PraevSysRombrief


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Johannes Bosco:
Das Präventivsystem in der Erziehung der Jugend
Johannes Bosco:
Der Brief aus Rom
Als Manuskript gedruckt 2001
Sehr geehrte Leserin,
sehr geehrter Leser!
Die Suche nach den Grundzügen der Pädagogik Don Boscos wird immer wieder auf die in diesem
Heft neu übersetzten Schriften stoßen. Sie stammen von Johannes Bosco selbst, sind von ihm redi-
giert und durchgesehen worden; die neueren Forschungsergebnisse über ihre Entstehung werden
zusammengefasst in den Fußnoten angemerkt.
Die Texte sind auf dem politischen, kirchlichen und vor allem kulturgeschichtlichen Hintergrund
der Gesellschaft des damaligen Königreiches Piemont mit der Hauptstadt Turin zu sehen; das
muss die Leserin oder der Leser berücksichtigen, um manche der Aussagen und Empfehlungen
von Don Boscos recht verstehen und interpretieren zu können.
Köln, den 5. Juni 2002
Jean Paul Muller
Herausgeber:
Der Provinzial der Norddeutschen Provinz der
Salesianer Don Boscos
Rixdorfer Str. 15
D - 51063 Köln

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2
Don Bosco und seine Zeit – ein kurzer Abriss
16. August 1815
11. Mai 1817
1824
1828 - 1829
Anfang 1831
November 1831
Johannes Melchior Bosco wird als jüngster Sohn der Eheleute Francesco und
Margherita Bosco in einem ärmlichen Bauernhaus in Becchi unweit Turin gebo-
ren.
Der Zusammenbruch von Napoleons Herrschaft im gleichen Jahr führt in Euro-
pa zur Neuordnung der politischen Strukturen. Die republikanischen Ideale
der Französischen Revolution bleiben lebendig, und ebenso der Gedanke an die
nationale Einheit. In die Auseinandersetzung um die Verwirklichung eines
italienischen Staates ist auch die Kirche einbezogen, bis zur Besetzung Roms
durch italienische Truppen 1870. Die zunehmende Industrialisierung führt zur
Landflucht und zu großer sozialer Not vor allem in den Städten wie z.B. Turin.
In Norditalien bereitet sich langsam, aber unaufhaltsam ein großer politischer
und gesellschaftlicher Umbruch vor.
Vater Francesco stirbt, mit knapp zwei Jahren wird Johannes Halbwaise. Seine
Mutter Margherita schafft es in bewundernswerter Weise, die Familie und die
kleine Landwirtschaft zusammen zu halten. Für sie ist ihr Glaube an Gott und
die Verehrung Mariens selbstverständlicher Bestandteil ihres Lebens und der
Erziehung ihrer Kinder.
Im Rahmen seiner kindlichen Kräfte hilft Johannes in Haus und Hof. Erst im
Winter 1824 hat er die Möglichkeit, beim alten Kaplan eines Nachbardorfs die
Grundlagen von Lesen und Schreiben zu lernen. Sobald die Arbeit in der
kleinen Landwirtschaft wieder beginnt, muss er dort helfen: Sein älterer Stief-
bruder ist gegen das „unnütze Lernen“.
Mit neun Jahren träumt Johannes von seiner späteren Berufung als Priester und
Erzieher, versteht aber noch nicht die Bedeutung seines Traumes.
Im Sommer 1825, mit zehn Jahren, sammelt Johannes sonntags andere Kinder
um sich, spielt mit ihnen, macht Kunststücke vor, erzählt spannende Geschich-
ten und betet mit ihnen. Bald gesellen sich auch Jugendliche und Erwachsene
dazu.
Johannes, der bisher gelegentlich bei Priestern in der Umgebung Privatunter-
richt bekommen hatte, muss als Jungknecht auf einen Bauernhof nach Murial-
do, weil sich sein Stiefbruder Anton immer heftiger dem Wunsch nach
Schulbildung widersetzt. Als Anton sich endlich selbständig macht, kann
Johannes wieder heim.
Fünfzehnjährig besucht er erstmals die öffentliche Schule von Castelnuovo. Der
Schulweg, jeweils morgens und nachmittags, bedeutet 20 Km Fußmarsch
täglich, deshalb wird er bei einem Schneider in Pension gegeben. Durch das
Mithelfen in der Werkstatt lernt er einen ersten Beruf, das Schneidern.
Johannes geht nach Chieri in der Nähe von Turin: Die sechs Klassen des
Gymnasiums schafft Johannes mit ausgezeichneten Ergebnissen in vier Jahren.
Er arbeitet nebenbei, um die Kosten für die Pension mitzutragen, und eignet
sich dabei weitere handwerkliche Fertigkeiten an. Unter seinen Mitschülern
gründet er (1832) den „Bund der Fröhlichen“ und erweitert sein Repertoire als

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3
Artist und Zauberkünstler. Während der Schulferien hilft er daheim auf dem
Hof, sonntags sammelt er weiterhin Kinder und Jugendliche um sich, um mit
ihnen zu spielen und zu beten.
1835
Eintritt in das Priesterseminar von Chieri. In einer autobiografischen Schrift1
klagt er, dass im Seminar ein großer innerer Abstand bestehe zwischen den
priesterlichen Erziehern und den jungen Studenten; diesen Mangel hatte er
schon als Kind empfunden und gesagt, wenn er Priester wäre, würde er das
ganz anders machen.
5. Juni 1841
Priesterweihe in Turin.
1841 – 1844
Anschließend beginnt Don Bosco, wie er nunmehr genannt wird, dort einen
dreijährigen Seelsorgekurs. Neben seinem weiteren Studium hält er Katechis-
musunterricht in einer Pfarrkirche und kümmert er sich mit seinem Lehrer und
Freund Don Cafasso um Kinder und Jugendliche im Gefängnis. Hier erlebt er
hautnah die Folgen von Landflucht und sozialer Not: Diese jungen Menschen
sind gestrandet, weil niemand sich um sie kümmert.
8. Dezember 1841 Don Bosco lernt in der Sakristei der Kirche des hl. Franz von Assisi den Jugend-
lichen Bartolomeo Garelli kennen, und mit dieser Begegnung beginnt sein
Jugendwerk.
1844 – 1846
Nach Abschluss des Pastoralkurses übernimmt Don Bosco die Stelle eines
Hausgeistlichen in einem Mädchenheim der Gräfin Barolo. Neben seinem wei-
teren Einsatz im Jugendgefängnis, seiner Sorge für die dort Entlassenen usw.
kümmert sich Don Bosco sonntags um seine Jungen, die in immer größerer
Zahl zu ihm kommen. Die Gräfin stellt zunächst Räume in einem noch nicht
genutzten Krankenhausneubau zur Verfügung, was Don Bosco die Möglichkeit
gibt, neben Freizeitaktivitäten, Katechismus und Gebet auch Schulunterricht
anzubieten. Da es an geeigneten Schulbüchern fehlt, schreibt er selbst welche,
die z.T. hohe Auflagen haben.
Oktober 1844
Don Bosco hat einen Traum, in dem ihm die Gottesmutter Mut macht für seine
Arbeit und ihm sein späteres Jugendwerk zeigt.
1845
Das Krankenhaus wird eröffnet, und Don Bosco muss mit seinem Oratorium
auf Wanderschaft gehen. Bei den vielen Ausflügen in die Umgebung verhalten
sich die Jungen bei aller ausgelassener Fröhlichkeit so diszipliniert, dass Don
Bosco revolutionärer Umtriebe verdächtigt und angezeigt wird. Mit diesen und
ähnlichen Schwierigkeiten hat Don Bosco noch länger zu kämpfen.
1846
Im Vorort Valdocco findet Don Bosco mit einem alten Schuppen der Brüder
Pinardi eine endgültige Bleibe für seine Jungen. Nach und nach wird die bau-
fällige Hütte um- und ausgebaut, die Franz-von-Sales-Kirche wird eingeweiht,
weitere Bauten entstehen mit Werkstätten, Schulräumen, Unterkünften für die
jungen Menschen. Überarbeitet wird Don Bosco todkrank, aber seine Jungen
„entreißen“ mit ihren Gebeten dem Himmel seine Genesung. Nachdem Don
Bosco seine Arbeit bei der Gräfin Barolo aufgeben musste, zieht seine Mutter zu
ihm. Als „Mamma Margherita“ dort am 25.11.1856 stirbt, wird dieser Verlust
von den Jungen zutiefst betrauert.
1 Johannes BOSCO: Erinnerungen an das Oratorium des hl. Franz von Sales von 1815 bis 1855. Einführung
und Anmerkungen von Antonio da Silva Ferreira. Don Bosco Verlag, München, 2001.

