ACG_435_de


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1.1 Page 1

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103. Jahrgang
AMTSBLATT
DES GENERALRATES
DER SALESIANER DON BOSCOS
Offizielles Animations- und Mitteilungs-
or­gan für die Salesianische Kongregation
Januar – Juni 2021
Nr. 435
INHALT
I. BRIEF DES GENERALOBEREN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 - 33
II. ORIENTIERUNGEN UND WEISUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . (fehlen)
II. VERFÜGUNGEN UND NORMEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (fehlen)
IV. AKTIVITÄTEN DES GENERALRATES. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 - 45
V. DOKUMENTE UND NACHRICHTEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 - 56

1.2 Page 2

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IMPRESSUM
Herausgeber:
Deutsche und österreichische Provinz der Salesianer Don Boscos
Provinzialat der Salesianer Don Boscos
St.-Wolfgangs-Pl. 10
81669 München
Tel. 089/48008-421
provinzialat@donbosco.de
Provinzialat der Salesianer Don Boscos
St.-Veit-Gasse 25
1130 Wien
Österreich
Tel. 0043/1/87839
provinzialat@donbosco.at
Italienische Originalausgabe:
Atti del Consiglio generale della Società salesiana di San Giovanni Bosco
Organo ufficiale di animazione e di comunicazione per la congregazione salesiana
Anno CIII, gennaio-giugno 2021, N. 435
Società di San Francesco di Sales
Sede Centrale Salesiana
Via Marsala, 42
00185 Roma, Italia
Übersetzung:
Fr. Barbara Klose
Redaktion:
Prof. Dr. Clemens Schwaiger SDB
Satz & Druck:
Don Bosco Druck & Design, Ensdorf

1.3 Page 3

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BRIEF DES GENERALOBERN
Von der Hoffnung bewegt:
„Seht, ich mache alles neu!“ (Offb 21,5)
JAHRESLEITGEDANKE 2021
Vorbemerkung.
1. EINE WELTWEITE REALITÄT, DIE UNS HERAUSFORDERT
UND DIE WIR NICHT IGNORIEREN KÖNNEN.
2. WAS MEINEN WIR MIT DER HOFFNUNG, VON DER WIR
SPRECHEN?
3. WELCHE INTERPRETATION KÖNNEN WIR ALS GLÄUBIGE
ANBIETEN?
4. EIN BLICK AUF UNSERE URSPRÜNGE UND AUF VIELE
GLAUBENSZEUGEN IN UNSERER FAMILIE.
5. SALESIANISCHE
AUGENBLICKS.
LESART
DES
GEGENWÄRTIGEN
6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG
IST. 6.1 Entdecken wir erneut, dass Glaube und Hoffnung Hand in
Hand gehen. 6.2 Lernen wir, dass das Gebet Schule der Hoffnung ist.
6.3 Lasst uns mit dem Sinn für die Mühen des täglichen Lebens wach-
sen. 6.4 Lasst uns die Hoffnung vor allem in den schwierigen Zeiten
des Verlusts leben. 6.5 Die Hoffnung als entschiedene Rückkehr zu den
Armen und Ausgeschlossenen. 6.6 Sich im Schmerz der anderen wie-
dererkennen. 6.7 Sich zur Hoffnung zu bekehren, bedeutet, an den Plan
des Evangeliums zu glauben. 6.8 Eine konkrete Verpflichtung für die
Don-Bosco-Familie. 6.9 Eine Wahrheit, die wir als Ergebnis dieses
Jahresleitgedankens vertiefen müssen.
7. MARIA VON NAZARETH, MUTTER GOTTES, STERN DER
HOFFNUNG.
1

1.4 Page 4

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Vorbemerkung
In allen Teilen der Welt, egal welcher Nation oder Religion, wird das in allen
Köpfen festhaftende „Bild des Jahres“ ein alter, in weiß gekleideter Mann
sein, ganz allein auf dem großen, weiten Petersplatz in Rom, am 27. März
2020, einem regnerischen Nachmittag gegen Sonnenuntergang. Dieser
Mann war Papst Franziskus, der noch nie während eines Gebetes so allein
war, aber gleichzeitig auch noch niemals so von der gesamten Menschheit
begleitet wurde. Mit dieser Geste hat er unserer Welt mit ihren verschie-
denen Ethnien, Kulturen, Nationen und Religionen ins Gedächtnis gerufen,
dass Gott fähig ist, auch äußerst verheerende und schmerzliche Realitäten
zum Guten zu führen. Und er hat uns aufgefordert, barmherzig auf unseren
armseligen Glauben zu schauen.
Was wir in den letzten elf Monaten erlebt haben, ist zweifelsohne eine
Herausforderung für uns, die wir nicht ignorieren können, so als ob nichts
passiert wäre oder als ob es jetzt vorbei wäre.
EINE WELTWEITE REALITÄT, DIE UNS HERAUSFORDERT UND
DIE WIR NICHT IGNORIEREN KÖNNEN
Ich könnte mit keiner einzigen Seite den Jahresleitgedanken 2021 kom-
mentieren, wenn ich das ignorieren würde, was gleichzeitig die ganze
Menschheit in allen Ländern getroffen hat. Wir leben in sehr schwierigen
Zeiten; wir haben etwas erlebt, was wir uns nie hätten vorstellen oder
erahnen können. Wir stellen uns viele Fragen, die noch immer nicht beant-
wortet werden können, und hören, dass das baldige Ende dieser Pandemie
verkündet wird, obwohl Bestätigungen in diesem Sinn fehlen. All das ist
Folge von COVID-19: eine Infektionskrankheit, die durch ein bis dahin dem
Menschen unbekanntes Virus verursacht wird.
Das Außergewöhnliche dieses gegenwärtigen Augenblicks berührt uns
tief. In der Tat haben nicht einmal die sozialen, politischen und wirtschaft-
lichen Krisen der letzten Jahrzehnte so viel Angst in der Welt gesät wie
diese Pandemie. Angst, Schmerz und Unsicherheit, Tränen, Verlust und
Verzweiflung haben die Herzen der Reichen und Armen gefüllt, von
berühmten und unbekannten Menschen, von großen und kleinen. Es han-
delt sich zweifelsfrei um die größte globale Krise der letzten siebzig Jahre.
Und die Entscheidungen, die von den Regierungen getroffen werden
müssen, werden für sehr lange Zeit die ganze Welt beeinflussen: nicht nur
2

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die Wirtschaft, sondern auch die Politik, die Kultur und selbst die Sicht des
menschlichen Wesens.
Während dieser Monate haben wir vielen großzügigen Gesten der Hin-
gabe und des Opfers beigewohnt. Es scheint mir gerechtfertigt, unter allen
besonders an den heldenhaften Einsatz der im Gesundheitswesen Tätigen
zu erinnern, die bis zur Erschöpfung gearbeitet haben; an die Menschen,
die die für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendigen Dienstlei-
stungen garantiert haben; an die Menschen, die sich um die gesellschaft-
liche Ordnung gekümmert haben, und an einige Politiker, nicht alle, die ihre
eigene Verantwortung ehrlich und vorausschauend wahrgenommen und
parteipolitische Rivalitäten beiseitegelassen haben.
Dennoch gab es auch durch Egoismus gekennzeichnete, beschä-
mende Situationen, in denen man medizinische Versorgung oder Ausrü-
stung nicht teilen wollte, ohne zu verstehen, dass diese globale wirtschaft-
liche Krise eine weltweite Antwort fordert und immer mehr fordern wird.
Auf jeden Fall sprechen die Zahlen für sich. Am Ende des Jahres 2020
sind 80 Millionen Menschen infiziert und 1.800.000 gestorben. Darüber
hinaus zeigte sich COVID-19 von seiner schlechtesten Seite: Isolierung,
Tod in totaler Einsamkeit, gebrochene Herzen bei vielen Familien.
Es besteht kein Zweifel, dass dies alles viele unserer angeblichen
Sicherheiten ins Wanken gebracht hat. Alle Länder versuchten ihren
Staatsangehörigen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Es wurde eine
in der Kriegsführung übliche Sprache genutzt: „Alle gegen das Virus! Wir
werden es besiegen“. Man sagte: „Früher oder später werden wir es
sicherlich besiegen“. Ich war sehr beeindruckt, als vor einigen Monaten
weltweit einige Städte sich selbst und ihre eigenen Einwohner mit Slogans
ermutigt haben, die die Angst vertreiben sollten. Es handelte sich um
Botschaften wie die folgenden:
In Bristol trägt ein Paddington-Bär an einem Haus die folgende Bot-
schaft: „Die Kunst des Überlebens. Schützt Euch“.
In Tokio befand sich auf dem Gebäude „Tokyo Skytree“ die folgende
Botschaft: „Gemeinsam können wir siegen“.
In Mexikostadt hat das Hotel Barceló folgenden Schriftzug auf sein
Gebäude geschrieben: „Mexiko wird vereint widerstehen und stärker
daraus hervorgehen“.
3

1.6 Page 6

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In der belgischen Stadt Antwerpen konnte man diese Botschaft auf
einem Haus lesen: „Auch dies wird vorübergehen. Eine bessere Zeit
wird kommen. Und sie wird ruhmreich sein“.
In Ontario, Kanada, haben viele Hotels an den Niagarafällen die Zimmer-
beleuchtung genutzt, um herzliche, hoffnungsvolle Botschaften zu
schreiben.
Und in Vancouver sagt eine auf die Wand eines geschlossenen
Geschäftes gemalte Botschaft folgendes: „Wir lieben dich Vancouver.
Pass auf dich auf. Halte durch. Kehre bald zurück. Bleibt auf Distanz
und bleibt verbunden. Wir schaffen das. Wir werden auch das
überstehen“.
Sicherlich betrachte ich all das mit Respekt. Wie sollte es anders sein.
Aber es erscheint mir wenig, sehr wenig, unzureichend, um das Herz und
das Leben zu verstehen, zu erklären und sogar einzubeziehen. Ich habe
das Gefühl, dass wir etwas viel Tieferes und Lebendigeres brauchen,
etwas, das es uns erlaubt, das heute Erlebte in unseren Herzen ankommen
zu lassen und uns innerlich zu beruhigen. Dabei dürfen wir andererseits
nicht vergessen, dass es viele weitere Pandemien gibt, die sich gerade in
unserer Welt abspielen. Diese schlagen hart zu, wenn auch nicht alle, und
sie machen nicht so viel Lärm, weil sie weit entfernt sind. Wir dürfen sie als
Gläubige und als Don-Bosco-Familie nicht ignorieren und vergessen. Ich
beziehe mich auf die 32 Kriegsherde, die aktuell während COVID-19 aktiv
sind; ich spreche vom Waffenhandel, der nicht angetastet oder verringert,
sondern sogar vermehrt wurde. Ich denke, dass andere schreckliche
endemische Situationen nicht weniger schlimm sind als die heutige Pande-
mie, auch wenn sie keinen Einfluss auf die Wirtschaft der Länder haben
und deswegen nicht zählen. Papst Franziskus stellt dies ganz richtig mit
den folgenden Worten über die Jugend dar, die aber auch Erwachsene und
manchmal ganze Familien betreffen: Viele „Jugendliche [leben] in Kriegs-
gebieten und [erleiden] zahllose Formen der Gewalt wie Entführung,
Erpressung, organisiertes Verbrechen, Menschenhandel, Sklaverei und
sexuelle Ausbeutung, Kriegsvergewaltigung usw. [...] Zahlreiche junge
Menschen leben in einer Umgebung von Verbrechen und Gewalt – weil sie
dazu gezwungen werden oder keine Alternative haben: als Kindersoldaten,
in bewaffneten kriminellen Banden, im Drogenhandel, im Terrorismus“.1
1  Papst Franziskus, Christus vivit, 72.
4

