GO-403Brief


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1. Brief des Generalobern
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Die Don-Bosco-Familie gestern und heute
Jahresleitgedanke 2009
150. Jahrestag der Gründung der salesianischen Kongregation
Einleitung – Zwei zusammenfallende Ereignisse – 1. Die Don-Bosco-Familie gestern. 1.1 Der charismatische
„Samen“. 1.2 Der Samen unter dem Schnee. 1.3 Der Baum und der Wald: eine blühende Entwicklung. – 2. Im
dritten Jahrtausend: das Heute und das Morgen. 2.1 Auf dem Weg der Gemeinschaft. 2.2 Gemeinschaft in
der Mission und durch die Mission. 2.3 Einige Erfordernisse zur Fortsetzung des Weges. – 3. Grundlinien für
die Zukunft. 3.1 Die Synergien in der Sendung. 3.2 Die Ressourcen. 3.3 Einige Bereiche der Zusammenarbeit:
Die Jugendlichen – Das Berufungsangebot – Die Missionen – Der „Bollettino Salesiano“. 3.4 Kirchliche
Sichtbarkeit der salesianischen Präsenz als „Bewegung“. 3.5 Eine Kultur der Don-Bosco-Familie. - 4.
Vorschläge für die Konkretisierung des Jahresleitgedankens. 4.1 Im Hinblick auf die Bildung und Vertiefung
der charismatischen Mentalität zusammenarbeiten. 4.2 Ein gemeinsames Engagement fördern. 4.3 Ein Werkzeug
der Gemeinschaft: der Orts- und Provinzrat der Don-Bosco-Familie. 4.4 Einige Plattformen der
Zusammenarbeit und der vernetzten Arbeit fördern und entwickeln. – Schluss. Gebet für die Don-Bosco-
Familie. – Bildhafte Erzählung: Die Tannen.
Rom, den 25. Dezember 2008
Fest der Geburt des Herrn
Liebe Mitbrüder!
An einem so schönen und bedeutungsvollen Fest wie dem der Geburt des Herrn möchte ich
mit Euch in Kommunikation treten, um Euch die besten Wünsche zu übermitteln: Der Vater
möge Euch mit jenen Gaben bereichern, die er uns in der Menschwerdung seines Sohnes
geschenkt hat; insbesondere Sich selbst, weil Jesus gerade deswegen zu uns gekommen ist,
um uns Gott und mit Ihm seine Liebe, seine Freude, seinen Frieden, sein Licht, seine
Wahrheit und sein Leben zu geben.
Seit dem letzten Mal, als ich in meinem Rundbrief das Konzept für die Animation und Leitung
in der Amtszeit 2008 – 2014 vorgestellt habe, hat sich das Weltbild grundlegend geändert. Wir
erleben eine noch nie dagewesene Finanz- und Wirtschaftskrise, die das westliche
Sozialmodell in Frage stellt. In diesem Zusammenhang ist es offensichtlich, dass die Ursache
der Finanzkrise nicht nur im Mangel an Transparenz und rechtlich geregelten
Verantwortlichkeiten zu suchen ist, sondern in einem irrigen Gesamtkomplex von Werten, auf
die man die Gesellschaft aufbauen will. Die heutige Krise wird von ihrem wirtschaftlichen
Profil her mit der großen Depression der dreißiger Jahre verglichen. Es scheint aber, dass die
Situation sehr viel schwerwiegender ist, weil sie diesmal von einer tiefgreifenden spirituellen
Krise begleitet wird.
Mit Recht hat Benedikt XVI. beim Weltjugendtag die Jugendlichen ermahnt, „jene neue
Generation von Christen zu sein, die aufgerufen ist, zu jenem Gebäude einer Welt
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beizutragen, in der das Leben liebevoll angenommen, respektiert und gepflegt wird… und
eine Zukunft der Hoffnung für die ganze Menschheit zu errichten“. Und er hat hinzugefügt:
„Die Welt braucht diese Erneuerung! In vielen unserer Gesellschaften ist man – bei
gleichzeitigem materiellen Wohlstand – dabei, die spirituelle Wüste auszudehnen: eine innere
Leere, eine unbestimmte Angst, ein verborgenes Gefühl der Verzweiflung. Wie viele unserer
Zeitgenossen haben sich abbröckelnde und leere Zisternen (vgl. Jer 2,13) auf der
verzweifelten Suche nach Sinn gegraben, nach jenem letzten Sinn, den nur die Liebe geben
kann? Das ist das große und befreiende Geschenk, das das Evangelium mit sich bringt: Es
offenbart unsere Würde als Männer und Frauen, die nach dem Bild Gottes und Ihm ähnlich
geschaffen sind. Es offenbart die erhabene Berufung der Menschheit, die darin besteht, die
eigene Erfüllung in der Liebe zu finden. Es erschließt die Wahrheit über den Menschen, die
Wahrheit über das Leben.“1 Sorge bereiten uns vor allem die Verfassung der äußersten
Unsicherheit, in der die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung lebt, sowie der sich
ausbreitende Mangel an Zukunftsaussichten für die Jugendlichen.
Zu dieser dramatischen wirtschaftlichen Situation, die viele Männer und Frauen dazu zwingt,
in der Ungewissheit des Arbeitsplatzmangels mit all den Begleitumständen zu leben und
zuweilen einfach nur zu überleben, gesellt sich noch die neue Welle der Gewalt, darunter die
gegenwärtigen Massaker im Gebiet von Goma mit Millionen von Vertriebenen. Ich muss
sagen, dass ich stolz bin angesichts der Mitbrüder und Volontäre, die an ihrem Platz geblieben
sind, um weiterhin all die möglichen Flüchtlinge zu verteidigen und aufzunehmen. Dieses
Drama war der Anlass für eine Initiative, „Notfall Kongo“ genannt, die die zwei
Vereinigungen der Obern und der höheren Obern zusammengeführt hat, um in verschiedener
Weise präsent zu sein. Ich wünsche mir, dass die internationalen Organismen sich endlich
dazu entscheiden, einzugreifen und die Rechte aller Menschen dieses geschundenen Gebietes
sicherzustellen.
Während dieser Monate gab es – über die Geschehnisse auf mehr familiärer Ebene hinaus –
verschiedene andere Ereignisse, an denen ich teilnehmen konnte: das Generalkapitel unserer
Don-Bosco-Schwestern, der Töchter Mariens, Helferin der Christen, vom 8. September bis
zum 15. November mit dem Thema „Berufen, Zeichen der vorbeugenden Liebe Gottes zu
sein“; die „harambée“ (eine Solidaritätsveranstaltung) und die Aussendung der Missionare
am 28. September, bei der ich die Herausforderung ausgesprochen habe, eine
außergewöhnliche Missionsaussendung zur Feier des 150. Jahrestags der salesianischen
Kongregation vorzubereiten; die Bischofssynode über „Das Wort Gottes im Leben und in der
Sendung der Kirche“ vom 5. bis zum 26. Oktober; die Visitation in der Provinz Bilbao
anlässlich der Hundertjahrfeier der salesianischen Präsenz in Santander; die erste
Vollversammlung und dann der Kongress der Kongregation für die Gemeinschaften des
gottgeweihten Lebens und der Gesellschaften des apostolischen Lebens; die halbjährliche und
die allgemeine Versammlung der Vereinigung der Generalobern; die Begegnung der
Provinziale Europas vom 28. bis zum 30. November zur Konkretisierung des „Projektes
Europa“. Schließlich haben wir noch die ordentliche Aktivität des Rates der
Wintervollversammlung aufgenommen und mit dem Kurs für die neuen Provinziale den
Anfang gemacht.
Meine Teilnahme am Generalkapitel der Don-Bosco-Schwestern als Generaloberer war
intensiv und – wie ich mir wünsche – auch bedeutsam. Begonnen hat es mit den geistlichen
Exerzitien in Mornese. Fortgesetzt wurde es mit der Eucharistiefeier und der Teilnahme an der
Eröffnungszeremonie im Generalat der Don-Bosco-Schwestern in Rom. Dann kam der
1 Benedikt XVI., Ansprache in der Eucharistiefeier beim Weltjugendtag (Sidney 20.07.2008).
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Besuch bei der Madre Yvonne Reungoat und die Glückwünsche zu ihrer Wahl als neue
Generaloberin zusammen mit ihrem ganzen Rat. Beendet wurde das Kapitel mit der
abschließenden Eucharistiefeier. Für mich war das nicht nur ein institutioneller Akt als
Nachfolger Don Boscos, unseres gemeinsamen Gründers, sondern vor allem ein Akt der
Zuneigung, der Wertschätzung und der Nähe zu dieser Gemeinschaft, der wir eng verbunden
sind - auch durch die Salesianerinnen, denen wir auf unserem salesianischen Weg begegnet
sind und die für uns echte Schwestern waren. Das liegt genau auf einer Linie mit dem Thema
des Jahresleitgedankens dieses Jahres, der uns einlädt, das wiederzuentdecken, was Don
Bosco gewollt hat: eine Familie zu gründen. Das ist unser Reichtum, den wir in der realen,
intensiven und überzeugten Gemeinschaft leben. Das alles geschieht im Dienst an den
Jugendlichen zu ihrem Heil. Dies ist unsere Bedeutsamkeit, die wir in der miteinander
geteilten, qualifizierten und engagierten Sendung leben. Ich spreche den Wunsch aus, dass das
22. GK – über die spirituelle und charismatische Schönheit der von den Kapitularinnen
erlebten Erfahrung hinaus – für die ganze Gemeinschaft ein Moment tiefgreifender
Erneuerung sein kann; dies umso mehr, als unsere Schwestern an das Wesentliche
herangegangen sind, indem sie als Thema den ersten Artikel ihrer Konstitutionen aufgegriffen
haben, um so auf die aktuellen Erwartungen hinsichtlich des weiblichen gottgeweihten
Lebens und den neuen Erfordernissen der Sendung zu antworten.