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4
1847
1851
1854
1855
1859
1863
1864
1870
1872
1874
1875
1876
1877
10. Mai 1884
31. Januar 1888
Ausbruch des ersten Unabhängigkeitskrieges gegen Österreich. Die antikirchli-
chen Strömungen verstärken sich. Don Bosco widersetzt sich energisch allen
Versuchen, in die innenpolitischen Auseinandersetzungen verwickelt zu
werden. Die Folge sind Verleumdungen, Anzeigen, und mehrere Attentate
werden auf ihn verübt.
Für diejenigen seiner Jungen, die in der Stadt Turin eine Lehre machen, schließt
Don Bosco Lehrverträge ab, welche nicht nur die Rechte des Lehrherrn, son-
dern auch der Auszubildenden festschreiben: Entgelt, keine berufsfremde
Tätigkeit, keine Prügelstrafe, Freizeit…
Don Bosco bildet mit Theologiestudenten und Jugendlichen eine formlose
Gemeinschaft, die sich der Nächstenliebe unter der Jugend widmet. In Turin
bricht die Cholera aus, Don Bosco und seine Jungen beteiligen sich an der
Pflege der Kranken.
Aufhebung fast aller religiöser Ordensgemeinschaften. Mit Michael Rua legt
der erste Salesianer seine – noch privaten – Ordensgelübde in die Hände Don
Boscos ab.
Zweiter Unabhängigkeitskrieg. Am 18. Dezember 1859 wird die „Gesellschaft
des hl. Franz von Sales“, wie Don Bosco seine Kongregation nennt, gegründet.
Gründung von Mirabello, der ersten Salesianer-Niederlassung außerhalb von
Turin.
Die Kongregation erhält die vorläufige kirchliche Anerkennung; im Jahr darauf
legen die ersten Salesianer ihre öffentlichen Gelübde ab.
Mit der Besetzung Roms durch italienische Truppen hat der bisherige
Kirchenstaat ein Ende. Don Bosco wird vermehrt um Vermittlung zwischen
Staat und Kirche gebeten.
Don Bosco gründet mit Maria Domenica Mazzarello die Kongregation der
Töchter Mariens, der Helferin der Christen (Don-Bosco-Schwestern) für die
Arbeit unter der weiblichen Jugend.
Die salesianischen Ordensregeln werden endgültig von der Kirche anerkannt.
Die erste Niederlassung der Salesianer außerhalb Italiens entsteht im franzö-
sischen Nizza. Aussendung der ersten Missionare nach Argentinien.
Die „Salesianischen Mitarbeiter Don Boscos“ erhalten als Laiengemeinschaft
die kirchliche Anerkennung.
Don Bosco veröffentlicht seine Schrift über „Das Präventivsystem in der Erzie-
hung der Jugend“.
Don Bosco schreibt seinen Jungen und seinen Salesianern den bekannten „Brief
aus Rom“.
Don Bosco stirbt in Turin.

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5
JOHANNES BOSCO: DAS PRÄVENTIVSYSTEM IN DER
ERZIEHUNG DER JUGEND2
Man hat mich schon öfter gebeten, mündlich oder schriftlich einige Gedanken zum sog.
Präventivsystem darzulegen, das in unseren Häusern angewandt wird. Aus Zeitmangel konnte
ich diesem Wunsch bis jetzt noch nicht nachkommen. Nun aber sollen die Satzungen3 in Druck
gehen, die bis heute fast immer aufgrund der Tradition beobachtet wurden. So halte ich es für
angebracht, hier wenigstens eine Vorschau zu geben, einen inhaltlichen Überblick über eine
größere Abhandlung, die ich vorbereite und zu vollenden hoffe, wenn Gott mich solange leben
lässt. Meine einzige Absicht dabei ist, der schwierigen Kunst der Jugenderziehung zu dienen.
Daher werde ich darlegen:
1. Worin das Präventivsystem besteht, und warum es den Vorzug verdient,
2. seine praktische Anwendung und
3. sein Nutzen.
1. Worin das Präventivsystem besteht, und warum es den Vorzug verdient.
In der Jugenderziehung haben zu allen Zeiten zwei Systeme Anwendung gefunden: das
Präventiv- und das Repressivsystem.
Im Repressivsystem gibt man den Untergebenen das Gesetz bekannt, und dann überwacht man
seine Befolgung, damit Übertreter festgestellt und, falls nötig, gebührend bestraft werden. Bei
diesem System muss der Vorgesetzte immer streng oder sogar drohend schauen und sprechen, er
darf mit seinen Untergebenen auf gar keinen Fall vertraulich umgehen.
Der Direktor darf sich dabei zur Stärkung seiner Autorität nur selten bei seinen Schutzbefohlenen
zeigen, und wenn, dann nur zum Drohen und Strafen. Dieses System ist leicht, und es macht
weniger Mühe; es nützt besonders beim Militär, und ganz allgemein bei erwachsenen und ver-
nünftigen Menschen, die von sich aus in der Lage sein sollen, Gesetze und andere Vorschriften zu
kennen und sich daran zu erinnern.
Das Präventivsystem ist da ganz anders, ich möchte sagen, sogar dem entgegengesetzt. Es besteht
darin, dass man die Vorschriften und die Ordnung eines Instituts bekannt gibt und dann sorgfäl-
tig darauf achtet, dass der Direktor und die Assistenten4 die Jungen5 immer im Auge haben. Der
Direktor und die Assistenten sollen wie liebevolle Väter mit den jungen Menschen sprechen,
ihnen bei jeder Gelegenheit als Wegweiser dienen, gute Ratschläge erteilen und sie freundlich
2 Die Abhandlung über das Präventivsystem erschien in Druck erstmals 1877 im Rahmen einer Festschrift
zur Einweihung des Salesianerwerkes in Nizza. Aus dieser Zeit gibt es einige inhaltlich fast identische
Fassungen.
Präventiv meint vorbeugend, vorsorgend. „Präventivsystem“, diese für Don Bosco typische Art des erzie-
herischen Umgangs mit jungen Menschen wird deshalb im deutschen Sprachraum auch mit „Pädagogik
der Vorsorge“ übersetzt.
3 Gemeint sind die „Satzungen für die Häuser der Gesellschaft des hl. Franz von Sales“, 1877 von der Tipo-
grafia Salesiana, der Salesianerdruckerei in Turin gedruckt.
4 „Assistent“ ist die Bezeichnung Don Boscos für seine als Erzieher eingesetzten Salesianer.
5 Sowohl in dieser Abhandlung als auch in seinem „Brief aus Rom“ spricht Don Bosco nur von männlichen
Kindern und Jugendlichen. Zu seiner Zeit war Koedukation außerhalb der Familie undenkbar: Jungen
wurden von Männern erzogen, und Mädchen von Frauen.

