Strenna_2021_Commento_de


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jahresleitgedanke 2021
von der
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„SsEeHhaATtlL,,LliIECecSsHh
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oOfFfFbB 21,.55
Kommentar zum
Jahresleitgedanken
des Generaloberen Don Ángel
Fernández Artime SDB für die
Don-Bosco-Familie 2021
Arbeitsheft | Heft 39
~
SSIANPLISRETISTIITUAUANTLISIFTCÜÄHRTE

1.2 Page 2

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Don Ángel Fernández Artime SDB
Generaloberer der Salesianer Don Boscos
jahresleitgedanke
von der
Hobffenwuenggt
seahltl,eicshnmeuache
offb 21,5
Kommentar zum
Jahresleitgedanken des Jahres 2021
für die Don-Bosco-Familie
Herausgegeben vom
Institut für Salesianische Spiritualität
Benediktbeuern

1.3 Page 3

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Impressum
Herausgeber:
Institut für Salesianische Spiritualität
Don-Bosco-Str. 1
83671 Benediktbeuern
Deutschland
Tel.: 0049 / (0)8857 / 88-201
E-Mail: iss@donbosco.de
Homepage: www.iss.donbosco.de
Übersetzung: Barbara Klose (Chemnitz)
Redaktion: Clemens Schwaiger SDB (Benediktbeuern)
Titelfoto: Klaus D. Wolf
Layout: Don Bosco Medien GmbH
Druck: Don Bosco Druck & Design, Ensdorf
Benediktbeuern 2021

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Inhalt

Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1. EINE WELTWEITE REALITÄT, DIE UNS ­HERAUSFORDERT UND
DIE WIR NICHT ­IGNORIEREN KÖNNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
2. WAS MEINEN WIR MIT DER HOFFNUNG, VON DER WIR SPRECHEN? . . . 9
3. WELCHE INTERPRETATION KÖNNEN WIR ALS GLÄUBIGE ANBIETEN? . . 12
4. EIN BLICK AUF UNSERE URSPRÜNGE UND AUF VIELE
GLAUBENSZEUGEN IN UNSERER FAMILIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
5. SALESIANISCHE LESART DES GEGENWÄRTIGEN AUGENBLICKS . . . . . . 23
6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG IST . . . . . . . . . 30
6.1. Entdecken wir erneut, dass „Glaube und Hoffnung Hand in
Hand gehen“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
6.2. Lernen wir, dass das Gebet Schule der Hoffnung ist. . . . . . . . . . 32
6.3. Lasst uns mit dem Sinn für die Mühen des täglichen Lebens
wachsen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
6.4. Lasst uns die Hoffnung vor allem in den schwierigen Zeiten
des Verlusts leben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
6.5. Die Hoffnung als entschiedene Rückkehr zu den Armen und
Ausgeschlossenen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
6.6. Sich im Schmerz der anderen wiedererkennen. . . . . . . . . . . . . . 38
6.7. Sich zur Hoffnung zu bekehren, bedeutet, an den Plan des
Evangeliums zu glauben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
6.8. Eine konkrete Verpflichtung für die Don-Bosco-Familie . . . . . . . 41
6.9. Eine Wahrheit, die wir als Ergebnis dieses Jahresleitgedankens
vertiefen müssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
7. MARIA VON NAZARETH, MUTTER GOTTES, STERN DER HOFFNUNG . . . 43
3

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Vorbemerkung
Vorbemerkung
In allen Teilen der Welt, egal welcher Nation oder Religion, wird das in
allen Köpfen festhaftende „Bild des Jahres“ ein alter, in weiß gekleide-
ter Mann sein, ganz allein auf dem großen, weiten Petersplatz in Rom,
am 27. März 2020, einem regnerischen Nachmittag gegen Sonnenunter-
gang. Dieser Mann war Papst Franziskus, der noch nie während eines
Gebetes so allein war, aber gleichzeitig auch noch niemals so von der
gesamten Menschheit begleitet wurde. Mit dieser Geste hat er unserer
Welt mit ihren verschiedenen Ethnien, Kulturen, Nationen und Religio-
nen ins Gedächtnis gerufen, dass Gott fähig ist, auch äußerst verheeren-
de und schmerzliche Realitäten zum Guten zu führen. Und er hat uns
aufgefordert, barmherzig auf unseren armseligen Glauben zu schauen.
Was wir in den letzten elf Monaten erlebt haben, ist zweifelsohne
eine Herausforderung für uns, die wir nicht ignorieren können, so als ob
nichts passiert wäre oder als ob es jetzt vorbei wäre.
4

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1. EINE WELTWEITE REALITÄT, DIE UNS HERAUSFORDERT
1. EINE WELTWEITE REALITÄT, DIE UNS
­HERAUSFORDERT UND DIE WIR NICHT
­IGNORIEREN KÖNNEN
Ich könnte mit keiner einzigen Seite den Jahresleitgedanken 2021 kom-
mentieren, wenn ich das ignorieren würde, was gleichzeitig die ganze
Menschheit in allen Ländern getroffen hat. Wir leben in sehr schwierigen
Zeiten; wir haben etwas erlebt, was wir uns nie hätten vorstellen oder
erahnen können. Wir stellen uns viele Fragen, die noch immer nicht
beantwortet werden können, und hören, dass das baldige Ende dieser
Pandemie verkündet wird, obwohl Bestätigungen in diesem Sinn fehlen.
All das ist Folge von COVID-19: eine Infektionskrankheit, die durch ein
bis dahin dem Menschen unbekanntes Virus verursacht wird.
Das Außergewöhnliche dieses gegenwärtigen Augenblicks berührt
uns tief. In der Tat haben nicht einmal die sozialen, politischen und wirt-
schaftlichen Krisen der letzten Jahrzehnte so viel Angst in der Welt gesät
wie diese Pandemie. Angst, Schmerz und Unsicherheit, Tränen, Verlust
und Verzweiflung haben die Herzen der Reichen und Armen gefüllt, von
berühmten und unbekannten Menschen, von großen und kleinen. Es
handelt sich zweifelsfrei um die größte globale Krise der letzten sieb-
zig Jahre. Und die Entscheidungen, die von den Regierungen getroffen
werden müssen, werden für sehr lange Zeit die ganze Welt beeinflussen:
nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik, die Kultur und selbst
die Sicht des menschlichen Wesens.
Während dieser Monate haben wir vielen großzügigen Gesten der Hin-
gabe und des Opfers beigewohnt. Es scheint mir gerechtfertigt, unter
allen besonders an den heldenhaften Einsatz der im Gesundheitswesen
Tätigen zu erinnern, die bis zur Erschöpfung gearbeitet haben; an die
Menschen, die die für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendi-
gen Dienstleistungen garantiert haben; an die Menschen, die sich um die
gesellschaftliche Ordnung gekümmert haben, und an einige Politiker,
nicht alle, die ihre eigene Verantwortung ehrlich und vorausschauend
wahrgenommen und parteipolitische Rivalitäten beiseitegelassen haben.
5

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1. EINE WELTWEITE REALITÄT, DIE UNS HERAUSFORDERT
Dennoch gab es auch durch Egoismus gekennzeichnete, beschämen-
de Situationen, in denen man medizinische Versorgung oder Ausrüstung
nicht teilen wollte, ohne zu verstehen, dass diese globale wirtschaftliche
Krise eine weltweite Antwort fordert und immer mehr fordern wird.
Auf jeden Fall sprechen die Zahlen für sich. Am Ende des Jahres 2020
sind 80 Millionen Menschen infiziert und 1.800.000 gestorben. Darüber
hinaus zeigte sich COVID-19 von seiner schlechtesten Seite: Isolierung,
Tod in totaler Einsamkeit, gebrochene Herzen bei vielen Familien.
Es besteht kein Zweifel, dass dies alles viele unserer angeblichen
Sicherheiten ins Wanken gebracht hat. Alle Länder versuchten ihren
Staatsangehörigen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Es wur-
de eine in der Kriegsführung übliche Sprache genutzt: „Alle gegen das
Virus! Wir werden es besiegen“. Man sagte: „Früher oder später werden
wir es sicherlich besiegen“. Ich war sehr beeindruckt, als vor einigen
Monaten weltweit einige Städte sich selbst und ihre eigenen Einwohner
mit Slogans ermutigt haben, die die Angst vertreiben sollten. Es handelte
sich um Botschaften wie die folgenden:
88 In Bristol trägt ein Paddington-Bär an einem Haus die folgende Bot-
schaft: „Die Kunst des Überlebens. Schützt Euch“.
88 In Tokio befand sich auf dem Gebäude „Tokyo Skytree“ die folgende
Botschaft: „Gemeinsam können wir siegen“.
88 In Mexikostadt hat das Hotel Barceló folgenden Schriftzug auf sein
Gebäude geschrieben: „Mexiko wird vereint widerstehen und stärker
daraus hervorgehen“.
88 In der belgischen Stadt Antwerpen konnte man diese Botschaft auf
einem Haus lesen: „Auch dies wird vorübergehen. Eine bessere Zeit
wird kommen. Und sie wird ruhmreich sein“.
88 In Ontario, Kanada, haben viele Hotels an den Niagarafällen die Zim-
merbeleuchtung genutzt, um herzliche, hoffnungsvolle Botschaften
zu schreiben.
88 Und in Vancouver sagt eine auf die Wand eines geschlossenen Geschäf-
tes gemalte Botschaft folgendes: „Wir lieben dich Vancouver. Pass auf
6

1.8 Page 8

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1. EINE WELTWEITE REALITÄT, DIE UNS HERAUSFORDERT
dich auf. Halte durch. Kehre bald zurück. Bleibt auf Distanz und bleibt
verbunden. Wir schaffen das. Wir werden auch das überstehen“.
Sicherlich betrachte ich all das mit Respekt. Wie sollte es anders sein.
Aber es erscheint mir wenig, sehr wenig, unzureichend, um das Herz und
das Leben zu verstehen, zu erklären und sogar einzubeziehen. Ich habe
das Gefühl, dass wir etwas viel Tieferes und Lebendigeres brauchen,
etwas, das es uns erlaubt, das heute Erlebte in unseren Herzen ankom-
men zu lassen und uns innerlich zu beruhigen. Dabei dürfen wir anderer-
seits nicht vergessen, dass es viele weitere Pandemien gibt, die sich gera-
de in unserer Welt abspielen. Diese schlagen hart zu, wenn auch nicht
alle, und sie machen nicht so viel Lärm, weil sie weit entfernt sind. Wir
dürfen sie als Gläubige und als Don-Bosco-Familie nicht ignorieren und
vergessen. Ich beziehe mich auf die 32 Kriegsherde, die aktuell während
COVID-19 aktiv sind; ich spreche vom Waffenhandel, der nicht angetastet
oder verringert, sondern sogar vermehrt wurde. Ich denke, dass andere
schreckliche endemische Situationen nicht weniger schlimm sind als die
heutige Pandemie, auch wenn sie keinen Einfluss auf die Wirtschaft der
Länder haben und deswegen nicht zählen. Papst Franziskus stellt dies
ganz richtig mit den folgenden Worten über die Jugend dar, die aber auch
Erwachsene und manchmal ganze Familien betreffen: Viele „Jugendliche
[leben] in Kriegsgebieten und [erleiden] zahllose Formen der Gewalt wie
Entführung, Erpressung, organisiertes Verbrechen, Menschenhandel,
Sklaverei und sexuelle Ausbeutung, Kriegsvergewaltigung usw. [...] Zahl-
reiche junge Menschen leben in einer Umgebung von Verbrechen und
Gewalt – weil sie dazu gezwungen werden oder keine Alternative haben:
als Kindersoldaten, in bewaffneten kriminellen Banden, im Drogenhan-
del, im Terrorismus“.1
Und dann frage ich mich: Was bedeutet diese „neue Normalität“, von der
so viel gesprochen wird? Was bleibt in jedem von uns nach diesem Jahr
zurück? Wird es zu einem verrückten Wettrennen kommen, um die „ver-
lorene Zeit“, die verlorene Wirtschaft wieder aufzuholen? Wird es nur
ein schrecklicher Alptraum gewesen sein oder wird im Gegenteil etwas
1 Papst Franziskus, Christus vivit, 72.
7