Die Synode mit dem Thema „Das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche“ im
Verlauf des Paulus-Jahres war für mich eine schöne und anregende Erfahrung. Jede synodale
Zusammenkunft ist eine starke Erfahrung der kirchlichen Gemeinschaft unter dem Vorsitz des
Heiligen Vaters, des Stellvertreters Christi und Nachfolgers des heiligen Petrus. Teilnehmer
waren die Kardinäle, die Erzbischöfe, die Bischöfe als Repräsentanten der Kurie und der
Bischofskonferenzen sowie zehn Generalobern und die eingeladenen Gäste und Experten.
Diese Versammlung war deswegen noch bedeutsamer, weil im Zentrum der Aufmerksamkeit
das stand, was die Kirche erleuchtet und leitet: das Wort Gottes, das Christus in Person ist. Ja,
ich wage sogar zu sagen, dass der größte Nachdruck während der Synode gerade auf der
Aussage lag, dass die Lesung der Heiligen Schrift glaubwürdig und vollständig ist, wenn sie
zur persönlichen Begegnung mit Christus heute führt. Die große Herausforderung besteht
demnach darin, übergehen zu können „von den Worten zu dem Wort“, von den Schriften zum
Wort Gottes! Das ist nur dann möglich, wenn man eine Lesung des Wortes Gottes in der
Haltung des Gebets macht und offen ist für das, was der Geist seiner Kirche sagt.
Die Versammlung begann am 5. Oktober mit der eucharistischen Eröffnungsfeier in der
Basilika des heiligen Paulus außerhalb der Mauern und endete am 26. Oktober mit dem
Abschlussgottesdienst in der Basilika des heiligen Petrus. Die Zusammenkunft war nicht als
eine intellektuelle Versammlung über ein akademisches oder pastorales Diskussionsthema
angelegt, sondern als eine Erfahrung des religiösen Hörens auf das Wort. Das vollzog sich in
der Liturgie (Eucharistiefeiern, Gebet der Terz mit der entsprechenden Lesung und der Vesper
in der Sixtinischen Kapelle, bei der Seine Heiligkeit, der ökumenische Patriarch
Bartholomäus I. das Wort ergriff) sowie in der Durchführung der Synode selbst.
Ich meine, dass die kostbarste Frucht das erneuerte Bewusstsein war, dass die vorrangige
Aufgabe der Kirche und somit auch der Kongregation zu Beginn dieses neuen Jahrtausends
vor allem darin besteht, sich vom Wort Gottes zu nähren, um das Engagement der neuen
Evangelisierung, der Verkündigung des Evangeliums in unserer Zeit wirksam zu gestalten. Ich
nenne Euch einige praktische Schlussfolgerungen für unser gottgeweihtes Leben und unsere
Sendung, die Ihr in einigen der approbierten und dem Heiligen Vater präsentierten
Propositiones finden könnt: an erster Stelle die Aussagen des Vorschlags 24: Wort Gottes und
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gottgeweihtes Leben; der Vorschlag 31 über das Wort Gottes und die Ausbildung; der
Vorschlag 14 über das Wort Gottes und die Liturgie; der Vorschlag 22 über die betende
Lesung der Bibel; der Vorschlag 23 über die Katechese und die Heilige Schrift; der Vorschlag
25f über das Studium der Schrift.
Aus dieser Perspektive ist die Botschaft der Synode, entfaltet in vier Bildern – die Stimme des
Wortes: die Offenbarung; das Gesicht des Wortes: Jesus Christus; das Haus des Wortes: die
Kirche; der Weg des Wortes: die Sendung –sowohl für das eigene Leben wie für die pastorale
Tätigkeit sehr eindrucksvoll. Ich möchte Euch also die aufmerksame und meditative Lektüre
dieser Vorschläge sehr empfehlen.
Besonders Vorschlag 2 beinhaltet einen Wunsch, der mit der Botschaft des Paulus-Jahrs und
dem Kernthema 2 des 26. GK, d.h. mit der „Dringlichkeit der Evangelisierung“, im Einklang
steht. Ich mache ihn mir für uns alle zu Eigen, liebe Mitbrüder: „Diese Synode spricht den
Wunsch aus, dass alle Gläubigen wachsen mögen im Bewusstsein des Mysteriums Christi, des
einzigen Retters und Mittlers zwischen Gott und den Menschen (vgl. 1 Tim 2,5; Hebr 9,15)
und dass die vom religiösen Hören des Wortes Gottes erneuerte Kirche eine neue
missionarische Epoche einleiten möge, indem sie die Gute Nachricht allen Menschen
verkündigt.“
Die Begegnung der Provinziale aus Europa im Generalat vom 28. bis zum 30. November
sollte – getreu den Handlungslinien des 26. GK – die Inhalte und Modalitäten des „Projekts
Europa“ festlegen. Wie bereits eingangs gesagt, geht es nicht um ein Werk der Rettung auf
einem Kontinent mit einem unaufhaltsamen Prozess der Überalterung des Personals, mit
einem kargen Berufungszuwachs und einer zunehmenden Zahl von Laien, die unsere Werke
leiten. Es geht auch nicht darum, die Strukturen zu erhalten oder um das bereits angewendete
Modell für das „Projekt Afrika“ zu wiederholen. Vielmehr will man – wie das GK entschieden
hat – „das salesianische Charisma in Europa neu beleben“ (108) und eine erneuerte
salesianische Präsenz in einer Umwelt planen, die gekennzeichnet ist von einem großen
Wohlstand, einer bewundernswerten wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung
und einer starken sozialen Sensibilität einerseits sowie von einem sich ausbreitenden
Säkularismus, einem Relativismus und Nihilismus, der zu einem „unruhigen Gast“ geworden
ist, und zu einer unbezähmbaren Immigrantenwelle andererseits.
Diese besondere Situation fordert vor allem die Fähigkeit der Mitbrüder in Europa heraus, das
Charisma neu zu beleben und es auf einem Kontinent lebendig zu gestalten, der mehr denn je
Gott, Christus und sein Evangelium braucht. Sie fordert aber auch eine Anstrengung der
ganzen Kongregation in der Überzeugung, dass Europa heute und morgen immer noch ein
fruchtbarer Boden ist für das salesianische Charisma, für die Präsenz der Jugendlichen –
besonders der ärmsten und verlassensten – und für die Notwendigkeit einer Erziehung, die
eine neue Kultur zu erzeugen vermag. Sie soll diesem Kontinent, der so reich ist an
Humanismus und so arm an Zukunft, weil er gegenüber der Transzendenz verschlossen bleibt,
eine Seele verleihen. Während in der Vergangenheit Tausende von salesianischen Mitbrüdern
aus den verschiedenen Nationen Europas in die Missionen gegangen sind, ist Europa heute –
wie übrigens auch anderswo auf der Welt - selbst zum Missionsland geworden und bedarf der
Verkünder und Apostel einer neuen Botschaft, einer frohen Nachricht, die das Leben mit Sinn
erfüllt.
Schließlich haben wir am 18. Dezember die Feier des 150. Jahrestags der Gründung der
Kongregation eingeleitet. Ich habe schon einen Brief mit der Ankündigung dieses so
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bedeutsamen Jahres geschrieben. Darin enthalten sind präzise Angaben und Anregungen
bezüglich der Grundhaltung, mit der man damit umgehen soll. Es folgt eine Reihe von
Hilfsmitteln für die Feiern das ganze Jahr hindurch. Dieses Gnadenjahr soll ja mit der
Erneuerung der Ordensprofess seinen Abschluss finden. Damit machen wir uns das
Engagement der ersten Gruppe zu Eigen, die am 18. Dezember 1859 im Zimmer Don Boscos
zusammengekommen war und den Anfang unserer Gesellschaft vom heiligen Franz von Sales
machte. Diesem Ereignis – betrachtet im Licht des Wortes im Paulus-Jahr – möchte ich
meinen nächsten Rundbrief widmen. Darum beschränke ich mich jetzt auf die Erinnerung an
das, was ich im Brief mit der Ankündigung dieses Jubiläumsjahrs geschrieben habe. Das hat
auch das Thema des Jahresleitgedankens für 2009 beeinflusst, der für alle – besonders aber
für uns Söhne Don Boscos – eine tiefgreifende Wende und einen Mentalitätswechsel bedeuten
soll mit dem Ziel, die Don-Bosco-Familie besser zu verstehen und zu leben. Sind wir doch ihr
gründender und wesentlicher Teil und gleichzeitig die Hauptverantwortlichen für ihre
Animation.
Hier nun der Kommentar zum Jahresleitgedanken:
Die Don-Bosco-Familie gestern und heute:
Der Samen wurde zum Baum, der Baum zum Wald
„Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Senfkorn,
das ein Mann auf seinen Acker säte.
Es ist das kleinste von allen Samenkörnern;
sobald es aber hochgewachsen ist,
ist es größer als die anderen Gewächse und wird zum Baum,
so dass die Vögel des Himmels kommen
und in seinen Zweigen nisten“ (Mt 13,31-32).
Liebe Brüder und Schwestern der Don-Bosco-Familie!
Ich grüße Euch mit dem Herzen Don Boscos, aus dessen Eifer und pastoraler Liebe unsere
geistliche und apostolische Familie hervorgegangen ist. Wir sind die schönste und ergiebigste
Frucht seiner Ganzhingabe an Gott und seiner Leidenschaft, dass die Jugendlichen, besonders
die ärmsten, bedürftigsten und am meisten gefährdeten, die Fülle des Lebens in Christus
erlangen.
Nach den so maßgebenden und anspruchsvollen Jahresleitgedanken der letzten drei Jahre lege
ich Euch nun einen weiteren Leitgedanken vor, der noch dringlicher, anspruchsvoller und
verheißungsvoller ist. Er hat mit unserer Identität und mit unserer Sendung zu tun. Von ihm