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6
zurechtweisen, es ihnen - mit einem Wort – unmöglich machen, sich etwas zu Schulden kommen
zu lassen.6
Dieses System stützt sich ganz auf die Vernunft, die Religion und die Liebenswürdigkeit. Deshalb
schließt es jede körperliche Züchtigung aus und versucht, auch ohne leichtere Strafen auszukom-
men. Nach meiner Ansicht verdient es aus folgenden Gründen den Vorzug:
I. Wenn ein Junge schon vorher auf einen möglichen Fehler hingewiesen wurde, bleibt es ihm
erspart, sich schämen zu müssen, wie das leicht geschieht, wenn er nach einem Fehltritt zum
Vorgesetzten zitiert wird. Und er wird sich nicht über eine Zurechtweisung, eine angedrohte oder
auferlegte Strafe ärgern, weil ihm ja vorbeugend schon vorher freundlich der Grund dafür erklärt
worden ist. Auf der Grundlage der herzlichen Beziehung zum Erzieher kann er dann die Notwen-
digkeit der Strafe einsehen, sie vielleicht sogar wünschen.
II. Der Hauptgrund für Regelübertretungen ist ja die Lebhaftigkeit der Jugend: Von einem Augen-
blick auf den anderen vergisst ein Junge alle Regeln der Disziplin und denkt nicht daran, welche
Konsequenzen das für ihn hat. Oft stellt er dann etwas an und verdient dafür eine Strafe, an die er
beim Geschehen selbst nie gedacht und die er völlig vergessen hatte; wenn ihn jemand vorher
freundlich darauf aufmerksam gemacht hätte, wäre ihm das sicher nicht passiert.
III. Das Repressivsystem kann eine Unordnung verhindern, aber es wird die „Übeltäter“ wohl
kaum bessern. Manchmal vergessen dann Jugendliche die ihnen auferlegten Strafen nie, werden
sogar verbittert und möchten das ganze Joch von sich abschütteln und sich rächen. Es sieht zwar
manchmal so aus, als machten sie sich nichts daraus, aber wer ihre Entwicklung verfolgt, der
weiß, welch schreckliche Erinnerungen an ihre Jugendzeit sie mit sich tragen. Auch ist bekannt,
dass die jungen Menschen schnell die Strafen durch ihre Eltern vergessen, aber Strafen durch ihre
Erzieher nur sehr schwer. Einige haben sich nachweislich als Erwachsene sehr hässlich für Strafen
gerächt, die in der Zeit ihrer Erziehung verdientermaßen verhängt worden sind. Im Gegensatz
dazu macht das Präventivsystem den jungen Menschen zum Freund des Erziehers, in dem er
einen Menschen sieht, der ihm wohl will, der ihm Hinweise gibt, der ihn zu einem guten Men-
schen erziehen möchte und ihm Sorgen, Strafen und Schande ersparen will.
IV. Beim Präventivsystem geht der Erzieher so mit den jungen Menschen um, dass er in der Zeit
der Erziehung wie auch später immer wieder in der Sprache des Herzens mit ihnen reden kann.
Der Erzieher, der einmal das Herz eines ihm Anvertrauten gewonnen hat, kann großen Einfluss
auf ihn nehmen, ihm Hinweise und Rat geben und ihn auch korrigieren, sogar dann noch, wenn
er bereits arbeitet oder bei Behörden oder in der Wirtschaft eine Stellung hat. Aus diesen und
vielen anderen Gründen ist das Präventivsystem wohl dem Repressivsystem vorzuziehen.
2. Das Präventivsystem und seine Anwendung
Die praktische Anwendung dieses Systems stützt sich ganz auf die Worte des hl. Paulus: ,,Caritas
patiens est; omnia suffert, omnia sperat, omnia sustinet“ – die Liebe ist gütig und geduldig; sie
hält alles aus, sie erhofft alles und nimmt jede Mühe auf sich. Darum kann nur ein Christ das
6 Don Bosco wollte damit keine pausen- und lückenlose Überwachung, das zeigt auch seine eigene erziehe-
rische Praxis. Es ging ihm darum, durch das aktive Mittun der Erwachsenen in der Freizeit, in Schule und
Ausbildung möglichem Schaden vorzubeugen, den die Jungen an Leib und Seele anrichten oder erleiden
könnten. Der Begriff „Aufsicht“ deckt nur einen kleinen Teil dessen ab, worum es Don Bosco ging; das
zeigt der „Brief aus Rom“ sehr nachdrücklich.

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7
Präventivsystem mit Erfolg anwenden.7 Vernunft und Religion sind die Mittel, welche der Erzie-
her immer wieder anwenden, lehren und für sich selbst praktizieren muss, wenn er Gehorsam
finden und sein Ziel erreichen will.
I. Der Direktor soll sich deshalb um seine Jungen kümmern und keine Aufgaben übernehmen, die
ihn von dieser Pflicht abhalten. Außer wenn die Assistenz durch andere entsprechend gewähr-
leistet ist, soll er immer bei ihnen sein, wenn sie nicht gerade andere Verpflichtungen haben und
dadurch beschäftigt sind.
II. Die Lehrer, Ausbilder und Assistenten müssen Menschen von anerkannter moralischer
Tadellosigkeit sein. Wie die Pest sollen sie jede spezielle Zuneigung oder Sonderfreundschaft zu
den Jungen meiden und daran denken, dass die Entgleisung eines einzigen die ganze Erziehungs-
einrichtung in Verruf bringen kann. Sie sollen dafür sorgen, dass die Jugendlichen nie sich selbst
überlassen sind. Soweit möglich betreten zuerst die Assistenten die Gemeinschaftsräume und –
orte, dann erst die Jungen. Die Erzieher bleiben so lange bei den Jungen, bis Ablösung kommt,
und achten darauf, dass die Jugendlichen immer beschäftigt sind.
III. Die Jungen sollen viel Freiheit haben, nach Herzenslust springen, herumlaufen und Krach
machen können. Turnen, Musik, das Vortragen von Gedichten, kleine Bühnenstücke und
Wanderungen sind sehr geeignet, Disziplin zu halten sowie Anstand und Gesundheit zu fördern.
Nur sollen der Inhalt der Darbietungen, die Rollen und die Dialoge dabei untadelig sein. ,,Macht
alles, was ihr wollt“, sagte der große Freund der Jugend, der hl. Philipp Neri ,,mir genügt es, wenn
ihr keine Sünde begeht“.
IV. Die häufige Beichte, die häufige Kommunion und die tägliche Messe8 sind die tragenden Pfeiler
einer Erziehung, die auf Drohungen und Stock9 verzichten will. Die Jungen sollen nie zum
Empfang der Sakramente verpflichtet werden, aber man soll ihnen dazu Mut machen und ihnen
auch gute Gelegenheiten dazu bieten. Bei den Exerzitien, Novenen, Predigten und im Religions-
unterricht soll die Schönheit und Heiligkeit unseres Glaubens deutlich gemacht werden, der für
die menschliche Gesellschaft und für den Herzensfrieden und das Seelenheil des einzelnen Men-
schen so einfache Mittel wie die Sakramente anbietet. Auf diese Weise bekommen die Jugendli-
chen Freude an diesen religiösen Übungen und beteiligen sich daran gern und mit Nutzen.
7 Don Bosco hat kaum voraussehen können, dass die heutige Erziehungswirklichkeit in salesianischen Ein-
richtungen vor allem außerhalb Europas auch die haupt- und ehrenamtliche Mitarbeit nichtchristlicher
Frauen und Männer kennt: Muslime, Hindus, Buddhisten usw. Statt „Christ“ würde er heute sagen
„Darum kann nur ein gläubiger Mensch…“. Vgl. dazu die Aussagen des 24. Generalkapitels der
Salesianer Don Boscos im Jahr 1966, Nr. 183 – 186.
8 In einer Zeit, in der auf den Kanzeln häufig die unendliche Größe und Majestät Gottes gepredigt wurde,
dem man sich nur selten in Beichte und Kommunion nähern dürfe, hat Don Bosco eine fast revolutionäre
Auffassung vertreten: Jesus ist dein guter Freund, zu dem du jederzeit und mit allem kommen kannst. Er
hilft dir, den guten Weg zum Vatergott zu finden und zu gehen, also geh oft zu ihm und freue dich über
seine Liebe.
Man darf aus der obigen Formulierung in dieser Abhandlung nicht schließen, Don Bosco habe den Emp-
fang der Sakramente – oder die religiöse Erziehung überhaupt – rein als Disziplinierungs- und Erzie-
hungsmaßnahme verstanden.
9 Körperliche Züchtigungen, auch mit dem Stock, waren in Familien, Schulen und Lehrstellen damals
durchaus übliche „Erziehungsmittel“.

