liebenswürdigkeit”. (16)
10. Der Ausdruck „Vernunft” betont nach der echten Sicht des christlichen
Humanismus den Wert der Person, des Gewissens, der menschlichen Natur, der
Kultur, der Welt der Arbeit, des sozialen Zusammenlebens oder jenen weiten
Bereich von Werten, der wie das notwendige Rüstzeug des Menschen in seinem
familiären, bürgerlichen und politischen Leben dasteht. In der
18
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2 Pages 11-20

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2.1 Page 11

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Enzyklika Redemptor hominis habe ich daran erinnert, daß “Jesus Christus der
Hauptweg der Kirche (ist); und dieser Weg führt von Christus zum Menschen”.
(17)
Bezeichnend ist die Feststellung, daß bereits vor über 100 Jahren Don Bosco den
menschlichen Aspekt des Subjektes und seiner geschichtlichen Lage große
Bedeutung beimaß: seiner Freiheit, seiner Vorbereitung auf das Leben und einen Beruf,
seiner Übernahme von bürgerlicher Verantwortung, und zwar in einem Klima der
Freude und des hochherzigen Einsatzes für den Nächsten. Er drückte diese Ziele mit
knappen und einfachen Worten aus, wie Freude, Studium, Frömmigkeit, Weisheit,
Arbeit und Menschlichkeit. Sein erzieherisches Ideal ist von Mäßigung und
Realismus gekennzeichnet. In seinem pädagogischen Entwurf stellen wir eine gut
gelungene Einheit zwischen dem Festhalten am Wesentlichen und dem Wandelbaren
des Geschichtlichen fest, zwischen dem Traditionellen und dem Neuen. Der Heilige
stellt den Jugendlichen ein einfaches und zugleich anspruchsvolles Programm vor
Augen, das in einer glücklichen und einprägsamen Formel zusammengefaßt ist:
ehrenhafter Bürger, weil guter Christ.
Zusammenfassend weist die Vernunft, an die Don Bosco als ein Geschenk Gottes und
eine unerläßliche Aufgabe des Erziehers glaubt, auf die Werte des Guten sowie auf die
anzustrebenden Ziele hin, dazu auf die Mittel und Weisen, die anzuwenden sind.
Diese Vernunft lädt die Jugendlichen zu einem Verhältnis der Beteiligung an den
verstandenen und übernommenen Werten ein. Er definiert sie auch als Vernünftigkeit
und weist damit auf den notwendigen Raum für Verständnis, Dialog und
unwandelbare Geduld hin, in dem die nicht leichte Anwendung des Vernunftgemäßen
stattfindet.
All dieses setzt heute gewiß die Kenntnis einer der Zeit entsprechenden und integralen
Anthropologie voraus, die frei ist von ideologischen Verkürzungen. Der moderne
Erzieher muß aufmerksam die Zeichen der Zeit zu lesen verstehen, um die
heraufkommenden Werte zu erkennen, die Jugendliche anziehen: Frieden, Freiheit,
Gerechtigkeit, Gemeinschaft und Beteiligung, Förderung der Frau, Solidarität,
Entwicklung und die dringenden ökologischen Notwendigkeiten.
11. Der zweite Begriff „Religion" zeigt an, daß die Pädagogik Don Boscos grundlegend
transzendent ist, insofern das letzte erzieherische Ziel, das er sich vorstellt, die
Bildung des Gläubigen ist. Für ihn ist der gebildete und reife Mensch der Bürger,
der glaubt, der in den Mittelpunkt seines Lebens das Ideal des neuen Menschen
stellt, den Jesus Christus verkündet hat, und der ein mutiger Zeuge für seine eigenen
religiösen Überzeugungen ist.
Man sieht, es handelt sich nicht um eine spekulative und abstrakte Religion, sondern
um einen lebendigen Glauben, der in der Wirklichkeit verwurzelt ist, Präsenz und
Gemeinschaft übt, der auf die Gnade hört und für sie gelehrig ist. Wie er zu sagen
liebte, „sind die Säulen des Erziehungsgebäudes” (18) die Eucharistie, die Buße, die
Marienverehrung, endlich die Liebe zur Kirche und ihren Hirten.