1.7 Page 7

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Und dann frage ich mich: Was bedeutet diese „neue Normalität“, von der
so viel gesprochen wird? Was bleibt in jedem von uns nach diesem Jahr
zurück? Wird es zu einem verrückten Wettrennen kommen, um die „verlo-
rene Zeit“, die verlorene Wirtschaft wieder aufzuholen? Wird es nur ein
schrecklicher Alptraum gewesen sein oder wird im Gegenteil etwas Posi-
tives in vielen Menschen, in der Organisation der Gesellschaften zurück-
bleiben? Bringt die „neue Normalität“ etwas wirklich Neues, wird sie
einiges zum Besseren ändern?
Ich weiß nicht, was uns erwartet, aber ich ahne, dass es einen Weg gibt,
den wir als Don-Bosco-Familie gehen könnten und der uns sehr gut tun
würde, indem wir gleichzeitig unseren bescheidenen Beitrag für andere
anbieten.
2. WAS MEINEN WIR MIT DER HOFFNUNG, VON DER WIR
SPRECHEN?
„Schau, ich habe es in diesen Monaten entdeckt: Die Hoffnung
ist wie das Blut: Wir sehen sie nicht, aber sie muss da sein. Das
Blut ist das Leben. So ist die Hoffnung: Sie ist etwas, das
drinnen zirkuliert, das zirkulieren muss, das dich lebendig füh-
len lässt. Wenn du sie nicht hast, bist du tot, bist du erledigt,
gibt es nichts zu sagen ... Wenn du keine Hoffnung hast, ist
das, als wenn du kein Blut mehr hättest ... Vielleicht bist du
unversehrt, aber du bist tot. Genau so ist es“.2
In diesen Monaten habe ich mehrmals gedacht, dass die Art, wie wir
das deuten, was wir gerade erleben müssen, nicht wie üblich sein darf. Wir
werden nicht von Interessen angetrieben, die denen der Hotelketten oder
Fluggesellschaften ähneln. Es soll nicht geleugnet werden, dass das, was
auf moralische Weise Arbeitsplätze und Lebensgrundlagen schafft, an sich
gut ist, aber wir haben weder den Tourismus im Blick, der aktiviert werden
muss, noch eine wachsende Produktivität (sie sagen uns: Es braucht das
Doppelte von dem, was war, um die verlorene Zeit aufzuholen und den
Stillstand, den wir erlebt haben, zu überwinden).
Auch wenn das alles richtig ist, fehlt noch etwas in unserer Sichtweise, bei
unserer Interpretation und bei dem, was uns motiviert und zum Handeln
bewegt. Deshalb ist es für mich klar, dass wir das „Danach“ nicht angehen
2  G. Colombero, La malattia: una stagione per il coraggio, Rom: Paoline 1981, S. 66. [A.d.Ü.: Eigene
Übersetzung]
5

1.8 Page 8

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können, uns einer „neuen Normalität“ nicht stellen können, ohne aus der
Hoffnung zu leben. Keine Zukunft ist absolut und endgültig, wenn sie nur
vom Menschen abhängt. Der Mensch entwirft sich selbst und streckt sich
immer aus nach etwas Anderem. Es scheint, dass das Erreichte immer
schon der halbe Weg zu etwas Neuem ist. Wir streben immer nach etwas
mehr und sind stets in Erwartung.
Das ist der Grund für die Wahl des Themas für den diesjährigen
Jahresleitgedanken.
Was ist also Hoffnung? Wovon sprechen wir, wenn wir Hoffnung sagen?
Von welcher Art Hoffnung sprechen wir?
Das ist eine Wirklichkeit, die mich fasziniert. Sehr viele Autoren haben über
Hoffnung aus sehr verschiedenen Blickwinkeln nachgedacht.3 Wir können
von Hoffnung wie von einer menschlichen Haltung sprechen. Wir können
von Erwartung, erwarten und hoffen sprechen. Ich werde keine komplexe
Unterscheidung, wie die von Thomas von Aquin vorgeschlagene vorneh-
men. Thomas von Aquin unterscheidet zwischen Hoffnung als Leiden-
schaft, Hoffnung und Stärke (oder Großmut) sowie Hoffnung als theolo-
gischer Tugend. Dafür ist hier weder der Ort noch der Augenblick. Was ich
sagen möchte, ist, dass der Mensch zu hoffen berufen ist. Und ob er will
oder nicht, er muss sich immer, mehr oder weniger bewusst, entscheiden
zwischen der Öffnung zu einem Horizont der Fülle und dem Festhalten an
den Grenzen der greifbaren „Hoffnungen“, die man fühlen und anfassen
kann.
Diese natürliche Offenheit des Menschen für die Hoffnung ist nicht
dasselbe wie die christliche Hoffnung, auch wenn sie Teil der Identität des
Menschen als Mann oder Frau ist.
So wie man in der Philosophie im Sinne des cartesianischen Prinzips
sagt: „Ich denke, also bin ich“, könnte man auch sagen: „Ich lebe, also
hoffe ich“. Ohne Hoffnung wäre das Leben kein Leben, würde der Sinn
desselben fehlen, weil die menschliche Existenz es tatsächlich nicht ertra-
gen kann, in der Verzweiflung zu leben, das heißt „ohne Hoffnung“.
3  In der Theologie und der Geschichte der Philosophie finden sich der hl. Paulus, der hl. Augustinus,
der hl. Johannes vom Kreuz, Luther, R. Bultmann und J. Moltmann, um nur einige zu zitieren.
Außerdem R. Descartes, I. Kant, C. Baudelaire und M. Heidegger, G. Marcel und J.-P. Sartre, R.
Le Senne, O. F. Bollnow und einige spanischsprechende wie Miguel de Unamuno, José Ortega y
Gasset und der große Schriftsteller Manuel Machado.
6

1.9 Page 9

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Hoffnung ist aber weder ein einfacher Wunsch, weil der Wunsch immer
etwas Konkretes und Bestimmtes anstrebt. Noch lässt sich Hoffnung auf
reinen Optimismus reduzieren, dessen Ziel in der Berechnung und Vorher-
sage eines positiven Ergebnisses besteht. Hoffnung betrifft im Gegenteil
voll und ganz den Menschen und hat etwas mit Hingabe und Vertrauen zu
tun. In der Tat ist der Mensch Projektion und Tendenz zu einem „Mehr“, zu
dem, was jenseits des Vorhersehbaren liegt, zu etwas wirklich Neuem.
Was eben beschrieben wurde, ist eine Welt, die viele Zeichen für
Unmenschlichkeit hat. Ich meine, das ist unbestreitbar und für jeden offen-
sichtlich. Wir möchten nicht, dass es so ist, aber es ist tatsächlich überall
so. Dennoch können wir auch in dieser Welt mit so vielen unmenschlichen
Merkmalen eine andere Haltung leben. Es gibt denjenigen, der klagt und
negativ eingestellt ist, mit einem verhärteten Herzen. Zum Glück gibt es
aber auch viele, die versuchen, von einer Dynamik angetrieben zu leben,
die sie dahin bringt, das Leben zu suchen, zu versuchen, das Beste zu tun,
sich darauf zu konzentrieren, aus Liebe und Dienst zu leben, in der Dyna-
mik der Hoffnung zu arbeiten. Und wenn wir von der Hoffnung bewegt
leben, erfahren wir, dass Liebe, Dienst und ein von Menschlichkeit erfülltes
Herz in einer Welt, in der es auch so viel Entmenschlichung gibt, vollen
Sinn haben. Nach unserer Sichtweise ist für den Menschen die Hoffnung
nämlich ein Bestandteil der Liebe. Das ist es, was uns der heilige Paulus
sagt, wenn er im Hohelied der Liebe im ersten Korintherbrief beteuert, dass
„die Liebe alles hofft“ (1 Kor 13,7).
3. WELCHE INTERPRETATION KÖNNEN WIR ALS GLÄUBIGE
ANBIETEN?
Diese Pandemie wird sicherlich in einigen Monaten aufhören. Andere
„Pandemien“, die in sich die Geißel der Entmenschlichung tragen, werden
nicht mit einer Impfung verschwinden. Es ist gewiss richtig, die Coronavi-
rus-Pandemie zu untersuchen und einen Impfstoff zu finden. Früher oder
später wird es einen geben. Man ist auf dem Weg dahin und wir sind
darüber sehr glücklich.
Viele quälende Fragen sind in diesen Monaten in viele Herzen gedrun-
gen. Die Frage nach dem Sinn oder Nicht-Sinn von all dem war präsent.
Das ist eine legitime und sehr menschliche Frage. Diese harte Realität des
Bösen und des Leids, die die Welt heute durchmacht, scheint die Men-
schen eher zu Empörung und Protest zu treiben als zum Glauben, eher
7

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zum Zweifel als zur vertrauensvollen Hingabe. Aber dennoch gibt es vor
oder neben diesem menschlichen Schrei (für uns Gläubige) immer Gott.
Der christliche Glaube zeigt ständig, wie Gott durch seinen Geist die
Geschichte der Menschheit begleitet, auch unter den widrigsten und
ungünstigsten Bedingungen. Er ist der Gott, der zwar nicht leidet, aber
Mitleid hat, wie es der heilige Bernhard von Clairvaux sehr schön aus-
drückt: „Impassibilis est Deus, sed non incompassibilis“ (Gott kann nicht
leiden, aber mitleiden).4 In der Heilsgeschichte lesen wir, dass Gott sein
Volk niemals verlässt, sondern immer mit ihm vereint bleibt, besonders
wenn das Leid sehr stark wird. Gott hat uns nicht verlassen, er ist nicht
weggegangen, sondern er leidet in und mit denjenigen, die aufgrund dieser
Geißel leiden. Er fährt fort zu retten, so wie er durch so viele, die ihr Leben
für andere riskieren, gerettet hat, durch so viele, die dienen und mit hoher
Professionalität für andere da sind.
In dieser ganzen Zeit scheint dieses „diskrete Handeln Gottes“, der nur
mit dem stillen Ruf seiner Liebe5 eingreift, für viele unerträglich zu sein. Ein
Gott, der sich solidarisch zeigt, indem er uns begleitet; weit entfernt von
dem Bild eines mächtigen Gottes, der eingreift, um die Dinge „magisch“ zu
ändern. Wir sprechen dagegen von Gott, der „alles neu macht“ (vgl. Offb
21,5), weil das sein Plan ist. Durch das Erlösungswerk Seines Sohnes
erwacht der Mensch zusammen mit den anderen Geschöpfen zum Leben
und lässt Seufzen und Leiden hinter sich, wovon die Schöpfung vorher
erfüllt war, welche sich durch Gottes schöpferisches Eingreifen erneuert.
Es ist, als ob Gott selbst die Menschen einlädt, auf das zu schauen, was
er in der Geschichte vollbringt und was er am Ende der Zeit zur Vollendung
führen wird. Wir sind als christliche Gemeinschaft gerufen, unsere Gegen-
wart zu erkennen und Gottes Handeln zu deuten, der das Versprechen des
Bundes hält, nämlich Sein Volk (und jeden Einzelnen) mit Seiner macht-
vollen Gegenwart im Angesicht des Bösen und gleichzeitig mit Zärtlichkeit
für diejenigen, die auf Ihn vertrauen, zu begleiten.
Angesichts dessen fühlen wir Gläubigen uns durch den Glauben, der
zur Hoffnung wird, erleuchtet. Papst Benedikt XVI. sagt dazu: „Erlösung ist
uns in der Weise gegeben, daß uns Hoffnung geschenkt wurde, eine ver-
läßliche Hoffnung, von der her wir unsere Gegenwart bewältigen können:
4  Bernhard von Clairvaux, Predigten über das Hohelied, XXVI, 5, in: PL 183, 906.
5  Gemäß dem bekannten Ausspruch von Christian Duquoc, der die völlige Autonomie der Ge-
schichte behauptet. A.d.Ü.: Christian Duquoc (1926–2008), französischer Dominikaner.
8