1.8 Page 8

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8
V. Sehr sorgfältig soll darauf geachtet werden, dass keine Kameraden, Schriften oder Menschen
ins Haus gelangen, die einen schlechten Einfluss haben. Ein guter Pförtner ist ein Schatz in einer
Einrichtung, die der Erziehung dient.
VI. Der Direktor – oder jemand an seiner Stelle – soll jeden Abend nach dem Gebet und bevor die
Jungen sich zur Ruhe begeben, einige herzliche Worte an alle richten und dabei Hinweise oder
Ratschläge für ihr Verhalten geben. Diese Hinweise sollen sich möglichst auf das Tagesgeschehen
innerhalb oder außerhalb des Hauses beziehen, seine Ansprache aber nie länger als zwei oder drei
Muten dauern. Das ist der Schlüssel zum sittlichen Verhalten, zum guten Gang, und zum Erfolg in
der Erziehung.10
VII. Die Einstellung einiger, wonach die Erstkommunion auf ein fortgeschritteneres Alter zu ver-
schieben sei, ist absolut zurückzuweisen, denn da hat der Teufel meist schon das jugendliche Herz
in Besitz genommen zum unabsehbaren Schaden der Unschuld. In der Urkirche gab man die
konsekrierten Hostien, die bei der Osterkommunion übrigblieben waren, den kleinen Kindern.
Wir können daraus erkennen, dass die Kirche sehr wünscht, dass die Kinder beizeiten zur heiligen
Kommunion zugelassen werden. Sobald ein Kind zwischen dem täglichen und dem eucharis-
tischen Brot unterscheiden kann und zeigt, dass es genügend unterrichtet ist, soll man nicht auf
das Alter schauen und den himmlischen König in diesem gesegneten Herzen herrschen lassen.11
VIII. Die Katechismen empfehlen die häufige Kommunion. Der hl. Philipp Neri gab den Rat, sie
jede Woche einmal und noch öfter zu empfangen. Das Konzil von Trient spricht klar den
dringenden Wunsch aus, dass jeder gläubige Christ, wenn er an der hl. Messe teilnimmt, auch die
Kommunion empfangen soll, und zwar nicht nur geistlich, sondern wirklich sakramental, damit
er aus diesem erhabenen göttlichen Opfer um so größeren Nutzen ziehen kann (Conc. Trid. sess.
XXII, cap. 6).
3. Nutzen des Präventivsystems
Mancher wird sagen, dieses System sei schwierig in die Praxis umzusetzen. Dazu möchte ich
sagen, dass es für die Jungen viel leichter, befriedigender und vorteilhafter ist. Für die Erzieher
bringt es zwar einige Schwierigkeiten, die sich aber legen, wenn der Erzieher mit dem Herzen
dabei ist. Der Erzieher ist jemand, der sich ganz dem Wohl seiner Jungen verschrieben hat, und
deshalb muss er bereit sein, jede Mühe und Anstrengung auf sich zu nehmen, um sein Ziel zu
erreichen: die staatsbürgerliche, sittliche und intellektuelle Bildung der ihm Anvertrauten.
Außer den genannten Vorteilen gibt es noch weitere:
I. Der junge Mensch wird seinen Erzieher immer respektieren. Er wird sich immer gern an die
Erziehung erinnern, die er erhalten hat, und auch weiterhin in seinen Lehrern und den übrigen
Vorgesetzten Väter und Brüder sehen. Auf ihrem weiteren Weg sind diese Jungen zumeist die
Freude ihrer Familien, tüchtige Staatsbürger und gute Christen.
10 Zur Zeit Don Boscos und noch lange danach versammelte sich die gesamte Hausgemeinschaft zum
gemeinsamen Abendgebet mit der anschließenden Gute-Nacht-Ansprache. Heute ist es in Heimen usw.
sinnvoller, dies in den einzelnen Gruppen zu tun, mancherorts ist statt dessen aus praktischen Gründen
morgens ein „Wort in den Tag“ üblich.
11 Auch mit dieser Einstellung ging Don Bosco Wege, die damals längst nicht von allen Seelsorgern für gut
und richtig befunden wurden. Weil er wegen seiner Seelsorgepraxis öfter angefeindet wurde, wollte er
wohl mit diesem und vor allem dem folgenden Abschnitt VIII deutlich machen, dass er durchaus auf dem
Boden der kirchlichen Traditionen stand.

1.9 Page 9

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9
II. Wie immer der Charakter, das Wesen und die sittliche Verfassung eines jungen Menschen bei
seiner Aufnahme auch sind, die Eltern können sicher sein, dass ihr Sohn nicht schlechter wird,
sondern dass immer eine Besserung eintritt. Selbst manche Kinder, die lange Zeit das Kreuz ihrer
Eltern waren und sogar von Besserungsanstalten abgelehnt wurden, änderten durch die Erzie-
hung nach diesen Grundsätzen ihr Wesen und ihren Charakter. Sie begannen ein ordentliches
Leben, haben heute ehrenvolle Ämter in der Gesellschaft inne und sind so die Stütze ihrer Familie
und die Zierde des Landes, in dem sie leben.
III. Wenn doch einmal Jungen mit schlechten Gewohnheiten in einem Heim aufgenommen
werden sollten, können sie ihre Kameraden nicht verderben. Sie können den Guten keinen
Schaden zufügen: Dazu ist weder Zeit, noch Platz, noch Gelegenheit, denn der Assistent, dessen
Gegenwart wir voraussetzen, würde sofort Abhilfe schaffen.
Ein Wort über die Strafen
Wie soll man strafen? Nach Möglichkeit soll man überhaupt keine Strafen verhängen. Wenn aber
ein Einschreiten einmal notwendig ist, sollte man folgendes beachten:
I. Wenn der Erzieher bei seinen Jungen geachtet und respektiert werden will, soll er sich darum
mühen, ihre Liebe zu gewinnen. Dann ist bereits der Entzug des Wohlwollens eine Strafe, aber
eine Strafe, die ermuntert, Mut macht und nie demütigt.
II. Für die jungen Menschen ist das eine Strafe, was als Strafe verhängt wird. So wird man fest-
stellen, dass ein ernster Blick bei manchen nachhaltiger wirkt als eine Ohrfeige. Das Lob für eine
gute Leistung oder der Tadel für eine Nachlässigkeit können bereits Belohnung bzw. Strafe sein.
III. Abgesehen von ganz seltenen Ausnahmen soll man nie öffentlich zurechtweisen oder strafen,
sondern nur unter vier Augen und ohne die Kameraden. Dabei ist mit großer Klugheit und viel
Geduld vorzugehen, damit der Junge zur Einsicht in sein Fehlverhalten im Licht der Vernunft und
der Religion kommen kann.
IV. Auf gar keinen Fall darf man die jungen Menschen schlagen, sie in schmerzhafter Stellungen
knien lassen, an den Ohren ziehen oder ähnliches. Solche Strafen sind gesetzlich verboten, reizen
die Jungen sehr und erniedrigen zudem den Erzieher.
V. Der Direktor soll dafür sorgen, dass die geltenden Regeln genau bekannt sind, ebenso die in der
Hausordnung vorgesehenen Belohnungen und Strafen, damit sich kein Junge damit entschul-
digen kann: Ich wusste nicht, dass dies geboten bzw. verboten ist.
Wenn man dieses System in unseren Häusern anwendet, wird man nach meiner Überzeugung
große Erfolge erzielen, ohne dass man zum Stock oder zu anderen Züchtigungen greifen muss.
Seit ungefähr vierzig Jahren mühe ich mich um die Jugend, und ich erinnere mich nicht, je irgend-
eine Strafe verhängt zu haben. Mit Gottes Hilfe habe ich erreicht, dass die jungen Menschen nicht
nur getan haben, was man zu Recht von ihnen erwarten konnte, sondern sogar auf das einge-
gangen sind, was ich einfach gewünscht habe, und das war selbst bei solchen Jungen möglich, bei
denen jede Hoffnung auf Erfolg vergebens schien.