Seine Erziehung ist ein Weg des Gebetes und der Liturgie, des sakramentalen Lebens
und der Seelenführung: für einige auch Antwort auf die Berufung zu einer besonderen
Weihe an Gott (wieviele Priester und Ordensleute gingen aus den Häusern des Heiligen
hervor!); für alle der Weg zum Erreichen der Heiligkeit. Don Bosco ist der eifrige Priester,
der stets alles, was er empfängt, lebt und schenkt, auf das Fundament der Offenbarung
bezieht.
Dieser Aspekt der religiösen Transzendenz, die tragende Säule der Erziehungsmethode
Don Boscos, läßt sich nicht nur auf alle Kulturen anwenden, er ist fruchtbar auch auf
die nichtchristlichen Religionen anwendbar.
12. Endlich die Liebenswürdigkeit vom methodischen Standpunkt aus betrachet.
Es geht um eine tägliche Haltung, die nicht einfach menschliche Liebe und auch
nicht nur übernatürliche Liebe ist, sondern eine komplexe Realität ausdrückt und
Verfügbarkeit, gesunde Grundsätze und entsprechende Verhaltensweisen
einschließt.
Die Liebenswürdigkeit zeigt sich im Einsatz des Erziehers als Person, die ganz
dem Wohl der zu Erziehenden hingegeben ist, unter ihnen weilt, bereit, Opfer und
Mühen in Erfüllung ihrer Sendung auf sich zu nehmen. All das erfordert eine echte
Verfügbarkeit für die Jugendlichen, tiefe Sympathie und die Fähigkeit zum
Dialog. Typisch und sehr aufschlußreich ist der Ausdruck: „Hier bei euch fühle
ich mich wohl: mein ganzes Leben besteht darin, unter euch zu weilen”. (19) Und er
fügt mit glücklicher Intuition hinzu: worauf es ankommt, ist, daß „die Jugendlichen
nicht nur geliebt werden, sondern selber wissen, daß sie geliebt sind”. (20)
Der echte Erzieher nimmt also am Leben der Jugendlichen teil, interessiert sich für
ihre Probleme und sucht sich darüber klar zu werden, wie sie die Dinge sehen. Er
nimmt an ihren sportlichen und kulturellen Veranstaltungen teil und an ihren
Unterhaltungen; als reifer und verantwortlicher Freund zeigt er gute Wege und
Ziele auf, ist bereit, zur Klärung von Problemen einzugreifen, Kriterien anzubieten,
mit Klugheit liebenswürdiger Festigkeit zweideutige Bewertungen und
Verhaltensweisen zu korrigieren. In diesem Klima pädagogischer Präsenz wird der
Erzieher nicht als Oberer angesehen, sondern als Vater, Bruder und Freund. (21)
20
21

2.2 Page 12

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In dieser Hinsicht zählen dann vor allem die persönlichen Beziehungen. Don Bosco
liebte es, den Ausdruck „familienhafte Vertrautheit” zu verwenden, um das
richtige Verhältnis zwischen Erziehern und Jugendlichen zu umschreiben. Seine
lange Erfahrung hat ihn überzeugt, daß man ohne diese Familienhaftigkeit nicht die
Liebe sichtbar machen kann, und ohne das kann dann auch nicht jenes Vertrauen
wachsen, das unerläßliche Voraussetzung für das Gelingen des erzieherischen
Bemühens ist. Die zu erreichenden Ziele insgesamt, das Programm und die
methodischen Wege werden konkret und wirksam, wenn sie von echtem Familiengeist
geprägt sind, d.h. in ruhiger, fröhlicher und anregender Umgebung angelegt werden.
Hier sei wenigstens kurz darauf hingewiesen, welch breiten Raum und welche
Würde der Heilige der Erholung zuwies, dem Sport, der Musik, dem Theater, oder
— wie er gern sagte — dem Spielhof. In der Spontanität und Freude der Beziehungen
hier findet der weise Erzieher Wege zum Eingreifen, die ebenso leicht im Ausdruck
wie wirksam für die Dauer und das Freundschaftsklima sind, in dem sie sich abspielen.