hängt in Wirklichkeit unsere sichtbare Präsenz in Kirche und Gesellschaft sowie unser
wirksames Handeln in der Auseinandersetzung mit den großen Herausforderungen der Welt
von heute ab.
Das Jahr 2009 soll uns helfen, immer mehr die Überzeugung Don Boscos zu verwirklichen,
dass die Erziehung der Jugendlichen ein großes Netzwerk von Personen, die sich ihnen
widmen, und eine entschlossene Synergie der Maßnahmen erfordert, um die Ziele zu
erreichen, die die Jugendlichen erwarten, und um bedeutungsvoll für die Gesellschaft zu sein.
Deshalb bitte ich Euch im Namen Don Boscos:
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Setzen wir uns dafür ein,
aus der Don-Bosco-Familie eine große Bewegung
zum Heil der jungen Menschen zu machen.2
Zwei zusammenfallende Ereignisse
Es gibt zwei Ereignisse, die die Wahl des Themas des Jahresleitgedankens für 2009
rechtfertigen: der 150. Jahrestag der Gründung der Salesianischen Kongregation und die
Vorbereitung auf die 200-Jahrfeier der Geburt Don Boscos (1815–2015). Mit der Erinnerung
an den 150. Gründungstag der Salesianischen Kongregation beginnen wir die Vorbereitung
auf den 200. Geburtstag Don Boscos. Dabei erinnern wir an den Aufruf von Papst Johannes
Paul II. bei der Jubiläumsfeier des Jahres 2000: „Jede Ordensfamilie möge das Jubiläum
feierlich begehen und mit der Reinheit des Herzens zum Geist des Gründers zurückkehren!“
Für uns bedeutet diese Jubiläumsfeier also die zu erneuernde und schöpferische Treue zu Don
Bosco, zu seiner Spiritualität und zu seiner Sendung. Das Jubiläumsjahr soll für uns ein
salesianisches „Heiliges Jahr“ sein, in dem wir aufgerufen sind, die Lebenserfahrungen, die
Handlungsweisen und die Grundzüge des Geistes mit Klarheit neu zu leben und mit
Begeisterung weiterzugeben, die Don Bosco und – als erste unter vielen anderen – Mutter
Mazzarello zur Heiligkeit geführt haben.
In diesem Sinn muss ich an die Erfahrung Don Boscos erinnern. In einem ersten Moment
widmete er sich persönlich mit Leib und Seele dem Heil der Jugendlichen, die wie verirrt
durch die Straßen streiften. Dann lud er einige ein, seine apostolische Arbeit mit ihm zu teilen,
und ermöglichte so eine Art Urform der „Salesianischen Familie“. Als er aber sah, dass viele
ihn verließen und er fast allein übrig blieb, scharte er eine Gruppe von Jugendlichen um sich
und formte sie, damit sie mit ihm eine Ordensfamilie bilden konnten. So entstanden die
Salesianer. In der Folgezeit kamen andere Gruppen hinzu, die verschiedenartig strukturiert
waren, aber alle die gleichen apostolischen Ziele hatten. Dieser kurze Hinweis auf den
geschichtlichen Verlauf zeigt deutlich, was die Don-Bosco-Familie und ihre Beziehung zu
ihrem eigentlichen Kern, zu den Gottgeweihten, den Salesianern Don Boscos und den Don-
Bosco-Schwestern bedeutet, deren Herz und Antriebskraft – wie übrigens die der ganzen Don-
Bosco-Familie – die Leidenschaft des „Da mihi animas, cetera tolle“ ist. Diese Leidenschaft
schließt den Geist in sich, der alle Mitglieder und Gruppen der Don-Bosco-Familie prägen
muss.
Es scheint mir natürlich zu sein, dass die Gotthingabe umso vollkommener ist, je größer die
Verantwortung im Bereich der Animation ist. Diese Überzeugung wurde uns vom Hl. Vater
Benedikt XVI. bei seiner Ansprache anlässlich der Audienz der Kapitulare am 31. März 2008
bestätigt: „Don Bosco wollte, dass die Kontinuität seines Charismas in der Kirche durch die
Entscheidung für das gottgeweihte Leben sichergestellt ist. Auch heute kann die salesianische
Bewegung nur dann wachsen, wenn in ihrem Inneren weiterhin ein starker und
lebenstüchtiger Kern von gottgeweihten Personen existiert.“
1. Die Don-Bosco-Familie heute
Der 150. Jahrestag der Gründung der Salesianischen Kongregation ist eine Gelegenheit, über
die ursprünglichen Ideen Don Boscos und über die konkrete Gründung der ersten Gruppen,
2 Die italienische Fassung des Jahresleitgedankens 2009 lautet: “Impegniamoci a fare della Famiglia Salesiana
un vasto movimento di persone per la salvezza dei giovani.”
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die von ihm ins Leben gerufen und betreut wurden, nachzudenken: die Salesianer Don
Boscos, die Töchter Mariens der Helferin der Christen (Don-Bosco-Schwestern), die
Vereinigung der Salesianischen Mitarbeiter und die Maria-Hilf-Verehrer (ADMA).
Ausgehend vom Gleichnis Jesu, mit dem er die Dynamik des Reiches Gottes erklärt, wage ich
zu sagen, dass der von Don Bosco gesäte Samen zu einem dicht belaubten und starken Baum
herangewachsen ist, ein wahres Geschenk Gottes an die Kirche und an die Welt. Die Don-
Bosco-Familie hat in der Tat einen echten Frühling erlebt. Zu den ursprünglichen Gruppen
gesellten sich unter dem Impuls des Heiligen Geistes andere Gruppen, die mit je spezifischen
Berufungen die Gemeinschaft bereichert und die salesianische Sendung erweitert haben.
Heute ist es vor aller Augen offenbar, wie sehr sich unsere (geistliche) Familie ausgeweitet
hat. Die vollbrachte Arbeit hat sich vervielfältigt und auch die, von der wir träumen.
Grenzenlos erweitert hat sich der Tätigkeitsbereich zum Wohl so vieler Jugendlicher und
Erwachsener. Dafür sind wir dem Herrn dankbar. Und wir sind uns unserer großen
Verantwortung bewusst, eben weil – wie jede Berufung – auch die Berufung der Don-Bosco-
Familie im Dienst der Sendung steht, in unserem Fall im Dienst am Heil der Jugend,
besonders der ärmsten, verlassenen und gefährdeten.
1.1 Der charismatische „Samen“
Der Heilige Geist, seine eigene Mentalität, seine pastorale Erfahrung sowie seine Sicht von
der Welt und von der Kirche führten Don Bosco zu einigen Überzeugungen und zu
entsprechenden Initiativen:
- Don Bosco wusste um die in solidarischer Weise aufzugreifende universale Sendung
der Kirche, den ganzen Menschen und alle Menschen zu retten. Innerhalb dieser
Sendung sollen sich seine Söhne und Nachfolger durch die Vorliebe zu den
Jugendlichen, den Armen und den nicht-evangelisierten Völkern auszeichnen.
- Don Bosco sah die Nützlichkeit, ja die Dringlichkeit und zwingende Notwendigkeit,
sich geistlich zu vereinigen und sich im Handeln für entsprechende Unternehmungen
zum oben genannten Ziel zusammenzuschließen.
- Er sah die Möglichkeit, dass der ihm geschenkte Geist in verschiedenen Lebensformen
gelebt werden kann und dass man demnach durch die Einheit der „Guten“ zur großen
Sendung der Kirche beitragen kann, indem man sich mit den salesianischen
„Prioritäten“ in sie einbringt;
- Daher gründete er die ersten Gruppen, die sich im Einflussbereich der oratorianischen
Erfahrung in der gemeinsamen Sendung, mit einem gemeinsamen Stil, einer
gemeinsamen Methode und im gemeinsamen Geist zusammenschlossen. Sie taten dies
mit unterschiedlicher Bindung an die salesianische Kongregation (als dem
ursprünglichen Kern),
mit verschiedener Verbindlichkeit der Mitgliedschaft,
mit verschiedenen Formen der Zugehörigkeit,
auf verschiedenen Ebenen des öffentlichen „christlichen“ Engagements als
Grundforderung der Zugehörigkeit.
- Dabei betonte Don Bosco die geschichtliche Funktion der Salesianer Don Boscos, der
Don-Bosco-Schwestern und der Salesianischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Don
Boscos.
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1.2 Der Samen unter dem Schnee: das stille Wachstum
Diese Intuitionen haben sich dann entsprechend dem Verständnis entwickelt, das die
Nachfolger Don Boscos im Zusammenhang mit einer bestimmten Sicht und Lebensform der
Kirche haben konnten. Diese Entwicklung findet man:
- in der Fortdauer und Ausdehnung der von Don Bosco gegründeten Gruppen;
- in den Anpassungen und in den regelmäßigen Überprüfungen der organisatorischen
und spirituellen Elemente;
- im Sinn für die lebendigen Beziehungen, die diese Gruppen untereinander pflegen.
In der Zwischenzeit entstanden andere Gruppen mit analogen Merkmalen auf verschiedenen
Kontinenten, weil sie von Salesianern gegründet wurden. Unter ihnen ragt die Gruppe der
„Volontarie di Don Bosco“ (Freiwillige Don Boscos) hervor; diese sind eine Umsetzung des
salesianischen Geistes in das gottgeweihte Leben in der Welt, das auch in der Kirche eine
Neuheit war.
Die vom Zweiten Vatikanischen Konzil geschaffenen neuen Bedingungen (Kirche als Einheit
und Gemeinschaft, Erneuerung der Institute des gottgeweihten Lebens, Rückkehr zum
ursprünglichen Charisma, Aufwertung des Laientums) haben dazu verholfen, den Charakter
als „charismatische Familie“ zu entdecken und hervorzuheben, den das Zueinander der
entstandenen Gruppen haben konnte. Darüber hinaus war es möglich, auch