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10
DER „BRIEF AUS ROM“12
Meine lieben Söhne in Christus!
Rom, am 10. Mai 1884
Wo immer ich auch bin, ich denke immer an Euch, und ich habe nur den einen Wunsch, Euch zeit-
lich und ewig glücklich zu sehen. Dieser Gedanke, dieser Wunsch drängt mich, Euch diesen Brief
zu schreiben. Die Trennung von Euch fällt mir sehr schwer, meine Lieben, und weil ich Euch nicht
sehen oder hören kann, vermisse ich Euch ganz arg, glaubt mir. Schon vor einer Woche wollte ich
Euch diesen Brief schreiben, aber meine viele Arbeit hier hat mich daran gehindert. Es sind zwar
nur noch wenige Tage bis zu meiner Rückkehr, aber mein Wiedersehen mit Euch will ich in diesen
Zeilen schon einmal vorwegnehmen, da ich es persönlich noch nicht kann. Was ich Euch schreibe,
sind die Worte eines Menschen, der Euch in Christus sehr lieb hat und die Pflicht fühlt, mit der
Offenheit eines Vaters zu Euch zu reden. Das erlaubt Ihr mir doch, und Ihr werdet mir Eure Auf-
merksamkeit schenken und das, was ich Euch sagen werde, auch in die Tat umsetzen, nicht wahr?
Ich habe Euch schon gesagt, dass ich immer an Euch denke. Nun, an einem der letzten Abende
hatte ich mich auf mein Zimmer zurückgezogen, und während ich mich zum Schlafengehen fertig
machte, habe ich die Gebete gesprochen, die ich von meiner lieben Mutter gelernt hatte. Auf
einmal - ich weiß nicht recht, ob ich schon eingeschlafen oder irgendwie geistesabwesend war –
da schien es mir, als stünden zwei alte Ehemalige des Oratoriums13 vor mir. Einer von ihnen trat
näher, begrüßte mich herzlich und sagte: „Don Bosco, kennen Sie mich noch?“ – „Ja, ich kenne
dich“, gab ich zur Antwort. „Sie erinnern sich noch an mich?“ - „An dich und an alle die anderen.
Du bist Valfré und warst vor 1870 im Oratorium.“ – „Sagen Sie“, fuhr er fort, „wollen Sie die
Jungen sehen, die zu meiner Zeit im Oratorium waren?“ - „Ja“, sagte ich, „zeige sie mir, ich würde
mich sehr darüber freuen.“
Da zeigte mir Valfré alle Jungen, mit dem Aussehen, der Gestalt und in dem Lebensalter von
damals. Mir war, als wäre ich im alten Oratorium, zur Zeit der Erholung; da war Leben, voller
Bewegung und Fröhlichkeit. Die einen liefen, andere übten Springen, und wieder andere waren
begeistert bei anderen Spielen. Hier spielte man Bockspringen, dort Bahrlauf und Wurfball. An
einer Stelle war eine Gruppe Jungen beisammen und lauschte gespannt einem Priester, der eine
Geschichte erzählte. An einer anderen Stelle spielte ein Kleriker14 mit den Jungen den „fliegenden
12 Don Bosco hat den Brief in der vorliegenden Form nicht selbst geschrieben oder wörtlich diktiert. Wegen
seiner angeschlagenen Gesundheit und der vielen Arbeit hatte er, wie gewohnt, seinem Begleiter Don
Lemoyne die wichtigsten Punkte angegeben, der den Brief dann ausformulierte; der „blumige“ Stil
Lemoynes unterscheidet sich deutlich vom Stil Don Boscos, wenn er selbst schrieb oder wörtlich diktierte.
Ursprünglich waren es zwei Briefe, je einer an die Salesianer und an die Jungen des Oratoriums, die von
den Sekretären Don Boscos redaktionell bearbeitet und zusammengefasst wurden. Siehe den Beitrag von
Pietro BRAIDO „Due lettere da Roma“, in Pietro BRAIDO (Hrsg.): Don Bosco educatore. Scritti e
testimonianze. Rom, 3. erw. Aufl. 1997, S. 344 – 390.
13 Der Begriff Oratorium – wörtlich „Gebetsstätte“ – ist schon lange vor Don Bosco bekannt. Gemeint ist
damit eine Einrichtung, in der Kinder und Jugendliche religiöse Unterweisung erhielten und ihre Freizeit
verbringen konnten. Heutige Bezeichnungen wie etwa „Tagesstätte“, „Hort“ oder „Haus der Offenen
Tür“ geben nur unvollständig wieder, was Don Bosco mit Oratorium meinte und wollte: menschliche,
schulische (später auch berufliche) Bildung, religiöse Unterweisung und eine ansprechende Freizeitge-
staltung für Kinder und Jugendliche, die den ganzen Tag oder Stunden (anfangs nur sonntags) bei ihm
verbrachten, aber nicht bei ihm wohnten. Später wurde mit Oratorium zusätzlich auch die Einrichtung
bezeichnet, in der dies stattfand.
14 „Kleriker“ war damals die Bezeichnung für die Salesianer, die noch in der Zeit ihrer Priesterausbildung
waren.

2 Pages 11-20

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2.1 Page 11

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11
Esel“ und die „Handwerker“. Überall wurde gelacht und gesungen, und überall sah man Kleriker
und Priester, umgeben von fröhlichen, lachenden Jungen. Man spürte, dass zwischen diesen und
ihren Erziehern große Herzlichkeit und viel Vertrauen herrschte. Ich war ganz begeistert von dem
Schauspiel, und Valfré sagte zu mir: „Sehen Sie, die familiäre Herzlichkeit schafft Liebe, und die
Liebe schafft Vertrauen. Das öffnet die Herzen, und die Jungen können ohne Angst über alles mit
ihren Lehrern, Erziehern und Vorgesetzten reden. Sie sind ehrlich, in der Beichte und außerhalb,
und sie richten sich gern nach dem, von dem sie sicher sind, dass er sie liebt.“
In diesem Augenblick trat der andere alte Ehemalige zu mir - es war Josef Buzzetti -, er hatte einen
schon ganz weißen Bart. „Don Bosco“ sagte er, „wollen Sie auch die Jungen sehen, die jetzt im
Oratorium sind?“ – „Ja, gern“, sagte ich, „es ist nämlich schon einen Monat her, dass ich sie nicht
mehr gesehen habe.“ Da zeigte er sie mir. Ich sah das Oratorium, und Euch alle, wie Ihr gerade
Freizeit hattet.
Aber ich hörte da nichts mehr an frohem Geschrei oder Liedern, und von dem Leben und Treiben
wie in der ersten Szene war auch nichts zu sehen. Viele Jungen hingen herum und schauten so
gelangweilt, so müde, enttäuscht und misstrauisch, dass es mir ans Herz griff. Gewiss, viele
tobten herum, hatten ihren Spaß miteinander und waren sorglos und glücklich. Aber eine ganze
Reihe lehnten sich trübsinnig und allein an die Säulen, und andere drückten sich auf Treppen und
Gängen, auf den Balkonen und zur Gartenseite herum, um nicht mit den Kameraden spielen zu
müssen. Wieder andere gingen langsam in Gruppen spazieren, sie unterhielten sich leise für sich
und schauten sich dabei immer wieder argwöhnisch um. Manchmal fingen sie auch an zu lachen,
aber mit solch einem Gesicht, dass man sicher sein konnte, dass der hl. Aloysius sich in ihrer
Gesellschaft geschämt hätte. Aber auch unter denen, die spielten, waren einige so wenig bei der
Sache, dass man deutlich merken konnte, dass die Freizeit ihnen keinen richtigen Spass machte.
„Haben Sie Ihre Jungen gesehen?“ fragte mich der Ehemalige. „Ja, ich sehe sie“, sagte ich und
seufzte. „Wie ganz anders sind sie doch als wir früher“, sagte der Ehemalige.
„Wirklich, viele haben ja in der Freizeit zu überhaupt nichts Lust!“ - „Und daher kommt es auch,
dass viele innerlich unberührt bleiben, wenn sie die heiligen Sakramente empfangen, und dass sie
bei den Gebeten innerhalb und außerhalb der Kirche so gleichgültig sind. Deshalb sind sie nur
ungern in einem Heim, in dem sie der liebe Gott doch so reichlich mit allem versorgt, was sie an
Leib und Seele brauchen. Das ist auch der Grund dafür, dass viele ihrer Berufung nicht entspre-
chen, für die Undankbarkeit ihren Erziehern gegenüber, für die Geheimniskrämerei, für das
Meckern und für andere, schlimme Dinge.“
„Das wird mir klar, ich verstehe“, erwiderte ich. „Aber wie können wir meine jungen Freunde
wieder neu begeistern, so dass sie ihren alten Schwung wiederfinden und froh und offen
werden?“
„Durch Liebe!“
„Durch Liebe? Aber werden denn meine Jungen nicht genug geliebt? Du weißt doch, wie sehr ich
sie liebe. Du weißt, wie viel ich in den mehr als vierzig Jahren getan und durchgestanden habe,
und was ich auch heute noch alles ertrage und aushalte, damit sie Nahrung, Heimat und Ausbil-
dung haben, und besonders aus Sorge um ihr ewiges Heil; so viele Mühen, Erniedrigungen,
Widerstände und Verfolgungen! Ich habe alles für sie getan, was ich wusste und konnte, denn
ihnen gehört doch mein ganzes Herz.“
„Ich spreche doch nicht von Ihnen!“