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1. EINE WELTWEITE REALITÄT, DIE UNS HERAUSFORDERT
Positives in vielen Menschen, in der Organisation der Gesellschaften
zurückbleiben? Bringt die „neue Normalität“ etwas wirklich Neues, wird
sie einiges zum Besseren ändern?
Ich weiß nicht, was uns erwartet, aber ich ahne, dass es einen Weg gibt,
den wir als Don-Bosco-Familie gehen könnten und der uns sehr gut tun
würde, indem wir gleichzeitig unseren bescheidenen Beitrag für andere
anbieten.
8

1.10 Page 10

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2. WAS MEINEN WIR MIT DER HOFFNUNG, VON DER WIR SPRECHEN?
2. WAS MEINEN WIR MIT DER HOFFNUNG,
VON DER WIR SPRECHEN?
„Schau, ich habe es in diesen Monaten entdeckt: Die Hoffnung
ist wie das Blut: Wir sehen sie nicht, aber sie muss da sein. Das
Blut ist das Leben. So ist die Hoffnung: Sie ist etwas, das drinnen
zirkuliert, das zirkulieren muss, das dich lebendig fühlen lässt.
Wenn du sie nicht hast, bist du tot, bist du erledigt, gibt es nichts
zu sagen ... Wenn du keine Hoffnung hast, ist das, als wenn du
kein Blut mehr hättest ... Vielleicht bist du unversehrt, aber du
bist tot. Genau so ist es“.2
In diesen Monaten habe ich mehrmals gedacht, dass die Art, wie wir das
deuten, was wir gerade erleben müssen, nicht wie üblich sein darf. Wir
werden nicht von Interessen angetrieben, die denen der Hotelketten oder
Fluggesellschaften ähneln. Es soll nicht geleugnet werden, dass das, was
auf moralische Weise Arbeitsplätze und Lebensgrundlagen schafft, an
sich gut ist, aber wir haben weder den Tourismus im Blick, der aktiviert
werden muss, noch eine wachsende Produktivität (sie sagen uns: Es
braucht das Doppelte von dem, was war, um die verlorene Zeit aufzuho-
len und den Stillstand, den wir erlebt haben, zu überwinden).
Auch wenn das alles richtig ist, fehlt noch etwas in unserer Sichtwei-
se, bei unserer Interpretation und bei dem, was uns motiviert und zum
Handeln bewegt. Deshalb ist es für mich klar, dass wir das „Danach“
nicht angehen können, uns einer „neuen Normalität“ nicht stellen kön-
nen, ohne aus der Hoffnung zu leben. Keine Zukunft ist absolut und end-
gültig, wenn sie nur vom Menschen abhängt. Der Mensch entwirft sich
selbst und streckt sich immer aus nach etwas Anderem. Es scheint, dass
das Erreichte immer schon der halbe Weg zu etwas Neuem ist. Wir stre-
ben immer nach etwas mehr und sind stets in Erwartung.
Das ist der Grund für die Wahl des Themas für den diesjährigen Jah-
resleitgedanken.
2 G. Colombero, La malattia: una stagione per il coraggio, Rom: Paoline 1981, S. 66.
[A.d.Ü.: Eigene Übersetzung]
9

2 Pages 11-20

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2.1 Page 11

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2. WAS MEINEN WIR MIT DER HOFFNUNG, VON DER WIR SPRECHEN?
Was ist also Hoffnung? Wovon sprechen wir, wenn wir Hoffnung sagen?
Von welcher Art Hoffnung sprechen wir?
Das ist eine Wirklichkeit, die mich fasziniert. Sehr viele Autoren
haben über Hoffnung aus sehr verschiedenen Blickwinkeln nachge-
dacht.3 Wir können von Hoffnung wie von einer menschlichen Haltung
sprechen. Wir können von Erwartung, erwarten und hoffen sprechen. Ich
werde keine komplexe Unterscheidung, wie die von Thomas von Aquin
vorgeschlagene vornehmen. Thomas von Aquin unterscheidet zwischen
Hoffnung als Leidenschaft, Hoffnung und Stärke (oder Großmut) sowie
Hoffnung als theologischer Tugend. Dafür ist hier weder der Ort noch der
Augenblick. Was ich sagen möchte, ist, dass der Mensch zu hoffen beru-
fen ist. Und ob er will oder nicht, er muss sich immer, mehr oder weniger
bewusst, entscheiden zwischen der Öffnung zu einem Horizont der Fülle
und dem Festhalten an den Grenzen der greifbaren „Hoffnungen“, die
man fühlen und anfassen kann.
Diese natürliche Offenheit des Menschen für die Hoffnung ist nicht
dasselbe wie die christliche Hoffnung, auch wenn sie Teil der Identität
des Menschen als Mann oder Frau ist.
So wie man in der Philosophie im Sinne des cartesianischen Prinzips
sagt: „Ich denke, also bin ich“, könnte man auch sagen: „Ich lebe, also
hoffe ich“. Ohne Hoffnung wäre das Leben kein Leben, würde der Sinn
desselben fehlen, weil die menschliche Existenz es tatsächlich nicht
ertragen kann, in der Verzweiflung zu leben, das heißt „ohne Hoffnung“.
Hoffnung ist aber weder ein einfacher Wunsch, weil der Wunsch
immer etwas Konkretes und Bestimmtes anstrebt. Noch lässt sich Hoff-
nung auf reinen Optimismus reduzieren, dessen Ziel in der Berechnung
und Vorhersage eines positiven Ergebnisses besteht. Hoffnung betrifft im
Gegenteil voll und ganz den Menschen und hat etwas mit Hingabe und
Vertrauen zu tun. In der Tat ist der Mensch Projektion und Tendenz zu
3 In der Theologie und der Geschichte der Philosophie finden sich der hl. Paulus, der
hl. Augustinus, der hl. Johannes vom Kreuz, Luther, R. Bultmann und J. Moltmann,
um nur einige zu zitieren. Außerdem R. Descartes, I. Kant, C. Baudelaire und M.
Heidegger, G. Marcel und J.-P. Sartre, R. Le Senne, O. F. Bollnow und einige spanisch-
sprechende wie Miguel de Unamuno, José Ortega y Gasset und der große Schriftsteller
Manuel Machado.
10

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2. WAS MEINEN WIR MIT DER HOFFNUNG, VON DER WIR SPRECHEN?
einem „Mehr“, zu dem, was jenseits des Vorhersehbaren liegt, zu etwas
wirklich Neuem.
Was eben beschrieben wurde, ist eine Welt, die viele Zeichen für
Unmenschlichkeit hat. Ich meine, das ist unbestreitbar und für jeden
offensichtlich. Wir möchten nicht, dass es so ist, aber es ist tatsäch-
lich überall so. Dennoch können wir auch in dieser Welt mit so vielen
unmenschlichen Merkmalen eine andere Haltung leben. Es gibt denjeni-
gen, der klagt und negativ eingestellt ist, mit einem verhärteten Herzen.
Zum Glück gibt es aber auch viele, die versuchen, von einer Dynamik
angetrieben zu leben, die sie dahin bringt, das Leben zu suchen, zu ver-
suchen, das Beste zu tun, sich darauf zu konzentrieren, aus Liebe und
Dienst zu leben, in der Dynamik der Hoffnung zu arbeiten. Und wenn
wir von der Hoffnung bewegt leben, erfahren wir, dass Liebe, Dienst und
ein von Menschlichkeit erfülltes Herz in einer Welt, in der es auch so viel
Entmenschlichung gibt, vollen Sinn haben. Nach unserer Sichtweise ist
für den Menschen die Hoffnung nämlich ein Bestandteil der Liebe. Das
ist es, was uns der heilige Paulus sagt, wenn er im Hohelied der Liebe im
ersten Korintherbrief beteuert, dass „die Liebe alles hofft“ (1 Kor 13,7).
11

2.3 Page 13

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3. WELCHE INTERPRETATION KÖNNEN WIR ALS GLÄUBIGE ANBIETEN?
3. WELCHE INTERPRETATION KÖNNEN WIR
ALS GLÄUBIGE ANBIETEN?
Diese Pandemie wird sicherlich in einigen Monaten aufhören. Ande-
re „Pandemien“, die in sich die Geißel der Entmenschlichung tragen,
werden nicht mit einer Impfung verschwinden. Es ist gewiss richtig, die
Coronavirus-Pandemie zu untersuchen und einen Impfstoff zu finden.
Früher oder später wird es einen geben. Man ist auf dem Weg dahin und
wir sind darüber sehr glücklich.
Viele quälende Fragen sind in diesen Monaten in viele Herzen gedrun-
gen. Die Frage nach dem Sinn oder Nicht-Sinn von all dem war präsent.
Das ist eine legitime und sehr menschliche Frage. Diese harte Realität
des Bösen und des Leids, die die Welt heute durchmacht, scheint die
Menschen eher zu Empörung und Protest zu treiben als zum Glauben,
eher zum Zweifel als zur vertrauensvollen Hingabe. Aber dennoch gibt
es vor oder neben diesem menschlichen Schrei (für uns Gläubige) immer
Gott.
Der christliche Glaube zeigt ständig, wie Gott durch seinen Geist die
Geschichte der Menschheit begleitet, auch unter den widrigsten und
ungünstigsten Bedingungen. Er ist der Gott, der zwar nicht leidet, aber
Mitleid hat, wie es der heilige Bernhard von Clairvaux sehr schön aus-
drückt: „Impassibilis est Deus, sed non incompassibilis“ (Gott kann nicht
leiden, aber mitleiden).4 In der Heilsgeschichte lesen wir, dass Gott sein
Volk niemals verlässt, sondern immer mit ihm vereint bleibt, besonders
wenn das Leid sehr stark wird. Gott hat uns nicht verlassen, er ist nicht
weggegangen, sondern er leidet in und mit denjenigen, die aufgrund die-
ser Geißel leiden. Er fährt fort zu retten, so wie er durch so viele, die ihr
Leben für andere riskieren, gerettet hat, durch so viele, die dienen und
mit hoher Professionalität für andere da sind.
4 Bernhard von Clairvaux, Predigten über das Hohelied, XXVI, 5, in: PL 183, 906.
12

2.4 Page 14

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3. WELCHE INTERPRETATION KÖNNEN WIR ALS GLÄUBIGE ANBIETEN?
In dieser ganzen Zeit scheint dieses „diskrete Handeln Gottes“, der nur
mit dem stillen Ruf seiner Liebe5 eingreift, für viele unerträglich zu sein.
Ein Gott, der sich solidarisch zeigt, indem er uns begleitet; weit ent-
fernt von dem Bild eines mächtigen Gottes, der eingreift, um die Dinge
„magisch“ zu ändern. Wir sprechen dagegen von Gott, der „alles neu
macht“ (vgl. Offb 21,5), weil das sein Plan ist. Durch das Erlösungs-
werk Seines Sohnes erwacht der Mensch zusammen mit den anderen
Geschöpfen zum Leben und lässt Seufzen und Leiden hinter sich, wovon
die Schöpfung vorher erfüllt war, welche sich durch Gottes schöpferi-
sches Eingreifen erneuert. Es ist, als ob Gott selbst die Menschen ein-
lädt, auf das zu schauen, was er in der Geschichte vollbringt und was
er am Ende der Zeit zur Vollendung führen wird. Wir sind als christliche
Gemeinschaft gerufen, unsere Gegenwart zu erkennen und Gottes Han-
deln zu deuten, der das Versprechen des Bundes hält, nämlich Sein Volk
(und jeden Einzelnen) mit Seiner machtvollen Gegenwart im Angesicht
des Bösen und gleichzeitig mit Zärtlichkeit für diejenigen, die auf Ihn
vertrauen, zu begleiten.
Angesichts dessen fühlen wir Gläubigen uns durch den Glauben, der zur
Hoffnung wird, erleuchtet. Papst Benedikt XVI. sagt dazu: „Erlösung ist
uns in der Weise gegeben, daß uns Hoffnung geschenkt wurde, eine ver-
läßliche Hoffnung, von der her wir unsere Gegenwart bewältigen kön-
nen: Gegenwart, auch mühsame Gegenwart, kann gelebt und angenom-
men werden, wenn sie auf ein Ziel zuführt und wenn wir dieses Ziels
gewiß sein können; wenn dies Ziel so groß ist, daß es die Anstrengung
des Weges rechtfertigt.“6
Die christliche Hoffnung ist geschichtlich und gründet auf einem tiefen
Vertrauen in Gott, den Gott Jesu Christi, der sein Volk niemals verlässt
und immer bei ihm ist.
5 Gemäß dem bekannten Ausspruch von Christian Duquoc, der die völlige Autonomie
der Geschichte behauptet. A.d.Ü.: Christian Duquoc (1926–2008), französischer Domi-
nikaner.
6 Papst Benedikt XVI., Spe salvi, 1.
13