(22) Soll eine Begegnung erzieherisch wirken, müssen ein ständiges und tieferes
Interesse da sein, das zur Kenntnis der Einzelnen persönlich führt, und die Elemente
der kulturellen Verhältnisse, die ihnen gemeinsam sind. Es geht um eine intelligente
und liebevolle Aufmerksamkeit für die Bestrebungen, die Werturteile, die Ver-
hältnisse und Lebenslagen, die Umweltbedingungen, Spannungen, Ansprüche und
Vorschläge kollektiver Art. Es gilt die Dringlichkeit der Gewissensbildung zu erfassen,
des Sinns für die Familie, das Soziale und Politische, für das Reifen in der Liebe und
der christlichen Sicht der Sexualität, der Kritikfähigkeit und der richtigen Fügsamkeit
bei der Entwicklung des Alters und der Mentalität, wobei immer klar bleiben muß,
daß die Jugend nicht nur eine Zeit des Übergangs ist, sondern für den Aufbau der
Persönlichkeit eine wirkliche Zeit der Gnade.
Wenn auch in gewandelten kulturellen Verhältnissen und angesichts von Jugendlichen
auch nichtchristlicher Religion, bildet diese Eigenart auch heute noch eine der vielen
gültigen und originellen Gedanken der Pädagogik Don Boscos.
13. Ich möchte nämlich betonen, daß diese pädagogischen Kriterien nicht nur für
die Vergangenheit gegolten haben: die Gestalt dieses Heiligen und Freundes der
Jugend zieht mit ihrer Anziehungskraft weiterhin die Jugend der verschiedensten
Kulturen in allen Teilen der Welt an. Gewiß muß seine pädagogische Botschaft weiter
vertieft, angepaßt und ebenso intelligent wie mutig erneuert werden, gerade wegen
der gewandelten sozio-kulturellen, kirchlichen und seelsorglichen Verhältnisse.
Hier wäre es auch angebracht, die Öffnungen und Errungenschaften auf vielen
Gebieten zu bedenken, die Zeichen der Zeit und die Hinweise des II. Vatikanischen
Konzils. Doch die Substanz seiner Lehre bleibt, und die Besonderheit seines Geistes,
seine Gedanken und sein Stil sowie sein Charisma haben nicht geringere Bedeutung,
weil sie geprägt sind von der transzendenten Pädagogik Gottes.
Der hl. Giovanni Bosco ist aktuell noch aus einem anderen Grund: er lehrt die
bleibenden Werte der Tradition mit den neuen Lösungen zu verbinden, um
schöpferisch den neu aufkommenden Problemen und Fragen zu begegnen: in unserer
schwierigen Zeit bleibt er ein Meister, der uns eine „neue Erziehung” vorschlägt, die
ebenso kreativ wie treu ist.
„Don Bosco ritorna”, ist ein altes Lied der Familie der Salesianer: es drückt den
Wunsch nach einer Rückkehr Don Boscos aus. Einer Rückkehr zu Don Bosco, um als
Erzieher zu altehrwürdiger Treue zurückzufinden und zugleich wie er
aufmerksam zu sein für die tausend Bedürfnisse der Jugendlichen von heute, um in
seinem Erbe die Voraussetzungen für eine auch heute gültige Antwort auf ihre
Schwierigkeiten und Erwartungen zu finden.
III. Die Dringlichkeit der christlichen Erziehung heute
14. Die Kirche fühlt sich durch die Frage der Erziehung direkt angesprochen,
well sie dort ist, wo es um den Menschen geht, ist doch der „Mensch der erste Weg,
den die Kirche bei der Erfüllung ihres Auftrags beschreiten muß”. (23) Dazu aber
gehört offensichtlich eine echte und bevorzugte Liebe zur Jugend.
Gehen wir zu den Jugendlichen: dies ist das erste und grundlegende erzieherische
Anliegen. „Der Herr hat mich zu den Jugendlichen gesandt”: in diesem Ausspruch
des hl. Giovanni Bosco erkennen wir seine apostolische Grundoption, die den armen
Jugendlichen gilt, denen aus den unteren Volksschichten und den am meisten
gefährdeten.
Ich möchte hier an die herrlichen Worte erinnern, die Don Bosco an seine Jugendlichen
richtete, und die eine echte Synthese seiner Grundentscheidung bilden: „Denkt daran:
was ich bin, das bin ich für euch, Tag und Nacht, am Morgen und am Abend, jederzeit.