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„Von wem denn sonst? Vielleicht von meinen Vertretern, den Direktoren, den Wirtschaftsleitern,
den Lehrern und den Erziehern? Siehst du denn nicht, wie sie sich abplagen und abrackern in der
Schule, bei der Arbeit und in der Freizeit? Wie sie ihre besten Jahre geben für die Jungen, die
ihnen der liebe Gott anvertraut?“
„Ich sehe es, ich weiß es. Aber das genügt noch nicht. Das Wichtigste fehlt.“
„Was fehlt denn noch?“
„Die Jungen müssen nicht nur geliebt werden, sie müssen diese Liebe selbst auch spüren.“
„Ja, haben sie denn keine Augen im Kopf, haben sie keinen Verstand? Sehen sie denn nicht, dass
man alles nur aus Liebe für sie tut?“
„Nein! Ich sage es noch einmal: Das ist nicht genug!“
„Was will man denn noch mehr?“
„Wenn man das liebt, was ihnen Freude macht, wenn man auf ihre Neigungen eingeht, dann
lernen sie, die Liebe auch in dem zu erkennen, was ihnen nicht so gefällt, wie z. B. Disziplin,
Lernen oder auch Selbstüberwindung. Sie lernen so, diese Dinge mit Begeisterung und Liebe zu
vollziehen.“
„Erkläre das mal deutlicher!“
„Beobachten Sie einfach die Jungen in der Freizeit!“
Ich schaute hin und sagte dann: „Was gibt es da Besonderes zu sehen?“
„Sie sind nun schon so viele Jahre Jugenderzieher und verstehen das nicht? Schauen Sie mal
genau hin! Wo sind denn unsere Salesianer?“
Nun fiel mir auf, dass sehr wenige Priester und Studenten bei den Jungen waren, und noch
weniger spielten zusammen mit ihnen. Die Erzieher waren nicht mehr das Herz der Freizeit. Die
meisten gingen umher und unterhielten sich untereinander, ohne darauf zu achten, was die
Jungen trieben. Andere schauten bloß bei den Spielen zu, ohne wirklich an die Jungen zu denken,
und wieder andere beaufsichtigten die Jungen aus so weiter Entfernung, dass sie nicht merken
konnten, wo etwas fehlte. Der eine oder andere rief den Jungen wohl etwas zu, aber in drohendem
Ton, und auch nur selten. Gewiss, es gab auch Erzieher, die sich an der Unterhaltung einer
Gruppe von Jungen beteiligen wollten. Aber ich konnte sehen, dass die dann ihren Erziehern
absichtlich aus dem Weg gingen.
Dann sagte mein Freund: „Waren Sie selbst in der guten alten Zeit des Oratoriums nicht immer
mitten unter uns Jungen, besonders in der Freizeit? Erinnern Sie sich noch an diese schönen Jahre?
Das waren doch Zeiten wie im Himmel, und ich denke gern daran zurück, weil damals die Liebe
unser Leben regelte und wir vor Ihnen keine Geheimnisse hatten.“
„Das stimmt! Das hat mir damals viel Freude gemacht, und die Jungen drängten sich begeistert
um mich, um mit mir zu reden. Sie haben wirklich versucht, auf meine Ratschläge zu hören und
sie zu befolgen. Aber jetzt geht das nicht mehr, wegen der dauernden Konferenzen und all dem,
was ich zu tun habe, und leider bin ich auch nicht mehr so gesund.“
„Schon gut; aber wenn Sie selbst nicht mehr können, warum machen es denn Ihre Salesianer nicht
nach Ihrem Vorbild so weiter? Warum bestehen Sie nicht darauf, warum fordern Sie nicht, dass sie
mit den Jungen so umgehen wie Sie damals?“