2.5 Page 15

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3. WELCHE INTERPRETATION KÖNNEN WIR ALS GLÄUBIGE ANBIETEN?
Es ist eine Hoffnung, die über alles hinausgeht, was die menschlichen
Erwartungen des „hier und jetzt“ befriedigen kann, die Erwartungen die-
ses gegenwärtigen Moments, der nur mit eigenen Ressourcen oder durch
die uns zur Verfügung stehenden menschlichen und materiellen Mittel
gestützt wird. Die Hoffnung, von der wir sprechen, ist auf das Verspre-
chen Gottes gegründet, der dessen bester Garant ist.
Die Hoffnung, die uns bewegt, lässt jede kleine Hoffnung des Menschen
fruchtbar werden und zeigt die großen Werte, in die die Menschheit ihre
besten Energien gesteckt hat: Wahrheit, Güte, Gerechtigkeit, Solidarität,
Frieden, Liebe usw. Diese Werte verwandeln sich nicht in Utopien, son-
dern werden verwirklicht, konkret und Stück für Stück durch den großen
Plan, den Gott immer für die gesamte Menschheit vorbereitet hat und der
in Jesus Christus endgültig wird. Das ist die Hoffnung, die uns bewegt.
„Die wahre, die große und durch alle Brüche hindurch tragende
Hoffnung des Menschen kann nur Gott sein – der Gott, der uns
‚bis ans Ende‘, ‚bis zur Vollendung‘ (vgl. Joh 13,1 und 19,30)
geliebt hat und liebt. Wer von der Liebe berührt wird, fängt an zu
ahnen, was dies eigentlich wäre: ‚Leben‘. Er fängt an zu ahnen,
was mit dem Hoffnungswort gemeint ist“.7
Eine verlässliche Hoffnung lässt uns in der Gewissheit leben, dass
die Zukunft vollkommen garantiert ist. Deshalb ist die Hoffnung dar-
an gebunden, Gott mit uns zu haben. Eine solche Hoffnung verändert
die Gegenwart vollkommen, nicht nur, weil die Gegenwart erträglicher
wird, wenn die Zukunft als eine positive Realität bekannt ist, sondern
auch, weil diese Kenntnis der Zukunft durch den Glauben unsere Art zu
leben ändert. Mit Gott zu leben ist nicht dasselbe wie ohne Gott zu leben.
Er ist ein Gott, der sogar in den Wüsten des Lebens einen Weg öffnet,
indem er Enttäuschung und Skepsis, Angst und Verzagtheit herausfor-
dert. Deshalb bringt uns die Hoffnung, die uns bewegt, dazu, Gott um
das Geschenk des Glaubens zu bitten. Ihn zu bitten, Vertrauen in Ihn, der
alles in allem bewirkt, und Vertrauen in die anderen zu haben.
7 Ebd., 27.
14

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3. WELCHE INTERPRETATION KÖNNEN WIR ALS GLÄUBIGE ANBIETEN?
Die Zeit der Prüfung ist die Zeit der Entscheidung8
Die gläubige Antwort auf die Hoffnung, die Gott hervorruft, gründet sich
auf das Evangelium als die Kraft Gottes für die ständige Verwandlung
und Erneuerung des Lebens.
Papst Franziskus lädt uns in seiner direkten Sprache ein, „eher Menschen
des Frühlings als des Herbstes“9 zu sein. Der Christ sieht eher die „Keim-
linge“ einer neuen Welt als die „vergilbten Blätter an den Zweigen“. Wir
fliehen nicht in Nostalgie und Klage, weil wir wissen, dass Gott uns als
Erben einer Verheißung und unermüdliche Erzeuger von Träumen möch-
te. Mit dem festen Glauben an Gott, der „an-kommt“ und eingreift [ad-
viene und inter-viene].
Mit den Armen der christlichen Hoffnung – den Armen des Kreuzes
Christi – umarmen wir die ganze Welt und betrachten nichts und nie-
manden als verloren oder gescheitert.
Aber einige Fragen bleiben berechtigt: Wer wollen wir sein, angesichts
dieser Realität, die wir zu durchleben gerufen sind? Wie wollen wir
danach leben? Es wäre nämlich eine große verlorene Gelegenheit, wenn
wir uns das, was wir gerade erleben, einschließlich des Schmerzes, nicht
zunutze machten.
Sicherlich gibt es viele Menschen, die aus ihrer Perspektive als Bürger
diese Krisenwirklichkeit mit einem klaren humanistischen Bewusstsein
ohne jeden Glaubenshorizont angehen. Das ist ganz legitim.
Neben ihnen gibt es jedoch auch uns. Die heutige Welt braucht unser
Lebenszeugnis; sie braucht uns, die wir in der Begegnung mit Christus
und in dem Gott Jesu Christi unseren Lebenssinn gefunden haben. Der
heilige Paulus erinnert die Epheser daran, dass sie vor ihrer Begegnung
mit Christus „ohne Hoffnung und ohne Gott in der Welt“ waren (Eph
2,12). Natürlich hatten sie andere Götter, aber von deren Mythen ging
8 Papst Franziskus, Meditation des Heiligen Vaters bei einem außergewöhnlichen Gebet
in den Zeiten der Epidemie, Vatikanstadt, 27. März 2020. A.d.Ü.: Zu finden unter:
https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2020-03/wortlaut-papstpredigt-gebet-
corona-pandemie.html.
9 Papst Franziskus, Generalaudienz, Mittwoch, 23. August 2017.
15

2.7 Page 17

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3. WELCHE INTERPRETATION KÖNNEN WIR ALS GLÄUBIGE ANBIETEN?
keine Hoffnung aus. Trotz ihrer Götter waren sie „ohne Gott“.10 Gott
durch seinen Sohn kennenzulernen bedeutete für sie, und bedeutet auch
für heutige Männer und Frauen, eine Hoffnung zu empfangen. Deshalb
wird der Glaube Hoffnung, Glaube ist Hoffnung“.11
Dieser Blick des Glaubens in der Begegnung mit Jesus Christus verändert
die Art, auf das Leben zu schauen, die Art, im Herzen zu fühlen. So wird
die Art und Weise, Entscheidungen zu treffen und zu unterscheiden, was
wertvoll ist oder nicht, durch jene Begegnung von Mensch zu Mensch
geprägt. Deshalb sagt ein Theologe, der viel über die Hoffnung nachge-
dacht hat, wie Jürgen Moltmann, dass „der Glaube, wo immer er sich zur
Hoffnung entfaltet, nicht ruhig, sondern unruhig, nicht geduldig, son-
dern ungeduldig [macht]. [...] [Wer auf Christus hofft,] kann sich nicht
mehr abfinden mit der gegebenen Wirklichkeit, sondern beginnt an ihr
zu leiden, ihr zu widersprechen.“12
10 Vgl. Papst Benedikt XVI., Spe salvi, 2.
11 Das ist die Überschrift, die Papst Benedikt für den ersten Teil seiner Enzyklika Spe
salvi gewählt hat.
12 J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, München: Kaiser 1966, S. 17.
16

2.8 Page 18

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4. EIN BLICK AUF UNSERE URSPRÜNGE
4. EIN BLICK AUF UNSERE URSPRÜNGE
UND AUF VIELE GLAUBENSZEUGEN
IN UNSERER FAMILIE
Wenn wir die Lebenserfahrung Don Boscos betrachten, erkennen wir,
dass die Hoffnung eine Pflanze mit tiefen Wurzeln ist, die von weither
kommen; Wurzeln, die durch schwierige Zeiten und Wege, die große
Opfer erfordern, stärker werden.
So ist es auch von Anfang an bei Johannes in Becchi, vaterlos, mit sei-
ner Mutter Mama Margareta, die der Hungersnot und den Schwierigkei-
ten des häuslichen Zusammenlebens die Stirn bieten muss. Als er die sehr
menschliche Hoffnung hatte, dass es für ihn eine Zukunft geben könnte,
die er mit Hilfe und unter dem Schutz von Don Calosso zu verwirklichen
träumte, entriss ihm der Tod des alten Pfarrers diese Hoffnung. Die fami-
liäre Wirklichkeit und der aufmerksame und scharfsinnige Blick einer
Mutter, die das Beste für ihren Sohn sucht – selbst wenn das Mutterherz
darunter leidet –, führt so Johannes dahin, schon mit zwölf Jahren das
Haus zu verlassen.
Aber gerade unter diesen Umständen öffneten das Wort und noch mehr
das Beispiel seiner Mutter Johannes den Blick auf einen weiteren Hori-
zont. Sie ermöglichten es ihm, nach oben und nach vorne zu schauen.
Ebenso wird es auch in dem entscheidenden Moment der Berufungs-
entscheidung sein, als Margareta ihren Sohn auffordert, sich bloß nicht
um sie und ihre Zukunft zu kümmern und sein Herz niemals an irdische
Sicherheiten zu hängen: „Wenn du dich für den Stand des Weltpriesters
entscheidest und das Unglück haben solltest, reich zu werden, werde ich
dich kein einziges Mal besuchen. Denke gut daran!“13
Jahre später ist es Don Bosco, der durch einen Blick aufs Kreuz das
Herz seiner entmutigten und müden Mutter erneut belebt und in ihr die
Hoffnung neu entzündet, die sie bis zu ihrem Tod der Sendung treu blei-
13 MB I, 296. A.d.Ü.: Zitiert nach T. Bosco, Mama Margareta. Die Mutter Don Boscos,
München: Don Bosco 2006, S. 99.
17

2.9 Page 19

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4. EIN BLICK AUF UNSERE URSPRÜNGE
ben lässt, die sie mit ihrem Sohn seit den Anfängen des Oratoriums von
Valdocco geteilt hat.
Diese stark verwurzelte Hoffnung ist für all das notwendig, was Don
Bosco leben und dem er Leben schenken wird von seiner Ankunft in
Turin bis zu seinem letzten Atemzug.
An den Früchten erkennt man den Baum: Daran, wie viele junge
Leben sich aus der Verlassenheit und Verzweiflung bis hin zur Heiligkeit
erhoben haben, lässt sich erkennen, wie sehr die Hoffnung im Herzen
Don Boscos ihren Platz hatte. Aus dieser Überfülle konnte er das Leben
derjenigen, denen er begegnete, erreichen und verwandeln.
Auch in den Jahren intensivster Arbeit war Don Bosco nie ein einsa-
mer Held. Er hatte Ihn immer an seiner Seite, der in ihm das Feuer des
Glaubens, der Hoffnung und der Nächstenliebe immer wieder aufleben
ließ. Es war eine Begleitung „wie im Himmel so auf Erden“. Und auch
das unbegrenzte Vertrauen in Maria war für ihn eine ständige Quelle der
Hoffnung. Je mehr dieses Vertrauen in menschlich gesehen unmögli-
chen Unternehmungen zum Ausdruck kam – denken wir an den Bau der
Mariahilf-Basilika und den Beginn der Mission in Südamerika –, desto
mehr sah Don Bosco als erster, „was Wunder sind“.
Der Glaube, dass es in jedem Herzen, in jeder Lebenserfahrung, auch in
denen, die offensichtlich vom Weg abgekommen sind, immer einen für
das Gute empfindlichen Punkt gibt, ist ein Ergebnis dieses Einklangs mit
dem Himmel. Es ist aber auch das Ergebnis einer grundlegenden Erfah-
rung von Begleitung und Supervision, die der Priester Don Bosco hier auf
Erden schätzte. In der Schule Don Cafassos nämlich lernte Don Bosco,
an der Seite der Verzweifelten unterwegs zu sein, in den Gefängnissen
und in den ärmsten Vierteln des damaligen Turin. So lernte Don Bosco
nicht nur „Priester zu sein“14, sondern Hirte jener Herde zu werden, mit
einem Herzen wie das der außergewöhnlichen Hoffnungsstifter, die mit
ihm auf denselben Straßen in den ärmsten Außenbezirken unterwegs
waren: Cafasso, Cottolengo und Murialdo. Zur Hoffnung bildet man sich
14 J. Bosco, Erinnerungen an das Oratorium des Heiligen Franz von Sales, München: Don
Bosco 2001, S. 133.
18