2 Pages 11-20

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2.1 Page 11

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Gegenwart, auch mühsame Gegenwart, kann gelebt und angenommen
werden, wenn sie auf ein Ziel zuführt und wenn wir dieses Ziels gewiß sein
können; wenn dies Ziel so groß ist, daß es die Anstrengung des Weges
rechtfertigt.“6
Die christliche Hoffnung ist geschichtlich und gründet auf einem tiefen
Vertrauen in Gott, den Gott Jesu Christi, der sein Volk niemals verlässt und
immer bei ihm ist.
Es ist eine Hoffnung, die über alles hinausgeht, was die menschlichen
Erwartungen des „hier und jetzt“ befriedigen kann, die Erwartungen dieses
gegenwärtigen Moments, der nur mit eigenen Ressourcen oder durch die
uns zur Verfügung stehenden menschlichen und materiellen Mittel gestützt
wird. Die Hoffnung, von der wir sprechen, ist auf das Versprechen Gottes
gegründet, der dessen bester Garant ist.
Die Hoffnung, die uns bewegt, lässt jede kleine Hoffnung des Men-
schen fruchtbar werden, und zeigt die großen Werte, in die die Menschheit
ihre besten Energien gesteckt hat: Wahrheit, Güte, Gerechtigkeit, Solidari-
tät, Frieden, Liebe usw. Diese Werte verwandeln sich nicht in Utopien,
sondern werden verwirklicht, konkret und Stück für Stück durch den
großen Plan, den Gott immer für die gesamte Menschheit vorbereitet hat
und der in Jesus Christus endgültig wird. Das ist die Hoffnung, die uns
bewegt.
„Die wahre, die große und durch alle Brüche hindurch tragende
Hoffnung des Menschen kann nur Gott sein – der Gott, der uns
‚bis ans Ende‘, ‚bis zur Vollendung‘ (vgl. Joh 13,1 und 19,30)
geliebt hat und liebt. Wer von der Liebe berührt wird, fängt an
zu ahnen, was dies eigentlich wäre: ‚Leben‘. Er fängt an zu
ahnen, was mit dem Hoffnungswort gemeint ist“.7
Eine verlässliche Hoffnung lässt uns in der Gewissheit leben, dass die
Zukunft vollkommen garantiert ist. Deshalb ist die Hoffnung daran gebun-
den, Gott mit uns zu haben. Eine solche Hoffnung verändert die Gegenwart
vollkommen, nicht nur, weil die Gegenwart erträglicher wird, wenn die
Zukunft als eine positive Realität bekannt ist, sondern auch, weil diese
Kenntnis der Zukunft durch den Glauben unsere Art zu leben ändert. Mit
Gott zu leben ist nicht dasselbe wie ohne Gott zu leben. Er ist ein Gott, der
6  Papst Benedikt XVI., Spe salvi, 1.
7  Ebd., 27.
9

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sogar in den Wüsten des Lebens einen Weg öffnet, indem er Enttäuschung
und Skepsis, Angst und Verzagtheit herausfordert. Deshalb bringt uns die
Hoffnung, die uns bewegt, dazu, Gott um das Geschenk des Glaubens zu
bitten. Ihn zu bitten, Vertrauen in Ihn, der alles in allem bewirkt, und Ver-
trauen in die anderen zu haben.
Die Zeit der Prüfung ist die Zeit der Entscheidung8
Die gläubige Antwort auf die Hoffnung, die Gott hervorruft, gründet sich auf
das Evangelium als die Kraft Gottes für die ständige Verwandlung und
Erneuerung des Lebens.
Papst Franziskus lädt uns in seiner direkten Sprache ein, „eher Men-
schen des Frühlings als des Herbstes“9 zu sein. Der Christ sieht eher die
„Keimlinge“ einer neuen Welt als die „vergilbten Blätter an den Zweigen“.
Wir fliehen nicht in Nostalgie und Klage, weil wir wissen, dass Gott uns als
Erben einer Verheißung und unermüdliche Erzeuger von Träumen möchte.
Mit dem festen Glauben an Gott, der „an-kommt“ und eingreift [ad-viene
und inter-viene].
Mit den Armen der christlichen Hoffnung – den Armen des Kreuzes
Christi – umarmen wir die ganze Welt und betrachten nichts und nie-
manden als verloren oder gescheitert.
Aber einige Fragen bleiben berechtigt: Wer wollen wir sein, angesichts
dieser Realität, die wir zu durchleben gerufen sind? Wie wollen wir danach
leben? Es wäre nämlich eine große verlorene Gelegenheit, wenn wir uns
das, was wir gerade erleben, einschließlich des Schmerzes, nicht zunutze
machten.
Sicherlich gibt es viele Menschen, die aus ihrer Perspektive als Bürger
diese Krisenwirklichkeit mit einem klaren humanistischen Bewusstsein
ohne jeden Glaubenshorizont angehen. Das ist ganz legitim.
Neben ihnen gibt es jedoch auch uns. Die heutige Welt braucht unser
Lebenszeugnis; sie braucht uns, die wir in der Begegnung mit Christus und
in dem Gott Jesu Christi unseren Lebenssinn gefunden haben. Der heilige
Paulus erinnert die Epheser daran, dass sie vor ihrer Begegnung mit Chri-
stus „ohne Hoffnung und ohne Gott in der Welt“ waren (Eph 2,12). Natür-
lich hatten sie andere Götter, aber von deren Mythen ging keine Hoffnung
8  Papst Franziskus, Meditation des Heiligen Vaters bei einem außergewöhnlichen Gebet in den
Zeiten der Epidemie, Vatikanstadt, 27. März 2020. A.d.Ü.: Zu finden unter: https://www.vatican-
news.va/de/papst/news/2020-03/wortlaut-papstpredigt-gebet-corona-pandemie.html.
9  Papst Franziskus, Generalaudienz, Mittwoch, 23. August 2017.
10

2.3 Page 13

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aus. Trotz ihrer Götter waren sie „ohne Gott“.10 Gott durch seinen Sohn
kennenzulernen bedeutete für sie, und bedeutet auch für heutige Männer
und Frauen, eine Hoffnung zu empfangen. Deshalb wird der Glaube Hoff-
nung, „Glaube ist Hoffnung“.11
Dieser Blick des Glaubens in der Begegnung mit Jesus Christus verän-
dert die Art, auf das Leben zu schauen, die Art, im Herzen zu fühlen. So
wird die Art und Weise, Entscheidungen zu treffen und zu unterscheiden,
was wertvoll ist oder nicht, durch jene Begegnung von Mensch zu Mensch
geprägt. Deshalb sagt ein Theologe, der viel über die Hoffnung nachge-
dacht hat, wie Jürgen Moltmann, dass „der Glaube, wo immer er sich zur
Hoffnung entfaltet, nicht ruhig, sondern unruhig, nicht geduldig, sondern
ungeduldig [macht]. [...] [Wer auf Christus hofft,] kann sich nicht mehr
abfinden mit der gegebenen Wirklichkeit, sondern beginnt an ihr zu leiden,
ihr zu widersprechen.“12
4. EIN BLICK AUF UNSERE URSPRÜNGE UND AUF VIELE
GLAUBENSZEUGEN IN UNSERER FAMILIE
Wenn wir die Lebenserfahrung Don Boscos betrachten, erkennen wir, dass
die Hoffnung eine Pflanze mit tiefen Wurzeln ist, die von weither kommen;
Wurzeln, die durch schwierige Zeiten und Wege, die große Opfer erfordern,
stärker werden.
So ist es auch von Anfang an bei Johannes in Becchi, vaterlos, mit
seiner Mutter Mama Margareta, die der Hungersnot und den Schwierig-
keiten des häuslichen Zusammenlebens die Stirn bieten muss. Als er die
sehr menschliche Hoffnung hatte, dass es für ihn eine Zukunft geben
könnte, die er mit Hilfe und unter dem Schutz von Don Calosso zu verwirk-
lichen träumte, entriss ihm der Tod des alten Pfarrers diese Hoffnung. Die
familiäre Wirklichkeit und der aufmerksame und scharfsinnige Blick einer
Mutter, die das Beste für ihren Sohn sucht – selbst wenn das Mutterherz
darunter leidet –, führt so Johannes dahin, schon mit zwölf Jahren das
Haus zu verlassen.
Aber gerade unter diesen Umständen öffneten das Wort und noch mehr
das Beispiel seiner Mutter Johannes den Blick auf einen weiteren Horizont.
Sie ermöglichten es ihm, nach oben und nach vorne zu schauen.
10 Vgl. Papst Benedikt XVI., Spe salvi, 2.
11  Das ist die Überschrift, die Papst Benedikt für den ersten Teil seiner Enzyklika Spe salvi gewählt
hat.
12  J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, München: Kaiser 1966, S. 17.
11

2.4 Page 14

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Ebenso wird es auch in dem entscheidenden Moment der Berufungsent-
scheidung sein, als Margareta ihren Sohn auffordert, sich bloß nicht um sie
und ihre Zukunft zu kümmern und sein Herz niemals an irdische Sicher-
heiten zu hängen: „Wenn du dich für den Stand des Weltpriesters entschei-
dest und das Unglück haben solltest, reich zu werden, werde ich dich kein
einziges Mal besuchen. Denke gut daran!“13
Jahre später ist es Don Bosco, der durch einen Blick aufs Kreuz das
Herz seiner entmutigten und müden Mutter erneut belebt und in ihr die
Hoffnung neu entzündet, die sie bis zu ihrem Tod der Sendung treu bleiben
lässt, die sie mit ihrem Sohn seit den Anfängen des Oratoriums von Val-
docco geteilt hat.
Diese stark verwurzelte Hoffnung ist für all das notwendig, was Don
Bosco leben und dem er Leben schenken wird von seiner Ankunft in Turin
bis zu seinem letzten Atemzug.
An den Früchten erkennt man den Baum: Daran, wie viele junge Leben
sich aus der Verlassenheit und Verzweiflung bis hin zur Heiligkeit erhoben
haben, lässt sich erkennen, wie sehr die Hoffnung im Herzen Don Boscos
ihren Platz hatte. Aus dieser Überfülle konnte er das Leben derjenigen,
denen er begegnete, erreichen und verwandeln.
Auch in den Jahren intensivster Arbeit war Don Bosco nie ein einsamer
Held. Er hatte Ihn immer an seiner Seite, der in ihm das Feuer des Glau-
bens, der Hoffnung und der Nächstenliebe immer wieder aufleben ließ. Es
war eine Begleitung „wie im Himmel so auf Erden“. Und auch das unbe-
grenzte Vertrauen in Maria war für ihn eine ständige Quelle der Hoffnung.
Je mehr dieses Vertrauen in menschlich gesehen unmöglichen Unterneh-
mungen zum Ausdruck kam – denken wir an den Bau der Mariahilf-Basilika
und den Beginn der Mission in Südamerika –, desto mehr sah Don Bosco
als erster, „was Wunder sind“.
Der Glaube, dass es in jedem Herzen, in jeder Lebenserfahrung, auch
in denen, die offensichtlich vom Weg abgekommen sind, immer einen für
das Gute empfindlichen Punkt gibt, ist ein Ergebnis dieses Einklangs mit
dem Himmel. Es ist aber auch das Ergebnis einer grundlegenden Erfah-
rung von Begleitung und Supervision, die der Priester Don Bosco hier auf
Erden schätzte. In der Schule Don Cafassos nämlich lernte Don Bosco, an
der Seite der Verzweifelten unterwegs zu sein, in den Gefängnissen und in
den ärmsten Vierteln des damaligen Turin. So lernte Don Bosco nicht nur
13  MB I, 296. A.d.Ü.: Zitiert nach T. Bosco, Mama Margareta. Die Mutter Don Boscos, München: Don
Bosco 2006, S. 99.
12