Ich habe kein anderes Anliegen als euren moralischen, intellektuellen und physischen
Vorteil anzustreben. (24) „Für euch studiere und arbeite ich, für euch lebe ich, und für
euch bin ich auch bereit, mein Leben hinzugeben” (25).
22
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2.3 Page 13

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Zu einer solchen Selbsthingabe für die Jugendlichen, mitten in manchmal extremen
Schwierigkeiten, gelangt Don Bosco dank einer einzigartigen und intensiven Liebe
bzw. dank einer inneren Kraft, die in ihm unzertrennbar die Liebe zu Gott und zum
Nächsten eint. Es gelingt ihm so, eine Synthese zu schaffen zwischen
evangelisierendem und erzieherischem Tun. Sein Bemühen um die Evangelisierung
der Jugendlichen beschränkt sich nicht auf die Katechese oder die Liturgie bzw. jene
religiösen Akte, die einen ausdrücklichen Glaubensakt erfordern und zu ihm
hinführen; es erfüllt vielmehr den ganzen Lebensraum der Jugendlichen. Sie erfolgt
also innerhalb der menschlichen Bildung im Bewußtsein der Mängel, aber auch
optimistisch für die fortschreitende Reife in der Überzeugung, daß der Same des
Evangeliums in der lebendigen täglichen Wirklichkeit Frucht tragen muß, so daß sich
die Jugendlichen im Leben hochherzig einsetzen. Da sie ein für ihre Erziehung
besonders wichtiges Alter durchmachen, muß die Heilsbotschaft des Evangeliums sie
beim Erziehungsvorgang unterstützen, und der Glaube muß für ihre Persönlichkeit das
einende und erhellende Element werden. Daraus folgen einige Grundsätze. Der Erzieher
muß ein besonderes Empfinden für die Werte und die kulturellen Institutionen haben
und sich eine vertiefte Kenntnis der anthropologischen Wissenschaften aneignen. So
wird die gewonnene Fachkundigkeit zu einem guten Werkzeug für ein Programm
wirksamer Evangelisierung werden. Zweitens muß der Erzieher einen besonderen
pädagogischen Weg verfolgen, der einerseits die sich entwickelnde Dynamik der
menschlichen Fähigkeiten betont und andererseits die Jugendlichen zu einer freien und
schrittweisen Antwort befähigt.
Er wird sich ferner bemühen, den ganzen Erziehungsprozeß auf das religiöse Ziel des
Heiles hinzulenken. All das erfordert weit mehr als das Einfügen gewisser für die
religiöse Unterweisung und kultischen Veranstaltungen reservierten Stunden in den
Erziehungsablauf; notwendig ist ein weit tiefer reichendes Bemühen, den zu
Erziehenden zu helfen, daß sie sich den absoluten Werten öffnen sowie Leben und
Geschichte nach der Tiefe und dem Reichtum des Geheimnisses zu deuten lernen.
15. Der Erzieher muß daher einen klaren Begriff vom letzten Ziel haben, denn in
der Erziehungskunst üben die Ziele einen entscheidenden Einfluß aus. Sieht man sie
unvollständig oder falsch oder vergißt sie überhaupt, so kommt es zu Einseitigkeiten
und Abweichungen, ganz abgesehen vom fachlichen Halbwissen.
Bei der UNESCO habe ich ausgeführt: „Die zeitgenössische Zivilisation versucht,
dem Menschen eine Reihe scheinbarer Imperative aufzulegen, die
ihre Befürworter durch den Rückgriff auf das Prinzip der Entwicklung und des
Fortschritts rechtfertigen. So z.B. wird anstelle der Achtung vor dem Leben der
Imperativ gesetzt, es wegzuschaffen und zu zerstören; an die Stelle der Liebe, die
verantwortliche Gemeinschaft von Personen ist, wird der Imperativ größtmöglichen
sexuellen Vergnügens außerhalb jedes Sinnes für Verantwortung gesetzt; anstelle des
Primats der Wahrheit im Handeln wird der Primat des modischen, des subjektiven
und des unmittelbaren Erfolgs gesetzt". (26)
In der Kirche und in der Welt ist die integrale Sicht der Erziehung, wie wir sie in
Giovanni Bosco leibhaftig vor uns sehen, eine realistische Pädagogik der Heiligkeit. Es
ist dringend nötig, den echten Begriff von Heiligkeit wiederzugewinnen, nämlich als
Lebensbestandteil bei jedem Gläubigen. Die ursprüngliche und kühne Forderung
einer Heiligkeit im Jugendalter ist der Erziehungskunst dieses großen Heiligen
innerlich zu eigen, den man mit Recht als „Meister der Spiritualität für Jugendliche"
bezeichnen kann. Sein besonderes Geheimnis lag darin, daß er die tiefen
Sehnsüchte der Jugendlichen (nach Leben, Liebe, innerer Weite, Freude, Freiheit und
Zukunft) nicht enttäuschte und sie zugleich schrittweise und realistisch erfahren ließ,
daß nur im Leben der Gnade, also in der Freundschaft mit Christus, die echtesten
Ideale voll zu verwirklichen sind.