2.10 Page 20

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4. EIN BLICK AUF UNSERE URSPRÜNGE
und man bildet sich gemeinsam: Sie ist eine Frucht der Gemeinschaft der
Heiligen „wie im Himmel so auf Erden“.
Es gibt einen Augenblick in der Geschichte des Oratoriums, an den man
erinnern muss, weil er den weltweiten Schwierigkeiten, in denen wir uns
alle mit der Pandemie befinden, so nahe ist. Es ist Ende Juli 1854. In
Turin bricht die Cholera aus. Wir kennen die Geschichte und erzählen sie
deswegen hier nicht noch einmal. Es reicht zu erwähnen, dass die Sicht
des Glaubens und die Praxis der Nächstenliebe, auch in heroischer Art,
keine private, nur für Don Bosco oder einige supergute Menschen cha-
rakteristische Tugend sind, sondern der Lebensstil dieser kleinen Erzie-
hungsgemeinschaft. Die Hoffnung ist eine Tugend der Gemeinschaft, die
vom gegenseitigen Beispiel und durch die Kraft der geschwisterlichen
Gemeinschaft genährt wird. Davon gibt uns das Oratorium von Valdoc-
co zu Zeiten der Cholera Zeugnis, so wie es auch heute, in Zeiten von
COVID-19, die Erfahrung vieler Erziehungs- und Pastoralgemeinschaften
ist. Im Verbund mit Gemeinschaften von Ärztinnen und Ärzten, Kran-
kenpflegepersonal und Beschäftigten im Gesundheitswesen haben sie in
vorderster Linie ihr eigenes Leben gegeben und geben es weiterhin, um
andere zu retten.
Krisenmomente wie dieser zeigen ein weiteres Merkmal der Hoffnung,
wie Don Bosco sie lebte. Er glaubte fest an die Vorsehung. Ein glaubendes
Vertrauen, das mit den Jahren immer größer wurde. Es ist wie ein roter
Faden, der sein ganzes Leben und alles, was er ins Leben rief, durch-
zieht. Es ist vielleicht der Aspekt, der es erlaubt, in ihm einen „einzigar-
tigen Einklang von Natur und Gnade“15 noch deutlicher verwirklicht zu
sehen: Das, was sein Herz glaubt, veranlasst die täglichen Schritte und
Entscheidungen und öffnet vielen Wege der Hoffnung, selbst dort, wo es
keinen Ausweg zu geben scheint.
15 Konstitutionen SDB, 21.
19

3 Pages 21-30

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3.1 Page 21

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4. EIN BLICK AUF UNSERE URSPRÜNGE
Viele weitere Zeugen der Hoffnung
In der Geschichte der salesianischen Heiligkeit finden wir wertvolle Bei-
spiele und Lebensvorbilder, die uns ermutigen zu hoffen, als Tugend und
als Haltung eines Lebens in Gott. Ich verweise nur kurz auf einige.
Unser Mitbruder, der selige Stefan Sándor (1914–1953): Er gibt uns ein
wahres Zeugnis davon, was es bedeutet, von der Spaltung zur Einheit
und Gemeinschaft zu finden. Das starke Gespür für seine Berufung als
Salesianerbruder brachte ihn zu einer echten Entscheidung zur Verteidi-
gung des Lebens: Er glaubte zutiefst, dass sich sein Leben inmitten sei-
nes Volkes und seiner Kultur verwirklichen sollte, als Momente der Unsi-
cherheit und Trostlosigkeit zu durchleben waren. Durch seine aufrechte
Haltung gibt er uns eine salesianische Sicht, wie auf dem Boden unse-
rer Sendung zu „bleiben“ ist, um diejenigen zu erleuchten, die Gefahr
laufen, die Hoffnung zu verlieren, um den Glauben derer zu stärken, die
das Gefühl haben, zu scheitern, um ein Zeichen der Liebe Gottes zu sein,
wenn er aus der Geschichte verschwunden zu sein „scheint“. Der selige
Stefan hat die Mauern, die durch die Spaltung der Völker und die Skla-
verei des ideologischen Totalitarismus entstanden sind, überwunden,
indem er auf den anderen zugegangen ist und jede Art von persönlicher
oder gesellschaftlicher Furcht überwunden hat.
Sehr schön ist auch die Geschichte unserer Mitschwester, der seligen
Schwester Magdalena Morano (1847–1908). Sie zeichnete sich als
Don-Bosco-Schwester durch eine apostolische Kühnheit aus, die sie zu
dem werden ließ, was Don Bosco immer von seinen Töchtern im Geist
von Mornese gewünscht hatte: lebendige Denkmäler der Jungfrau Maria
zu sein. Als „geborene Lehrerin“ wusste sie, dass das befreiende Handeln
ihrer salesianischen Sendung darin bestand, ihre Mädchen zu unterrich-
ten und die Begrenzungen ihrer Herzen und ihres Verstandes zu öffnen,
damit sie die engen Grenzen einer Kultur überwinden konnten, die sie
durch Armut und mangelnde Möglichkeiten unterdrückte. Sie verstand
es, Ausdauer zu vermitteln und gegenüber Bedrohungen nicht nachzu-
geben; das weibliche Angesicht der Stärke fand in ihr einen sehr milden
und überzeugenden Ausdruck der Verantwortung, die wir gegenüber
20

3.2 Page 22

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4. EIN BLICK AUF UNSERE URSPRÜNGE
unseren verletzlichen Geschwistern haben. Als Lösung für die unruhigen
Zeiten, die sie ertragen musste, zeigte sie denjenigen, die von Isolierung
bedroht waren, neue Richtungen und lehrte sie die unermessliche Güte
Gottes.
Im Diener Gottes Don Carlo Braga (1889-1971) finden wir ein Beispiel
für kluge Seelsorge, sowohl in seiner unermüdlichen Hingabe für die
Mission als auch in der Begleitung der Mitglieder der Don-Bosco-Familie.
Ohne den Mut zu verlieren, sondern mit der Hoffnung derer, die ihren
eigenen Glauben auf Christus, unseren Herrn, stützen, verstand er es,
die so sehr von Don Bosco empfohlene Geduld zu haben, um die jun-
gen Menschen bei der Reifung ihrer Persönlichkeit zu begleiten. Diese
Geduld war die Frucht der Liebe, die in seinem missionarischen Herzen
überfloss, das ihm erlaubte, Brücken zwischen den Kulturen zu bauen
statt Barrieren zu errichten. Der von ihm gehörte Ruf, die Einheit unter
den Menschen zu fördern, half ihm dabei, die Unterschiede zu über-
winden, die unter den anderen auftreten konnten, in der Überzeugung,
immer von der göttlichen Gnade getragen zu werden, die die Kultur der
Begegnung hervorbringt.
Ein weiteres kostbares Vorbild ist der selige Josef Kowalski (1911–
1942).
Wieviel Glauben und Mut braucht es, um den anderen den Frieden zu
überbringen, auch wenn man nichts weiter anbieten kann als das eigene
Leben! Die selbstlose Liebe Jesu Christi, der uns mit dem Opfer seines
Lebens für die Menschheit das größte Liebesbeispiel gegeben hat, wur-
de von Josef Kowalski gänzlich wieder aufgenommen: ein Mitbruder, der
von Frieden mitten im Krieg, von Gelassenheit in Verwirrung und von
Erbarmen im Hass zeugte.
Der Diener Gottes Antonino Baglieri (1951–2007) ist ein weiteres Vor-
bild.
Der Weg zur Heiligkeit erfordert sehr oft einen Wechsel von Einstellun-
gen und Ansichten. Das war der von Nino gelebte Weg, der nach einem
langen Leiden im Kreuz die Möglichkeit entdeckt hat, zu einem neuen
21

3.3 Page 23

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4. EIN BLICK AUF UNSERE URSPRÜNGE
Leben zu erwachen. Nino wurde immer von der Mutter begleitet, die mit
Liebe und Leidenschaft stets an ihn und an ein Leben voller Möglichkei-
ten geglaubt hat; er war auch von Freunden, Laien und Ordensmännern,
umgeben, die ihn an die Schönheit der Gemeinschaft erinnerten. Er hat
sich von der Gemeinschaft, die ihn sowohl in seiner Persönlichkeit als
auch in seinem Glauben stärkte, berühren lassen, und das hat ihn geret-
tet. Er hat verstanden, dass er sich selbst findet und seinem Leben einen
Sinn gibt, wenn er zulässt, dass andere ihm begegnen, gezeichnet von
dem göttlichen Erbarmen, um – auch von seinem Krankenbett aus – ein
„Handwerker des Friedens und der Freude“ zu sein.
Sie und viele weitere sind Größen des Glaubens, den sie mit Nächsten-
liebe gelebt haben. Sie haben in seiner ganzen Bedeutung verstanden,
was es bedeutet, Hoffnung zu haben. Wer hofft, weiß, dass er nicht allein
unterwegs ist, und er weiß ebenso, dass er Menschen braucht, die ihn
begleiten und ihn auf diesem Weg führen. Papst Benedikt XVI. hat das
sehr schön ausgedrückt: „Die wahren Sternbilder unseres Lebens sind
die Menschen, die recht zu leben wußten. Sie sind Lichter der Hoffnung.
Gewiß, Jesus Christus ist das Licht selber, die Sonne, die über allen Dun-
kelheiten der Geschichte aufgegangen ist. Aber wir brauchen, um zu ihm
zu finden, auch die nahen Lichter – die Menschen, die Licht von seinem
Licht schenken und so Orientierung bieten auf unserer Fahrt.“16
16 Papst Benedikt XVI., Spe salvi, 49.
22

3.4 Page 24

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5. SALESIANISCHE LESART DES GEGENWÄRTIGEN AUGENBLICKS
5. SALESIANISCHE LESART DES
GEGENWÄRTIGEN AUGENBLICKS
Dies ist unsere Zeit. Es ist die Zeit, die uns zu leben aufgegeben ist. Es
dürfte sehr angebracht sein, die Frage zu stellen, wie wir die Zeit nach
der Pandemie am besten angehen. Es ist vielleicht auch angebracht, in
einem Augenblick, in dem die meisten Menschen Angst haben oder den
Moment kaum erwarten können, in dem sie vergessen können, was in
diesem Jahr passiert ist, den Wert der Hoffnung zu entdecken. Aber dür-
fen wir wirklich vergessen, was passiert ist: die Familien vergessen, die
Angehörige verloren haben, die bald zwei Millionen Opfer vergessen, die
Gesichter der Zerbrechlichsten unserer Gesellschaft vergessen, die vielen
Menschen vergessen, die in vorderster Linie gearbeitet haben? Wäre es
richtig, das alles zu vergessen? Nein, ganz sicher nicht. Es wäre sogar das
Schlimmste, was wir tun könnten.
Deshalb fragen wir uns, ob das, was wir gerade erleben, uns etwas
lehrt und ob wir bereit sind, etwas zu verändern, manche Einstellungen
oder Lebensauffassungen zu überdenken ...
88 Wir hoffen, dass die Einschränkungen, die wir erlebt haben, uns dabei
helfen, uns zu öffnen.
Wir leben in ständiger Bewegung, mit der Sorge, auf alles antworten
zu wollen, in einem oft hektischen Rhythmus. Ganz unerwartet hat
uns eine „Zwangsruhe“ getroffen, die uns vielleicht ein wenig in uns
selbst, in unseren Häusern, in unseren Familien, in verpflichtender,
aber notwendiger Quarantäne eingesperrt hat. Ängste tauchten auf:
die Angst vor dem anderen, besonders vor demjenigen, der nah oder
nicht so weit entfernt ist; die Angst vor der Ansteckung, die, von wo
auch immer sie herkommt, sehr große Unsicherheit schafft.
Deshalb muss „Öffnen“ das Gebot der Stunde sein. Öffnen wir Räu-
me, das Umfeld, die Fenster zum Leben. Öffnen wir uns für die Begeg-
nung mit dem anderen. Geben wir alles auf, was uns verschließt,
gewinnen wir den Sinn unserer Offenheit, der Offenheit des Herzens
zurück. Gewinnen wir die Sicht eines geweiteten Horizonts zurück.
23