Handlungsrichtlinien in diesem Sinn zu formulieren: Kommunikation zwischen den Gruppen,
Ausdrucksformen der Gemeinschaft, Animatoren-Funktion der Salesianer, der Generalobere
als bedeutsamer Bezugspunkt, gemeinsame Elemente der Spiritualität.
Diese neue Mentalität muss dennoch von der Formulierung auf dem Papier in das Leben jeder
Gruppe und jedes einzelnen Gruppenmitglieds übergehen, damit die Don-Bosco-Familie als
eine Dimension der jeweiligen Berufung erlebt werden kann: „Ohne euch sind wir nicht mehr
wir!“
1.3 Der Baum und der Wald3: eine blühende Entwicklung
Einige Ereignisse haben die Entwicklung der Familie begleitet und unterstützt:
Gefordert wurde die formelle und öffentlich anerkannte Zugehörigkeit der Gruppen,
die nach dem Tod Don Boscos entstanden waren. In ihrer Gesamtheit gibt es heute 23
offiziell anerkannte Gruppen der Don-Bosco-Familie:4
1. Die Gesellschaft des heiligen Franz von Sales
(Salesianer Don Boscos) (SDB)
2. Das Institut der Töchter Mariens, der Helferin der Christen (Don-Bosco-
Schwestern) (FMA)
3. Die Vereinigung der Salesianischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen (SMDB)
4. Die Vereinigung der Maria-Hilf-Verehrer (ADMA)
5. Die Vereinigung der Ehemaligen Don Boscos (EDB)
6. Die Vereinigung der Ehemaligen der Don-Bosco-Schwestern
7. Das (Säkular-)Institut der Volontarie Don Boscos (VDB)
8. Die Töchter der heiligsten Herzen Jesu und Mariens
9. Die Salesianischen Oblatinnen des heiligsten Herzens Jesu
10. Die Apostelinnen von der heiligen Familie
3 Das italienische Wort „bosco“ bedeutet im Deutschen „Wald“.
4 Vgl. zu kirchenrechtlichem Status, offiziellem Namen, Gründer, Gründungsjahr und –ort, Mitgliederzahl und
Kontaktadressen der einzelnen Gemeinschaften, Vereinigungen und Gruppen: www.sdb.org.
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11. Die Miyazaki-Caritas-Schwestern
12. Die Missions-Schwestern Mariens, der Helferin der Christen
13. Die Töchter vom Göttlichen Erlöser
14. Die Mägde vom Unbefleckten Herzen Mariens
15. Die Schwestern vom Jesus-Knaben
16. Die Vereinigung „Damas Salesianas“
17. Die (männlichen) „Volontari con Don Bosco“ (CDB)
18. Die Schwestern von Maria Immaculata und Helferin der Christen
19. Die Töchter des Königtums der Maria Immaculata
20. Die Zeugen des Auferstandenen 2000
21. Die Kongregation des heiligen Erzengels Michael
. („Michaeliten“)
22. Die Kongregation der Schwestern von der Auferstehung
23. Die Kongregation der Schwestern von der Verkündigung des Herrn.
Es sind noch andere Gruppen entstanden, die auf die formelle Anerkennung als
Mitglieder der Don-Bosco-Familie warten und die Bedingungen dafür erfüllen wollen;
in der Zwischenzeit schafft man die Voraussetzungen dafür, dass sich weitere Gruppen
in diesem Sinn äußern könnten.
Die Don-Bosco-Familie hat ausführlich über die eigene Identität (vgl. Amtsblatt 358),
über die Elemente, die ihren Bestand und ihre Einheit betreffen sowie über die
Organisation für die Kommunikation reflektiert (vgl. „Charta der Gemeinschaft“ und
„Charta der Sendung“).5
Jede Gruppe war bestrebt, sich zu festigen, indem sie sich Statuten oder Satzungen für
ihr Leben, Richtlinien für die Schulung ihrer Mitglieder und Zusammenfassungen der
eigenen spezifischen salesianischen Spiritualität gaben und sich bemühten, die
Organisation zu verbessern und Wege oder Gelegenheiten des Wachstums und der
Entwicklung zu finden.
Es gab eine gemeinsame Anstrengung, die Möglichkeiten und Formen der Einheit und
Gemeinsamkeit untereinander zu vertiefen und zu definieren. In nach wie vor gültiger
Weise hat zunächst die „Charta der Gemeinschaft“ und dann die „Charta der Sendung“
darauf Bezug genommen; diese soll man weiterhin verbreiten, studieren und
verwirklichen.
2. Im dritten Jahrtausend: das Heute und das Morgen
2.1 Auf dem Weg der Gemeinschaft
Die Kirche ist in eine neue Phase der Gemeinschaft (comunione) eingetreten, die von den
kontinentalen Synoden und den Synoden der Gesamtkirche, vom ökumenischen Dialog, von
der interreligiösen Bewegung, von der globalisierten Solidarität und vom Engagement für die
Versöhnung gekennzeichnet ist.
Merkmale dieser Gemeinschaft sind:
- die Neuinterpretation der Grundlagen,
5 „La Carta di Comunione nella Famiglia Salesiana di Don Bosco“, Rom 1995; deutsch: „Die Salesianische
Familie Don Boscos als ‚Communio’“, Arbeitstexte 8, hg. vom Institut für Salesianische Spiritualität,
Benediktbeuern 1995; „La Carta della Missione della Famiglia Salesiana“, Rom 2000, deutsch: „Charta der
Sendung der Don-Bosco-Familie“, hg. vom Institut für Salesianische Spiritualität, Benediktbeuern 2001.
Überarbeitete Fassungen der beiden Texte: vgl. www.iss.donbosco.de. Neuherausgabe in Vorbereitung.
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- eine größere Ausdehnung,
- ein angemesseneres Verständnis ihrer Voraussetzungen,
- eine größere Erkennbarkeit,
- eine wirksamere apostolische und missionarische Konkretisierung,
- ihr Bezug zur Mission: „Die Gemeinschaft schafft Gemeinschaft und sie stellt sich
wesentlich als missionarische Gemeinschaft dar“ (Christfideles Laici, 32).6
Wenngleich unsere Familie vorrangig eine apostolische ist, so senkt sie doch für ihr Familie-
Sein ihre Wurzeln notwendigerweise in das Mysterium der Dreifaltigkeit ein, die Ursprung,
Leitbild und Ziel einer jeden Familie ist. Wenn wir den „Gott, der Liebe ist“, den „Gott, der
Gemeinschaft ist“, den „Gott, der Familie ist“, betrachten, begreifen wir, was für uns die
Sendung („Zeichen und Botschafter der Liebe Gottes zu sein“), die Spiritualität der
Gemeinschaft und das Familie-Sein bedeuten.
Der Vater erinnert uns an die Weite des Herzens, wegen der wir Mitglieder und Gruppen der
Don-Bosco-Familie uns als Brüder und Schwestern annehmen und als Männer und Frauen
begreifen, die von Ihm geliebt sind und von Ihm persönlich berufen, auf seinem „Acker“ für
dasselbe Ziel zu arbeiten. Die Engherzigkeit des menschlichen Herzens kann Barrieren
errichten, Distanzen und Trennungen schaffen, nach dem ersten Platz streben lassen, wie unter
den Aposteln – das alles zum Schaden des Gottesreiches. Manchmal sind es unsere Ängste
oder Reserven gegenüber der Einheit mit den anderen, die ähnliche Wirkungen erzeugen.
„Herz“, wie das des Vaters, bedeutet echtes und tiefes Mitgefühl für die Jugendlichen und
diejenigen, die für sie ihr Leben opfern. Es verwandelt sich in Herzlichkeit, in Wertschätzung
allen und jedem gegenüber, in Anerkennung dessen, was jeder kann und zu geben vermag.
Der Heilige Geist zeigt uns eine zweite Grundhaltung zum Aufbau der Familie an: die
dankbare und freudige Annahme der Verschiedenheit. Erscheinungsformen des Geistes sind
die vielen Sprachen, die vielfältigen Charismen, die verschiedenen Glieder des einen Leibes.
Es sind die Milliarden von Menschen, ein jeder einzeln geformt als Sohn oder Tochter Gottes.
Der Geist wiederholt sich nicht, er produziert nicht in Serie.
Don Bosco war Meister darin, die Einheit aus der Verschiedenheit der Typen und
Temperamente, der Voraussetzungen und der Begabungen aufblühen zu lassen. Zu seiner Zeit
war diese Sensibilität kaum präsent. Heute dagegen stellt die Verschiedenheit eine
erzieherische und pastorale Herausforderung für das menschliche Zusammenleben, für das
kirchliche Zeugnis und für die Don-Bosco-Familie dar.
Verschiedenheit besagt: Fülle der Beziehungen, Vielfalt der Kräfte, Ertragsreichtum der
„Felder“ und somit Fruchtbarkeit ohne Kalkül. Was für eine unvergleichliche Gelegenheit
zum Dialog und zum Austausch spiritueller und erzieherischer Erfahrungen können die
Mitglieder der Don-Bosco-Familie anbieten: Männer und Frauen, Gottgeweihte und
Weltleute, Priester und Laien in ihrer einzigartigen Verfasstheit als Ehemänner und Ehefrauen,
als Söhne und Töchter, als Junge, Erwachsene und Alte, als Arbeiter, Fachleute oder
Studierende; Menschen aus verschiedenen Völkern und Kulturen, in voller Kraft oder in der
Prüfungsphase der Krankheit, Heilige und Sünder!
Gewiss, die Einheit zwischen Verschiedenartigen ist nicht naturgegeben. Aber gerade damit
wir die Kraft zur Überwindung des Instinkts der Selbstbestätigung hätten, hat Jesus gebetet:
„Damit sie eins seien!“ (vgl. Joh 17,11).
Jesus, der Herr, der Sohn, der sich zu unserem Weggefährten gemacht hat, der alle Dinge im
Himmel und auf Erden (Kol 1,20) miteinander versöhnt, indem er sie in Gott zusammenfasst,
zeigt uns eine dritte Grundhaltung an: Es ist der Wille, miteinander auf ein gemeinsames Ziel
6 Wörtlich heißt die amtliche Übersetzung des Zitates: „Die communio schafft communio und stellt sich
wesentlich als missionarische communio dar“ (ChL 32).
10