Eine solche Erziehung fordert heute, daß man den Jugendlichen ein kritisches
Bewußtsein vermittelt, das die echten Werte zu erkennen, die ideologischen
Herrschaftsansprüche aber, die sich der Medien der sozialen Kommunikation bedienen,
die öffentliche Meinung für sich gewinnen und die Geister verwirren, zu entlarven
versteht.
16. Die Erziehung, die nach der Methode Don Boscos ein ursprüngliches
Zusammenwirken von Evangelisierung und Förderung des Menschen vorsieht,
fordert Herz und Geist des Erziehers zu besonderer Aufmerksamkeit auf: er muß
pädagogisches Gespür pflegen, eine zugleich väterliche und mütterliche Haltung
annehmen, sich um eine gute Bewertung dessen bemühen, was sich beim Wachsen
des Einzelnen und der Gruppe gemäß einem Erziehungsprogramm ereignet, das in
weiser und kräftiger Einheit das erzieherische Ziel und den Willen verbindet, dafür
die geeignetsten Mittel zu suchen.
In der modernen Gesellschaft müssen die Erzieher besonders aufmerksam auf die
historisch bedeutsamsten erzieherischen Gehalte menschlicher und sozialer Art achten,
die sich größtenteils mit der Gnade und den Forderungen des Evangeliums verbinden.
24
25

2.4 Page 14

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Vielleicht ist Erziehen niemals von derart zugleich vitaler und sozialer Bedeutung
gewesen wie heute; es erfordert Stellungnahme und den entschiedenen Willen, reife
Persönlichkeiten heranzubilden. Vielleicht hat die Welt noch nie so sehr wie heute
Einzelne, Familien und Gemeinschaften nötig gehabt, die die Erziehung zu ihrem
eigenen Daseinszweck machen und sich ihr mit Vorrang widmen, ihr vorbehaltlos alle
Kräfte schenken sowie Mitarbeit und Hilfe suchen, um schöpferisch und
verantwortungsbewußt zugleich neue Wege der Erziehung zu erproben und
einzuführen. Heute Erzieher sein, bedeutet eine echte und eigentliche
Lebensentscheidung, die deshalb auch von seiten aller, die in der kirchlichen und
bürgerlichen Gemeinschaft Autorität besitzen, Anerkennung und Hilfe verdient.
18. Die Erfahrung und die pädagogische Weisheit der Kirche erkennen der Familie, der
Schule, der Arbeit und den verschiedenen Verbandsformen oder Gruppen eine
außerordentliche erzieherische Bedeutung zu. Es ist heute die Zeit für eine neue
Förderung der Erziehungsinstitute gekommen, eine Zeit der neuen Betonung der
unersetzlichen erzieherischen Rolle der Familie, wie ich es in dem Apostolischen
Schreiben Familiaris consortio näher ausführen konnte. Es bleibt nämlich im Guten und
leider zuweilen auch im Bösen die Erziehung (oder Nicht-Erziehung) in der Familie
entscheidend; andererseits bleibt immer unerläßlich, die jungen Generationen dahin zu
erziehen, daß sie schon vom Familienkreis an die Verantwortung übernehmen, das
tägliche Leben gemäß der bleibenden Lehre des Evangeliums zu deuten, ohne dabei
die Erfordernisse notwendiger Erneuerung zu vernachlässigen.