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„Ich sage es ihnen ja und rede mir die Lunge aus dem Leib, aber trotzdem wollen viele die Mühen
von damals nicht mehr auf sich nehmen.“
„Nun, weil sie nicht auf solche Kleinigkeiten achten, ist alle ihre Mühe und Arbeit umsonst. Sie
sollen lieben, was der Jugend gefällt, dann werden die Jugendlichen das lieben, was den Erziehern
gefällt. So wird auch ihre Arbeit leichter. Die Ursache, warum es jetzt im Oratorium schlechter
geworden ist, liegt im Mangel an Vertrauen einiger Jungen zu ihren Erziehern. Früher waren die
Herzen offen gegenüber den Erziehern, die Jungen liebten sie und gehorchten ihnen gern. Aber
jetzt werden sie als Vorgesetzte gesehen und nicht mehr als Väter, Brüder und Freunde, die
Jungen haben mehr Angst vor ihnen, als dass sie ihre Erzieher gern haben. Wenn alle wieder ein
Herz und eine Seele werden sollen, dann muss man um Gottes willen dafür sorgen, dass dieses
schlimme Misstrauen aufhört und statt dessen wieder herzliches Vertrauen herrschen kann. Dann
werden die jungen Menschen wieder wie Kinder ihrer Mutter gehorchen, und dann wird es auch
wieder so zufrieden und froh im Oratorium zugehen wie früher.“
„Wie kann man das denn erreichen?“
„Indem die Erzieher und die Jungen herzlich und vertrauensvoll miteinander umgehen, vor allem
in der Freizeit. Ohne Herzlichkeit und Vertrauen gibt es keine Liebe, und ohne Liebe gibt es kein
Vertrauen. Wer geliebt sein will, muss zeigen, dass er liebt. Jesus Christus hat sich klein gemacht
mit den Kleinen und unsere Schwächen auf sich genommen. Er ist wirklich ein Meister im
Vertrauen! Der Lehrer, der nur am Lehrerpult steht, ist Lehrer, und nicht mehr. Wenn er aber auch
in der Freizeit bei den Jungen ist, wird er deren Bruder. Wenn einer nur von der Kanzel predigt,
wird man sagen, er tue nur seine Schuldigkeit. Findet er aber auch während der Erholungszeit das
rechte Wort, dann ist es das Wort eines Menschen, der liebt. Welche Veränderungen haben nicht
schon ein paar Worte bewirkt, die wie zufällig während einer Unterhaltung in das Herz eines
jungen Menschen gefallen sind. Wer sich geliebt weiß, der liebt wieder, und wer geliebt wird, der
erreicht alles, besonders bei der Jugend. Dieses Vertrauen fließt wie elektrischer Strom zwischen
den Jungen und ihren Erziehern. Die jungen Menschen öffnen sich, erzählen von dem, was sie
bekümmert, und sie sprechen dann auch über ihre Fehler. Diese Liebe macht es auch für die Erzie-
her leichter, Mühen, Sorgen, Undankbarkeit, Unruhe, Fehler und Nachlässigkeiten der Jungen auf
sich zu nehmen. Jesus Christus hat das schon geknickte Rohr nicht gebrochen und den
glimmenden Docht nicht ausgelöscht. Er ist Euer Vorbild! Dann wird keiner mehr arbeiten, um
sich in den Vordergrund zu spielen; niemand wird strafen, bloß weil seine Eigenliebe verletzt
worden ist; keiner wird sich vor der Aufsicht drücken, weil er denkt, dass die anderen Erzieher
beliebter sind. Niemand wird andere Erzieher schlecht machen, um sich selbst beliebt zu machen
– man erntet dadurch bei den Jungen sowieso nur Verachtung und geheuchelte Schmeicheleien.
Niemand wird mehr einen der jungen Menschen zu seinem Liebling machen und ihn bevorzugen,
und dabei die anderen Jungen vernachlässigen; keiner wird aus Bequemlichkeit seine Aufsichts-
pflicht vernachlässigen, und keiner wird aus falscher Rücksicht einen Tadel unterlassen, wo
getadelt werden muss. Wo die wahre Liebe herrscht, da sucht man zuerst die Ehre Gottes und das
Heil der Seelen. Wo aber diese Liebe schwindet, da bleibt es nicht aus, dass die Dinge nicht mehr
gut laufen.
Warum soll an die Stelle der Liebe ein kühles Reglement treten? Warum weichen die Vorgesetzten
von den Erziehungsgrundsätzen ab, die sie von Don Bosco gelernt haben? Warum wird die alte
Methode, Fehlern durch Wachsamkeit und Liebe vorzubeugen, nun nach und nach dadurch
ersetzt, dass Gesetzesparagraphen aufgestellt werden? Das ist zwar für die Erzieher einfacher und
bequemer, aber wenn man die Einhaltung durch Strafen erzwingt, entsteht daraus nur Hass und

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Unwillen. Wenn man aber ihre Übertretung ungestraft durchgehen lässt, verlieren die Erzieher
die Achtung der Jungen, und es kommt zu gröbsten Unordnungen.
Alle diese Folgen ergeben sich zwangsläufig, wenn die Familiarität fehlt. Wenn also die glückli-
chen Zeiten des Oratoriums wiederkommen sollen, dann muss man zur früheren Methode
zurückkehren: Der Vorgesetzte soll allen alles sein. Er soll jederzeit bereit sein, jeden Zweifel und
jede Klage der Jungen anzuhören. Er soll ganz Auge sein, um wie ein Vater auf ihr Betragen zu
achten, er soll ganz Herz sein, um das seelische und leibliche Wohl derer zu fördern, die Gott ihm
anvertraut hat. Dann werden die Herzen sich wieder öffnen, und gewisse Heimlichkeiten werden
verschwinden. Nur bei unsittlichem Verhalten sollen die Vorgesetzten unerbittlich sein. Hier ist es
besser, die Gefahr auf sich zu nehmen, einmal einen Unschuldigen aus dem Heim zu entlassen,
als einen Verführer zu behalten. Die Erzieher sollen es als ihre Gewissenspflicht ansehen, den
Vorgesetzten über Vorkommnisse unter den Jungen mitzuteilen, die irgendwie eine Beleidigung
Gottes darstellen.“15
Hier fragte ich: „Wie kann man am besten für diese Herzlichkeit, diese Liebe und dieses Vertrauen
sorgen?“ – „Indem man sich genau an die Heimordnung hält.“ – „Ist das alles?“ – „Der beste Topf
auf dem Tisch ist ein frohes Gesicht.“
Mein ehemaliger Schüler schloss mit diesen Worten, und ich dachte noch weiter traurig über
unser Gespräch nach; da wurde ich immer müder. Als ich kaum mehr gegen die Mattigkeit
ankämpfen konnte, schüttelte ich mich und erwachte. Ich stand neben meinem Bett. Ich spürte
meine geschwollenen Beine. Sie schmerzten mich so sehr, daß ich nicht mehr aufrecht stehen
konnte. Da es schon sehr spät war, legte ich mich hin und beschloss, Euch, meinen lieben Söhnen,
diese Zeilen zu schreiben.16
Ich liebe solche Träume nicht, weil sie mich sehr ermüden. Am nächsten Tag fühlte ich mich wie
zerschlagen und konnte kaum den Abend erwarten, um schlafen gehen zu können. Aber siehe da,
kaum hatte ich mich niedergelegt, da begann der Traum schon wieder.17
Ich sah den Hof vor mir, die Jungen, die zur Zeit im Oratorium sind, und denselben Ehemaligen.
Ich fragte ihn: „Was du mir gesagt hast, das werde ich meinen Salesianern mitteilen. - Was aber
soll ich den Jungen im Oratorium sagen?“
„Sie sollen erkennen, wie viel Mühen und Sorgen ihre Vorgesetzten, Lehrer und Erzieher aus
Liebe auf sich nehmen, denn das tun sie doch einzig und allein, damit es ihnen gut geht. Die
Jungen sollen daran denken, dass die Demut die Quelle aller Zufriedenheit ist. Sie sollen lernen,
die Fehler anderer zu ertragen, denn auf Erden findet sich nichts Vollkommenes, das gibt es allein
im Himmel. Sie sollen das Meckern und Nörgeln lassen, das vergiftet nur die Herzen und die
Atmosphäre. Vor allem aber sollen sie sich Mühe geben, immer in der Gnade Gottes zu leben.
Wer nämlich mit Gott keinen Frieden hat, der hat auch mit sich selbst und mit anderen keinen
Frieden.“
15 Die Bewertung kindlicher und jugendlicher Sexualität sowie ihrer möglichen Ausdrucksformen ist aus
den Moralvorstellungen des 19. Jhdts. zu verstehen.
16 Hier endet der Teil des Briefes mit dem ersten Traum, der dann nur an die Salesianer gerichtet war.
17 Der zweite Traum – der Teil dieses Briefes, der für die Jungen bestimmt war – lässt ein erzieherische Den-
ken Don Boscos durchscheinen, das neu in der damaligen Zeit war: Die jungen Menschen sind nicht
„Objekte“ von Erziehung, die sie mehr oder weniger passiv erhalten und wofür die Erwachsenen allein
verantwortlich sind. Er machte seinen Jungen klar: Ohne ihre aktive Mitarbeit, ohne ihre Bereitschaft, sich
auf die personalen Angebote einzulassen, geht es nicht, und dafür tragen sie selbst auch Verantwortung.