2 Pages 11-20

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2.1 Page 11

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hin unterwegs zu sein, uns in einem Raum einzufinden, der keineswegs ätherisch (entrückt)
ist: das Reich Gottes. Der Wille auch, eine erkennbare Jüngergemeinschaft zu bilden, die
gemeinsam den Auftrag annimmt: „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das
Evangelium allen Geschöpfen!“ (Mk 16,15).
Das sind die drei unverzichtbaren Grundhaltungen, um in der Gemeinschaft zu wachsen: die
Weite des Herzens, die Annahme der Verschiedenheit und der Wille, miteinander auf ein
gemeinsames Ziel hin unterwegs zu sein.
2.2 Gemeinschaft in der Sendung und durch die Sendung
„Die Gemeinschaft schafft Gemeinschaft und stellt sich wesentlich als missionarische
Gemeinschaft dar“ (Christfideles Laici 32). Nun, im dritten Jahrtausend ist es unser
hauptsächlichstes Ziel, in deutlicherer Weise die Gemeinschaft in der Sendung zum Ausdruck
zu bringen und die folgenden Kriterien zu beachten:
- Gemäß den Konstanten der Anfangszeit und der Entwicklung der Don-Bosco-Familie:
Eine Sache ist als kostbares Erbe konstant geblieben: die erzieherische Leidenschaft
insbesondere für die ärmsten Jugendlichen, denen wir helfen, sich der eigenen Würde
als Person sowie der Werte und Möglichkeiten, die ihr Leben für Gott und für die Welt
hat, bewusst zu werden.
„Da mihi animas“ ist das Motto Don Boscos, das wir zu dem unsrigen machen! Wir
schauen auf die Jugendlichen, auf ihre geistliche Dimension. Wir wollen uns um sie
kümmern, um in ihnen die Berufung zu wecken, Kinder Gottes zu sein. Wir wollen
ihnen helfen, diese Berufung zu verwirklichen, indem wir dem Präventivsystem folgen
und unser Tun auf Vernunft, Religion und Liebenswürdigkeit stützen. Das verlangt
auch die Loslösung von allem, was uns von unserer Hingabe an Gott und die
Jugendlichen abhalten kann. Das ist die Bedeutung des „cetera tolle“, des zweiten
Teils unseres Mottos.
- Entsprechend den Bedingungen der Welt von heute:
Die Welt, die durch die Kommunikation vereint und von Komplexität geprägt ist, in
der viele „Ursachen“ umfassenden Charakter haben und in der es die Möglichkeit von
Netzwerken gibt, bietet für die christliche, entwicklungsfördernde, erzieherische und
jugendliche Sendung ein neues Szenarium.
Die Don-Bosco-Familie wird gemeinsam versuchen, der eigenen Präsenz in der
Gesellschaft Kraft und ihrem erzieherischen Handeln Einfluss zu verschaffen. Es gibt
die Probleme der Jugendlichen, das zu schützende Leben, die zu bekämpfende Armut
in ihren verschiedenen Ausdrucksformen, der förderungswürdige Friede, die
Menschenrechte, die zu verwirklichen sind und Jesus Christus, den wir bekannt
machen sollen.
- Als Frucht der letzten Jahresleitgedanken:
Die Jahresleitgedanken der letzten drei Jahre haben die Dringlichkeit der Erziehung,
das Engagement für die Familie, die Förderung des Lebens, die Vorliebe für die
Armen, die globale Solidarität und die neue Evangelisierung herausgestellt.
Diese neue Phase der Don-Bosco-Familie wird geprägt sein von einer eifrigen und
tätigen Liebe, die voll ist von Phantasie und Großherzigkeit: von der Liebe, die aus
Don Bosco ein Abbild Jesu, des Guten Hirten, gemacht hat, der durch ihn von den
Jugendlichen und dem einfachen Volk zu erkennen war. Wir, die Don-Bosco-Familie,
sind heute im 21. Jahrhundert aufgerufen, unser armes und zuweilen auch sündhaftes
Herz nach dem Herzen Jesu zu formen, in dem sich Gott der Welt als derjenige
11

2.2 Page 12

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offenbart hat, der das Leben gibt, damit der Mensch glücklich sei und Leben in Fülle
habe (vgl. Joh 10,10).
2.3 Einige Erfordernisse zur Fortsetzung des Weges
Es erheben sich unmittelbar einige Forderungen, um den Weg des Wachstums fortsetzen und
das Ziel der Gemeinschaft in der Sendung, das wir uns vorgenommen haben, erreichen zu
können:
Zum besseren Verständnis das mögliche gemeinsame Feld und die
Handlungsmerkmale der Sendung vertiefen;
Das bedeutet: zusammen beobachten und reflektieren, miteinander sprechen, studieren
und beten, um den Weg zu finden, den man im Geist der Gemeinschaft gehen soll. Es
ist das Zeichen der Liebe, das die Jugendlichen erwarten und dessen Wirkung und
Wohltat sie spüren werden.
Die Spiritualität als Ansporn der Gemeinschaft für die Sendung ins Zentrum stellen,
und zwar gemäß dem Zeittakt der Kirche und den Gegebenheiten der heutigen
religiösen Erfahrung; daraus ergibt sich die Dringlichkeit der Schulung der Mitglieder
und die Einbeziehung anderer.
Die Heiligkeit: Das ist die Quelle und Kraft, von der „eine umfassende Bewegung
ausgeht, in der Menschen auf verschiedene Weise zum Heil der Jugend wirken“
(Konst. SDB, Art. 5): eben die Don-Bosco-Familie. Es ist undenkbar, dass sie ein
Ergebnis einer noch so perfekten Organisation oder raffinierter Techniken der
Zusammenführung sein könnte. Der Heilige Geist hat sie ins Leben gerufen und vom
Geist lebt sie.
Diese Familie lade ich dringend ein, sich eine neue Mentalität anzueignen: immer als
Bewegung zu denken und zu handeln – mit starkem Gemeinschaftsgeist (Eintracht),
mit überzeugtem Willen zur Synergie (Einheit in der Absicht) und mit reifer Fähigkeit,
im Netzwerk zu arbeiten (Einheit in den Projekten). In der Satzung der Salesianischen
Mitarbeiter Don Boscos schrieb Don Bosco: „Zu jeder Zeit hielt man die Einheit der
Guten für notwendig, um sich gegenseitig dabei zu unterstützen, Gutes zu tun und das
Übel fernzuhalten … Die schwachen Kräfte werden stark, wenn sie vereint sind; und
wenn auch eine Schnur – für sich allein genommen – leicht zerreißt, so ist es doch sehr
schwierig, drei vereinigte Schnüre zu zerreißen. Die schwachen, aber vereinten Kräfte
werden stark: Vis unita fortior, funiculus triplex difficile rumpitur (vereinte Kraft ist
stärker, ein dreifaches Seil zerreißt nur schwerlich).“ Wir dürfen nie vergessen, dass
wir von einem Heiligen der Nächstenliebe gegründet wurden: von Don Bosco (vgl.
Deus caritas est, Nr. 40). Er war sich aber dessen bewusst, dass die erzieherisch-
pastorale Arbeit einer mitwirkenden Liebe bedarf, deretwegen der Hl. Geist Charismen
erweckt hat.
Die selbstständige Fähigkeit der Gruppen gewährleisten, sowohl in Bezug auf die
eigene Entwicklung, auf die Schulung der eigenen Mitglieder als auch auf die
apostolischen Initiativen;
Bewegliche Formen der Zusammenarbeit verstehen und ausprobieren: „Global
denken, lokal handeln“;
Die salesianische Erfahrung vertiefen, dass sich dies unter laikalen Bedingungen
vollzieht.
12

2.3 Page 13

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3. Grundlinien für die Zukunft
Frucht dieses Jahresleitgedankens muss also eine gemeinsame, besser sichtbare und auch
konkrete Anstrengung auf der Ebene der Sendung sein.
Zahlreich sind die Vorschläge, die abzuwägen sind. Dabei muss man der Entwicklung des
Lebens und gewissen Prioritäten Rechnung tragen. Darauf setzen die „Charta der
Gemeinschaft“ und die „Charta der Sendung“ der Don-Bosco-Familie. Während die Erste
unsere gemeinsame „DNA“ genau präzisiert, d. h. jene Elemente, die unsere salesianische
charismatische Identität ausmachen, stellt die Zweite eine Klarstellung der Vorhaben und der
Leitlinien dar. Das Ziel beider besteht in erster Linie darin, Bewusstsein zu schaffen,
Mentalitäten zu prägen und eine „Kultur der Don-Bosco-Familie“ hervorzubringen. Alle beide
müssen ein jedes Mitglied der verschiedenen Gruppen zu der Überzeugung führen, dass es
ohne die anderen nicht das ist, was es sein soll. Folglich sollen sie verschiedenartige und
vielfältige Synergien erzeugen, die nicht alle institutionalisiert sein müssen. Ich wünsche mir,
dass eine Frucht dieses Jahresleitgedankens die „Charta der Spiritualität“ ist, von der ich
mehrmals gesprochen habe. Die Spiritualität ist die Grundmotivation und die stärkste Kraft
des Engagements eines jeden Mitglieds der Don-Bosco-Familie, die so eine größere
Wirksamkeit und eine nachhaltigere Auswirkung auf die erzieherisch-pastorale Tätigkeit
garantieren kann.
Die Synergien in der Sendung
Der Bezug zur „Charta der Gemeinschaft“ und zur „Charta der Sendung“ bietet uns die
Gelegenheit, über die möglichen Bedingungen von Synergien in der Sendung nachzudenken.
Wir müssen uns vor allem vergegenwärtigen, dass wir bereits eine gemeinsame Sendung
haben und dabei sind, sie zu verwirklichen. Es ist die Sendung, die vom Hl. Geist in
verschiedenen Diensten und Initiativen, in verschiedenen Formen von Maßnahmen, allerdings
in der Übereinstimmung der Zielsetzungen, Inhalte und Methoden erweckt und artikuliert
wurde, wie man in allen Konstitutionen, Satzungen oder Statuten der verschiedenen Gruppen
nachlesen kann. Es war ein Werk des Hl. Geistes, als er aus dem salesianischen Stamm einen
neuen Zweig mit seinen spezifischen Merkmalen hervorsprießen ließ. Dies soll uns zu
verstehen geben, dass die erste Bedingung für die Gemeinschaft und die gemeinsame
Sendung (in der DBF) darin besteht, dass jede Gruppe mit der größtmöglichen Anstrengung
die eigene Berufung und Sendung verwirklicht, die ihr beständige Vitalität, vereint mit Treue
und Kreativität, verleiht. Der Hl. Geist hat uns schon aufgegliedert in Männer und Frauen
sowie in Gottgeweihte und Laien, die unter der Jugend, den Kranken, den nicht-
evangelisierten Völkern etc. präsent sind. Wenn jede Gruppe mit dem Geist und den Zielen,
die sie sich in den eigenen Statuten gegeben hat und die mit der salesianischen Spiritualität in
Einklang stehen, ihren Zweck erfüllt, haben wir die salesianische Sendung bereits erfüllt.
Die erste große Hilfe und die beste Verwirklichung der „Charta der Gemeinschaft“ und der
„Charta der Sendung“ ist also das Bewusstsein der gegenseitigen Ergänzung im Dienst einer
großen Sendung, dem dann seitens einer jeden Gruppe die Öffnung füreinander und die
Bereitschaft zur gegenseitigen Unterstützung und Hilfe in der gemeinsamen Sendung folgen
muss.
Unsere Zeiten fordern allerdings neue Ausdrucksformen der gemeinsamen Sendung. Es gibt
heute, wie wir in den Leitgedanken der letzten Jahre betont haben, übergreifende Gründe (wie
die Familie, das Leben, die Erziehung, die Rechte der Minderjährigen, das Problem des
Friedens, die Frauenfrage, die Bewahrung der Schöpfung), die uns zum gemeinsamen
Engagement verpflichten. Da ist vor allem die globale Solidarität, die sich in
unterschiedlichen Formen ausdrückt und nach Zusammenschlüssen, öffentlichen Erklärungen
13