2.5 Page 15

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„Priester zu sein“14, sondern Hirte jener Herde zu werden, mit einem Her-
zen wie das der außergewöhnlichen Hoffnungsstifter, die mit ihm auf
denselben Straßen in den ärmsten Außenbezirken unterwegs waren:
Cafasso, Cottolengo und Murialdo. Zur Hoffnung bildet man sich und man
bildet sich gemeinsam: Sie ist eine Frucht der Gemeinschaft der Heiligen
„wie im Himmel so auf Erden“.
Es gibt einen Augenblick in der Geschichte des Oratoriums, an den
man erinnern muss, weil er den weltweiten Schwierigkeiten, in denen wir
uns alle mit der Pandemie befinden, so nahe ist. Es ist Ende Juli 1854. In
Turin bricht die Cholera aus. Wir kennen die Geschichte und erzählen sie
deswegen hier nicht noch einmal. Es reicht zu erwähnen, dass die Sicht
des Glaubens und die Praxis der Nächstenliebe, auch in heroischer Art,
keine private, nur für Don Bosco oder einige supergute Menschen charak-
teristische Tugend sind, sondern der Lebensstil dieser kleinen Erziehungs-
gemeinschaft. Die Hoffnung ist eine Tugend der Gemeinschaft, die vom
gegenseitigen Beispiel und durch die Kraft der geschwisterlichen Gemein-
schaft genährt wird. Davon gibt uns das Oratorium von Valdocco zu Zeiten
der Cholera Zeugnis, so wie es auch heute, in Zeiten von COVID-19, die
Erfahrung vieler Erziehungs- und Pastoralgemeinschaften ist. Im Verbund
mit Gemeinschaften von Ärztinnen und Ärzten, Krankenpflegepersonal und
Beschäftigten im Gesundheitswesen haben sie in vorderster Linie ihr
eigenes Leben gegeben und geben es weiterhin, um andere zu retten.
Krisenmomente wie dieser zeigen ein weiteres Merkmal der Hoffnung,
wie Don Bosco sie lebte. Er glaubte fest an die Vorsehung. Ein glaubendes
Vertrauen, das mit den Jahren immer größer wurde. Es ist wie ein roter
Faden, der sein ganzes Leben und alles, was er ins Leben rief, durchzieht.
Es ist vielleicht der Aspekt, der es erlaubt, in ihm einen „einzigartigen Ein-
klang von Natur und Gnade“15 noch deutlicher verwirklicht zu sehen: Das,
was sein Herz glaubt, veranlasst die täglichen Schritte und Entscheidungen
und öffnet vielen Wege der Hoffnung, selbst dort, wo es keinen Ausweg zu
geben scheint.
14  J. Bosco, Erinnerungen an das Oratorium des Heiligen Franz von Sales, München: Don Bosco
2001, S. 133.
15  Konstitutionen SDB, 21.
13

2.6 Page 16

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Viele weitere Zeugen der Hoffnung
In der Geschichte der salesianischen Heiligkeit finden wir wertvolle Bei-
spiele und Lebensvorbilder, die uns ermutigen zu hoffen, als Tugend und
als Haltung eines Lebens in Gott. Ich verweise nur kurz auf einige.
Unser Mitbruder, der selige Stefan Sándor (1914-1953): Er gibt uns ein
wahres Zeugnis davon, was es bedeutet, von der Spaltung zur Einheit und
Gemeinschaft zu finden. Das starke Gespür für seine Berufung als Salesi-
anerbruder brachte ihn zu einer echten Entscheidung zur Verteidigung des
Lebens: Er glaubte zutiefst, dass sich sein Leben inmitten seines Volkes
und seiner Kultur verwirklichen sollte, als Momente der Unsicherheit und
Trostlosigkeit zu durchleben waren. Durch seine aufrechte Haltung gibt er
uns eine salesianische Sicht, wie auf dem Boden unserer Sendung zu
„bleiben“ ist, um diejenigen zu erleuchten, die Gefahr laufen, die Hoffnung
zu verlieren, um den Glauben derer zu stärken, die das Gefühl haben, zu
scheitern, um ein Zeichen der Liebe Gottes zu sein, wenn er aus der
Geschichte verschwunden zu sein „scheint“. Der selige Stefan hat die
Mauern, die durch die Spaltung der Völker und die Sklaverei des ideolo-
gischen Totalitarismus entstanden sind, überwunden, indem er auf den
anderen zugegangen ist und jede Art von persönlicher oder gesellschaft-
licher Furcht überwunden hat.
Sehr schön ist auch die Geschichte unserer Mitschwester, der seligen
Schwester Magdalena Morano (1847-1908). Sie zeichnete sich als Don-
Bosco-Schwester durch eine apostolische Kühnheit aus, die sie zu dem
werden ließ, was Don Bosco immer von seinen Töchtern im Geist von
Mornese gewünscht hatte: lebendige Denkmäler der Jungfrau Maria zu
sein. Als „geborene Lehrerin“ wusste sie, dass das befreiende Handeln
ihrer salesianischen Sendung darin bestand, ihre Mädchen zu unterrichten
und die Begrenzungen ihrer Herzen und ihres Verstandes zu öffnen, damit
sie die engen Grenzen einer Kultur überwinden konnten, die sie durch
Armut und mangelnde Möglichkeiten unterdrückte. Sie verstand es, Aus-
dauer zu vermitteln und gegenüber Bedrohungen nicht nachzugeben; das
weibliche Angesicht der Stärke fand in ihr einen sehr milden und überzeu-
genden Ausdruck der Verantwortung, die wir gegenüber unseren verletz-
lichen Geschwistern haben. Als Lösung für die unruhigen Zeiten, die sie
ertragen musste, zeigte sie denjenigen, die von Isolierung bedroht waren,
neue Richtungen und lehrte sie die unermessliche Güte Gottes.
14

2.7 Page 17

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Im Diener Gottes Don Carlo Braga (1889-1971) finden wir ein Beispiel für
kluge Seelsorge, sowohl in seiner unermüdlichen Hingabe für die Mission
als auch in der Begleitung der Mitglieder der Don-Bosco-Familie. Ohne
den Mut zu verlieren, sondern mit der Hoffnung derer, die ihren eigenen
Glauben auf Christus, unseren Herrn, stützen, verstand er es, die so sehr
von Don Bosco empfohlene Geduld zu haben, um die jungen Menschen
bei der Reifung ihrer Persönlichkeit zu begleiten. Diese Geduld war die
Frucht der Liebe, die in seinem missionarischen Herzen überfloss, das ihm
erlaubte, Brücken zwischen den Kulturen zu bauen statt Barrieren zu
errichten. Der von ihm gehörte Ruf, die Einheit unter den Menschen zu
fördern, half ihm dabei, die Unterschiede zu überwinden, die unter den
anderen auftreten konnten, in der Überzeugung, immer von der göttlichen
Gnade getragen zu werden, die die Kultur der Begegnung hervorbringt.
Ein weiteres kostbares Vorbild ist der selige Josef Kowalski
(1911-1942).
Wieviel Glauben und Mut braucht es, um den anderen den Frieden zu
überbringen, auch wenn man nichts weiter anbieten kann als das eigene
Leben! Die selbstlose Liebe Jesu Christi, der uns mit dem Opfer seines
Lebens für die Menschheit das größte Liebesbeispiel gegeben hat, wurde
von Josef Kowalski gänzlich wieder aufgenommen: ein Mitbruder, der von
Frieden mitten im Krieg, von Gelassenheit in Verwirrung und von Erbarmen
im Hass zeugte.
Der Diener Gottes Antonino Baglieri (1951-2007) ist ein weiteres
Vorbild.
Der Weg zur Heiligkeit erfordert sehr oft einen Wechsel von Einstellungen
und Ansichten. Das war der von Nino gelebte Weg, der nach einem langen
Leiden im Kreuz die Möglichkeit entdeckt hat, zu einem neuen Leben zu
erwachen. Nino wurde immer von der Mutter begleitet, die mit Liebe und
Leidenschaft stets an ihn und an ein Leben voller Möglichkeiten geglaubt
hat; er war auch von Freunden, Laien und Ordensmännern, umgeben, die
ihn an die Schönheit der Gemeinschaft erinnerten. Er hat sich von der
Gemeinschaft, die ihn sowohl in seiner Persönlichkeit als auch in seinem
Glauben stärkte, berühren lassen, und das hat ihn gerettet. Er hat verstan-
den, dass er sich selbst findet und seinem Leben einen Sinn gibt, wenn er
zulässt, dass andere ihm begegnen, gezeichnet von dem göttlichen Erbar-
men, um – auch von seinem Krankenbett aus – ein „Handwerker des
Friedens und der Freude“ zu sein.
15

2.8 Page 18

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Sie und viele weitere sind Größen des Glaubens, den sie mit Nächstenliebe
gelebt haben. Sie haben in seiner ganzen Bedeutung verstanden, was es
bedeutet, Hoffnung zu haben. Wer hofft, weiß, dass er nicht allein unter-
wegs ist, und er weiß ebenso, dass er Menschen braucht, die ihn begleiten
und ihn auf diesem Weg führen. Papst Benedikt XVI. hat das sehr schön
ausgedrückt: „Die wahren Sternbilder unseres Lebens sind die Menschen,
die recht zu leben wußten. Sie sind Lichter der Hoffnung. Gewiß, Jesus
Christus ist das Licht selber, die Sonne, die über allen Dunkelheiten der
Geschichte aufgegangen ist. Aber wir brauchen, um zu ihm zu finden, auch
die nahen Lichter – die Menschen, die Licht von seinem Licht schenken
und so Orientierung bieten auf unserer Fahrt.“16
5. SALESIANISCHE LESART DES GEGENWÄRTIGEN
AUGENBLICKS
Dies ist unsere Zeit. Es ist die Zeit, die uns zu leben aufgegeben ist. Es
dürfte sehr angebracht sein, die Frage zu stellen, wie wir die Zeit nach der
Pandemie am besten angehen. Es ist vielleicht auch angebracht, in einem
Augenblick, in dem die meisten Menschen Angst haben oder den Moment
kaum erwarten können, in dem sie vergessen können, was in diesem Jahr
passiert ist, den Wert der Hoffnung zu entdecken. Aber dürfen wir wirklich
vergessen, was passiert ist: die Familien vergessen, die Angehörige verlo-
ren haben, die bald zwei Millionen Opfer vergessen, die Gesichter der
Zerbrechlichsten unserer Gesellschaft vergessen, die vielen Menschen
vergessen, die in vorderster Linie gearbeitet haben? Wäre es richtig, das
alles zu vergessen? Nein, ganz sicher nicht. Es wäre sogar das Schlimm-
ste, was wir tun könnten.
Deshalb fragen wir uns, ob das, was wir gerade erleben, uns etwas lehrt
und ob wir bereit sind, etwas zu verändern, manche Einstellungen oder
Lebensauffassungen zu überdenken ...
Wir hoffen, dass die Einschränkungen, die wir erlebt haben, uns dabei
helfen, uns zu öffnen.
Wir leben in ständiger Bewegung, mit der Sorge auf alles antworten zu
wollen, in einem oft hektischen Rhythmus. Ganz unerwartet hat uns eine
„Zwangsruhe“ getroffen, die uns vielleicht ein wenig in uns selbst, in
unseren Häusern, in unseren Familien, in verpflichtender, aber notwen-
diger Quarantäne eingesperrt hat. Ängste tauchten auf: die Angst vor
dem anderen, besonders vor demjenigen, der nah oder nicht so weit
16  Papst Benedikt XVI., Spe salvi, 49.
16

