LechnerImmigration


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Prof. Dr. Martin Lechner, Benediktbeuern
Die Herausforderung durch die Migration an die salesianische Jugendpastoral
Vortrag am 22.02.2003 in Barcelona
Anrede!
Für die Einladung, bei diesem europäischen Treffen zum Thema Migration eine pastoral-
theologische Orientierung geben zu dürfen, bedanke ich mich sehr. Ich bin mir über die große
Bedeutung des Themas der Migration für die heutige Jugendpastoral in Europa und in den
einzelnen Nationen bewußt, denn die Migranten gehören zu einem großen Teil zu den am
meisten benachteiligten Gruppen innerhalb der Bevölkerung. Die salesianische Familie hat
aufgrund ihrer Option für die ärmeren Kindern und Jugendlichen eine besondere Verpflich-
tung, die Lebenssituation junger Migranten zu erkunden und darüber nachzudenken, welche
angemessene Unterstützung man ihnen – motiviert vom Geist des Evangeliums und Don Bos-
cos –anbieten kann.
Mein Vortrag, der zwar eine auf Deutschland bezogene, aber nicht darauf beschränkte Per-
spektive hat, will diesen Reflexionsprozess unterstützen. Ich will mit Ihnen drei Schritte ge-
hen:
(1) SEHEN: Was sind die Gründe dafür, dass junge Migranten eine Herausforderung für die
salesianische Jugendpastoral sind?
(2) URTEILEN: Welche theologischen Kriterien können unseren Dienst motivieren?
(3) HANDELN: Wie muss eine „migrationssensible salesianische Jugendpastoral“ konzipiert
sein?
1. SEHEN: Junge Migranten – eine Herausforderung für die Jugendpastoral der SDB?
Gleichwohl die Situation der Migranten in den Ländern Europas von den rechtlichen, politi-
schen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen her nicht einheitlich ist und daher
Migranten nicht einfach pauschal als ‚benachteiligt ‘ definiert werden dürfen, so beweist diese
Tagung in Barcelona doch, dass man in allen Provinzen zunehmend in Sorge um junge
Migranten ist. Sind die jungen Migranten aber wirklich – so die skeptische Rückfrage – „ein
Zeichen der Zeit“, das die Salesianische Gemeinschaft erforschen und im Lichte des Evange-
liums deuten muß (vgl. GS 3) ? Ich meine Ja, und ich nenne dafür fünf Gründe:
1.1 Migration – ein universelles und nationales Phänomen: Weltweit sind, so schätzt man,
derzeit etwa 100 Millionen Menschen auf der Flucht.1 Nur ein kleiner Prozentsatz von
ihnen, etwa 1 %, klopft an die Tore Europas. Trotzdem versucht derzeit die Politik in Eu-
ropa mit immer neuen Gesetzen und verfeinerten Techniken eine „Festung Europa“ zu er-
richten und den Bürgern zu suggerieren, es sei möglich, die Migration im Interesse von
Wohlstand, Sicherheit und Ordnung auf ein Minimum zu begrenzen. Dass dies nur zum
Teil gelingt, ist offensichtlich. Die Länder Europas sind und bleiben Migrationsländer,
die multikulturelle Wirklichkeit ist nirgendwo mehr zu leugnen! Heute leben in Deutsch-
land etwa 7,5 Millionen Ausländer (ca. 9% der Gesamtbevölkerung), in anderen Ländern
Europas ist dieser Anteil erheblich höher oder auch erheblich niedriger. Und die Migrati-
on wird zunehmen, solange es in Europa einen wachsenden Bedarf an billigen Arbeits-
kräften gibt. Europa wird „Mauern gegen den unerwünschten Zugang errichten, aber e-
1 Die Gründe für Flucht und Migration sind dabei vielfältig: Krieg und Vertreibung – Arbeitslosigkeit und
wirtschaftliche Not – Naturkatastrophen – politische oder religiöse Verfolgung (Asyl) – soziale Gründe (Hei-
rat, Familienzusammenführung) – persönliche Gründe (Neugier, Abenteuerlust).
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benso wird es viele Tore für den erwünschten Zugang öffnen beziehungsweise offen hal-
ten.“2 Migration ist und bleibt auch eine europäische Realität!