Die zentrale Stellung der Familie im Erziehungswerk ist heute eines der
schwersten sozialen und moralischen Probleme. Vor der UNESCO habe ich daran
erinnert. „Was läßt sich für die Erziehung des Menschen, vor allem in der Familie
tun?... Die Ursachen des Erfolgs und Mißerfolgs bei der Erziehung des Menschen
durch seine Familie liegen immer gleichzeitig im fundamentalschöpferischen Milieu
der Kultur, das die Familie ist, und auch auf höherer Ebene, nämlich der
Zuständigkeit des Staates und seiner Organe, von denen die Familie abhängig ist”.
(27)
Neben dem erzieherischen Wirken der Familie ist das der Schule zu betonen, die in
der Lage ist, weitere und universalere Horizonte zu eröffnen. In der Sicht Don
Boscos muß die Schule über die Förderung und Entwicklung der kulturellen, sozialen
und beruflichen Dimension der Jugendlichen hinaus ihnen eine wirksame Struktur von
Werten und moralischen Grundsätzen vermitteln. Geschieht das nicht, wird es ihnen
unmöglich, folgerichtig, positiv und ehrenhaft zu leben in einer Gesellschaft, die von
Spannungen und Konflikten gekennzeichnet ist.
Zum großen erzieherischen Erbe des Heiligen aus Piemont gehört ferner sein
bevorzugtes Interesse für die Welt der Arbeit, auf die er die Jugendlichen
sorgfältig vorbereitet. Das wird gerade heute als dringlich empfunden, auch wenn sich
die Gesellschaft tiefgreifend gewandelt hat. Wir teilen mit Don Bosco das Anliegen,
die jungen Generationen mit einem entsprechenden beruflichen und technischen
Fachwissen auszustatten, wie es lobenswerterweise über 100 Jahre hindurch die
Kunst- und Handwerksschulen sowie die Werkstätten unter der ruhmvollen
Fachkenntnis der Salesianerbrüder getan haben. Wir teilen ferner sein Anliegen, eine
immer gründlichere Erziehung zu sozialer Verantwortung auf der Grundlage einer
gewachsenen persönlichen Würde anzubieten, (28) die vom christlichen Glauben
nicht nur legitimiert, sondern auch mit Kräften von unermeßlicher Tragweite
ausgestattet wird.
Endlich ist die Wichtigkeit zu betonen, die der Heilige den Verbänden und Gruppen
beigemessen hat, wo die Dynamik und der Initiativgeist der Jugend sich entwickelt und
wächst. Indem er vielfältige Tätigkeiten anregte, schuf er Lebensräume, wo man die
Freizeit gut verbringen und Apostolat, Studium, Gebet, Spiel und Kultur pflegen konnte,
wo die Jugendlichen sich wiederum begegnen und wachsen konnten. Die erheblichen
Wandlungen unserer Zeit im Verhältnis zum 19. Jahrhundert entbinden den Erzieher
nicht davon, Lebenslagen und Lebensverhältnisse zu überprüfen, um dem für
Jugendliche typischen Geist der Kreativität den notwendigen Raum zu lassen.
19. Betrachtet man dann die Bedürfnisse der Jugend von heute und denkt zugleich
an die prophetische Botschaft Don Boscos, des Freundes der jugendlichen, kann man
nicht vergessen, daß über jede Erziehungsstruktur hinaus — ja mitten darin — die
typischen erzieherischen Augenblicke des Gesprächs und der persönlichen
Begegnung unerläßlich sind: korrekt eingesetzt, werden sie zur Gelegenheit zu
echter Seelenführung. Und wieviel hat der Heilige vollbracht, wenn er besonders
wirksam den Dienst des Sakramentes der Versöhnung ausübte. In einer so
bruchstückhaften Welt voll von einander widerstreitenden Botschaften ist es ein
echtes pädagogisches Geschenk, dem Jugendlichen die Möglichkeit der Erkenntnis
und Erarbeitung des eigenen Lebensentwurfes zu bieten in der Suche nach dem Schatz
der eigenen Berufung, von der ja der ganze Lebensentwurf abhängt. Unvollständig
bliebe das Erziehungswerk eines Menschen, der die Erfüllung der sehr wohl
berechtigten Notwendigkeiten des Berufes, der Kultur und auch der erlaubten
Zerstreuung für ausreichend halten und nicht darin wie einen Sauerteig die Ziele
anbieten würde, die Christus selber dem Jüngling im
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2.5 Page 15

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Evangelium vorgelegt hat und mit denen er sogar die Freude des ewigen Lebens oder die
Traurigkeit des egoistischen Besitzens verglich (vgl. Mt. 19,2 1 f). Der Erzieher liebt
und erzieht die Jugendlichen dann in Wahrheit, wenn er ihnen Lebensideale vorstellt,
die sie übersteigen, und es auf sich nimmt, mit ihnen das mühevolle tägliche Reifen
ihrer Entscheidung mitzumachen.