2.4 Page 14

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und Möglichkeiten des Ausübens von Druck auf die Organisationen sucht, die das Leben der
Nationen und der Welt lenken. Und es gibt auch neue Möglichkeiten des Zusammenschlusses
in Netzwerken sowie der Kommunikation. Das führt zu verschiedenen Formen von
Maßnahmen und der Aktivierung von Synergien, die früher nicht denkbar waren. Wir wollen
die noch unerforschten Möglichkeiten in der salesianischen Sendung nutzen und die
Gelegenheiten aufgreifen, die uns unsere Zeit bietet, indem wir vorhandene Kapazitäten und
innovative Kreativität zusammenführen.
Ich bin davon überzeugt, dass sich die Don-Bosco-Familie mit Glaubwürdigkeit innerhalb der
Kirche präsentieren wird und dass sie pastoral, spirituell und in Bezug auf die Berufung für
die Jugendlichen fruchtbar sein wird, wenn es ihr gelingt, als echte Bewegung im Dienst der
Jugend zusammenzuarbeiten. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich die Bewegung durch
einige Grundideen und durch einen gemeinsamen Geist auszeichnet. Mehr als in einem Statut
finden sich die Mitglieder der verschiedenen Gruppen in einer Bewegung zusammen. Es ist
eine mehr vitale als formale Zugehörigkeit! Von dieser Perspektive aus ist die salesianische
Bewegung sehr viel größer als die Don-Bosco-Familie, weil sie die Jugendlichen selbst, die
Eltern unserer Zielgruppen, die Mitarbeiter, die Freiwilligen, die Sympathisanten des
salesianischen Werkes und die Wohltäter einschließt – und auch Nicht-Christen, wie es in
vielen Teilen der Welt, besonders in Asien, aber nicht nur dort der Fall ist. Es handelt sich um
Personen, die teilweise an unserer Sendung oder am salesianischen Charisma teilhaben. Sie
sind die „Freunde Don Boscos“. Und innerhalb dieser großen Bewegung ist die Don-Bosco-
Familie ihr Animationskern.
Die Ressourcen
Mit welchen Ressourcen können wir rechnen?
- In erster Linie mit der Bildung der Menschen und mit der Stärkung der
Gemeinschaften und Gruppen;
- Wir brauchen aber auch die Erarbeitung und den Erwerb einer gemeinsamen
charismatischen Kultur und Mentalität, wozu die „Charta der Gemeinschaft“ und die
„Charta der Sendung“ beitragen sollen.
- Die organisatorische Stütze ist sicher nützlich, aber sie hat nur einen unterstützenden
Wert und wird den Anforderungen und den konkreten Situationen angepasst.
Wir glauben weiterhin, dass die Don-Bosco-Familie auch heute noch vor allem eine
charismatische Wirklichkeit ist, deren große Ressourcen der Hl. Geist und die Kreativität sind.
All dies stützt sich auf eine ausreichende organisatorische Struktur.
Hinsichtlich der Sendung gilt es, noch einen anderen Aspekt zu beleuchten. Wir nennen uns
Mitverantwortliche in der Sendung. Wir müssen uns aber vergegenwärtigen, dass die
Sendung, die sich mit gemeinsamen Zielen und gemeinsamem Geist auf die vielfältigen
Tätigkeitsfelder (Bereiche, Dimensionen) bezieht, nicht notwendigerweise Mitverantwortung
in jeder einzelnen Initiative oder auf jedem einzelnen Gebiet bedeutet. Jedes Mal, wenn man
von der Sicht des großen Bereichs der Sendung zu ihrer konkreten Verwirklichung schreitet,
wird man sehen, ob bilaterale oder trilaterale Formen der Zusammenarbeit angemessen sind,
ohne sich von vorneherein an einer globalen Struktur festzuhalten, die im Voraus das Ganze
bestimmt. Eine klare Zielsetzung zu haben und dem Lauf des Lebens und der Wirklichkeit zu
folgen, das ist es, was uns angemessen ist, wie wir in der abgelaufenen Amtszeit bezüglich
des globalen Denkens und des lokalen Handelns wiederholt geäußert haben. Dazu ist es
erforderlich, den Zellen, den wesentlichen Organismen, den vermittelnden Organismen und
schließlich der endgültigen Struktur eine starke Lebenskraft zu geben.
14

2.5 Page 15

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Einige Bereiche der Zusammenarbeit
Die Jugendlichen
Wir alle sind bestrebt, mit der größtmöglichen Anzahl von Jugendlichen in verschiedenen
Initiativen zu arbeiten. Wir beobachten, dass sich unter den Jugendlichen besonders in der
letzten Zeit Jugendgruppen festigen, die einen Weg der menschlichen Reifung und des
Glaubens in Übereinstimmung mit dem Präventivsystem gehen wollen, das nach unserer
Überzeugung nicht nur eine Methodologie ist, sondern auch eine Art, die Inhalte zu verstehen.
Aus diesen Gruppen gehen Leiter („leaders“) hervor, die man als Animatoren, Begleiter usw.
bezeichnet. Besonders die Salesianische Jugendbewegung7 ist dabei, sich zu festigen. In ihr
finden sich Jugendgruppen zusammen, die innerhalb der Don-Bosco-Familie entstehen und
sich herausbilden und die zu ihr gehören wollen. Das ist eine Möglichkeit, die allen angeboten
wird. Bisher gibt es in der Animation der Salesianischen Jugendbewegung eine starke
Zusammenarbeit zwischen den Salesianern und den Don-Bosco-Schwestern. Ich wünsche
mir, dass man in Zukunft noch mehr auf die Teilnahme auch der Salesianischen Mitarbeiter
und der Ehemaligen achtet und die Salesianische Jugendbewegung unter ihren Jugendgruppen
fördert.
Auch das ist eine Initiative, auf die man sich unter den Zweigen der Don-Bosco-Familie, die
einander am nächsten stehen und am meisten im Jugendbereich präsent sind, geeinigt hat.
Don-Bosco-Schwestern und Salesianer haben in der Tat eine lange Erfahrung, viele Werke
und Gebilde der Animation, die schon seit langer Zeit aktiv sind. Aber die Teilnahme steht
allen anderen offen. Diese Teilnahme vollzieht sich ausgehend von einer Plattform, die
gelegentlich einer jeden Begegnung oder eines jeden Geschehens entsteht.
Für die Jugendgruppen ist es von Nutzen, eine gemeinsame Plattform der menschlichen
Bildung, des Glaubensweges und des Berufungsangebots zu haben, weil all dies den
Erziehungsbegriff Don Boscos verwirklicht.
Es gibt also bereits bestehende Synergien und Möglichkeiten der Öffnung für andere in der
Salesianischen Jugendbewegung, die bereits empfindet, dass sie ein weltumfassendes
Bewusstsein hat. Auf meinen Reisen konnte ich sehen, wie die Botschaft des Generaloberen,
die jedes Jahr aus Anlass des Don-Bosco-Festes von Turin ausgeht, weltweit die Gruppen
zusammenführt, die auf den verschiedenen Kontinenten präsent sind. Es gibt also einen
jugendlichen Raum, in dem wir die jungen Menschen auch für die künftigen Synergien und
für die künftige Solidarität erziehen können.
Das beweist auch der Erfolg der Weltjugendtage, die – trotz der Entfernung und der Kosten –
Jugendliche aus allen Teilen der Welt zusammenführen, die zu diözesanen Gruppen und zu
von Ordensgemeinschaften oder von Bewegungen animierten Gruppen gehören oder die sich
ganz einfach mit dieser Art von Initiativen identifizieren.
Das Berufungsangebot
Verknüpft mit dem Thema der Salesianischen Jugendbewegung ist das Thema des
Berufungsangebotes, der Berufungsorientierung und unseres Zeugnisses. Wir wissen, dass
Don Bosco, der die Laien sehr schätzte, sich freute, wenn er der Kirche Priester und
Ordensleute zuführen konnte. Wenn es stimmt, dass alle die gleiche Würde und die gleiche
Berufung zur Heiligkeit haben, so ist es auch wahr, dass es in der zeitlichen Dynamik des
Gottesreiches Berufungen gibt, die insbesondere die kirchliche Gemeinschaft animieren.
Deshalb ist es notwendig, dass wir uns auch in dieser Zielsetzung einig sind. Während wir
7 Movimento Giovanile Salesiano (MGS).
15