1.2 Junge Migranten – eine quantitativ beachtliche Bevölkerungsgruppe: Migranten aber
haben auch Kinder: Mehr als ein Fünftel aller in Deutschland lebenden Zuwanderer sind
Kinder und Jugendliche unter achtzehn Jahren. Zwei Drittel „aller Migrantenkinder unter
18 Jahren sind hier geboren und werden zum größten Teil auch in Deutschland aufwach-
sen, Kindergärten besuchen, zur Schule gehen, Berufe erlernen, arbeiten, heiraten“3, aber
auch die Wohlfahrtseinrichtungen in Anspruch nehmen. In manchen Kindergärten und
Grundschulen deutscher Großstädte gibt es einen Ausländeranteil von 70% und mehr.4
Was für Deutschland gilt, trifft sicherlich auch für andere Länder Europas zu! Allein
schon angesichts dieses quantitativen Befundes ist die gesamte öffentliche und kirchliche
Erziehung herausgefordert, sich mehr als bisher dem Thema der Migration zuzuwenden.
Für Deutschland jedenfalls muss man leider feststellen, dass derzeit weder das Schulsys-
tem noch die soziale Arbeit und die Pastoral auf eine angemessene Praxis mit Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen mit Migrationshintergrund vorbereitet sind.
1.3 Junge Migranten – die am meisten benachteiligte Bevölkerungsgruppe: In Deutschland5
– wie vermutlich auch in den anderen Ländern Europas – stellen die Migranten, ihre Fa-
milien und Kinder die am meisten benachteiligte Bevölkerungsgruppe dar. Männer und
Frauen mit Migrationshintergrund sind mehr als doppelt so oft von Arbeitslosigkeit be-
troffen wie deutsche Bürger. Die ausländischen Haushalte gehören zu 78% der Arbeiter-
schicht an (im Vergleich: 38% Deutsche sind Arbeiter!). Ihr Einkommen ist entsprechend
gering und unsicher. Ausländer wohnen überproportional häufig in Stadtvierteln mit
schlechter Wohnqualität, schlechter Infrastruktur und negativem sozialen Status (Ghet-
tos). Von dieser Situation besonders tangiert sind Kinder und Jugendliche dieser Famili-
en: Sie machen ein Drittel aller Kinder aus, die in Deutschland staatliche Hilfe zum Le-
bensunterhalt (Sozialhilfe) bekommen. Doppelt so viele ausländische Jugendliche verlas-
sen die Schule ohne Abschluß (16,7%) als deutsche Jugendliche (8 %). Nur 37% aller
jungen Migranten absolvieren eine berufliche Ausbildung (Deutsche 78%), dies vor allem
in den einfachen und schlecht bezahlten Berufen. Nur 33% von ihnen erreichen einen Be-
rufsabschluss (84% Deutsche). Diese Fakten erschweren nicht nur die berufliche, öko-
nomische und soziale Situation der Jugendlichen aus Migrantenfamilien, sondern sie füh-
ren emotional zu Enttäuschungen und zu einem negativen Selbstwertgefühl. Zusammen-
fassend „lässt sich also sagen, dass besonders Kinder und Jugendliche aus Migrantenfa-
milien in ihren Lebens- und Teilhabechancen erheblich eingeschränkt sind.“6
1.4 Junge Migranten – eine ausgegrenzte und diffamierte Bevölkerungsgruppe: Kinder und
Jugendliche aus Migrantenfamilien sind nicht nur sozial und wirtschaftlich, sondern auch
in ihrer Identitätsentwicklung gefährdet. Denn einerseits fühlen sich die meisten von ih-
nen zwei verschiedenen Kulturen zugehörig und definieren sich entsprechend bikulturell,
andererseits aber wird ihnen häufig die Zugehörigkeit zur Mehrheitskultur rechtlich und
2 F. Hamburger, Migration und Jugendhilfe, in: Sozialpädagogisches Institut im SOS-Kinderdorf (Hrsg.),
Migrantenkinder in der Jugendhilfe, München 2002, S. 6-46, hier S. 21.
3 Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen (2002). Daten und Fakten zur Ausländersituation, S. 8.