2.9 Page 19

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entfernt ist; die Angst vor der Ansteckung, die, von wo auch immer sie
herkommt, sehr große Unsicherheit schafft.
Deshalb muss „Öffnen“ das Gebot der Stunde sein. Öffnen wir Räume,
das Umfeld, die Fenster zum Leben. Öffnen wir uns für die Begegnung
mit dem anderen. Geben wir alles auf, was uns verschließt, gewinnen
wir den Sinn unserer Offenheit, der Offenheit des Herzens zurück.
Gewinnen wir die Sicht eines geweiteten Horizonts zurück.
Von einem wachsenden Individualismus zu einer größeren Solidarität
und Geschwisterlichkeit.
Gottes Spur in der Menschheit zeigt sich besonders offensichtlich in der
Fähigkeit, auf die anderen in einem solidarischen Akt mit seiner Schöp-
fung zuzugehen. Der Egoismus ist das Gegenteil davon, weil er selbst-
gefällig ist, uns selbstbezogen macht, eine stetig wachsende Kultur des
Individualismus schafft und nährt, die schließlich unsere Kleinheit
offenbart. Während der Pandemie sind wir uns zweifelsohne dessen
bewusst geworden, dass auch wir verletzlich, zerbrechlich und abhän-
gig sind. Und zwar wir alle, nicht nur einige. Angesichts einer kollektiven,
unvorstellbaren und unerhörten Bedrohung fühlt die ganze Menschheit,
dass sie die anderen braucht. Wir leben in gegenseitiger Bedürftigkeit
und in Sorge umeinander. Wir wollen nicht allein bleiben. Möge diese
Zeit uns lehren, mehr auf die Solidarität und Geschwisterlichkeit ange-
sichts des „Virus des Individualismus“ zu setzen. Wie recht Papst
Franziskus hat! Solidarität ist der beste Sieg über die Einsamkeit. „Die
Solidarität drückt sich konkret im Dienst aus, der in der Art und Weise,
wie wir uns um andere kümmern, sehr unterschiedliche Formen anneh-
men kann. Dienst bedeutet »zum großen Teil, Schwäche und Gebrech-
lichkeit zu beschützen. Dienen bedeutet, für die Schwachen in unseren
Familien, in unserer Gesellschaft, in unserem Volk zu sorgen.« Bei dieser
Aufgabe ist jeder in der Lage, »im konkreten Blick auf die Schwächsten
sein Suchen, sein Streben und seine Sehnsucht nach Allmacht auszu-
blenden. [...] Der Dienst schaut immer auf das Gesicht des Mitmen-
schen, berührt seinen Leib, spürt seine Nähe und in manchen Fällen
sogar das ‚Kranke‘ und sucht, ihn zu fördern. Darum ist der Dienst nie-
mals ideologisch, denn man dient nicht Ideen, sondern man dient
Menschen«.“17 Viele warten auf unser Lächeln, unsere Worte, unsere
Gegenwart.
17  Papst Franziskus, Fratelli tutti, 115.
17

2.10 Page 20

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Schritte aus der Isolierung zu einer Kultur der Begegnung.
Sicherlich ist es nicht leicht, die eigene Isolierung zu verlassen, vor allem
wenn man sie für gewünscht hält. Oft ist es in der Tat leichter, isoliert zu
bleiben, auch aus Furcht vor der Nähe der anderen. Aber im menschli-
chen Herzen brennt die Flamme, die das absolute Bedürfnis nach
Zusammensein entfacht: in der Familie, mit den Freunden, im Wohnge-
biet, im Ehrenamt, mit den Schulfreunden, den Arbeitskollegen, der
Fußballmannschaft. Diese Zeit der Verletzlichkeit bietet uns einen Raum
für neue Formen der Empathie und des Wiedersehens. Es ist die „Kultur
der Begegnung“ des anderen als anderer. „Die Isolierung und das Ver-
schlossensein in sich selbst oder die eigenen Interessen sind nie der
Weg, um wieder Hoffnung zu geben und Erneuerung zu bewirken, wohl
aber die Nähe, die Kultur der Begegnung. Isolierung: nein; Nähe: ja.
Kultur der Konfrontation: nein; Kultur der Begegnung: ja«.“18
Von der Spaltung zu einer größeren Einheit und Gemeinschaft.
Bei dieser Sichtweise werden wir uns bewusst, dass es nicht möglich
ist, eine Kultur der Begegnung zu schaffen, ohne auf Einheit zu achten;
dieselbe Einheit, die der Geist Gottes demjenigen schenkt, der in die
Gemeinschaft mit Ihm eintritt, weil sie uns eint und uns anspornt, die-
selbe Berufung zu leben: geliebte Kinder Gottes zu sein. Eine Lektion,
die wir in der harten Erfahrung der Isolierung gelernt haben, als wir
getrennt auf dem Boot des Lebens unterwegs waren, aufgrund der
geschlossenen Grenzen (geographisch und sogar spirituell). Dies hat es
uns erlaubt, uns bewusst zu werden, dass wir am Ende „alle in dem-
selben Boot sitzen“. Uns verbindet das Menschsein. Aber dieses
Menschsein wurde getroffen. Das Coronavirus ist die erste Krise, die alle
Menschen weltweit trifft, ohne Unterschied. Es ist ein großes Parado-
xon: Ein Virus, das durch Angst Trennung geschaffen hat, vereint uns
nun, drängt uns, uns füreinander zu interessieren. Es vereint uns in einer
Empathie des Altruismus, der Solidarität und Sorge, des Ausdrucks des
Gemeinwohls und hoffentlich des Mitgefühls und der Barmherzigkeit. Es
vereint uns auch bei der Suche nach Lösungen. Wahrscheinlich ist der
trennende Egoismus eine sehr viel ältere und gefährlichere Krankheit als
COVID-19, nämlich eine Krankheit, die immer schon existierte und
behandelt werden muss. Ich hoffe, dass wir uns mit der Ankunft des
Impfstoffs gegen das Virus endlich gegen den Mangel an Gemeinschaft
impfen können und so die Spaltung besiegen. Es ist die Medizin des
18  Ebd., 30.
18

3 Pages 21-30

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3.1 Page 21

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Evangeliums der Hoffnung und der Freude, die uns eint, die uns
menschlicher, ja zu Kindern Gottes macht.
Von Entmutigung, Leere und Sinnlosigkeit zur Transzendenz.
Wir haben uns für „die absoluten Herren über unser Leben und alles,
was existiert“, gehalten und sind nun an den Punkt gelangt, wo wir uns
sehr zerbrechlich fühlen. In vielen Familien mussten viele Geschichten
erfunden werden, um den Kindern zu erklären, warum sie zuhause
bleiben mussten, weit weg von den Großeltern, den Schulfreunden und
den Nachbarn, ohne für vierzehn oder zwanzig Tage auf die Straße zu
dürfen. Ich erinnere mich an den Film „Das Leben ist schön“ (1997), in
dem ein Vater (Roberto Benigni) in einer äußerst widrigen Lage, in einem
nationalsozialistischen Konzentrationslager, ein Spiel erfindet, um
gegenüber seinem Sohn ihre Lebensbedingungen zu rechtfertigen und
ihn alles als ein Spiel erleben zu lassen, was zur Rettung für das Kind
wird.
Die Leere dieser Zeit hat viel Schaden angerichtet. Wir sind von sehr
vielen Sicherheiten zur Ungewissheit eines instabilen und unsicheren
Geländes, wie Treibsand, übergegangen. Eine Leere, die sich von der
nihilistischen Ideologie unterscheidet. Sie öffnet in uns jedoch das
Bedürfnis nach Transzendenz.
Der Herr spricht in dieser Zeit zu uns. Was fordert er von uns? Was
bietet er uns an? Wie empfangen wir ihn? „Mit dem Sturm sind auch die
stereotypen Masken gefallen, mit denen wir unser ‚Ego‘ in ständiger
Sorge um unser eigenes Image verkleidet haben; und es wurde wieder
einmal jene segensreiche gemeinsame Zugehörigkeit offenbar, der wir
uns nicht entziehen können, dass wir nämlich alle Brüder und Schwe-
stern sind«.“19 Also: In den extremsten Situationen fährt Gott fort, zu uns
durch die Herzen von Menschen zu sprechen, die auf originelle Weise
sehen und antworten, was dann den Unterschied ausmacht.
Wir retten uns nicht allein durch unsere Kräfte. Keiner rettet sich allein
„Eine globale Tragödie wie die Covid-19-Pandemie hat für eine gewisse
Zeit wirklich das Bewusstsein geweckt, eine weltweite Gemeinschaft in
einem Boot zu sein, wo das Übel eines Insassen allen zum Schaden ge-
reicht. Wir haben uns daran erinnert, dass keiner sich allein retten kann,
dass man nur Hilfe erfährt, wo andere zugegen sind. Daher sagte ich: »Der
Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und
19  Ebd., 32.
19

3.2 Page 22

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unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten,
Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. […] Mit dem Sturm sind auch
die stereotypen Masken gefallen, mit denen wir unser ‚Ego‘ in ständiger
Sorge um unser eigenes Image verkleidet haben; und es wurde wieder
einmal jene segensreiche gemeinsame Zugehörigkeit offenbar, der wir uns
nicht entziehen können, dass wir nämlich alle Brüder und Schwestern
sind«.“20
Die Zeiten sind vorbei, in denen wir überzeugt waren, dass wir alles mit
unseren Ressourcen allein machen können, wie „selbstgefällige Titanen“,
für die nichts unmöglich ist.
Wir müssen den leichtfertigen Narzissmus überwinden, der uns über-
zeugt hat, dass das Universum sich vor uns verneigt, wir haben uns darin
getäuscht, im Besitz einer „Supermacht“ über alles und alle zu sein ... Wir
haben dank dieser Krankheit gelernt, wie verletzlich wir sind, wie sehr wir
einander brauchen und dass wir allein nichts sind. Wir haben entdeckt,
dass der Nachbar von der anderen Straßenseite wichtig ist: grüßen wir
jeden, dem wir begegnen; streichen wir die Anonymität und glauben wir an
das „wir“ als Teil von mir, ohne den wir nicht leben können. Die anderen
sind ein „ich“ als „wir“ dekliniert. Wir sind viel stärker angewiesen auf den
Reichtum der Menschheit, auf ihre Werte der Schönheit und des gemein-
samen Lebens. Lassen wir die Furcht zurück, schaffen wir Verbindungen
und wachsen wir. Weisen wir den anderen nicht mehr zurück, weil er
anders, verschieden, fremd usw. ist. Gehen wir von einem „wir“ aus, dass
das Plurale und Vielfältige mit dem Besonderen, Reichen, Einzigartigen,
Ungewöhnlichen, Unwiederholbaren und Schönen eines jeden Menschen,
eines jeden Wir verbindet; jeder von uns ist in sich selbst wertvoll.
Wir dürfen keine Angst haben, die Geschwisterlichkeit wieder zu entde-
cken, die uns darin vereint, Kinder Gottes zu sein, unendlich geliebt im
Sohn (vgl. Eph 1,5). Von dieser Wirklichkeit ausgehend verstehen wir die
Solidarität, die Geschwisterlichkeit, die Sorge um die anderen, den
Respekt für den Wert des Lebens, für die Menschenwürde, für die Wahrheit
des anderen: Haltungen, die mehr als jemals zuvor Tugenden sind. Wir sind
zu kostbar, um uns dem leeren Egoismus einer Krankheit, die Gleichgültig-
keit heißt, und der Selbstbezogenheit oder Selbstverliebtheit hinzugeben.
Dies gilt vor allem, was unsere lieben jungen Menschen betrifft, die der
„brennende Dornbusch“, das „heilige Land“ sind, das uns rettet. Gerade
die jungen Menschen sind unsere große Hoffnung, die uns durch viele
20  Ebd.
20