2.6 Page 16

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unsere Gruppen oder unsere Jugendlichen anleiten, einen Weg der menschlichen und
christlichen Bildung zurückzulegen, stellen wir ihnen die Bandbreite der Berufungen vor und
heben auch die größere Verbindlichkeit in der Nachfolge Christi hervor, die einigen
spezifischen Berufungen eigen ist.
Der Zweck der Jugendgruppen, die aus unseren spezifischen Zweigen der Don-Bosco-Familie
hervorgegangen sind, besteht nicht darin, Nachwuchs für die eigene Vereinigung
heranzubilden. Unsere Zielsetzung ist die christliche Erziehung und die Orientierung des
Jugendlichen für sein Leben. Wir müssen es verstehen, dem Jugendlichen den Ruf Christi
nahe zu bringen, indem wir aufzeigen, dass es in der zeitlichen Dynamik des Gottesreiches
auch Berufungen einer größeren Verbindlichkeit gibt. Wir müssen in der Lage sein, in den
Jugendlichen den Wunsch nach Bildung und Verfügbarkeit zu wecken. Wir müssen sie auf
Berufungen des Dienstes und der großen Zeichenhaftigkeit (darunter zähle ich auch das
Volontariat) ausrichten – dies alles im Realismus des Gottesreiches.
Die Missionen
Ein drittes Feld, auf dem wir schon zusammenarbeiten, ein Tätigkeitsfeld, auf dem die
Solidarität und die derzeitige Zusammenarbeit allerdings noch ausgeweitet werden können, ist
die Missionstätigkeit. Bei den letzten Missionsaussendungen hat sich an der Seite der
Ordensleute die Präsenz von Laien – Einzelne, Paare und sogar ganze Familien – bestätigt.
Erfreut dürfen wir anmerken, dass es im Inneren der Don-Bosco-Familie Gruppen gibt, die
den Missionsgedanken sogar in ihrem Namen tragen.
Die Missionstätigkeit hat dennoch verschiedene Ausdrucksformen und Initiativen, besonders
in dieser unserer Zeit, in der man von globalisierter Solidarität spricht. Es gibt neue
Möglichkeiten des missionarischen Einsatzes. Es gibt die Möglichkeit der persönlichen
Präsenz, die Möglichkeit der Partnerschaften und die der Unterstützung aus der Ferne in
verschiedenen Formen. Angesichts der Unterschiede zwischen den verschiedenen Teilen der
Welt denke ich, wie schön es wäre, wenn es ein Netz von Partnerschaften gäbe, die in der
Lage sind, Ressourcen zu übermitteln, die den verschiedenen Bedürfnissen entsprechen. Und
da wo es verfügbare Kräfte gibt, könnte man für zeitlich begrenzte oder auch endgültige
Formen der Zusammenarbeit offen sein – dies zunächst in der Planungsphase und dann nach
und nach in Form von Synergien im Hinblick auf die Verwirklichung.
Der „Bollettino Salesiano“8
Es gibt einen weiteren sehr wichtigen Sektor, auf dem wir zusammenarbeiten. Es ist der
Bereich der Kommunikation in der Kirche und in der Gesellschaft. Jede Gruppe hat ihr
eigenes internes Kommunikationsorgan, das sie dann außerhalb der Gruppe verteilt. Ihr wisst
aber, dass es eine Zeitschrift oder ein Organ gibt, das uns alle repräsentiert: den „Bollettino
Salesiano“. Wir sagen, dass dieser ein Organ für die Don-Bosco-Familie, für die Salesianische
Bewegung und für die salesianische Meinungsäußerung in der Welt ist. Er präsentiert den
Standpunkt der Don-Bosco-Familie hinsichtlich der Realität, in der wir leben, und öffnet für
die Welt ein Fenster über die salesianische Wirklichkeit.
Es stimmt zwar, dass der „Bollettino“ von der Salesianischen Kongregation getragen und
voran gebracht wird. Es wäre überflüssig und schwierig, ein großes repräsentatives Gebilde
zu schaffen. Der Don-Bosco-Familie wird aber zunehmend mehr Raum im Redaktionsrat
8 Im deutschsprachigen Raum „Don Bosco Magazin“ (BRD, deutschsprachige Schweiz) bzw. „Don Bosco
heute“ (Österreich).
16

2.7 Page 17

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zugestanden. Man ist bestrebt, unsere Realität zu repräsentieren, statt kleinlich die Seiten
aufzuteilen, was nicht günstig wäre. Von dem Bild, das der „Bollettino“ zu vermitteln vermag,
ziehen alle ihren Nutzen.
Kirchliche Sichtbarkeit der salesianischen Präsenz als „Bewegung“
Es wäre interessant, mittels aller verfügbaren Synergien immer mehr als „Bewegung“ tätig zu
werden und so eine sichtbare Präsenz in der sozialen und kirchlichen Wirklichkeit zu haben.
Wir müssen zwei Gefahren überwinden, die nicht nur in der Vorstellung existieren: einerseits
einen zu offensichtlichen Geltungsdrang, andererseits eine ungerechtfertigte Abwesenheit.
Deutlicher als ein Werk großer Propaganda oder eine pathetisch vorgetragene Behauptung
sollte in der Ortskirche unsere solidarische Präsenz mit dem Bischof und mit den Priestern
sichtbar werden. Wir müssen unsere Fähigkeit beweisen, für einige Anliegen einzustehen und
tätig zu werden, indem wir zeigen, dass wir nicht in Funktion zu uns selbst stehen, sondern im
Auftrag der kirchlichen Gemeinschaft handeln, die ihrerseits in Funktion zum Heil der Welt
steht.
Eine Kultur der Don-Bosco-Familie
Damit die Kultur der Familie, d. h. die Sicht und die Mentalität der Zusammenarbeit auf alle
Zweige und auf den ganzen Baum übergeht, ist es unerlässlich, dass sich alle Mitglieder der
einzelnen Gruppen dessen bewusst werden, dass sie zu einer umfassenden Bewegung von
Personen gehören, die aus dem apostolischen Herzen Don Boscos hervorgegangen ist. Sie
sollen sich zu den vielfältigen, verschiedenen, beweglichen und zeitgemäßen Formen der
Synergien, der Übereinstimmungen und der Zusammenarbeit bereit erklären. Wir suchen
keine große Organisation, um von oben her die anliegenden Dinge zu stabilisieren und zu
ratifizieren, sondern einen starken Impuls der Spiritualität, der in der Lage ist, die Zellen und
Organe zu beleben, damit sie dann mögliche Formen der Zusammenarbeit entwickeln können.
Aus dieser Perspektive ergibt sich als erste Aufgabe die der Lektüre und des Verständnisses
der „Charta der Gemeinschaft“ und der „Charta der Sendung“ vonseiten aller. Dort finden
sich die großen Ideen, die umgesetzt werden sollen, und die großen Entscheidungen, die zu
treffen sind.
Dennoch wird es über das Studium dieser Dokumente hinaus hilfreich sein, zwischen den
verschiedenen Gruppen Erfahrungen des Zusammenlebens, der Spiritualität, der
Geschwisterlichkeit und der Zusammenarbeit zu sammeln. Das führt dann zur Ebene des
gegenseitigen Vertrauens und der Wertschätzung der Möglichkeiten, die das Charisma und die
Familie Don Boscos bereithalten. Das Ziel, das erreicht werden soll, besteht immer darin, von
der Einmütigkeit zur Gemeinsamkeit der Vorhaben sowie zur Mitarbeit und Mitverantwortung
in gemeinsamen Projekten auf sozialem und kirchlichem Gebiet überzugehen.
4. Vorschläge für die Konkretisierung des Jahresleitgedankens
Es folgen einige Schritte, die bewirken sollen, dass die Don-Bosco-Familie wirklich eine
umfassende Bewegung zum Dienst am Heil der Jugendlichen wird.
1. Im Hinblick auf die Bildung und Vertiefung der charismatischen Mentalität der Don-
Bosco-Familie zusammenarbeiten
Zu diesem Zweck wird man bestrebt sein
- die „Charta der Gemeinschaft“ und die „Charta der Sendung“ zum Gegenstand des
Studiums und der Vertiefung vonseiten jeder Gruppe der Don-Bosco-Familie zu
17