4 Ein Beispiel: Die Sonderschule in München-Pasing, die in einem sozialen Brennpunkt liegt, wird von 68%
ausländischen Kindern besucht, die aus 19 Nationen kommen. Welche eine Herausforderung für die Pädago-
gik!
5 Vgl. dazu K. Teuber, Migrationssensibles Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe, in: Sozialpädagogisches
Institut im SOS-Kinderdorf (Hrsg.), Migrantenkinder, a.a.O., S. 75-134, hier bes. S. 107-111.
6 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (1998) (Hrsg.). Zehnter Kinder- und Jugend-
bericht. Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die Leistungen der Kinderhilfen in Deutschland.
S. 91.
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sozial verwehrt.7 In Deutschland jedenfalls gab es im Jahr 2000 insgesamt 3594 fremden-
feindlich motivierte Straftaten. Im Jahr 2001 stieg diese Zahl um 33,8% an. Darunter wa-
ren Tötungsdelikte, Körperverletzungen, Brand- und Sprengstoffanschläge. Aber auch die
Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC)
stellt für fast alle Staaten in der Europäischen Union eine steigende Tendenz zu rassis-
tisch motivierten Straftaten steigend.8 Beschimpfungen, Beleidigungen, Gewalthandlun-
gen, Benachteiligung im Berufleben und am Wohnungsmarkt, Abwertung wegen der
Hautfarbe u.v.m. gehören zur Alltagserfahrung von ausländischen Kindern und Jugendli-
chen. Die Ursachen dafür sind auch gesellschaftlicher Natur. Denn eine staatliche Ab-
wehrpolitik gegenüber Migranten schafft „ein politisches Klima der Intoleranz, Abwer-
tung und Ausgrenzung, in dem sich rassistische Gewalt entwickelt. Allein Gesetze gegen
rassistische Gewalttäter dürften diesem Klima kaum etwas entgegensetzen“.9
1.5 Junge Migranten – eine für die Jugendpastoral schwer erreichbare Gruppe: Die deutsche
Provinz der Salesianer Don Bosco hat eine Untersuchung über die Präsenz von jugendli-
chen Migranten in ihren Einrichtungen durchgeführt. Das Ergebnis zeigte, dass es in sehr
vielen Einrichtungen und Pfarreien keine oder nur wenige ausländische Jugendliche ge-
genwärtig sind, am ehesten noch in der offenen Jugendarbeit (Oratorien, Nachmittags-
betreuung), in Kindergärten und in besonderen beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen.
Woran liegt das? Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien sind – wie Untersu-
chungen in Deutschland zeigen – in den Maßnahmen der präventiven Jugendhilfe unter-
repräsentiert. Überrepräsentiert sind sie hingegen in den eingreifenden und kontrollieren-
den Maßnahmen sowie in den justiznahen Betreuungsformen. Besonders krass sind die
Unterschiede bei den jungen Migrantinnen.10 Migranten, so zeigt sich generell, nehmen
die Leistungen der Jugendhilfe erst dann in Anspruch, wenn die Krise höchst dramatisch
geworden ist. Die Konsequenz daraus ist der auffällig hohe Ausländeranteil jugendlicher
Ausländer in den kostenintensiven „Endstationen der Versorgung“ (Pavkovic, 1999) wie
Notunterkünfte für junge Frauen, Kinder- und Jugendheime, Jugendgerichtshilfe, Ge-
fängnisse. Warum das so ist, dafür werden vielfältige Gründe vermutet,11 aber das Fak-
tum ist keineswegs genügend erforscht.
Fassen wir zusammen: Aus unserer bisherigen Analyse ergeben sich zwei wichtige Einsich-
ten:
Wenn die Migration eine europäische Realität ist und die Migranten eine quantiativ be-
deutsame und zugleich qualitativ höchst benachteiligte Bevölkerungsgruppe in Europa dar-
stellen, dann ist eine migrationssensible Jugendpädagogik und Jugendpastoral das Gebot
der Stunde. Migration muss zum ‚Mainstream‘ der Pädagogik und Pastoral, auch der sale-
sianischen Jugendpastoral werden.