3.3 Page 23

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Beispiele von miteinander geteilten Projekten auf eine gemeinsame
Zukunft ausrichten: zugunsten der Schöpfung und Umwelt, des gemein-
samen Hauses und der Gerechtigkeit, der Freiheit, des Friedens und der
universalen Geschwisterlichkeit.
Neue Antworten sind notwendig. Ein mutiges Leben, das etwas wirklich
Neues in sich trägt. Um letztlich wie Don Bosco zu sein, muss man heute,
wo die Cholera „Coronavirus“ heißt, hinausgehen, Präsenz zeigen und
Antworten geben.
Mehr als je zuvor: Präsenz und Zeugnis!
Genauso ist es: mehr als je zuvor sind Präsenz und Zeugnis notwendig.
Unsere Präsenz und, als Zeugnis, unsere Freude, die aus unserem „hof-
fenden“ Glauben entsteht, weil „Glaube und Hoffnung Hand in Hand
gehen“.21
All das vor allem für die jungen Menschen, die wir nicht allein lassen
dürfen (heute weniger denn je): Sie warten auf uns mit offenen Armen,
damit wir erneut in ihrem Leben Platz nehmen können, mit der Kraft einer
Liebe, die fähig ist, alles zu überwinden, denn in all dem kann nur die Liebe
triumphieren! Wir müssen erneut den Traum der jungen Menschen träu-
men. Wir müssen uns zur Verfügung stellen, damit wir das überwinden,
was die Angst daran gehindert hat, Wirklichkeit zu werden. Oratorien,
Jugendzentren, Schulen, Ausbildungszentren, soziale Werke, Pfarreien:
Jede unserer Einrichtungen muss sich von dem lebendigen, großzügigen
und belebenden Herzen eines jeden jungen Menschen erfüllen lassen,
damit die Häuser (Mauern des Schweigens) in Lebensräume (für das
Leben junger Menschen) verwandelt werden. Wir wollen dieses Leben! Es
ist das Leben, das uns rettet! Wir hören den Schrei der jungen Menschen,
die Präsenz, Aufmerksamkeit, Begleitung, Verfügbarkeit fordern und die
auch danach fragen, dass wir ihnen das authentische Antlitz Gottes zei-
gen. Wenn wir ihnen Aufmerksamkeit schenken, wenn wir ihnen zuhören,
werden sie uns noch intensiver auffordern, dass wir zu ihnen vor allem
anderen sonst vom Herrn reden, der unsere Hoffnung belebt und der es
uns nicht erlaubt, uns entmutigen zu lassen oder aufzugeben (vgl. 1 Petr
3,15). Sie werden uns auffordern, ihnen das „Brot des Lebens“ zu geben,
das unser „Für-Sie-Dasein“ und unser „Mitten-unter-ihnen-sein“ nährt. Um
das Leben hervorzubringen, das der Herr in diesem Augenblick der
Geschichte geben will: das Leben, das nicht enden wird. Es ist die gute
21  Papst Franziskus, Generalaudienz, Mittwoch, 20. September 2017.
21

3.4 Page 24

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Botschaft der Auferstehung, die unsere Hoffnung wiederbelebt und die uns
zu neuen Menschen für eine neue Zeit werden lässt. Denn diese Welt wird
enden. Und es wird nur das überdauern, was wir geliebt haben.
6. EINE DON-BOSCO-FAMILIE, DIE ZEUGE DER HOFFNUNG
IST
Wie wir erfahren mussten, haben die Gegebenheiten der Pandemie in den
letzten Monaten manche Anzeichen für eine Trübung der Hoffnung auf-
kommen lassen. Deshalb möchte ich einige Zeichen für die Schönheit
einer richtig verstandenen und gelebten evangelischen Hoffnung nennen
und hervorheben. Sie führen uns auf einen Weg, auf dem wir die Kraft des
in der Hoffnung gelebten salesianischen Charismas zum Ausdruck bringen
können. Ich spüre, dass dieses Zeugnis von uns als Don-Bosco-Familie in
der Kirche und in der Welt erwartet wird: die Fähigkeit, aus der Hoffnung
zu leben.
Einige Vorschläge, um diesen Weg weiterzugehen.
6.1. Entdecken wir erneut, dass „Glaube und Hoffnung Hand in
Hand gehen“.22
Auftrag: Machen wir es wie Don Bosco, der die große Fähigkeit
besaß, seine Jungen dafür zu begeistern, „das Leben als Fest und
den Glauben als Glücklichsein“23 zu erleben.
Wir alle werden nicht von abstrakten Ideen und schönen Verspre-
chungen getragen, sondern von einer Hoffnung, die auf der Erfahrung
der Liebe Gottes gründet, die von dem Heiligen Geist über uns ausge-
gossen wurde, der alles zum Guten bewegt.
Doch die Hoffnung kommt nicht von allein vorwärts. Um zu hoffen,
braucht es Glauben. Die christliche Hoffnung lässt den Glauben so
widerstandsfähig werden, dass er den Erschütterungen des Lebens zu
widerstehen vermag; sie lässt es zu, über jedes Hindernis hinauszubli-
cken, sie öffnet den Blick und erlaubt es uns, unser Leben und unsere
Geschichte im Licht von Gottes Heil zu lesen. Deshalb ist Hoffnung die
Erwartung des Geschenks des alltäglichen Lebens, die Erwartung der
Gegenwart Gottes, eines Gottes, der Vater (Abba) ist, das heißt vertraut
und persönlich. Er ist ein Gott, der sich sorgt und an unserem Schicksal
22 Ebd.
23  23. Generalkapitel, Nr. 165; vgl. 20. BGK, Nr. 328.
22

3.5 Page 25

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interessiert ist, der mit Seiner Geduld und Seiner Barmherzigkeit
unseren Weg begleitet. Während wir unsere Armut und Zerbrechlichkeit
anerkennen, legt Gott Sein Herz in sie hinein. Die Begegnung unserer
persönlichen und gemeinschaftlichen Armut mit Seinem väterlichen
Herzen lässt die Barmherzigkeit erstrahlen.
In dem Bewusstsein unserer Zerbrechlichkeit und dem Wissen, wie
schwierig es heute ist, Menschen zu erziehen und zu bilden, müssen wir
also mehr als je zuvor Hoffnungsspender, wahre Hoffnungsstifter, eben
Zuflüsterer solcher Hoffnung sein. Don Bosco tat es auf eine leiden-
schaftliche und gleichsam natürliche Weise. Und wir setzen uns
genauso ein, weil wir wirklich glauben, dass es die Hoffnung ist, die das
Leben stützt, sich um es sorgt und es beschützt. „Sie ist das Göttlichste,
was im Herzen des Menschen existieren kann“24, hat Papst Franziskus
in einer Katechese gesagt, in der der Heilige Vater auch den großen
französischen Dichter Charles Péguy (1873–1914) zitiert, der wunder-
bare Texte über die Hoffnung hinterlassen hat. In einem dieser Texte
sagt dieser „auf poetische Weise, dass Gott nicht so sehr über den
Glauben der Menschen und auch nicht über ihre Liebe staunt. Was ihn
dagegen wirklich mit Staunen und Rührung erfüllt, ist die Hoffnung der
Menschen. Er schreibt: ‚Diese armen Kinder sollen sehen, wie die Dinge
gehen, und glauben, dass es morgen besser wird.‘“
Mit dieser Zuversicht lade ich Euch als Erzieher, als Begleiter der Fami-
lien, der einfachen Leute und des Volkes Gottes insgesamt ein: Verlieren
wir niemals die Hoffnung, pflegen wir angesichts des Lebens einen rei-
chen hoffnungsvollen Blick, lassen wir sie niemals in unseren Herzen
erlöschen, seien wir Lichter, die durch das Zeugnis unseres Lebens zur
Hoffnung einladen, geben wir das Glücklichsein durch eine einfache,
aber authentische Art, unseren Glauben zu leben, weiter.
6.2. Lernen wir, dass das Gebet Schule der Hoffnung25 ist.
Auftrag: Lasst uns mit den jungen Menschen und ihren Familien im
Gebet unterwegs sein, lasst uns lernen, besser zu beten und Hoff-
nung zu üben, indem wir mehr und besser beten.
„Ein erster wesentlicher Lernort der Hoffnung ist das Gebet.“26
24 Papst Franziskus, Generalaudienz, Mittwoch, 27. September 2017.
25 Vgl. Papst Benedikt XVI., Spe salvi: Die Überschrift des ersten Teils der Enzyklika, der mit Nr. 32
beginnt, heißt: Das Gebet als Schule der Hoffnung.
26  Papst Benedikt XVI., Spe salvi, 32.
23

3.6 Page 26

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Charakteristisch für unsere salesianische Spiritualität ist es, Gott als
sehr nah, sehr gegenwärtig in den Ereignissen wahrzunehmen; er ist ein
Gott, mit dem wir in unserer Einfachheit „mit dem Herzen“ in einen
Dialog treten können, einen einfachen, kindlichen Dialog.
Als Mitglieder der Kirche sind wir uns bewusst, dass wir wie sie aus dem
Gebet geboren sind und dass das Gebet ihr und unser Wachstum auf-
rechterhält. Ein Gebet, das Schule der Hoffnung ist. Wenn wir unsere
Zerbrechlichkeit in der persönlichen Begegnung mit der Liebe vorbrin-
gen, lernen wir, uns von Ihm lieben zu lassen. Letztendlich sind wir
gerufen, ein inneres Klima des Vertrauens in den Herrn zu entwickeln,
auf Ihn als Mittelpunkt von allem zu vertrauen. Ihm, der es möglich
macht, in Fülle zu leben. Legen wir deshalb unsere Gedanken, Wün-
sche, Aktivitäten, unser Leid, unsere Hoffnungen und Träume in Gottes
Herz, zeichnen wir sie in Sein Herz.
Das im Gebet gepflegte geistliche Leben schafft Einheit, gibt den Ereig-
nissen, den verschiedenen Dingen, die wir erleben und tun, Sinn. Durch
das Gebet entdecken wir den Sinn für die Geschenkhaftigkeit des
Lebens, des unsrigen und von den Menschen, die uns anvertraut sind.
Diese Perspektive des Gebets als Geschenk ist wesentlich für den
geistlichen Weg mit dem Wissen, dass uns alles vom Herrn geschenkt
worden ist.
In der Enzyklika über die Hoffnung, die Papst Benedikt XVI. der Kirche
geschenkt hat, werden einige konkrete Beispiele für Hoffnung im Gebet
genannt, wie sie zum Beispiel der vietnamesische Kardinal Nguyen Van
Thuan gelebt hat. Während dreizehn Jahren im Gefängnis, davon neun
in kompletter Isolierhaft, in einer Situation, die für jeden anderen voll-
kommen hoffnungslos gewesen wäre, ist ihm das Hören auf Gott, das
Redenkönnen mit ihm zu einer Kraft der Hoffnung geworden, die ihn
dort schon sowie nach seiner Freilassung zu einem authentischen
Zeugen der Hoffnung werden ließ, „der großen Hoffnung, die auch in
den Nächten der Einsamkeit nicht untergeht“.27
Als Don-Bosco-Familie werden wir bedeutsame Schritte machen, wenn
wir, in allen Zweigen dieses vom Heiligen Geist geliebten, so dichten
Baumes, in der aus dem Gebet entstehenden Schule der Hoffnung
vorwärtsgehen und Seite an Seite mit unseren jungen Menschen und
anderen Menschen, denen wir begegnen, unterwegs sind.
27 Ebd.
24