3.5 Page 25

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5. SALESIANISCHE LESART DES GEGENWÄRTIGEN AUGENBLICKS
88 Von einem wachsenden Individualismus zu einer größeren Solidarität
und Geschwisterlichkeit.
Gottes Spur in der Menschheit zeigt sich besonders offensichtlich in
der Fähigkeit, auf die anderen in einem solidarischen Akt mit seiner
Schöpfung zuzugehen. Der Egoismus ist das Gegenteil davon, weil
er selbstgefällig ist, uns selbstbezogen macht, eine stetig wachsende
Kultur des Individualismus schafft und nährt, die schließlich unsere
Kleinheit offenbart. Während der Pandemie sind wir uns zweifelsoh-
ne dessen bewusst geworden, dass auch wir verletzlich, zerbrechlich
und abhängig sind. Und zwar wir alle, nicht nur einige. Angesichts
einer kollektiven, unvorstellbaren und unerhörten Bedrohung fühlt
die ganze Menschheit, dass sie die anderen braucht. Wir leben in
gegenseitiger Bedürftigkeit und in Sorge umeinander. Wir wollen
nicht allein bleiben. Möge diese Zeit uns lehren, mehr auf die Soli-
darität und Geschwisterlichkeit angesichts des „Virus des Individua-
lismus“ zu setzen. Wie recht Papst Franziskus hat! Solidarität ist der
beste Sieg über die Einsamkeit. „Die Solidarität drückt sich konkret
im Dienst aus, der in der Art und Weise, wie wir uns um andere küm-
mern, sehr unterschiedliche Formen annehmen kann. Dienst bedeu-
tet »zum großen Teil, Schwäche und Gebrechlichkeit zu beschützen.
Dienen bedeutet, für die Schwachen in unseren Familien, in unserer
Gesellschaft, in unserem Volk zu sorgen.« Bei dieser Aufgabe ist jeder
in der Lage, »im konkreten Blick auf die Schwächsten sein Suchen,
sein Streben und seine Sehnsucht nach Allmacht auszublenden.
[...] Der Dienst schaut immer auf das Gesicht des Mitmenschen,
berührt seinen Leib, spürt seine Nähe und in manchen Fällen sogar
das ‚Kranke‘ und sucht, ihn zu fördern. Darum ist der Dienst nie-
mals ideologisch, denn man dient nicht Ideen, sondern man dient
Menschen«.“17 Viele warten auf unser Lächeln, unsere Worte, unsere
Gegenwart.
88 Schritte aus der Isolierung zu einer Kultur der Begegnung.
Sicherlich ist es nicht leicht, die eigene Isolierung zu verlassen, vor
allem wenn man sie für gewünscht hält. Oft ist es in der Tat leich-
ter, isoliert zu bleiben, auch aus Furcht vor der Nähe der anderen.
17 Papst Franziskus, Fratelli tutti, 115.
24

3.6 Page 26

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5. SALESIANISCHE LESART DES GEGENWÄRTIGEN AUGENBLICKS
Aber im menschlichen Herzen brennt die Flamme, die das absolute
Bedürfnis nach Zusammensein entfacht: in der Familie, mit den
Freunden, im Wohngebiet, im Ehrenamt, mit den Schulfreunden,
den Arbeitskollegen, der Fußballmannschaft. Diese Zeit der Verletz-
lichkeit bietet uns einen Raum für neue Formen der Empathie und
des Wiedersehens. Es ist die „Kultur der Begegnung“ des anderen
als anderer. „Die Isolierung und das Verschlossensein in sich selbst
oder die eigenen Interessen sind nie der Weg, um wieder Hoffnung zu
geben und Erneuerung zu bewirken, wohl aber die Nähe, die Kultur
der Begegnung. Isolierung: nein; Nähe: ja. Kultur der Konfrontation:
nein; Kultur der Begegnung: ja«.“18
88 Von der Spaltung zu einer größeren Einheit und Gemeinschaft.
Bei dieser Sichtweise werden wir uns bewusst, dass es nicht möglich
ist, eine Kultur der Begegnung zu schaffen, ohne auf Einheit zu ach-
ten; dieselbe Einheit, die der Geist Gottes demjenigen schenkt, der in
die Gemeinschaft mit Ihm eintritt, weil sie uns eint und uns anspornt,
dieselbe Berufung zu leben: geliebte Kinder Gottes zu sein. Eine
Lektion, die wir in der harten Erfahrung der Isolierung gelernt haben,
als wir getrennt auf dem Boot des Lebens unterwegs waren, aufgrund
der geschlossenen Grenzen (geographisch und sogar spirituell). Dies
hat es uns erlaubt, uns bewusst zu werden, dass wir am Ende „alle in
demselben Boot sitzen“. Uns verbindet das Menschsein. Aber dieses
Menschsein wurde getroffen. Das Coronavirus ist die erste Krise, die
alle Menschen weltweit trifft, ohne Unterschied. Es ist ein großes
Paradoxon: Ein Virus, das durch Angst Trennung geschaffen hat, ver-
eint uns nun, drängt uns, uns füreinander zu interessieren. Es vereint
uns in einer Empathie des Altruismus, der Solidarität und Sorge, des
Ausdrucks des Gemeinwohls und hoffentlich des Mitgefühls und der
Barmherzigkeit. Es vereint uns auch bei der Suche nach Lösungen.
Wahrscheinlich ist der trennende Egoismus eine sehr viel ältere und
gefährlichere Krankheit als COVID-19, nämlich eine Krankheit, die
immer schon existierte und behandelt werden muss. Ich hoffe, dass
wir uns mit der Ankunft des Impfstoffs gegen das Virus endlich gegen
den Mangel an Gemeinschaft impfen können und so die Spaltung
18 Ebd., 30.
25

3.7 Page 27

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5. SALESIANISCHE LESART DES GEGENWÄRTIGEN AUGENBLICKS
besiegen. Es ist die Medizin des Evangeliums der Hoffnung und der
Freude, die uns eint, die uns menschlicher, ja zu Kindern Gottes
macht.
88 Von Entmutigung, Leere und Sinnlosigkeit zur Transzendenz.
Wir haben uns für „die absoluten Herren über unser Leben und alles,
was existiert“, gehalten und sind nun an den Punkt gelangt, wo
wir uns sehr zerbrechlich fühlen. In vielen Familien mussten viele
Geschichten erfunden werden, um den Kindern zu erklären, war-
um sie zuhause bleiben mussten, weit weg von den Großeltern, den
Schulfreunden und den Nachbarn, ohne für vierzehn oder zwanzig
Tage auf die Straße zu dürfen. Ich erinnere mich an den Film „Das
Leben ist schön“ (1997), in dem ein Vater (Roberto Benigni) in einer
äußerst widrigen Lage, in einem nationalsozialistischen Konzentrati-
onslager, ein Spiel erfindet, um gegenüber seinem Sohn ihre Lebens-
bedingungen zu rechtfertigen und ihn alles als ein Spiel erleben zu
lassen, was zur Rettung für das Kind wird.
Die Leere dieser Zeit hat viel Schaden angerichtet. Wir sind von sehr
vielen Sicherheiten zur Ungewissheit eines instabilen und unsiche-
ren Geländes, wie Treibsand, übergegangen. Eine Leere, die sich von
der nihilistischen Ideologie unterscheidet. Sie öffnet in uns jedoch
das Bedürfnis nach Transzendenz.
Der Herr spricht in dieser Zeit zu uns. Was fordert er von uns? Was
bietet er uns an? Wie empfangen wir ihn? „Mit dem Sturm sind auch
die stereotypen Masken gefallen, mit denen wir unser ‚Ego‘ in stän-
diger Sorge um unser eigenes Image verkleidet haben; und es wurde
wieder einmal jene segensreiche gemeinsame Zugehörigkeit offenbar,
der wir uns nicht entziehen können, dass wir nämlich alle Brüder
und Schwestern sind«.“19 Also: In den extremsten Situationen fährt
Gott fort, zu uns durch die Herzen von Menschen zu sprechen, die
auf originelle Weise sehen und antworten, was dann den Unterschied
ausmacht.
19 Ebd., 32.
26

3.8 Page 28

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5. SALESIANISCHE LESART DES GEGENWÄRTIGEN AUGENBLICKS
Wir retten uns nicht allein durch unsere Kräfte. Keiner rettet
sich allein
„Eine globale Tragödie wie die Covid-19-Pandemie hat für eine gewis-
se Zeit wirklich das Bewusstsein geweckt, eine weltweite Gemeinschaft
in einem Boot zu sein, wo das Übel eines Insassen allen zum Schaden
gereicht. Wir haben uns daran erinnert, dass keiner sich allein retten
kann, dass man nur Hilfe erfährt, wo andere zugegen sind. Daher sagte
ich: »Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen
und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Pro-
jekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. […] Mit dem Sturm
sind auch die stereotypen Masken gefallen, mit denen wir unser ‚Ego‘ in
ständiger Sorge um unser eigenes Image verkleidet haben; und es wur-
de wieder einmal jene segensreiche gemeinsame Zugehörigkeit offenbar,
der wir uns nicht entziehen können, dass wir nämlich alle Brüder und
Schwestern sind«.“20
Die Zeiten sind vorbei, in denen wir überzeugt waren, dass wir alles mit
unseren Ressourcen allein machen können, wie „selbstgefällige Tita-
nen“, für die nichts unmöglich ist.
Wir müssen den leichtfertigen Narzissmus überwinden, der uns über-
zeugt hat, dass das Universum sich vor uns verneigt, wir haben uns darin
getäuscht, im Besitz einer „Supermacht“ über alles und alle zu sein ...
Wir haben dank dieser Krankheit gelernt, wie verletzlich wir sind, wie
sehr wir einander brauchen und dass wir allein nichts sind. Wir haben
entdeckt, dass der Nachbar von der anderen Straßenseite wichtig ist:
grüßen wir jeden, dem wir begegnen; streichen wir die Anonymität und
glauben wir an das „wir“ als Teil von mir, ohne den wir nicht leben kön-
nen. Die anderen sind ein „ich“ als „wir“ dekliniert. Wir sind viel stärker
angewiesen auf den Reichtum der Menschheit, auf ihre Werte der Schön-
heit und des gemeinsamen Lebens. Lassen wir die Furcht zurück, schaf-
fen wir Verbindungen und wachsen wir. Weisen wir den anderen nicht
mehr zurück, weil er anders, verschieden, fremd usw. ist. Gehen wir von
einem „wir“ aus, dass das Plurale und Vielfältige mit dem Besonderen,
Reichen, Einzigartigen, Ungewöhnlichen, Unwiederholbaren und Schö-
20 Ebd.
27