Wenn die jugendlichen Migranten in den staatlichen „Endstationen der Versorgung“ lan-
den, dann sind gerade die Salesianer Don Boscos als Spezialisten der Prävention gefragt.
Das Gebot der Stunde ist eine präventive Pädagogik und Pastoral.
7 Vgl. K. Teuber, Migrationssensibles Handeln, a.a.O., S. 112-115.
8 Vgl. ebd.., S. 89 (sie referiert den Jahresbericht 2000 der Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) (2001), Vielfalt und Gleichheit für Europa. S. 26).
9 Ebd., 89
10 So liegt beispielsweise bei der Inobhutnahme minderjähriger Mädchen die Quote dreimal so hoch wie bei
deutschen Mädchen.
11 Insgesamt wird hier eine „Forschungslücke“ konstatiert. Genannt werden: (1) Unkenntnis der Leistungsange-
bote; (2) Unzureichende Vorstellung von dem, was sie erwartet; (3) Nichtübereinstimmung des Leistungsan-
gebots mit den subjektiven Bedürfnissen; (4) Vermeidung des Klischees vom „schmarotzenden Ausländer“;
(5) Ablehnung einer Leistung durch Angehörige der Mehrheitskultur; (6) Unsicherheitsstatus hinsichtlich des
Aufenthalts; (7) Nicht einfühlsames, paternalistisches Verhalten der Leistungserbringer; (7) Monokulturalität
der Kinder- und Jugendhilfe; (8) Kulturelle und religiöse Traditionen – Vgl. K. Teuber, Migrationssensibles
Handeln, a.a.O., S. 78.
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(2.) URTEILEN: Migration – ein ‚Zeichen der Zeit‘ im Lichte des Evangeliums
Das Zweite Vatikanische Konzil hat es der Kirche zur Pflicht gemacht, „nach den Zeichen der
Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“ (GS 3). Wenn wir heute das
Phänomen „junge Migranten“ als Zeichen der Zeit erkennen, dann müssen wir zugleich auch
das Evangelium befragen, welches Ethos und welche Orientierung es für unser Handeln in
dieser Frage bereithält.
2.1 Die Fremden stehen unter dem unbedingten Schutz Gottes: „Unter den Geboten Gottes
gibt es wenige, die dem Schutzgebot gegenüber Fremden und Flüchtlingen an Gewicht
und Eindeutigkeit gleichkommen. Die Fremden stehen unter dem unbedingten Schutz
Gottes.“12 Exemplarisch für viele Stellen heisst es etwa im 3. Buch Mose: „Wenn bei dir
ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei
euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich
selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.“
(Lev 19,33f). Klarer und deutlicher kann der Anspruch Gottes an sein Volk nicht sein. Er
erwartet von Israel, das selbst in der Fremde gelebt hat, sich in die Situation der Fremden
einzufühlen und mit Fremden mitmenschlich zu verkehren. „Schutz der Fremden, Liebe
zu den Fremden und Gastrechte sind daher in der Mitte alttestamentlicher Theologie ver-
wurzelt. [...] Das Schutzgebot gegenüber Fremden durchzieht wie ein roter Faden die
Sammlung der Gebote des Alten Testaments“13 Diese Erinnerung an einen Gott, unter
dessen unbedingtem Schutz jeder Fremde steht, kann uns Christen angesichts der Migra-
tionsproblematik heute ein tiefes Ethos vermitteln, das unsere Begegnung und unsere
Projekte mit Migranten inspiriert und trägt.