3.7 Page 27

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6.3. Lasst uns mit dem Sinn für die Mühen des täglichen Lebens
wachsen.
Auftrag: Helfen wir den jungen Menschen und ihren Familien und
dem Volk Gottes, die Gaben, die Gott uns gibt, zu entdecken, ohne
zu klagen, indem wir Ziele vorschlagen, die begeistern und Eintö-
nigkeit und Mittelmäßigkeit beseitigen.
Machen wir den Alltag zu einer kostbaren Gelegenheit, um trotz Mühse-
ligkeit und Müdigkeit zu erfahren, dass es eine Liebe gibt, die uns
übersteigt, und dass unsere Arbeit vor Gott nicht gleichgültig ist und
deshalb auch nicht gleichgültig für die Entwicklung des Lebens, unseres
Lebens, der Geschichte selbst, die wir versuchen aufzubauen, und des
Reiches Gottes, zu dessen Verwirklichung wir beitragen möchten.
Ich denke, dass dies ein wunderbarer Horizont ist, um zur Hoffnung zu
erziehen. Vor allem für die Gewissheit, die aus dem Glauben kommt und
nicht nur bestätigt, dass Gott sich niemals an Großherzigkeit übertreffen
lässt, sondern auch, dass Gott handelt und uns immer überrascht, auch
mitten in unseren Schwierigkeiten.
Außergewöhnliches passiert nur, wenn man beginnt, die kleinen,
gewöhnlichen Dinge zu leben; der Alltag auch eines jeden Christen
besteht aus Wiederholungen, harter Arbeit und wenig Belohnungen,
aber auch aus leisen, inneren Freuden, aus echten Begegnungen, aus
Wundern, die die Seele überraschen.
Das Verrinnen der Tage verlangt nach einer geduldigen Rückkehr zu sich
selbst, um sich des eigenen Lebens bewusst zu werden. Hoffnung und
Geduld sind zwei Haltungen, die wir als Christen gerade in unserer so
schnelllebigen Welt bezeugen sollten. Das Wuchern der Angst in unserer
Gesellschaft ist auch der Tatsache geschuldet, dass das Gefühl für das
Warten, und damit für die Geduld und die Hoffnung, verloren gegangen
ist. Deswegen sind Hoffnung und Geduld eng miteinander verbunden
und der Akt des Hoffens trägt schon zum Bestehen der Probe bei.
Das ist auch möglich, weil es ein für unseren salesianischen Geist
typisches „natürliches Vertrauen“ gibt, das uns veranlasst, auf die
natürlichen und übernatürlichen Ressourcen eines jeden Menschen,
und vor allem eines jeden jungen Menschen, zu vertrauen. Es drängt
uns, nicht die Zeit zu beklagen, in der wir leben, sondern die Werte in
der Welt und in der Geschichte (auch in diesen schwierigen Zeiten) zu
würdigen und „das Gute zu behalten“ (1 Thess 5,21). In der Tat teilen wir
25

3.8 Page 28

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mit dem Kardinal Nguyen Van Thuan die Überzeugung, dass die Ange-
wohnheit zu jammern wie eine ansteckende Epidemie ist, deren Sym-
ptome der Pessimismus, der Verlust des Friedens, Ängste und der Ver-
lust der Leidenschaft für das Leben, die aus der Verbundenheit mit Gott
entsteht, sind.
Don Bosco hatte erfahren, dass nichts den Wert von authentischen
Beziehungen, des Gefühls, geliebt, Teil einer Familie und zuhause zu
sein, ersetzen kann. Diese Beziehungen waren eine mächtige Form des
Schutzes gegen die Armut und Einsamkeit seiner Jungen. Don Bosco
war nämlich ein Meister darin, das Glück in den kleinen Dingen zu fin-
den, in der Aufmerksamkeit, die er jedem schenkte. Er zeigte, wie der
Schatz des Präventivsystems in liebevollen Begegnungen und durch die
Pflege von Beziehungen bewahrt werden kann. Kleine Gesten, die sich
manchmal in der Anonymität des Alltags verlieren; Gesten der Zärtlich-
keit, Zuneigung, des Mitgefühls, die dennoch entscheidend und wichtig
für die Hoffnung der anderen sind. Es sind vertraute Gesten der Auf-
merksamkeit für die Besonderheiten und Details des Alltags, die dafür
sorgen, dass das Leben Sinn hat und es unter uns Gemeinschaft und
Kommunikation gibt.
6.4. Lasst uns die Hoffnung vor allem in den schwierigen Zeiten
des Verlusts leben.
Auftrag: Lassen wir uns von Gott erziehen. Vertrauen wir vor allem
in den dunklen Augenblicken auf ihn. Die heilige Teresa von Avila,
eine große Mystikerin, hat erkannt, dass Leere eine Einladung Gottes ist,
„weiterzugehen“.
Wir alle haben schwierige Zeiten des Verlusts im Leben erfahren. Auf die
eine oder andere Art sind wir gerufen, mit manchen persönlich schmerz-
haften, menschlich schwierigen Erfahrungen ins Reine zu kommen.
Manchmal können die Tage, die Tätigkeiten, das Gebet, das ganze
Leben unerwartet leer, erloschen erscheinen.
Aber zusammen mit dem Leid und dem Schmerz, die in jedem mensch-
lichen Leben gegenwärtig sind, erbeben wir vor Staunen und Hoffnung.
Denn das „Maß der Humanität bestimmt sich ganz wesentlich im Ver-
hältnis zum Leid und zum Leidenden“.28
28  Papst Benedikt XVI., Spe salvi, 38; vgl. Papst Franziskus, “Un plan para resucitar” a la Humanidad
tras el coronarivus (PDF), in Vida Nueva Digital, 17. April 2020.
26

3.9 Page 29

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Leid und Schmerz scheinen im Leben aller Menschen in dem einen oder
anderen Moment gegenwärtig zu sein. Jesus hat weder das Leid geliebt
noch es je gerechtfertigt. Im Gegenteil, angesichts von jemanden, der
vom Schmerz gezeichnet ist, ist er gerührt und oft heilt er den Kranken.
So zeigt er, dass es sich überhaupt nicht um den Willen Gottes handelt.
Angesichts dessen sind wir, anstatt uns passiv, müde und enttäuscht in
uns selbst zurückzuziehen, aufgefordert, Mut zu pflegen, was im mora-
lischen und geistlichen Leben mit dem Begriff Stärke bezeichnet wird.
In der Tat ist diese für die Lebensqualität unentbehrliche Stärke an die
Bewusstheit des Glaubens gebunden.
Viele Gläubige lassen sich gerade in den schwierigsten Momenten ihres
Leids erkennen, wenn sie von Problemen belastet sind, die sie zu über-
fordern scheinen. Diese Prüfungen dürfen nicht als zufällige Ereignisse
gedeutet werden, sondern als Augenblick einer notwendigen Reinigung
und als Einladung, die bis dahin angewandten Maßstäbe zurückzulas-
sen, um eine noch innigere Gotteserfahrung zu machen, sich von Ihm
erziehen zu lassen und auf diese Art auch die empfangene Sendung zu
erfüllen. Wir sind aufgefordert, auch in dunklen Augenblicken vertrau-
ensvoll weiterzugehen.
Als Gläubige sind wir nämlich davon überzeugt, dass Gott allein die
Macht hat, äußerst schwierige Momente unseres Lebens in sichere
Hoffnung zu verwandeln, dass unser Leid, unser Schmerz und unsere
Traurigkeit nicht vergebens oder nutzlos sind.
Es ist, als ob der Mensch an einem Scheideweg stünde, an dem er
entscheiden muss, ob er aufgibt oder neue menschliche und geistliche
Kräfte schöpfen will. Im letzteren Fall sind der Kampf, die Spannungen,
die Konflikte zwar vorhanden, aber sie bleiben stillgelegt; wir sind geru-
fen, die Hoffnung in dunklen Zeiten zu bewahren, weil das Evangelium
immer gute Nachrichten verkündet: Das Leben kann neu beginnen, wir
können von neuem geboren werden. „Spes ultima dea“, sagten die
antiken Schriftsteller: „Hoffnung stirbt zuletzt“. Die Hoffnung ist der
letzte Schutzwall des Lebens. Sie ist wie das Licht des Sonnenunter-
gangs: Es schenkt den Dingen noch Leben, bevor sie in der Dunkelheit
verschwinden, und es erlaubt uns, den Weg nach Hause zu sehen,
bevor die Nacht hereinbricht und alles in die Dunkelheit eingehüllt wird.
27

3.10 Page 30

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6.5. Die Hoffnung als entschiedene Rückkehr zu den Armen und
Ausgeschlossenen.
Auftrag: In unserer Familie besteht die Treue zum Herrn mit Don
Bosco vor allem in der bevorzugten Option für die Ärmsten, Verlas-
senen und Ausgeschlossenen.
Deshalb wird heute mehr als je zuvor von uns erwartet, dass wir uns als
Don-Bosco-Familie charismatisch durch diese ursprüngliche Option für
die Armen und Ausgeschlossenen, für die Abgeschriebenen, die Verlas-
senen, für diejenigen, die keine Stimme und keine Würde haben, aus-
zeichnen. Es gibt keinen anderen Weg für uns. Die Treue zum Herrn in
Don Bosco erlegt es uns auf, uns im Schmerz des anderen zu
erkennen.
In vollkommener Gemeinschaft mit der Tradition und der reinen Lehre
der Kirche, von den frühen lateinischen und griechischen Kirchenvätern
bis zu den letzten Päpsten, können wir nicht anders, als verantwortlich
für diese Welt und das Leben eines jeden zu sein und uns dafür verant-
wortlich zu fühlen. Jede Ungerechtigkeit gegenüber einem Armen ist
eine offene Wunde und ein Angriff (auch wenn wir es nicht glauben) auf
unsere Würde. Wir dürfen niemals vergessen, dass wir nicht allein für
uns selbst leben. Deshalb lässt die Hoffnung die Nächstenliebe beharr-
lich sein. Jesus Christus lädt uns zu dieser hartnäckigen Liebe ein, er lädt
uns ein, den Verstand und das Herz so offen wie möglich für sein Han-
deln zu halten, das genauso unvermittelt kommt wie negative Situati-
onen, denen wir begegnen. Wir sollen ein wirksames „Feldlazarett“ für
alle und besonders für verletzte junge Menschen werden und sein. Das
erfordert von uns mehr Mut, mehr Vertrauen und Engagement. Dies ist
nicht der Zeitpunkt, um „die Ruder wieder ins Boot zu holen“!
Als geistliche, aus dem pastoralen Herzen Don Boscos geborene Fami-
lie sind wir „die Hoffnung für diejenigen, die keine Hoffnung haben“: die
bedürftigsten und verletzlichsten jungen Menschen, die im Mittelpunkt
der Aufmerksamkeit Gottes stehen und die immer unsere bevorzugte
Zielgruppe sein müssen.
Sie sind für uns keine „Mauer“, sondern eine „Tür“: Das, was die Armen
uns lehren, ist die Autorität des Leidenden und Ausgeschlossenen.
Engagieren wir uns, um die Hoffnung in das Herz dieser Menschen zu
bringen, um ihnen Trost zu schenken, um die Schwachen und Bedürf-
tigen aufzurichten, um auf die verschiedenen menschlichen und geist-
lichen Bedürfnisse einzugehen, die uns täglich herausfordern. Die
28