20. An diesem hundertsten Gedenktag des hl. Giovanni Bosco, „des Vaters und
Lehrers der Jugend”, kann man voll überzeugt sagen, daß die göttliche Vorsehung euch
alle, die Mitglieder der großen Familie der Salesianer, wie auch die Eltern und
Erzieher einlädt, immer mehr die unausweichliche Notwendigkeit der Bildung der
Jugendlichen anzuerkennen und mit neuer Begeisterung die Aufgaben ihrer Erfüllung
zu übernehmen in einer erleuchteten und großherzigen Hingabe, wie sie dem
Heiligen eigen war. Ich bin mir sehr der Schwierigkeiten bewußt, vor denen ihr,
hochverdiente Erzieher, steht, auch der Enttäuschungen, die ihr manchmal erlebt. Laßt
euch dadurch nicht entmutigen, diesen bevorzugten Weg der Liebe, der die Erziehung
ist, weiterzugeben. Stärken möge euch die unerschöpfliche Geduld Gottes in
seinem pädagogischen Bemühen mit der Menschheit, sein unablässiges Vatersein,
wie es in der Sendung Christi, des Meisters und Hirten offenbar wurde, endlich
die Präsenz des Heiligen Geistes, der gesandt wurde, um die Welt umzugestalten.
Die verborgene und mächtige Wirksamkeit des Geistes soll die Menschheit nach
dem Vorbild Christi reifen lassen. Er ist der Anreger der Geburt des neuen
Menschen und der neuen Welt (vgl. Röm 8,4-5). So steht euer erzieherisches
Bemühen da als ein Dienst der Zusammenarbeit mit Gott, dem die Fruchtbarkeit nicht
fehlen kann.
Euer und unser Heiliger pflegte zu sagen, daß „die Erziehung eine Sache des Herzens"
ist, (29) und daß man „Gott in den Herzen der Jugendlichen nicht nur durch die Tür
der Kirche, sondern auch durch die der Schule und der Fabrik Einlaß verschaffen" soll.
(30) Gerade im Herzen des Menschen aber ist der Geist der Wahrheit präsent als
Tröster und Umgestalter: er tritt unaufhörlich in die Geschichte der Welt durch das
Herz des Menschen ein. Und wie ich in der Enzyklika Dominium et vivificantem
geschrieben habe: „Der Weg der Kirche geht durch das Herz des Menschen... ja, sie ist
das Herz der Menschheit... Die Kirche bittet mit ihrem Herzen, das alle
menschlichen Herzen in sich faßt, den Heiligen Geist um... Gerechtigkeit, Friede
und Freude im Heiligen Geist, worin nach dem heiligen Paulus das Reich Gottes
besteht”. (31) Durch euer Wirken, liebe Erzieher, vollzieht ihr einen ausgezeichneten
Dienst kirchlicher Mutterschaft (32).
Haltet euch immer die selige Jungfrau Maria vor Augen, die erhabenste Mitarbeiterin
des Heiligen Geistes, die für seine Einsprechungen gelehrig war und daher Mutter
Christi und Mutter der Kirche wurde. Sie fährt durch die Jahrhunderte hin fort,
„mütterlich zugegen zu bleiben, wie die am Kreuz gesprochenen Worte anzeigen:
Frau, siehe, dein Sohn — Siehe deine Mutter”. (33)
Wendet nie den Blick von Maria weg; hört sie, wenn sie sagt: Tut alles, was Jesus
euch sagt” (vgl. Joh 2,5). Bittet sie auch täglich innig, der Herr möge ständig
hochherzige Seelen erwecken, die, von ihm berufen, mit Ja antworten.
Ihr vertraue ich euch an und zusammen mit euch die ganze Welt der Jugendlichen,
damit sie, von ihr angezogen, begeistert und geführt, durch die Vermittlung eures
Erziehungswerkes als neue Menschen für eine neue Welt dastehen können: für die
Welt Christi, des Meisters und Herrn.