2.2 Die Rechtsordnung muss die Fremden schützen: Im Alten Testament gibt es eine Ten-
denz, das rechtlich zu schützen, was man theologisch als geboten erkannt hat. Das Recht
erwächst aus dem Gottesglauben. Weil Gott als der königliche Beschützer der Armen und
Gefährdeten, also auch der Fremden, gesehen wird, muss das Volk eine Rechtsordnung
gestalten, die dem Willen Jahwes entspricht. Zur Identität Israels gehören daher der
Schutz der Fremden und die Achtung ihrer Rechte: „Einen Fremden sollst du nicht aus-
beuten.“ (Ex 22,20; 23,9). Im Gesetzesbuch wird es zur Pflicht erklärt, „das Recht von
Fremden, die Waisen sind, nicht (zu) beugen.“ (Dtn 24,17f). Auch die Auslieferung von
Flüchtlingen wird verboten und sein Recht betont, ohne Ausbeutung bei dem Schutzherrn
wohnen zu dürfen (vgl. Dtn 23,16f). Fremde genießen in Israel Rechtsschutz. Damit aber
ist der mitmenschlicher Umgang mit Fremden nicht mehr ein beliebiger barmherziger
Akt des Einzelnen, sondern ein Rechtsgut, auf das jeder Israelit verpflichtet ist. Diese Er-
kenntnis kann uns heute inspirieren, für eine Migrationsgesetzgebung und Migrations-
praxis in Europa einzutreten, die den Menschenrechten entspricht - und nicht vorrangig
nur nationalen Interessen!
2.3 Die Sorge um Fremde als universales Gebot: Die Nächstenliebe, die dem Fremden ge-
schuldet ist, wird in den Texten des Neuen Testaments untermauert und radikalisiert. Das
Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-27) erläutert uns anschaulich, wer der
Nächste ist: nicht nur der verwandtschaftlich oder religiös mit uns Verbundene, sondern
jeder Mensch, der in Not ist und dringend Hilfe bedarf. Jesu Forderung geht in Richtung
einer unbedingten und unbegrenzten Solidaritätspraxis. Die Behandlung der Fremden
und anderer notleidender Menschen wird vom Evangelisten Matthäus (Mt. 25, 31-46)
deshalb sogar als das entscheidende Kriterium für das Heil oder Unheil des Menschen –
12 „... Und der Fremdling, der in deinen Toren ist. Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen
durch Migration und Flucht, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche und dem Sekretariat der Deut-
schen Bischofskonferenz in Zusammenarbeit mit den Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutsch-
land, Bonn; Frankfurt a.M; Hannover, 1997, hier S. 45.
13 Ebd., S. 46.
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und nicht nur des Christen – bezeichnet.14 Damit wird die Sorge um die Fremden zum u-
niversalen Gebot im doppelten Sinn: Es umfasst jeden Fremden und es beansprucht jeden
Menschen. Wer heute dieser biblischen Inspiration folgt, für den ergeben sich zwei Her-
ausforderungen hinsichtlich des Einsatzes für Migranten: zum einen das Bemühen um ei-
ne Praxis der unbedingten und universalen Solidarität, zum anderen die Zusammenarbeit
mit all jenen Menschen guten Willens (GS 22), die zwar aus einer anderen Inspiration, a-
ber ebenso ernsthaft wie wir Christen sich um junge Migranten sorgen.
Fassen wir zusammen: Im Lichte des Evangeliums sind die Christen und alle Menschen guten
Willens zu einer unbedingten und universalen Solidarität mit Migranten aufgerufen. Diese
Solidarität gründet im Wissen um Gottes Schutz für den Fremden und im Bewußtsein, dass
uns im Fremden Christus begegnet. Nicht aber der Glaube allein, sondern die selbstverständ-
lich geleisteten Werke der Barmherzigkeit - auch gegenüber dem Fremden - bewirken das
Heil.
3. HANDELN: Für eine migrationssensible salesianische Jugendpastoral
Sowohl die Situationsanalyse als auch die biblische Orientierung zwingen zu einer neuen Po-
sitionsbestimmung salesianischer Jugendpastoral hinsichtlich junger Migranten. Ich plädiere
hier für eine migrationssensible Jugendpastoral. Sie fordert von uns nicht zuerst neue Aktivi-
täten, sondern eine neue Aufmerksamkeit für die besondere Situation von Kindern und Ju-
gendlichen mit Migrationshintergrund. Die Sorge um junge Migranten ist somit nicht als eine
separate ‚Spezialaufgabe‘ einiger weniger Fachleute zu verstehen, die zu den anderen Aufga-
ben hinzukommt; sie ist vielmehr als eine integrierte ‚Querschnittsaufgabe‘ zu konzipieren,
die sich wie ein roter Faden durch alle schon bestehenden Tätigkeiten der Salesianer Don
Boscos zieht und alle Mitarbeiter in spezifischer Weise beansprucht.