3.9 Page 29

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5. SALESIANISCHE LESART DES GEGENWÄRTIGEN AUGENBLICKS
nen eines jeden Menschen, eines jeden Wir verbindet; jeder von uns ist
in sich selbst wertvoll.
Wir dürfen keine Angst haben, die Geschwisterlichkeit wieder zu entde-
cken, die uns darin vereint, Kinder Gottes zu sein, unendlich geliebt im
Sohn (vgl. Eph 1,5). Von dieser Wirklichkeit ausgehend verstehen wir
die Solidarität, die Geschwisterlichkeit, die Sorge um die anderen, den
Respekt für den Wert des Lebens, für die Menschenwürde, für die Wahr-
heit des anderen: Haltungen, die mehr als jemals zuvor Tugenden sind.
Wir sind zu kostbar, um uns dem leeren Egoismus einer Krankheit, die
Gleichgültigkeit heißt, und der Selbstbezogenheit oder Selbstverliebt-
heit hinzugeben. Dies gilt vor allem, was unsere lieben jungen Menschen
betrifft, die der „brennende Dornbusch“, das „heilige Land“ sind, das
uns rettet. Gerade die jungen Menschen sind unsere große Hoffnung, die
uns durch viele Beispiele von miteinander geteilten Projekten auf eine
gemeinsame Zukunft ausrichten: zugunsten der Schöpfung und Umwelt,
des gemeinsamen Hauses und der Gerechtigkeit, der Freiheit, des Frie-
dens und der universalen Geschwisterlichkeit.
Neue Antworten sind notwendig. Ein mutiges Leben, das etwas wirklich
Neues in sich trägt. Um letztlich wie Don Bosco zu sein, muss man heute,
wo die Cholera „Coronavirus“ heißt, hinausgehen, Präsenz zeigen und
Antworten geben.
Mehr als je zuvor: Präsenz und Zeugnis!
Genauso ist es: mehr als je zuvor sind Präsenz und Zeugnis notwendig.
Unsere Präsenz und, als Zeugnis, unsere Freude, die aus unserem „hof-
fenden“ Glauben entsteht, weil „Glaube und Hoffnung Hand in Hand
gehen“.21
All das vor allem für die jungen Menschen, die wir nicht allein lassen
dürfen (heute weniger denn je): Sie warten auf uns mit offenen Armen,
damit wir erneut in ihrem Leben Platz nehmen können, mit der Kraft
einer Liebe, die fähig ist, alles zu überwinden, denn in all dem kann nur
die Liebe triumphieren! Wir müssen erneut den Traum der jungen Men-
21 Papst Franziskus, Generalaudienz, Mittwoch, 20. September 2017.
28

3.10 Page 30

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5. SALESIANISCHE LESART DES GEGENWÄRTIGEN AUGENBLICKS
schen träumen. Wir müssen uns zur Verfügung stellen, damit wir das
überwinden, was die Angst daran gehindert hat, Wirklichkeit zu werden.
Oratorien, Jugendzentren, Schulen, Ausbildungszentren, soziale Werke,
Pfarreien: Jede unserer Einrichtungen muss sich von dem lebendigen,
großzügigen und belebenden Herzen eines jeden jungen Menschen erfül-
len lassen, damit die Häuser (Mauern des Schweigens) in Lebensräume
(für das Leben junger Menschen) verwandelt werden. Wir wollen dieses
Leben! Es ist das Leben, das uns rettet! Wir hören den Schrei der jun-
gen Menschen, die Präsenz, Aufmerksamkeit, Begleitung, Verfügbarkeit
fordern und die auch danach fragen, dass wir ihnen das authentische
Antlitz Gottes zeigen. Wenn wir ihnen Aufmerksamkeit schenken, wenn
wir ihnen zuhören, werden sie uns noch intensiver auffordern, dass wir
zu ihnen vor allem anderen sonst vom Herrn reden, der unsere Hoffnung
belebt und der es uns nicht erlaubt, uns entmutigen zu lassen oder auf-
zugeben (vgl. 1 Petr 3,15). Sie werden uns auffordern, ihnen das „Brot
des Lebens“ zu geben, das unser „Für-Sie-Dasein“ und unser „Mitten-
unter-ihnen-sein“ nährt. Um das Leben hervorzubringen, das der Herr
in diesem Augenblick der Geschichte geben will: das Leben, das nicht
enden wird. Es ist die gute Botschaft der Auferstehung, die unsere Hoff-
nung wiederbelebt und die uns zu neuen Menschen für eine neue Zeit
werden lässt. Denn diese Welt wird enden. Und es wird nur das überdau-
ern, was wir geliebt haben.
29

4 Pages 31-40

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4.1 Page 31

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6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG IST
6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE,
DIE ZEUGE DER HOFFNUNG IST
Wie wir erfahren mussten, haben die Gegebenheiten der Pandemie in
den letzten Monaten manche Anzeichen für eine Trübung der Hoffnung
aufkommen lassen. Deshalb möchte ich einige Zeichen für die Schönheit
einer richtig verstandenen und gelebten evangelischen Hoffnung nen-
nen und hervorheben. Sie führen uns auf einen Weg, auf dem wir die
Kraft des in der Hoffnung gelebten salesianischen Charismas zum Aus-
druck bringen können. Ich spüre, dass dieses Zeugnis von uns als Don-
Bosco-Familie in der Kirche und in der Welt erwartet wird: die Fähigkeit,
aus der Hoffnung zu leben.
Einige Vorschläge, um diesen Weg weiterzugehen.
6.1. Entdecken wir erneut, dass „Glaube und Hoffnung
Hand in Hand gehen“.22
Auftrag: Machen wir es wie Don Bosco, der die große Fähigkeit besaß,
seine Jungen dafür zu begeistern, „das Leben als Fest und den Glau-
ben als Glücklichsein“23 zu erleben.
Wir alle werden nicht von abstrakten Ideen und schönen Versprechun-
gen getragen, sondern von einer Hoffnung, die auf der Erfahrung der
Liebe Gottes gründet, die von dem Heiligen Geist über uns ausgegossen
wurde, der alles zum Guten bewegt.
Doch die Hoffnung kommt nicht von allein vorwärts. Um zu hoffen,
braucht es Glauben. Die christliche Hoffnung lässt den Glauben so wider-
standsfähig werden, dass er den Erschütterungen des Lebens zu wider-
stehen vermag; sie lässt es zu, über jedes Hindernis hinauszublicken, sie
öffnet den Blick und erlaubt es uns, unser Leben und unsere Geschichte
im Licht von Gottes Heil zu lesen. Deshalb ist Hoffnung die Erwartung
22 Ebd.
23 23. Generalkapitel, Nr. 165; vgl. 20. BGK, Nr. 328.
30

4.2 Page 32

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6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG IST
des Geschenks des alltäglichen Lebens, die Erwartung der Gegenwart Got-
tes, eines Gottes, der Vater (Abba) ist, das heißt vertraut und persönlich.
Er ist ein Gott, der sich sorgt und an unserem Schicksal interessiert ist,
der mit Seiner Geduld und Seiner Barmherzigkeit unseren Weg beglei-
tet. Während wir unsere Armut und Zerbrechlichkeit anerkennen, legt
Gott Sein Herz in sie hinein. Die Begegnung unserer persönlichen und
gemeinschaftlichen Armut mit Seinem väterlichen Herzen lässt die
Barmherzigkeit erstrahlen.
In dem Bewusstsein unserer Zerbrechlichkeit und dem Wissen, wie
schwierig es heute ist, Menschen zu erziehen und zu bilden, müssen wir
also mehr als je zuvor Hoffnungsspender, wahre Hoffnungsstifter, eben
Zuflüsterer solcher Hoffnung sein. Don Bosco tat es auf eine leidenschaft-
liche und gleichsam natürliche Weise. Und wir setzen uns genauso ein,
weil wir wirklich glauben, dass es die Hoffnung ist, die das Leben stützt,
sich um es sorgt und es beschützt. „Sie ist das Göttlichste, was im Herzen
des Menschen existieren kann“24, hat Papst Franziskus in einer Kateche-
se gesagt, in der der Heilige Vater auch den großen französischen Dich-
ter Charles Péguy (1873–1914) zitiert, der wunderbare Texte über die
Hoffnung hinterlassen hat. In einem dieser Texte sagt dieser „auf poeti-
sche Weise, dass Gott nicht so sehr über den Glauben der Menschen und
auch nicht über ihre Liebe staunt. Was ihn dagegen wirklich mit Staunen
und Rührung erfüllt, ist die Hoffnung der Menschen. Er schreibt: ‚Diese
armen Kinder sollen sehen, wie die Dinge gehen, und glauben, dass es
morgen besser wird.‘“
Mit dieser Zuversicht lade ich Euch als Erzieher, als Begleiter der
Familien, der einfachen Leute und des Volkes Gottes insgesamt ein: Ver-
lieren wir niemals die Hoffnung, pflegen wir angesichts des Lebens einen
reichen hoffnungsvollen Blick, lassen wir sie niemals in unseren Herzen
erlöschen, seien wir Lichter, die durch das Zeugnis unseres Lebens zur
Hoffnung einladen, geben wir das Glücklichsein durch eine einfache,
aber authentische Art, unseren Glauben zu leben, weiter.
24 Papst Franziskus, Generalaudienz, Mittwoch, 27. September 2017.
31

4.3 Page 33

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6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG IST
6.2. Lernen wir, dass das Gebet Schule der Hoffnung25 ist.
Auftrag: Lasst uns mit den jungen Menschen und ihren Familien im
Gebet unterwegs sein, lasst uns lernen, besser zu beten und Hoffnung
zu üben, indem wir mehr und besser beten.
„Ein erster wesentlicher Lernort der Hoffnung ist das Gebet.“26
Charakteristisch für unsere salesianische Spiritualität ist es, Gott als
sehr nah, sehr gegenwärtig in den Ereignissen wahrzunehmen; er ist ein
Gott, mit dem wir in unserer Einfachheit „mit dem Herzen“ in einen Dia-
log treten können, einen einfachen, kindlichen Dialog.
Als Mitglieder der Kirche sind wir uns bewusst, dass wir wie sie aus
dem Gebet geboren sind und dass das Gebet ihr und unser Wachstum
aufrechterhält. Ein Gebet, das Schule der Hoffnung ist. Wenn wir unsere
Zerbrechlichkeit in der persönlichen Begegnung mit der Liebe vorbrin-
gen, lernen wir, uns von Ihm lieben zu lassen. Letztendlich sind wir geru-
fen, ein inneres Klima des Vertrauens in den Herrn zu entwickeln, auf Ihn
als Mittelpunkt von allem zu vertrauen. Ihm, der es möglich macht, in
Fülle zu leben. Legen wir deshalb unsere Gedanken, Wünsche, Aktivitä-
ten, unser Leid, unsere Hoffnungen und Träume in Gottes Herz, zeichnen
wir sie in Sein Herz.
Das im Gebet gepflegte geistliche Leben schafft Einheit, gibt den Ereignis-
sen, den verschiedenen Dingen, die wir erleben und tun, Sinn. Durch das
Gebet entdecken wir den Sinn für die Geschenkhaftigkeit des Lebens, des
unsrigen und von den Menschen, die uns anvertraut sind. Diese Perspek-
tive des Gebets als Geschenk ist wesentlich für den geistlichen Weg mit
dem Wissen, dass uns alles vom Herrn geschenkt worden ist.
In der Enzyklika über die Hoffnung, die Papst Benedikt XVI. der Kirche
geschenkt hat, werden einige konkrete Beispiele für Hoffnung im Gebet
genannt, wie sie zum Beispiel der vietnamesische Kardinal Nguyen Van
Thuan gelebt hat. Während dreizehn Jahren im Gefängnis, davon neun
in kompletter Isolierhaft, in einer Situation, die für jeden anderen voll-
25 Vgl. Papst Benedikt XVI., Spe salvi: Die Überschrift des ersten Teils der Enzyklika, der
mit Nr. 32 beginnt, heißt: Das Gebet als Schule der Hoffnung.
26 Papst Benedikt XVI., Spe salvi, 32.
32