4 Pages 31-40

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4.1 Page 31

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Hoffnung hat also mit Ethik und Handeln zu tun. Hierin unterscheidet
sich die christliche Hoffnung von einem bloßen Optimismus – wie ich
bereits erwähnte.
Wir dürfen uns nicht der Hoffnung berauben lassen, sagt Papst Franzis-
kus, geschweige denn die verschiedenen Zeichen der Hoffnung und des
Wiederaufblühens, die in der Welt auftauchen, ersticken. In der Tat, wie
viele Menschen sind glücklich, Jesus zu lieben, indem sie ihm in den
Armen dienen. Die Großherzigen und Solidarischen liefern uns wertvolle
Lehren durch ihr Leben! Danken wir dem Herrn für diese Beispiele für
ein konsequentes, von Liebe durchdrungenes Leben. Männer und
Frauen, die für die Armen leben, sind Zeichen der Hoffnung, die der Herr
auf unseren Weg gestellt hat: Ihr Leben haben diese „normalen“, aber
heldenhaften Menschen den Schwestern und Brüdern geschenkt. Es ist
ein einfaches, aber felsenfestes Heldentum, im Evangelium gegründet
und durch das Leben verkündet.
6.6. Sich im Schmerz der anderen wiedererkennen.
Auftrag: Don Bosco, dem Vater unserer salesianischen Familie, treu
zu bleiben, bedeutet heute, aufmerksam an der Seite eines jeden
zu stehen, der unter jeglicher Art von Ungerechtigkeit leidet.
„Wie gefährlich und schädlich ist diese Gewöhnung, die uns dazu führt,
das Staunen, die Faszination und Begeisterung zu verlieren, das Evan-
gelium der Brüderlichkeit und der Gerechtigkeit zu leben!“29, schreibt
Papst Franziskus in Evangelii gaudium. Und dies hat ebenso viel mit den
Ungerechtigkeiten zu tun, die aus den Wirtschaftssystemen entstehen,
die die Ursache für so viel Armut sind, wie mit jeder Art menschlichen
Leids.
Beim Lesen des Evangeliums besteht kein Zweifel, dass die Wirtschaft
und die Güter im Dienst der Menschen stehen müssen, vor allem derje-
nigen, die in echter Armut leben. Daher darf kein Christ mit einem ech-
ten sozialen Gewissen und Gerechtigkeitssinn, und noch viel weniger
dürfen wir Ordensleute und Laien der Don-Bosco-Familie eine Wirt-
schaftsform akzeptieren, die sich ausschließlich auf die „Logik des
Wachstums“ stützt (die nach dieser Pandemie so sehr gewünscht ist),
wenn diese eine sichere Ursache für den Anstieg der Armut und der
Armen ist, denn sie gehen immer Hand in Hand.
29  Papst Franziskus, Evangelii gaudium, 179.
29

4.2 Page 32

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Nein zu sagen zu einer Ökonomie der Ausgrenzung bedeutet also,
Nein zu sagen zu jeder politischen und wirtschaftlichen Initiative, die die
Schwächsten vergisst. Christen und Mitglieder der Don-Bosco-Familie
müssen sich in dieser Lage unbehaglich fühlen. Angesichts dieser
Realitäten kann man nicht „neutral“ oder „ohne Meinung“ bleiben. Die
Würde unserer Brüder und Schwestern steht auf dem Spiel; da müssen
wir gewiss vom hohen Ross unserer Sicherheiten herabsteigen, um auf
ihre Realität zu schauen, ohne uns zu schämen. Das ist es, was der Herr
Jesus Christus getan hat, auch wenn es als ein gesellschaftlich und
politisch unkorrektes Verhalten betrachtet wurde.
Und obwohl ich weiß, dass das, was ich gleich sagen werde, für uns –
für mich als Erstes – unbequem sein mag, glaube ich, dass wir den
Schmerz der anderen als unerträglich für unser Gewissen empfinden
müssen. Dieser Schmerz zeigt sich in der Realität der Wohnungslosen,
der Zwangsmigranten, der Menschen, die „zu nichts mehr dienen“, der
Kriege, der Attentate, der Verfolgungen aus rassistischen oder religiösen
Gründen, des sexuellen Missbrauchs, des Menschen- und Organhan-
dels, der Netzwerke der Prostitution, der verlassenen Minderjährigen,
der Kindersoldaten: ein unendliches Meer an schmerzlichen Realitäten.
Wir dürfen dies alles nicht akzeptieren, weil wir diese wunderbare Welt
lieben, in die Gott uns gestellt hat, weil wir die Menschheit lieben, zu der
wir gehören – mit den Dramen, die ich eben beschrieben habe, und der
Müdigkeit zu sehen, dass sich nichts radikal zu ändern scheint –, wir
lieben auch die Sehnsüchte und die Hoffnungen und die Erde als
gemeinsames Haus. Deswegen ist unser Heute, ist unsere post-pande-
mische Welt eine kostbare Gelegenheit, uns klar zu positionieren und
unsere jungen Menschen zu sozialem und politischem Engagement im
Licht des Evangeliums und der Hoffnung, die es ausstrahlt, zu
erziehen.
6.7. Sich zur Hoffnung zu bekehren, bedeutet, an den Plan des
Evangeliums zu glauben.
Auftrag: Deshalb können wir als Don-Bosco-Familie nicht umhin-
kommen zu zeigen, wer der Grund unserer Hoffnung ist, der Gott
Jesu Christi und sein Evangelium.
In den größten Krisen verschwinden manche Gewissheiten, viele
„Sicherheiten“, die wir zu besitzen glaubten, Werte, die in Wirklichkeit
keine sind. Aber tatsächlich bleiben die großen Werte des Evangeliums
30

4.3 Page 33

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und seine Wahrheit erhalten, wenn opportunistische Ideen oder kurzle-
bige Philosophien verschwinden. Die Werte des Evangeliums ver-
schwinden nicht, werden nicht „getilgt“, gehen nicht unter. Deshalb
dürfen wir als Don-Bosco-Familie nicht darauf verzichten zu zeigen,
woran wir glauben.
Die Evangelisierung muss für uns eine existenzielle und echte Freude
sein, die im Geheimnis Christi wurzelt, dem menschgewordenen,
gestorbenen und auferstandenen Gottessohn, der das Innerste der
menschlichen Wirklichkeit durchdringt. Das Evangelium ist die unbe-
dingte Botschaft der Freude, die Stärke und Wagemut verleiht, um jede
Traurigkeit zu überwinden (vgl. Röm 9,2). Das Evangelium ist der leben-
dige Atem der Hoffnung: eine Hoffnung auf den Herrn, der mitten unter
uns ist und uns ständig entgegenkommt; eine Hoffnung, die Freude
hervorruft, eine Hoffnung, die uns ermutigt und uns zu konkretem Ein-
satz zugunsten der anderen und in der Geschichte anspornt, eine
Hoffnung, die uns als Don-Bosco-Familie spüren lässt, dass wir als
Zeichen und Träger seiner Liebe Mittler Gottes für die anderen sind: eine
Hoffnung, die uns für das ewige Leben öffnet, das hier schon begonnen
hat.
„Glaube bedeutet auch, Gott zu glauben, zu glauben, dass es wahr ist,
dass er uns liebt, dass er lebt, dass er fähig ist, auf geheimnisvolle
Weise einzugreifen, dass er uns nicht verlässt, dass er in seiner Macht
und seiner unendlichen Kreativität Gutes aus dem Bösen hervorgehen
lässt. [...] Glauben wir dem Evangelium, das sagt, dass das Reich
Gottes schon in der Welt da ist, hier und dort auf verschiedene Art und
Weise wächst“.30
Wie ermutigend sollte der Gedanke für uns sein, dass niemand für sich
selbst Hoffnung ist, aber dass jeder von uns das Echo der Hoffnung für
die anderen sein kann, jener echten Hoffnung, die die göttlichste Wirk-
lichkeit ist, die im Herzen eines Menschen existieren kann.
Denn „[w]enn Jesus die Welt überwunden hat, dann ist er fähig, in uns
alles zu überwinden, was sich dem Guten widersetzt. Wenn Gott mit uns
ist, dann wird niemand uns jene Tugend rauben, die wir unbedingt
brauchen, um zu leben. Niemand wird uns die Hoffnung rauben.“31
30  Ebd., 278.
31  Papst Franziskus, Generalaudienz, Mittwoch, 27. September 2017.
31

4.4 Page 34

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6.8. Eine konkrete Verpflichtung für die Don-Bosco-Familie
Lasst uns die letzte Enzyklika des Papstes, Fratelli tutti, die die
Geschwisterlichkeit in den Mittelpunkt stellt, verbreiten und lesen (allein,
in der Familie, in Gruppen). Diese bietet uns eine wunderbare Reflexion
darüber, wie wir die Welt heilen, wie wir die menschlichen und ökolo-
gischen Schäden am gemeinsamen Haus reparieren und die Folgen der
wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit verringern kön-
nen. Mit dem Papst sind wir sicher, dass es uns nur als Geschwister
gelingen wird, das Erbe, das der Schöpfer in unsere Hände gelegt hat,
zu bewahren, indem wir der Versuchung widerstehen, uns zu spalten
und die anderen zu unterdrücken. Nur gemeinsam werden wir eine
bessere Welt erschaffen, die den zukünftigen Generationen christliche
Hoffnung gibt.
6.9. Eine Wahrheit, die wir als Ergebnis dieses Jahresleitgedan-
kens vertiefen müssen
Ich beende diesen Kommentar des Jahresleitgedankens 2021 mit dem
klaren Ziel, ein ganz besonderes Gedenken zu hinterlassen, mit einigen
Zeilen, die sehr gut ausdrücken, was ich in diesem Text mitgeteilt habe
und die ich einlade zu verinnerlichen. Der letzte Gedanke gilt natürlich
unserer Mutter Maria, die die Geburt ihres unendlich geliebten Sohnes
erwartend ohne jeden Anspruch in das große Projekt der Erlösung ein-
getreten ist.
Wir Christen leben „von der Hoffnung [...]: Der Tod ist nur das vorletzte
Wort, das letzte Wort hat Gott selbst. Gottes letztes Wort heißt Auferste-
hung, Leben in Fülle, ewiges Leben. Wir Menschen haben nicht alles in
der Hand, aber wir sind in Gottes Hand: Das ist die Gelassenheit schen-
kende Gewissheit von Menschen, die sich auf die Treue Gottes verlas-
sen und auf ihn vertrauen. Die gestaltende Kraft im Leben der Glau-
benden ist die Kraft des Heiligen Geistes. In unsicheren Zeiten dürfen
wir uns vertrauensvoll seiner Führung anvertrauen.“32
32  G. Augustin, Leben bezeugen in einer sterblichen Welt, in: W. Kardinal Kasper, G. Augustin
(Hrsg.), Christsein und die Corona-Krise. Das Leben bezeugen in einer sterblichen Welt, Ostfil-
dern: Grünewald, 3. Aufl. 2020, S. 76.
32

4.5 Page 35

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7. MARIA VON NAZARETH, MUTTER GOTTES,
STERN DER HOFFNUNG
Maria weiß als Mutter gut, was es bedeutet, Vertrauen zu haben und ent-
gegen jeder Hoffnung zu hoffen, im Vertrauen auf den Namen Gottes.
Ihr „Ja“ zu Gott hat alle Hoffnung für die Menschheit erweckt.
Maria hat die Ohnmacht und Einsamkeit bei der Geburt ihres Sohnes
erlebt; sie hat in ihrem Herzen die Ankündigung eines Schmerzes, der ihr
Herz durchbohren wird, bewahrt (vgl. Lk 2,35); sie hat darunter gelitten,
den Sohn als „Zeichen des Widerspruchs“ missverstanden und zurückge-
wiesen zu sehen.
Sie hat Feindseligkeit und Zurückweisung ihrem Sohn gegenüber erlebt,
bis sie am Fuß des Kreuzes auf Golgotha verstand, dass die Hoffnung
nicht sterben würde. Deswegen ist sie bei den Jüngern als Mutter geblie-
ben – „Frau, siehe, dein Sohn!“ (Joh 19,26) – als Mutter der Hoffnung.
„Heilige Maria,
Mutter Gottes, unsere Mutter,
lehre uns mit dir glauben
und hoffen und lieben.
Zeige uns den Weg zu seinem Reich.
Stern des Meeres,
leuchte uns
und führe uns auf unserem Weg!“33
Amen.
Don Ángel Fernández Artime, SDB
Generaloberer
Rom, den 25. Dezember 2020
Weihnachten
33  Papst Benedikt XVI., Spe salvi, 50.
33