Fragen wir uns nun, was eine solche migrationssensible Jugendpastoral konkret beinhaltet:
3.1 Evangelisierung durch Engagement für die Fremden: Das übergeordnete Ziel einer
migrationssensiblen Jugendpastoral ist es, durch einen fachlich kompetenten und lie-
benswürdigen Umgang mit jungen Migranten und ihren Familien den Gott zu bezeugen,
der die Fremden schützt. Dieser theologische Grundauftrag erfordert von uns, Benachtei-
ligung, Ausgrenzungsmechanismen und institutionelle Rassismen, denen junge Migran-
ten ausgesetzt sind, aufzudecken und soweit wie möglich abzubauen. Er provoziert uns
dazu, für die Grundrechte junger Migranten auf Würde und Achtung der Person, auf
Gleichheit vor dem Gesetz und auf Teilhabe an den schulischen und beruflichen Chancen
unserer Gesellschaften einzutreten. Eine migrationssensible Jugendpastoral versteht In-
tegration nicht als einseitige Anpassungsleistung der Migranten, sondern als einen wech-
selseitigen Austausch- und Lernprozess auf der Basis von Toleranz und Pluralität. Damit
ist klar: Die Zuwendung zu jungen Migranten ist nicht eine beliebige Kür, sondern ein
fundamentaler Aspekt der Evangelisierung: Indem wir uns jungen Migranten zuwenden,
evangelisieren wir - bauen wir mit an einer Reich-Gottes-gemäßeren Welt.
3.2 Sensibilität für die Lebenssituation und Lebenswelt von Migranten: Die eigene, persönli-
che Betroffenheit ist der Schlüssel für engagiertes Handeln. Wer eine migrationssensible
Jugendpastoral entwickeln will, muss zuallererst selbst für das Thema der Migration auf-
geschlossen sein. Das aber setzt qualifizierte Information über die ökonomische, rechtli-
14 Christus identifiziert sich mit dem Fremden und solidarisiert sich mit allen, die sich für Fremde einsetzen:
„Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen. [...] Amen, ich sage Euch, was ihr für einen
meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“.(Mt 25,35;40); auch im Hebräerbrief wird zu
einem echten christlichen Leben aufgerufen und die Gemeinde mahnt: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht,
denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“ (Hebr 13,2).
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che und soziale Lage von Migranten voraus. Noch wichtiger aber sind persönliche Kon-
takte zu Kindern und Jugendlichen sowie zu deren Familien. Denn nur im Dialog läßt
sich die „Lebenswelt“ von Migranten erschließen und verstehen, d. h. ihre Überzeugun-
gen und Denkmuster, ihren kulturellen Konventionen, ihre religiösen Werte und Normen.
Dieses Bescheid-Wissen über die Lebenssituation und Lebenswelt von jungen Migranten
ist eine Kernkompetenz aller Verantwortlichen in einer migrationssensiblen Jugendpasto-
ral.
3.3 Subjekt- und Ressourcenorientierung: Eine migrationssensible Jugendpastoral muss sys-
tematisch aus der Perspektive junger Migranten konzipiert werden. Das ist nicht einfach,
denn die meisten pädagogischen oder pastoralen Fachkräfte - beispielsweise im Kinder-
garten, in der Schule oder in der sozialen Beratung - sind Angehörige der Mehrheitskul-
tur. Diese ‚Machtposition‘ erschwert es, die Erfahrungen, Bedürfnisse und Konflikte der
Migranten in angemessener Weise zu verstehen, die Ressourcen von jungen Migranten
wahrzunehmen und die richtigen Hilfen in die Wege zu leiten. Eine neuere deutsche Stu-
die stellt fest, dass der entscheidende Grund für die mangelnde Teilhabe von jungen
Migranten an den sozialen Hilfesystemen zum einen in ihren Fremdheits- und Misstrau-
ensgefühlen gegenüber den Fachkräften der Jugendhilfe liegt, zum anderen aber im
Mißtrauen der Fachkräfte gegenüber den Migranten und vor allem in der fehlenden Be-
reitschaft der pädagogischen Mitarbeiter, „ihre Monopolstellung zu räumen.“15 Subjekt-
orientierung als Prinzip einer migrationssensiblen Jugendpastoral bedeutet also einen Per-
spektivenwechsel: einerseits den Verzicht auf die Problemdefinition seitens der Fach-
kräfte der Mehrheitskultur, andererseits die systematische Beteiligung der jungen
Migranten bei der Entwicklung von Lösungen für ihre Probleme. Eine solche subjektori-
entierte Praxis ist im übrigen zutiefst jesuanisch: „Was willst Du, dass ich Dir tue!“ (Lk
18,40) fragt Jesus den Blinden, bevor er ihn heilt.