Mit meinem Apostolischen Segen.
Gegeben zu Rom bei St. Peter, am 31. Januar, dem Gedenktag des hl. Giovanni
Bosco im Jahre 1988, dem zehnten unseres Pontifikates.
28
29

2.6 Page 16

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QUELLENANGABEN ZUM PAPSTBRIEF
1 Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, 4.
2 Erklärung über die christliche Erziehung Gravissimum educationis, Vorwort.
3 Vgl. Paul VI. Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), 20: AAS
68 (1976), S. 19.
4 Ansprache an die UNESCO (2. Juni 1980), 12: AAS 72 (1980), S. 743.
5 Ebd. 13; 1.c. S. 743.
6 Ebd. 11; 1.c. S. 742.
7 Brief an die männlichen und weiblichen Jugendlichen der Welt Parati semper (31.
März 1985): AAS 77 (1985), S. 579-628.
8 Plus XI. Brief-Dekret Geminata laetitia (1. April 1934), AAS 27 (1935), S. 285.
9 Vgl. Enzyklika Redemptoris mater (25. März 1987), 12-19: AAS 79 (1987),
S. 374-384.
10 Il Giovane Provveduto, Turin S. 7.
11 Memorie biografiche di S. Giovanni Bosco, Band 18, Turin 1937, S. 258.
12 Erklärung über die christliche Erziehung Gravissimum educationis, Vorwort.
13 Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), 69: AAS 68 (1976)
S. 59.
14 Vgl. Il Sistema Preventivo, in „Regolamento per le case della Societa S. Francesco di
Sales”, Turin 1877, in Giovanni Bosco, Scritti pedagogici e spirituali (A cura di AA
VV), LAS Rom, 1987, S. 192 ff.
15 Ebd. S. 194-195.
16 Vgl. Il Sistema Preventivo, in „Regolamento per le case della Società di S. Francesco di
Sales”, Turin 1877, in Giovanni Bosco, Scritti pedagogici e spirituali ( a cura di
AA VV), LAS Rom 1987, S. 166.
17 Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), 13.14: AAS 71 (1979), S.
282.284-285.
18 Vgl. Giovanni Bosco, Scritti pedagogici e spirituali (a cura di AA VV), LAS Rom
1987, S. 168.
19 Memorie biografiche di S. Giovanni Bosco, Band 4, S. Benigno Canavese 1904,
S. 654.
20 Lettera da Roma, 1884, in Giovanni Bosco, Scritti pedagogici e spirituali (a cura di AA
VV), LAS Rom 1987, S. 294.
21 Ebd. S. 296.
22 Zum Verhältnis zwischen Zerstreuung und Erziehung nach Denken und Praxis von
Giovanni Bosco ist bekannt, daß sich die salesianischen Oratorien durch den großen
Zeitraum auszeichnen, den sie dem Sport, dem Theater, der Musik und jeder Initiative
im Dienst einer gesunden und bildenden Erholung einräumen.
23 Vgl. Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), 14: AAS 71 (1979), S. 284-
185.
24 Memorie biografiche di S. Giovanni Bosco, Band 7, Turm 1909, S. 503.
25 Ruffino Domenico, Cronache dell'Oratorio di S. Francesco di Sales, Rom, Archivio
Salesiano Centrale, quad. 5, S. 10.
30
26 Ansprache an die UNESCO (2. Juni 1980), 13: AAS 72 (1980), S. 744.
27 Ebd. 12: 1.c. S. 742-743.
28 Vgl. Enzyklika Laborem exercens (14. September 1981), 6: AAS 73 (1981),
S. 589-592.
29 Memorie biografiche di S. Giovanni Bosco, Band 16, Turin S. 447.
30 Ebd. Band 6, S. Benigno Canavese 1907, S. 815-816.
31 Enzyklika Dominum et vivicantem (18. Mai 1986), 67: AAS 78 (1986), S. 898.900.
32 Erklärung über die christliche Erziehung Gravissimum educationis, 3.
33 Enzyklika Redemptoris mater (25. März 1987), 24: AAS 79 (1987), S. 393.
(Orig. lat. in O.R. vom 31.1.'88)
31