4.4 Page 34

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6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG IST
kommen hoffnungslos gewesen wäre, ist ihm das Hören auf Gott, das
Redenkönnen mit ihm zu einer Kraft der Hoffnung geworden, die ihn
dort schon sowie nach seiner Freilassung zu einem authentischen Zeu-
gen der Hoffnung werden ließ, „der großen Hoffnung, die auch in den
Nächten der Einsamkeit nicht untergeht“.27
Als Don-Bosco-Familie werden wir bedeutsame Schritte machen, wenn
wir, in allen Zweigen dieses vom Heiligen Geist geliebten, so dichten
Baumes, in der aus dem Gebet entstehenden Schule der Hoffnung vor-
wärtsgehen und Seite an Seite mit unseren jungen Menschen und ande-
ren Menschen, denen wir begegnen, unterwegs sind.
6.3. Lasst uns mit dem Sinn für die Mühen des täglichen
Lebens wachsen.
Auftrag: Helfen wir den jungen Menschen und ihren Familien und
dem Volk Gottes, die Gaben, die Gott uns gibt, zu entdecken, ohne zu
klagen, indem wir Ziele vorschlagen, die begeistern und Eintönigkeit
und Mittelmäßigkeit beseitigen.
Machen wir den Alltag zu einer kostbaren Gelegenheit, um trotz Mühse-
ligkeit und Müdigkeit zu erfahren, dass es eine Liebe gibt, die uns über-
steigt, und dass unsere Arbeit vor Gott nicht gleichgültig ist und deshalb
auch nicht gleichgültig für die Entwicklung des Lebens, unseres Lebens,
der Geschichte selbst, die wir versuchen aufzubauen, und des Reiches
Gottes, zu dessen Verwirklichung wir beitragen möchten.
Ich denke, dass dies ein wunderbarer Horizont ist, um zur Hoffnung zu
erziehen. Vor allem für die Gewissheit, die aus dem Glauben kommt und
nicht nur bestätigt, dass Gott sich niemals an Großherzigkeit übertreffen
lässt, sondern auch, dass Gott handelt und uns immer überrascht, auch
mitten in unseren Schwierigkeiten.
Außergewöhnliches passiert nur, wenn man beginnt, die kleinen,
gewöhnlichen Dinge zu leben; der Alltag auch eines jeden Christen
27 Ebd.
33

4.5 Page 35

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6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG IST
besteht aus Wiederholungen, harter Arbeit und wenig Belohnungen,
aber auch aus leisen, inneren Freuden, aus echten Begegnungen, aus
Wundern, die die Seele überraschen.
Das Verrinnen der Tage verlangt nach einer geduldigen Rückkehr zu sich
selbst, um sich des eigenen Lebens bewusst zu werden. Hoffnung und
Geduld sind zwei Haltungen, die wir als Christen gerade in unserer so
schnelllebigen Welt bezeugen sollten. Das Wuchern der Angst in unserer
Gesellschaft ist auch der Tatsache geschuldet, dass das Gefühl für das
Warten, und damit für die Geduld und die Hoffnung, verloren gegangen
ist. Deswegen sind Hoffnung und Geduld eng miteinander verbunden
und der Akt des Hoffens trägt schon zum Bestehen der Probe bei.
Das ist auch möglich, weil es ein für unseren salesianischen Geist
typisches „natürliches Vertrauen“ gibt, das uns veranlasst, auf die natür-
lichen und übernatürlichen Ressourcen eines jeden Menschen, und vor
allem eines jeden jungen Menschen, zu vertrauen. Es drängt uns, nicht
die Zeit zu beklagen, in der wir leben, sondern die Werte in der Welt und
in der Geschichte (auch in diesen schwierigen Zeiten) zu würdigen und
„das Gute zu behalten“ (1 Thess 5,21). In der Tat teilen wir mit dem Kar-
dinal Nguyen Van Thuan die Überzeugung, dass die Angewohnheit zu
jammern wie eine ansteckende Epidemie ist, deren Symptome der Pes-
simismus, der Verlust des Friedens, Ängste und der Verlust der Leiden-
schaft für das Leben, die aus der Verbundenheit mit Gott entsteht, sind.
Don Bosco hatte erfahren, dass nichts den Wert von authentischen
Beziehungen, des Gefühls, geliebt, Teil einer Familie und zuhause zu
sein, ersetzen kann. Diese Beziehungen waren eine mächtige Form des
Schutzes gegen die Armut und Einsamkeit seiner Jungen. Don Bosco war
nämlich ein Meister darin, das Glück in den kleinen Dingen zu finden, in
der Aufmerksamkeit, die er jedem schenkte. Er zeigte, wie der Schatz des
Präventivsystems in liebevollen Begegnungen und durch die Pflege von
Beziehungen bewahrt werden kann. Kleine Gesten, die sich manchmal
in der Anonymität des Alltags verlieren; Gesten der Zärtlichkeit, Zunei-
gung, des Mitgefühls, die dennoch entscheidend und wichtig für die
Hoffnung der anderen sind. Es sind vertraute Gesten der Aufmerksamkeit
34

4.6 Page 36

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6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG IST
für die Besonderheiten und Details des Alltags, die dafür sorgen, dass das
Leben Sinn hat und es unter uns Gemeinschaft und Kommunikation gibt.
6.4. Lasst uns die Hoffnung vor allem in den schwierigen
Zeiten des Verlusts leben.
Auftrag: Lassen wir uns von Gott erziehen. Vertrauen wir vor allem in
den dunklen Augenblicken auf ihn. Die heilige Teresa von Avila, eine
große Mystikerin, hat erkannt, dass Leere eine Einladung Gottes ist,
„weiterzugehen“.
Wir alle haben schwierige Zeiten des Verlusts im Leben erfahren. Auf die
eine oder andere Art sind wir gerufen, mit manchen persönlich schmerz-
haften, menschlich schwierigen Erfahrungen ins Reine zu kommen. Manch-
mal können die Tage, die Tätigkeiten, das Gebet, das ganze Leben uner-
wartet leer, erloschen erscheinen.
Aber zusammen mit dem Leid und dem Schmerz, die in jedem mensch-
lichen Leben gegenwärtig sind, erbeben wir vor Staunen und Hoffnung.
Denn das „Maß der Humanität bestimmt sich ganz wesentlich im Ver-
hältnis zum Leid und zum Leidenden“.28
Leid und Schmerz scheinen im Leben aller Menschen in dem einen oder
anderen Moment gegenwärtig zu sein. Jesus hat weder das Leid geliebt
noch es je gerechtfertigt. Im Gegenteil, angesichts von jemanden, der
vom Schmerz gezeichnet ist, ist er gerührt und oft heilt er den Kranken.
So zeigt er, dass es sich überhaupt nicht um den Willen Gottes handelt.
Angesichts dessen sind wir, anstatt uns passiv, müde und enttäuscht in
uns selbst zurückzuziehen, aufgefordert, Mut zu pflegen, was im mora-
lischen und geistlichen Leben mit dem Begriff Stärke bezeichnet wird.
In der Tat ist diese für die Lebensqualität unentbehrliche Stärke an
die Bewusstheit des Glaubens gebunden.
28 Papst Benedikt XVI., Spe salvi, 38; vgl. Papst Franziskus, „Un plan para resucitar“ a la
Humanidad tras el coronarivus (PDF), in Vida Nueva Digital, 17. April 2020.
35

4.7 Page 37

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6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG IST
Viele Gläubige lassen sich gerade in den schwierigsten Momenten ihres
Leids erkennen, wenn sie von Problemen belastet sind, die sie zu über-
fordern scheinen. Diese Prüfungen dürfen nicht als zufällige Ereignisse
gedeutet werden, sondern als Augenblick einer notwendigen Reinigung
und als Einladung, die bis dahin angewandten Maßstäbe zurückzulas-
sen, um eine noch innigere Gotteserfahrung zu machen, sich von Ihm
erziehen zu lassen und auf diese Art auch die empfangene Sendung zu
erfüllen. Wir sind aufgefordert, auch in dunklen Augenblicken vertrau-
ensvoll weiterzugehen.
Als Gläubige sind wir nämlich davon überzeugt, dass Gott allein die
Macht hat, äußerst schwierige Momente unseres Lebens in sichere Hoff-
nung zu verwandeln, dass unser Leid, unser Schmerz und unsere Trau-
rigkeit nicht vergebens oder nutzlos sind.
Es ist, als ob der Mensch an einem Scheideweg stünde, an dem er ent-
scheiden muss, ob er aufgibt oder neue menschliche und geistliche
Kräfte schöpfen will. Im letzteren Fall sind der Kampf, die Spannungen,
die Konflikte zwar vorhanden, aber sie bleiben stillgelegt; wir sind geru-
fen, die Hoffnung in dunklen Zeiten zu bewahren, weil das Evangelium
immer gute Nachrichten verkündet: Das Leben kann neu beginnen, wir
können von neuem geboren werden. „Spes ultima dea“, sagten die anti-
ken Schriftsteller: „Hoffnung stirbt zuletzt“. Die Hoffnung ist der letzte
Schutzwall des Lebens. Sie ist wie das Licht des Sonnenuntergangs: Es
schenkt den Dingen noch Leben, bevor sie in der Dunkelheit verschwin-
den, und es erlaubt uns, den Weg nach Hause zu sehen, bevor die Nacht
hereinbricht und alles in die Dunkelheit eingehüllt wird.
6.5. Die Hoffnung als entschiedene Rückkehr zu den
Armen und Ausgeschlossenen.
Auftrag: In unserer Familie besteht die Treue zum Herrn mit Don
Bosco vor allem in der bevorzugten Option für die Ärmsten, Verlasse-
nen und Ausgeschlossenen.
36

4.8 Page 38

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6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG IST
Deshalb wird heute mehr als je zuvor von uns erwartet, dass wir uns als
Don-Bosco-Familie charismatisch durch diese ursprüngliche Option für
die Armen und Ausgeschlossenen, für die Abgeschriebenen, die Verlas-
senen, für diejenigen, die keine Stimme und keine Würde haben, aus-
zeichnen. Es gibt keinen anderen Weg für uns. Die Treue zum Herrn in
Don Bosco erlegt es uns auf, uns im Schmerz des anderen zu erkennen.
In vollkommener Gemeinschaft mit der Tradition und der reinen Leh-
re der Kirche, von den frühen lateinischen und griechischen Kirchen-
vätern bis zu den letzten Päpsten, können wir nicht anders, als verant-
wortlich für diese Welt und das Leben eines jeden zu sein und uns dafür
verantwortlich zu fühlen. Jede Ungerechtigkeit gegenüber einem Armen
ist eine offene Wunde und ein Angriff (auch wenn wir es nicht glauben)
auf unsere Würde. Wir dürfen niemals vergessen, dass wir nicht allein für
uns selbst leben. Deshalb lässt die Hoffnung die Nächstenliebe beharr-
lich sein. Jesus Christus lädt uns zu dieser hartnäckigen Liebe ein, er lädt
uns ein, den Verstand und das Herz so offen wie möglich für sein Han-
deln zu halten, das genauso unvermittelt kommt wie negative Situatio-
nen, denen wir begegnen. Wir sollen ein wirksames „Feldlazarett“ für
alle und besonders für verletzte junge Menschen werden und sein. Das
erfordert von uns mehr Mut, mehr Vertrauen und Engagement. Dies ist
nicht der Zeitpunkt, um „die Ruder wieder ins Boot zu holen“!
Als geistliche, aus dem pastoralen Herzen Don Boscos geborene Familie
sind wir „die Hoffnung für diejenigen, die keine Hoffnung haben“: die
bedürftigsten und verletzlichsten jungen Menschen, die im Mittelpunkt
der Aufmerksamkeit Gottes stehen und die immer unsere bevorzugte
Zielgruppe sein müssen.
Sie sind für uns keine „Mauer“, sondern eine „Tür“: Das, was die Armen
uns lehren, ist die Autorität des Leidenden und Ausgeschlossenen. Enga-
gieren wir uns, um die Hoffnung in das Herz dieser Menschen zu bringen,
um ihnen Trost zu schenken, um die Schwachen und Bedürftigen aufzu-
richten, um auf die verschiedenen menschlichen und geistlichen Bedürf-
nisse einzugehen, die uns täglich herausfordern. Die Hoffnung hat also
37