3.4 Interkulturelles Lernen: Pädagogik und Pastoral haben Migranten lange Zeit (bis etwa
1980) einseitig als ‚Ausländer‘ wahrgenommen. Entsprechend wurde eine defizitorien-
tierte „Ausländerpädagogik“ konzipiert, deren Ziel es war, diese Personen möglichst weit
an die Mehrheitskultur anzupassen. Heute hat sich demgegenüber eine „interkulturelle
Pädagogik“ durchgesetzt. In ihr werden Migrantenkinder und -jugendliche in erster Linie
als Kinder und Jugendliche gesehen, zu deren Biographie unter anderem auch die Migra-
tionserfahrung (die eigene oder die der Eltern) gehört. Diese interkulturelle Pädagogik ist
ressourcenorientiert. Sie sieht nicht vorrangig die Probleme, die sich durch die Zugehö-
rigkeit zu unterschiedlichen Kulturen ergeben, sondern die Potentiale, die darin liegen.
Sie strebt nach Begegnung und Dialog der Kulturen. Ihr Programm ist die Förderung des
Zusammenlebens von kulturell verschiedenen Personen auf der Basis von Gerechtigkeit.
Eine migrationssensible Jugendpastoral wird heute dem pädagogischen Ansatz des inter-
kulturellen Lernens folgen müssen. Sie wendet sich an die jungen Migranten und
zugleich an die Jugendlichen des Gastlandes. Auf der einen Seiten öffnet sie Wege der
Integration und Zugehörigkeit bei gleichzeitiger Beibehaltung der eigenen Kultur (Bi-
kulturalität); auf der anderen Seite weckt sie das Interesse am Fremden auf der Basis von
Toleranz, Solidarität und Anerkennung übergreifender moralischer Werte.16
3.5 Interreligiöse Erziehung: Eine konfessionelle Gemeinschaft wie die Salesianer Don Bo-
sos wird durch junge Migranten vor die Herausforderung des Dialogs der Religionen ge-
stellt. Eine migrantionssensible Jugendpastoral muss die Frage beantworten, wie sie es
mit dem Recht junger Migranten auf religiöse Erziehung und auf Ausübung ihre Religion
hält. Das bisherige, konfessionell begrenzte Konzept religiöser Erziehung - man bezeich-
15 Vgl. dazu G. Auernheimer, Migration als Herausforderung für pädagogische Institutionen. Opladen 2001
16 Vgl. Hamburger, Migration in der Jugendhilfe, a.a.O.,28; 36.
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net es als ‚Beheimatungsmodell‘ - kommt hier an seine Grenzen.17 Die Suche nach Lö-
sungen ist im Gang, aber es gibt noch viele Unsicherheiten. Gegenwärtig werden vor al-
lem zwei Modelle einer interreligiösen Erziehung diskutiert: zum einen das ‚Begeg-
nungsmodell‘, das annimmt, eine Identität in der eigenen Religion könne erst durch den
Kontakt mit anderen Religionen entstehen; zum anderen das ‚multireligiöse Modell‘, das
die Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen betont. Es will Kinder und Jugendliche
Elementen der verschiedenen Religionen vertraut machen und religiöse Erziehung so
gestalten, dass alle bei allem in gleicher Weise mitmachen können. Die salesianische Ju-
gendpastoral, die migrationssensibel sein will, steht hier wirklich in Theorie und Praxis
vor neuen Herausforderungen. Meiner Ansicht nach könnte eine Kombination des Be-
heimatungs- und des Begegnungsmodells weiterführend sein. Die Devise lautet nicht
„pregare insieme“, sondern „stare insieme a pregare“!