2.8 Page 18

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machen, um in jedem ihrer Mitglieder die Kultur der Familie und das Bewusstsein der
Bewegung zu fördern;
- die Ergebnisse dieses Studiums im „Rat“ (Consulta) der Don-Bosco-Familie auf Orts-
und Provinzebene mitzuteilen und als Schlussfolgerungen einige Handlungslinien für
die Teilnahme und die Synergie im Dienst an der salesianischen Sendung im eigenen
Territorium auszuwählen.
2. Ein gemeinsames Engagement fördern
Unter den verschiedenen Gruppen der Don-Bosco-Familie innerhalb des jeweiligen Gebietes
gemeinsam die Situation der Jugendlichen von heute studieren; dies besonders im Hinblick
auf die großen Herausforderungen des Lebens, der Armut in ihren verschiedenen
Erscheinungsformen, der Evangelisierung, des Friedens und der Menschrechte; sowie nach
Wegen suchen
- um die bereits eingeleiteten Initiativen durch eine intensivere Zusammenarbeit und ein
vernetztes Arbeiten zu verbessern;
- um neue Initiativen mit einem spezifischen Beitrag der verschiedenen vorhandenen
Gruppen zu fördern.
3. Ein Werkzeug der Gemeinschaft: der Orts- und der Provinzrat der Don-Bosco-Familie
Dem örtlichen und dem Provinzrat der Don-Bosco-Familie mehr Gewicht und Bestand
verleihen, indem man nach geeigneten Formen sucht, ihn zu verwirklichen, damit er nicht nur
eine Gelegenheit zum Austausch von Ideen und Erfahrungen ist, sondern vor allem ein
Werkzeug,
- um zusammen über die Herausforderungen der Sendung im eigenen Territorium
nachzudenken und um einige Grundlinien für die Antwort auszutauschen, um deren
Annahme sich jede Gruppe gemäß den eigenen Möglichkeiten bemüht;
- um Wege der flexiblen und gut artikulierten Zusammenarbeit bei Projekten der
Erziehung und der Evangelisierung insbesondere im Dienst an den Jugendlichen zu
suchen.
4. Einige Plattformen der Zusammenarbeit und der vernetzten Arbeit fördern und entwickeln
- Die Animation der Salesianischen Jugendbewegung
indem man in den verschiedenen Jugendgruppen, die von Gruppen der Don-
Bosco-Familie animiert werden, das Engagement der Teilnahme an der
Salesianischen Jugendbewegung entwickelt;
indem man sich in die Begleitung der Gruppen und Jugendlichen einbringt;
indem man auf dem Bildungsweg der Gruppen einen systematischen Weg der
Erziehung zum Glauben mit den Jugendlichen teilt und ihnen hilft, die eigene
apostolische Berufung in Kirche und Gesellschaft zu entdecken.
- Die Animation und Förderung unter den Jugendlichen und den Erwachsenen des
sozialen und missionarischen salesianischen Volontariats als salesianische Antwort
auf die großen Herausforderungen der Welt der Jugend von heute, insbesondere der
ärmsten und am meisten gefährdeten Jugendlichen.
- Die Förderung von Priesterberufungen, von Ordensberufungen und von spezifischen
Laienberufungen zum Dienst in der Kirche und besonders in der Don-Bosco-Familie,
und zwar durch:
die Teilnahme an Initiativen der Berufungsanimation, die von der Ortskirche
gefördert werden;
18

2.9 Page 19

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das Zeugnis des eigenen Lebens, das als Berufung gelebt wird, und die Vorstellung
der verschiedenen Berufungen in der Kirche und in der Gesellschaft, besonders
aber derjenigen in der Don-Bosco-Familie;
angemessene Initiativen, die eine besondere Beachtung und Begleitung der
Jugendlichen auf ihrem Weg der Partnerschaft ermöglichen;
die Unterstützung der Familien und der Eltern in ihrem erzieherischen
Engagement, indem „Elternschulen“ und Gruppen für Paare gefördert werden usw.
19

2.10 Page 20

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Schluss
Ich schließe mit einem Gebet zu Don Bosco, dem charismatischen Vater der ganzen Don-
Bosco-Familie, das von Don Egidio Viganò verfasst wurde. Es scheint mir mehr denn je
geeignet zu sein, weil es in besonderer Weise zielführend und programmatisch ist. Und ganz
am Schluss steht – wie gewohnt – eine Erzählung, die den Jahresleitgedanken
veranschaulichen soll. Als der hl. Paulus von der Wirklichkeit der Kirche sprach, hat er die
Metapher vom Leib gewählt, der, „obwohl er eine Einheit ist, viele Glieder hat, und alle
Glieder, obgleich sie viele sind, einen Leib bilden“ (1. Kor 12,12). Um von der Don-Bosco-
Familie zu sprechen, habe ich es vorgezogen, zusammen mit der Einheit, auf die sich das Bild
vom Leib bezieht, die Vitalität und die Dynamik zu betonen, die der Bewegung eigen sind.
Dafür habe ich das Bild vom Wald (ital.: „bosco“) gebraucht; dies auch um anzuknüpfen an
die Anfangsparabel vom Samen, der zum Baum wird, und vom Baum, der zum Wald wird.
Gebet für die Don-Bosco-Familie
Vater und Lehrer der Jugend,
heiliger Johannes Bosco,
der du offen warst für die Gaben des Heiligen Geistes,
du hast der Don-Bosco-Familie
den Schatz deiner Vorliebe
für „die Kleinen und die Armen“ hinterlassen.
Lehre uns,
dass wir jeden Tag für sie
Zeichen und Botschafter der Liebe Gottes sind,
indem wir in unseren Herzen
die Gefühle Christi, des Guten Hirten, hegen.
Erbitte für alle Mitglieder deiner Familie
ein Herz voller Güte,
Ausdauer in der Arbeit,
Weisheit im Unterscheiden,
missionarische Großherzigkeit
sowie den Mut, den Sinn für die Kirche zu bezeugen.
Erwirke uns vom Herrn die Gnade,
treu zu dem besonderen Bund zu stehen,
den der Herr mit uns geschlossen hat.
Erwirke uns,
dass wir unter der Führung Mariens
in Freude
zusammen mit den Jugendlichen
den Weg gehen,
der zur Liebe führt.
Amen.
Und hier die bildhafte Erzählung:
20

3 Pages 21-30

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3.1 Page 21

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Die Tannen
Das Heulen des Wolfes ertönte schauerlich am Abhang des Berges. Ein Hirsch, der in aller
Ruhe im üppigen und tauweichen Gras äste, erschrak, rannte eilig davon und durchquerte den
Tannenwald. Das stattliche Geweih des Hirsches streifte und schüttelte die Zweige. Ein
praller und reifer Tannenzapfen löste sich daraufhin von einem Tannenzweig, rollte den
Berghang hinab, prallte gegen einen Felsvorsprung und landete mit einem dumpfen Schlag in
einer feuchten und günstig gelegenen Mulde.
Eine Handvoll Samenkörner wurde dabei aus seiner bequemen Behausung herausgeschleudert
und verteilte sich auf dem Erdreich. „Hurra!“ riefen die Samenkörner wie mit einer Stimme.
„Der Augenblick ist gekommen!“ „Wir haben es geschafft! Hier sind keine Eichhörnchen
und Mäuse, wir sind außer Gefahr.“ Mit Begeisterung begannen sie aufzukeimen, um den
Auftrag zu erfüllen, der in ihrem kleinen Herzen brannte und der die Aufgabe eines jeden
Baumes ist: den Himmel mit der Erde zu verbinden. Zu diesem Zweck treiben die Bäume
tiefe Wurzeln in die Erde und strecken knotige Zweige in den Himmel. Wenn es die Bäume
nicht gäbe, dann wäre der Himmel schon weggeflogen. Die Samenkörner begannen also, sich
in der Erde einzunisten, merkten aber sehr bald, dass es mit Schwierigkeiten verbunden war,
so zahlreich zu sein: „Geht bitte mehr da rüber!“ „Vorsicht! Du hast mir den Keim ins
Auge getrieben!“ Und so weiter. Wie dem auch sei: Sie stießen sich und boxten sich durch,
und alle Samenkörner fanden schließlich ein Plätzchen, um aufzukeimen.
Alle, außer einem. Ein schönes und kräftiges Samenkorn erklärte klar und deutlich seine
Absichten: „Ihr kommt mir vor wie ein Haufen von Versagern! Zusammengepresst, wie ihr
nun einmal seid, raubt ihr euch gegenseitig das Erdreich und werdet kümmerlich und spärlich
aufwachsen. Mit euch will ich nichts zu tun haben. Nur für mich allein kann ich ein großer,
edler und stattlicher Baum werden. Nur allein!“ Mit Hilfe des Windes gelang es dem
Samenkorn, sich von seinen Geschwistern zu entfernen; und es pflanzte seine Wurzeln auf
dem Kamm des Berges ein, für sich allein.
Nach einigen Jahren wurde es, dank des Schnees, des Regens und der Sonne, eine herrliche
junge Tanne, die das enge Tal beherrschte, wo seine Geschwister zu einem Wald geworden
waren, der den Wanderern und den Tieren des Berges Schatten und erholsame Ruhe schenkte.
Natürlich gab es auch Probleme: „Verhalte dich ruhig mit deinen Zweigen! Du bringst meine
Nadeln zum Fallen.“ „Du raubst mir die Sonne! Wende dich mehr dorthin …“ „Hörst
du wohl damit auf, mir die Baumkrone zu zerzausen?!“ Der allein stehende Baum aber
schaute vom Gebirgskamm mit Ironie und Stolz auf sie herab. Er hatte so viel Sonne und
Freiraum, wie er sich wünschte.
Aber eines Nachts Ende August verschwanden die Sterne und der Mond hinter einer Wand
von bedrohlichen riesigen Wolken. Pfeifend und wirbelnd entließ der Wind eine Serie von
immer heftigeren Böen, bis dann der Sturm verheerend über den Berg hereinbrach. Die
Tannen des Waldes drängten sich dicht aneinander; sie erbebten zwar, aber sie schützten und
stützten sich gegenseitig.
Als das Unwetter sich legte, waren die Tannen erschöpft von dem langen Kampf; aber sie
waren heil. Alle, außer einer. Von der stolzen Tanne, die allein stand, war nichts weiter
übrig geblieben als ein zersplitterter und trostloser Stumpf oben auf dem Kamm des Berges.
Im folgenden Frühling streichelten die Sonnenstrahlen unzählige zarte Knospen, die sich sanft
im Abendlüftchen wiegten. Zwischen den Zweigen der Tannen hatten viele Vögel und
Eichhörnchen Zuflucht gefunden und den Winter überlebt. Und am Fuß der robusten Stämme
waren Pflanzen und Blumen in tausend Farben aufgeblüht. Es war das Geschenk, das Wind
und Regen des Unwetters – ohne es zu wollen – dem Berg gemacht hatten.
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Liebe Brüder und Schwestern, ihr Freunde alle, ich wünsche Euch ein Jahr 2009, das reich ist
an Gnaden; und ich vertraue Euch die Aufgabe an, aus der Don-Bosco-Familie eine
umfassende und solidarische Bewegung für das Heil der Jugendlichen zu machen.
Mit Zuneigung in Don Bosco
Don Pasqual Chávez Villanueva
Generaloberer
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