4.9 Page 39

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6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG IST
mit Ethik und Handeln zu tun. Hierin unterscheidet sich die christliche
Hoffnung von einem bloßen Optimismus – wie ich bereits erwähnte.
Wir dürfen uns nicht der Hoffnung berauben lassen, sagt Papst Fran-
ziskus, geschweige denn die verschiedenen Zeichen der Hoffnung und
des Wiederaufblühens, die in der Welt auftauchen, ersticken. In der Tat,
wie viele Menschen sind glücklich, Jesus zu lieben, indem sie ihm in den
Armen dienen. Die Großherzigen und Solidarischen liefern uns wertvolle
Lehren durch ihr Leben! Danken wir dem Herrn für diese Beispiele für
ein konsequentes, von Liebe durchdrungenes Leben. Männer und Frau-
en, die für die Armen leben, sind Zeichen der Hoffnung, die der Herr auf
unseren Weg gestellt hat: Ihr Leben haben diese „normalen“, aber hel-
denhaften Menschen den Schwestern und Brüdern geschenkt. Es ist ein
einfaches, aber felsenfestes Heldentum, im Evangelium gegründet und
durch das Leben verkündet.
6.6. Sich im Schmerz der anderen wiedererkennen.
Auftrag: Don Bosco, dem Vater unserer salesianischen Familie, treu
zu bleiben, bedeutet heute, aufmerksam an der Seite eines jeden zu
stehen, der unter jeglicher Art von Ungerechtigkeit leidet.
„Wie gefährlich und schädlich ist diese Gewöhnung, die uns dazu führt,
das Staunen, die Faszination und Begeisterung zu verlieren, das Evan-
gelium der Brüderlichkeit und der Gerechtigkeit zu leben!“29, schreibt
Papst Franziskus in Evangelii gaudium. Und dies hat ebenso viel mit den
Ungerechtigkeiten zu tun, die aus den Wirtschaftssystemen entstehen,
die die Ursache für so viel Armut sind, wie mit jeder Art menschlichen
Leids.
Beim Lesen des Evangeliums besteht kein Zweifel, dass die Wirtschaft
und die Güter im Dienst der Menschen stehen müssen, vor allem derjeni-
gen, die in echter Armut leben. Daher darf kein Christ mit einem echten
sozialen Gewissen und Gerechtigkeitssinn, und noch viel weniger dür-
29 Papst Franziskus, Evangelii gaudium, 179.
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4.10 Page 40

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6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG IST
fen wir Ordensleute und Laien der Don-Bosco-Familie eine Wirtschafts-
form akzeptieren, die sich ausschließlich auf die „Logik des Wachstums“
stützt (die nach dieser Pandemie so sehr gewünscht ist), wenn diese eine
sichere Ursache für den Anstieg der Armut und der Armen ist, denn sie
gehen immer Hand in Hand.
Nein zu sagen zu einer Ökonomie der Ausgrenzung bedeutet also,
Nein zu sagen zu jeder politischen und wirtschaftlichen Initiative, die die
Schwächsten vergisst. Christen und Mitglieder der Don-Bosco-Familie
müssen sich in dieser Lage unbehaglich fühlen. Angesichts dieser Reali-
täten kann man nicht „neutral“ oder „ohne Meinung“ bleiben. Die Wür-
de unserer Brüder und Schwestern steht auf dem Spiel; da müssen wir
gewiss vom hohen Ross unserer Sicherheiten herabsteigen, um auf ihre
Realität zu schauen, ohne uns zu schämen. Das ist es, was der Herr Jesus
Christus getan hat, auch wenn es als ein gesellschaftlich und politisch
unkorrektes Verhalten betrachtet wurde.
Und obwohl ich weiß, dass das, was ich gleich sagen werde, für uns – für
mich als Erstes – unbequem sein mag, glaube ich, dass wir den Schmerz
der anderen als unerträglich für unser Gewissen empfinden müssen. Die-
ser Schmerz zeigt sich in der Realität der Wohnungslosen, der Zwangs-
migranten, der Menschen, die „zu nichts mehr dienen“, der Kriege, der
Attentate, der Verfolgungen aus rassistischen oder religiösen Gründen,
des sexuellen Missbrauchs, des Menschen- und Organhandels, der Netz-
werke der Prostitution, der verlassenen Minderjährigen, der Kindersol-
daten: ein unendliches Meer an schmerzlichen Realitäten.
Wir dürfen dies alles nicht akzeptieren, weil wir diese wunderbare Welt
lieben, in die Gott uns gestellt hat, weil wir die Menschheit lieben, zu der
wir gehören – mit den Dramen, die ich eben beschrieben habe, und der
Müdigkeit zu sehen, dass sich nichts radikal zu ändern scheint –, wir lie-
ben auch die Sehnsüchte und die Hoffnungen und die Erde als gemeinsa-
mes Haus. Deswegen ist unser Heute, ist unsere post-pandemische Welt
eine kostbare Gelegenheit, uns klar zu positionieren und unsere jungen
Menschen zu sozialem und politischem Engagement im Licht des Evan-
geliums und der Hoffnung, die es ausstrahlt, zu erziehen.
39

5 Pages 41-50

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5.1 Page 41

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6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG IST
6.7. Sich zur Hoffnung zu bekehren, bedeutet,
an den Plan des Evangeliums zu glauben.
Auftrag: Deshalb können wir als Don-Bosco-Familie nicht umhin-
kommen zu zeigen, wer der Grund unserer Hoffnung ist, der Gott Jesu
Christi und sein Evangelium.
In den größten Krisen verschwinden manche Gewissheiten, viele „Sicher-
heiten“, die wir zu besitzen glaubten, Werte, die in Wirklichkeit keine
sind. Aber tatsächlich bleiben die großen Werte des Evangeliums und
seine Wahrheit erhalten, wenn opportunistische Ideen oder kurzlebige
Philosophien verschwinden. Die Werte des Evangeliums verschwinden
nicht, werden nicht „getilgt“, gehen nicht unter. Deshalb dürfen wir als
Don-Bosco-Familie nicht darauf verzichten zu zeigen, woran wir glau-
ben.
Die Evangelisierung muss für uns eine existenzielle und echte Freude
sein, die im Geheimnis Christi wurzelt, dem menschgewordenen, gestor-
benen und auferstandenen Gottessohn, der das Innerste der menschli-
chen Wirklichkeit durchdringt. Das Evangelium ist die unbedingte Bot-
schaft der Freude, die Stärke und Wagemut verleiht, um jede Traurigkeit
zu überwinden (vgl. Röm 9,2). Das Evangelium ist der lebendige Atem
der Hoffnung: eine Hoffnung auf den Herrn, der mitten unter uns ist und
uns ständig entgegenkommt; eine Hoffnung, die Freude hervorruft, eine
Hoffnung, die uns ermutigt und uns zu konkretem Einsatz zugunsten der
anderen und in der Geschichte anspornt, eine Hoffnung, die uns als Don-
Bosco-Familie spüren lässt, dass wir als Zeichen und Träger seiner Liebe
Mittler Gottes für die anderen sind: eine Hoffnung, die uns für das ewige
Leben öffnet, das hier schon begonnen hat.
„Glaube bedeutet auch, Gott zu glauben, zu glauben, dass es wahr ist,
dass er uns liebt, dass er lebt, dass er fähig ist, auf geheimnisvolle Weise
einzugreifen, dass er uns nicht verlässt, dass er in seiner Macht und sei-
ner unendlichen Kreativität Gutes aus dem Bösen hervorgehen lässt. [...]
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5.2 Page 42

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6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG IST
Glauben wir dem Evangelium, das sagt, dass das Reich Gottes schon in
der Welt da ist, hier und dort auf verschiedene Art und Weise wächst“.30
Wie ermutigend sollte der Gedanke für uns sein, dass niemand für
sich selbst Hoffnung ist, aber dass jeder von uns das Echo der Hoffnung
für die anderen sein kann, jener echten Hoffnung, die die göttlichste Wirk-
lichkeit ist, die im Herzen eines Menschen existieren kann.
Denn „[w]enn Jesus die Welt überwunden hat, dann ist er fähig, in
uns alles zu überwinden, was sich dem Guten widersetzt. Wenn Gott mit
uns ist, dann wird niemand uns jene Tugend rauben, die wir unbedingt
brauchen, um zu leben. Niemand wird uns die Hoffnung rauben.“31
6.8. Eine konkrete Verpflichtung für die Don-Bosco-
Familie
Lasst uns die letzte Enzyklika des Papstes, Fratelli tutti, die die Geschwis-
terlichkeit in den Mittelpunkt stellt, verbreiten und lesen (allein, in der
Familie, in Gruppen). Diese bietet uns eine wunderbare Reflexion darü-
ber, wie wir die Welt heilen, wie wir die menschlichen und ökologischen
Schäden am gemeinsamen Haus reparieren und die Folgen der wachsen-
den sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit verringern können. Mit
dem Papst sind wir sicher, dass es uns nur als Geschwister gelingen wird,
das Erbe, das der Schöpfer in unsere Hände gelegt hat, zu bewahren,
indem wir der Versuchung widerstehen, uns zu spalten und die anderen
zu unterdrücken. Nur gemeinsam werden wir eine bessere Welt erschaf-
fen, die den zukünftigen Generationen christliche Hoffnung gibt.
6.9. Eine Wahrheit, die wir als Ergebnis dieses
Jahresleitgedankens vertiefen müssen
Ich beende diesen Kommentar des Jahresleitgedankens 2021 mit dem
klaren Ziel, ein ganz besonderes Gedenken zu hinterlassen, mit einigen
Zeilen, die sehr gut ausdrücken, was ich in diesem Text mitgeteilt habe
und die ich einlade zu verinnerlichen. Der letzte Gedanke gilt natürlich
30 Ebd., 278.
31 Papst Franziskus, Generalaudienz, Mittwoch, 27. September 2017.
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5.3 Page 43

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6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG IST
unserer Mutter Maria, die die Geburt ihres unendlich geliebten Sohnes
erwartend ohne jeden Anspruch in das große Projekt der Erlösung einge-
treten ist.
Wir Christen leben „von der Hoffnung [...]: Der Tod ist nur das vorletzte
Wort, das letzte Wort hat Gott selbst. Gottes letztes Wort heißt Auferste-
hung, Leben in Fülle, ewiges Leben. Wir Menschen haben nicht alles in
der Hand, aber wir sind in Gottes Hand: Das ist die Gelassenheit schen-
kende Gewissheit von Menschen, die sich auf die Treue Gottes verlassen
und auf ihn vertrauen. Die gestaltende Kraft im Leben der Glaubenden
ist die Kraft des Heiligen Geistes. In unsicheren Zeiten dürfen wir uns
vertrauensvoll seiner Führung anvertrauen.“32
32 G. Augustin, Leben bezeugen in einer sterblichen Welt, in: W. Kardinal Kasper, G.
Augustin (Hrsg.), Christsein und die Corona-Krise. Das Leben bezeugen in einer sterbli-
chen Welt, Ostfildern: Grünewald, 3. Aufl. 2020, S. 76.
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7. MARIA VON NAZARETH, MUTTER GOTTES, STERN DER HOFFNUNG
7. MARIA VON NAZARETH, MUTTER GOTTES,
STERN DER HOFFNUNG
Maria weiß als Mutter gut, was es bedeutet, Vertrauen zu haben und ent-
gegen jeder Hoffnung zu hoffen, im Vertrauen auf den Namen Gottes.
Ihr „Ja“ zu Gott hat alle Hoffnung für die Menschheit erweckt.
Maria hat die Ohnmacht und Einsamkeit bei der Geburt ihres Sohnes
erlebt; sie hat in ihrem Herzen die Ankündigung eines Schmerzes, der ihr
Herz durchbohren wird, bewahrt (vgl. Lk 2,35); sie hat darunter gelitten,
den Sohn als „Zeichen des Widerspruchs“ missverstanden und zurück-
gewiesen zu sehen.
Sie hat Feindseligkeit und Zurückweisung ihrem Sohn gegenüber
erlebt, bis sie am Fuß des Kreuzes auf Golgotha verstand, dass die Hoff-
nung nicht sterben würde. Deswegen ist sie bei den Jüngern als Mutter
geblieben – „Frau, siehe, dein Sohn!“ (Joh 19,26) – als Mutter der Hoff-
nung.
„Heilige Maria,
Mutter Gottes, unsere Mutter,
lehre uns mit dir glauben
und hoffen und lieben.
Zeige uns den Weg zu seinem Reich.
Stern des Meeres,
leuchte uns
und führe uns auf unserem Weg!“33
Amen.
Don Ángel Fernández Artime SDB
Generaloberer
Rom, den 25. Dezember 2020
Weihnachten
33 Papst Benedikt XVI., Spe salvi, 50.
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