3.6 Interkulturelle Kompetenz: Eine migrationssensible Jugendpastoral setzt eine interkultu-
relle Kompetenz der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen voraus, die durch Fortbildung und
Praxiserfahrung erworben wird. Was ist darunter zu verstehen? Interkulturelle Kompe-
tenz ist ein Bündel von Kompetenzen, und zwar auf drei Ebenen:18 Auf der kognitiven E-
bene handelt es sich um ein Wissen über Migrationszusammenhänge, ökonomische Fak-
ten, kulturelle und religiöse Besonderheiten, rechtliche Regelung und um theoretische
Ansätze der Arbeit mit Migranten etc.; auf der reflektiven Ebene ist es die Fähigkeit, die
eigene Zugehörigkeit zur ‚Dominanzkultur’ und die daraus resultierenden Selbstver-
ständlichkeiten kritisch zu reflektieren. Auf der Handlungsebene sind vor allem Fähig-
keiten der Empathie, der Rollendistanz, der Ambiguitätstoleranz sowie besondere kom-
munikative Deutungs- und Aushandlungskompetenzen erforderlich. Eine solche inter-
kulturelle Kompetenz zu erwerben, muss künftig eine große Anstrengung in der Aus- und
Fortbildung der Salesianer Don Boscos, der FMA und ihrer Mitarbeiter sein. Es stellt sich
auch die Frage, ob und inwieweit Migranten selbst als Mitarbeiter und Freiwillige in sale-
sianischen Einrichtungen nötig sind, um eine angemessene Arbeit mit jungen Migranten
entwickeln zu können.
3.7 Politische Lobbyarbeit für Migranten: Pädagogik und Pastoral allein können die gegen-
wärtigen Probleme von Migranten zwar abschwächen, nicht aber lösen. Denn die gegen-
wärtigen staatlichen Gesetze tragen – jedenfalls in Deutschland - nicht dazu bei, dass sich
die hier lebenden Ausländer als gleichberechtigte und anerkannte Menschen wahrnehmen
können. Strukturelle Benachteiligungen und die Ausgrenzungen der Ressourcen von
Migranten werden auch in den neueren Gesetzen festgeschrieben. So besteht ein Wider-
spruch zwischen dem pädagogischen Anspruch der Interkulturalität und dem juristischen
Status quo, der mehr das nationale Interesse als das Wohl ausländischer Kinder, Jugend-
licher und ihrer Familien im Blick hat. Von daher wird sich eine migrationssensible Ju-
gendpastoral der Salesianer Don Boscos immer auch politisch engagieren müssen. Dazu
gehören unter anderem die Förderung von Selbstorganisation und Selbsthilfeinitiativen
auf Seiten der Migranten, juristische Beratung, Solidaritätsaktionen und eine qualifizierte
Öffentlichkeits- und Pressearbeit.
Ich komme zum Schluss: Das Ziel einer migrationssensiblen Jugendpastoral, die keine Son-
deraufgabe weniger, sondern eine ‚Querschnittsaufgabe‘ aller Mitarbeiter ist, erfordert ein
„Screening“ aller Einrichtungen und Projekte. Sie sind daraufhin zu überprüfen, ob sie mit
ihrer räumlichen Lage, ihren fachlichen Konzepten, ihren Angeboten, ihren kulturellen Ge-
17 Vgl. Ch. Scheilke/F. Schweitzer, Kinder brauchen Hoffnung. Religion im Alltag des Kindergartens, Güters-
loh 1999, 152f
18 Vgl. Teuber, Migrationssensibles Handeln, a.a.O., 116.
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wohnheiten (z.B. Essen), ihrer religiösen Praxis und vor allem mit ihrem Personal auf Kinder
und Jugendliche aus Migrantenfamilien hinreichend eingestellt sind. Die salesianischen Prin-
zipien der Gastfreundschaft, der Familiarität und der Prävention können in dieser neuen Situ-
ation als höchst aktuell erweisen. Möge die salesianische Familie diese neue Herausforderung
im Vertrauen auf den Beistand Don Boscos couragiert angehen!
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