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„Willst Du damit sagen, dass einige meiner Jungen nicht mit Gott in Frieden leben?“
„Neben anderen Übeln, von denen Sie schon wissen und die ich deshalb nicht weiter erwähnen
muss, ist das der Hauptgrund für die schlechte Stimmung im Heim. Das ist doch klar:
Argwöhnisch ist nur, wer etwas zu verbergen hat und befürchten muss, dass dies herauskommt,
er dafür bestraft wird und in Schande gerät. Wenn einer keinen Frieden mit Gott hat, dann ist er
ängstlich, unruhig, widerspenstig, überempfindlich und schlecht gelaunt. Und weil er ohne Liebe
ist, glaubt er, seine Erzieher hätten ihn auch nicht lieb.“
„Ja aber, mein lieber Freund, siehst du denn nicht, wie oft die Jungen im Oratorium zu den
heiligen Sakramenten gehen?“
„Ja schon, sie gehen oft zur Beichte, aber oft fehlen die festen Vorsätze. Die Jungen beichten zwar,
aber es sind immer dieselben Fehler, dieselben nächsten Gelegenheiten, dieselben schlechten
Gewohnheiten, dieselben Fälle von Ungehorsam und Pflichtvernachlässigung. So geht das
monatelang und vielleicht sogar jahrelang weiter, ja, bei einigen sogar bis zur Schulentlassung.
Solche Beichten haben nur geringen oder gar keinen Wert, und deshalb bringen sie auch keinen
Frieden, und wenn ein Junge in diesem Zustand vor Gottes Gericht treten müsste, so wäre das
eine sehr ernste Angelegenheit.“18
„Gibt es im Oratorium viele solcher Jungen?“
„Im Vergleich zu den vielen Jungen im Heim sind es nur wenige. Passen Sie auf, ich werde Sie
Ihnen zeigen.“
Ich schaute hin und sah jeden einzelnen dieser Jungen. Bei diesen wenigen aber sah ich Dinge, die
mich ganz traurig machten. In diesem Brief will ich nichts weiter zu schreiben, aber nach meiner
Rückkehr werde ich jedem sagen, was ihn betrifft. Hier möchte ich nur sagen, dass es an der Zeit
ist, zu beten und entschlossene Vorsätze zu fassen, Vorsätze, die nicht nur hingeredet werden,
sondern durch Taten zeigen, dass es auch heute noch Jungen unter uns gibt wie damals Comollo,
Dominikus Savio, Besucco und Saccardi.19
Schließlich fragte ich meinen Freund: „Möchtest du mir sonst noch etwas sagen?“
„Ja, erinnern Sie alle, groß und klein, immer wieder daran, dass sie Kinder der Mutter Gottes sind.
Sie, die Helferin der Christen, hat sie alle dort im Heim zusammengeführt, um sie vor der Gefahr
des Bösen zu bewahren. Sie sollen sich wie Brüder lieben und durch ein gutes Leben Gott ehren
und Maria loben, die immer wieder durch ihre Gnade und durch Wunder für das tägliche Brot
und für die Mittel zur Ausbildung sorgt. Sie sollen daran denken, dass das Fest der Helferin der
Christen bevorsteht, und mit ihrer Hilfe soll die Mauer des Misstrauens fallen, die der Böse
zwischen Jungen und Erziehern aufrichten konnte und die er nun geschickt zum Verderben der
Seelen benützt.“
„Wird es uns also gelingen, diese Mauer einzureißen?“
18 Viele damalige Theologen vertraten die Ansicht, Gott sei so unendlich groß, dass der Mensch es nur ganz
selten wagen dürfe, ihm in der hl. Kommunion zu nahen. Andere betonten dagegen die unendliche Liebe
und Güte Gottes, die vor allem in der Eucharistie sichtbar wird. Don Bosco lud seine Jungen immer
wieder ein, häufig zur hl. Kommunion zu gehen. Aber als Kind seiner Zeit hielt er doch die häufige,
möglichst wöchentliche Beichte für notwendig.
19 Aloys Comollo war Don Boscos bester Freund in der Schule und dann im Priesterseminar; er starb dort
1839 mit 22 Jahren. Dominikus Savio (1842 – 1857), Schüler im Oratorium, wurde 1954 heiliggesprochen.
Auch Francesco Besucco war als Schüler im Oratorium, er starb dort 1864 mit 13 Jahren. Ernesto Saccardi
war zunächst Schüler bei den Salesianern in Mirabello, er starb mit 16 Jahren im Oratorium in Turin.

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„Ganz bestimmt, wenn nur groß und klein aus Liebe zur Gottesmutter bereit sind, etwas
Selbstüberwindung auf sich zu nehmen und das, was ich gesagt habe, in die Tat umzusetzen.“
Während dem schaute ich weiter meinen Jungen zu und beobachtete das traurige Schauspiel
derer, die ich auf dem Wege zum ewigen Unheil sah; da fühlte ich solches Herzdrücken, dass ich
erwachte. Ich möchte Euch gern noch viele wichtige Dinge erzählen, aber meine Zeit und die
Umstände erlauben mir das leider nicht.
Ich komme zum Schluss. Wisst Ihr, was ich armer, alter Mann, der ich mein ganzes Leben für die
Jugend geopfert habe, mir von Euch wünsche? Nur dies eine: Tut auch Ihr Eure Pflicht, und lasst
die glücklichen Tage des alten Oratoriums wiederkehren, die Tage der Liebe und des Vertrauens
zwischen Jungen und Erziehern, die Tage der gegenseitigen Zuvorkommenheit und Verträglich-
keit um der Liebe Christi willen, die Tage einfacher Offenheit und Lauterkeit, die Tage der Liebe
und der echten Fröhlichkeit aller! Ich brauche diesen Trost, dass Ihr mir die Hoffnung und das
Versprechen schenkt, alles zu tun, was ich mir von Euch zu Eurem Besten wünsche. Ihr wisst noch
gar nicht so richtig, wie viel Glück ihr habt, dass Ihr im Oratorium eine Heimat gefunden habt.
Vor Gott bezeuge ich Euch: Wenn ein junger Mensch in ein Heim der Salesianer eintritt, wird er
sogleich von der Gottesmutter unter ihren besonderen Schutz genommen. Seien wir ein Herz und
eine Seele! Die Liebe derer, die befehlen, und die Liebe derer, die gehorchen müssen,20 wird unter
uns den Geist des heiligen Franz von Sales21 herrschen lassen.
Meine lieben Jungen, bald kommt die Zeit, dass ich von Euch Abschied nehmen und in die Ewig-
keit reisen werde. (Anmerkung des Sekretärs: Don Bosco unterbrach hier sein Diktat. Ihm traten
Tränen in die Augen, aber nicht vor Traurigkeit, sondern vor ganz großer Liebe, die auch aus
seinem Blick und seiner Stimme sprach. Nach einigen Augenblicken diktierte er weiter.22) Darum
wünsche ich mir von ganzem Herzen, Euch alle, meine Mitbrüder und meine lieben jungen
Freunde, auf dem Weg zu wissen, auf dem der Herr Euch sehen möchte. Dazu schickt Euch auch
der Heilige Vater, den ich am Freitag, dem 9. Mai besucht habe, von ganzem Herzen seinen Segen.
Am Fest der Helferin der Christen23 werde ich wieder in Eurer Mitte vor ihrem Gnadenbild sein.
Ich wünsche, dass dieses große Fest mit aller Feierlichkeit begangen wird. Don Lazzero und Don
Marchisio24 sollen dafür sorgen, dass auch bei Tisch Freude herrscht. Dieses Fest soll ein Vorspiel
des ewigen Festes sein, das wir einst alle miteinander im Himmel feiern werden.
Euer Freund, der Euch in Christus liebt,
Priester Johannes Bosco
20 Don Boscos Verständnis von Befehlen und Gehorchen in der Erziehung erklärt sich aus dem Autoritäts-
verständnis der damaligen Zeit, z.B. in Familie und Schule, und in der Gesellschaft überhaupt.
21 Don Bosco verehrte den hl. Franz von Sales (1567 – 1622) wegen seiner liebenswürdigen Güte sehr und
nannte seine Ordensgemeinschaft nach ihm Gesellschaft des hl. Franz von Sales; daher heute Salesianer
Don Boscos.
22 Diese Anmerkung ist Bestandteil des Briefes, sie wurde bei den Jungen mit vorgelesen.
23 Das Fest „Maria, Helferin der Christen“ am 24. Mai war für Don Bosco – und ist deshalb für die
Salesianische Familie – ein besonderer Feiertag.
24 Don Giuseppe Lazzero war damals Direktor des Oratoriums, und Don Secondo Marchisio der Wirt-
schaftsleiter.