2006-Strenna-Kommentar


2006-Strenna-Kommentar



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Don Pascual Chávez Villanueva
Generaloberer der Salesianer Don Boscos
Kommentar
zum
Leitgedanken des Jahres 2006
für die
Don-Bosco-Familie
Schenken wir unsere besondere Aufmerksamkeit
der FAMILIE.
Sie ist Ursprung des Lebens und der Liebe,
erster Ort menschlicher Entfaltung.
Übersetzt von P. Heinz Bernhard Schuh SDB
Institut für Salesianische Spiritualität
an der PTH Benediktbeuern
in der Reihe Arbeitstext, Nr. 23
Benediktbeuern 2006

1.2 Page 2

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IMPRESSUM
Herausgeber:
Institut für Salesianische Spiritualität
an der PTH Benediktbeuern
83671 Benediktbeuern
08857/88-220 iss@pth-bb.de
Übersetzung: P. Heinz Bernhard Schuh SDB, Köln
Redaktionelle Bearbeitung: P. Reinhard Gesing SDB, Benediktbeuern
Photo auf der Vorderseite: ©Rupprecht@kathbild.at
Druck: Don Bosco Grafischer Betrieb, Ensdorf
2

1.3 Page 3

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INHALTSVERZEICHNIS
Inhaltsverzeichnis
3
1
Risiken und Bedrohungen, die heute auf der Familie lasten 6
o Ein der Familie zuwiderlaufendes kulturelles Umfeld 6
o Eine leichte „Lösung“, die Scheidung
7
o Privatisierung der Ehe
8
o Falsche Erwartungen an die Ehe
9
o Wirtschaftliche und konsumbedingte Faktoren
im familiären Leben
10
2 Die Familie, Weg der Menschwerdung des Gottessohnes 11
3 Familienleben und salesianisches Charisma
13
3.1 „Im Anfang war die Mutter“
14
3.1.1 Kurzer biographischer Querschnitt
14
a) Bis zur Übersiedlung nach Valdocco (von 1788 bis
1846)
14
b) Zehn Jahre mit Don Bosco (von 1846 bis 1856) 18
3.1.2 Spirituelles Profil der Mamma Margherita
20
a) Eine starke Frau
21
b) „Salesianische“ Erzieherin
22
c) Erfolgreiche Katechetin
23
d) Erste Mitarbeiterin
24
3.2 Valdocco, „eine Familie, die erzieht“
25
4 Die Familie als Sendung
28
4.1 „Familie, werde, was du bist!“
28
o Zelle der Gesellschaft
28
o Heiligtum des Lebens
30
o Künderin des Evangeliums des Lebens
31
o Schule des sozialen Engagements
32
4.2 „Familie, glaube an das, was du bist!“
33
5 Pastorale und pädagogische Anwendungsmöglichkeiten
35
Schluss: Eine Legende mit weisem Beigeschmack
39
3

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„Als seine Eltern ihn sahen, waren sie sehr betroffen und seine Mutter sag-
te zu ihm: Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben
dich voll Angst gesucht. Da sagte er zu ihnen: Warum habt ihr mich ge-
sucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater
gehört? Doch sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte. Dann kehrte
er mit ihnen nach Nazaret zurück und war ihnen gehorsam. Seine Mutter
bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen. Jesus aber wuchs
heran und seine Weisheit nahm zu und er fand Gefallen bei Gott und den
Menschen“ (Lk 2,48-52).
Liebe Don-Bosco-Schwestern,
liebe Salesianermitbrüder,
liebe Mitglieder der Salesianischen Familie und Freunde Don Boscos,
liebe Jugendliche, Freude und Motiv unseres Lebens!
An Euch alle sende ich einen herzlichen Gruß bei diesem Übergang
von 2005 ins Jahr 2006. Ich wünsche allen und jedem ein Jahr, reich an
Segnungen, die Gott, der Vater der herzlichen Güte und des Erbarmens,
Euch allen geschenkt hat, als er sich entschloss, seinen Sohn in die Welt zu
senden, damit wir das Leben in Fülle haben.
„Die Herausforderung des Lebens“, so sagte Papst Johannes Paul II.
verehrten Angedenkens in seiner letzten Ansprache an das Diplomatische
Korps im Januar 2005, „hat seinen Ort gleichzeitig in dem, was das eigent-
liche Heiligtum des Lebens ist: in der Familie. Sie ist heute oftmals bedroht
von sozialen und kulturellen Faktoren, die Druck auf sie ausüben und die
Stabilität erschweren. In einigen Ländern aber wird sie auch bedroht von
einer Gesetzgebung, die – manchmal auch auf direkte Weise – ihre natürli-
che Struktur angreift. Diese Struktur ist und kann nur jene einer Einheit
zwischen einem Mann und einer Frau auf der Grundlage der Ehe sein. Man
darf nicht zulassen, dass die Familie, fruchtbare Quelle des Lebens sowie
vorrangige und unverzichtbare Voraussetzung des individuellen Glücks der
Eheleute, der Erziehung und Bildung der Kinder und des sozialen
Wohlstandes, von Gesetzen bedroht wird, die von einer restriktiven und
unnatürlichen Vision des Menschen diktiert werden. Vielmehr muss eine
gerechte, hohe und reine Meinung von der menschlichen Liebe vorherr-
schen, die in der Familie ihre grundsätzliche und beispielhafte Ausdrucks-
form findet“.1
1 Osservatore Romano, 10.-11. Januar 2005, S.5 (Italien). Ausgabe).
4

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Während ich den Aufruf des Papstes aufgreife, durch die Familie das
Leben zu verteidigen, nutze ich die Gelegenheit des Gedenkens an die vor
hundertfünfzig Jahren verstorbene Mamma Margherita, Mutter der von
Don Bosco in Valdocco geschaffenen Erziehungsfamilie, und möchte die
Salesianische Familie einladen, ihr Engagement im Sinne des Leitgedan-
kens für das Jahr 2006 zu erneuern:
Schenken wir unsere besondere Aufmerksamkeit der Familie.
Sie ist Ursprung des Lebens und der Liebe,
erster Ort menschlicher Entfaltung.
Wenn der Mensch der Weg der Kirche ist, ist die Familie der „Weg
des Menschen“, das natürliche Umfeld, in dem sich der Mensch für das
Leben und die soziale Existenz öffnet. Sie ist der Ort einer starken affekti-
ven Einbindung, die Voraussetzung, unter der sich die persönliche Aner-
kennung verwirklicht. Als bevorzugter Ort der Vermenschlichung und Mit-
tel der religiösen Sozialisierung gewährleistet sie die notwendige Stabilität
für das harmonische Heranwachsen der Kinder und die erzieherische Sen-
dung der Eltern ihnen gegenüber.
Im Glauben an ihre wesentliche Bedeutung für die Zukunft der
Menschheit und der Kirche machte Johannes Paul II. aus der Familie einen
der vorrangigen Punkte seines Pastoralprogramms für die Kirche in den
Anfängen des Dritten Jahrtausends: „Mit besonderer Sorgfalt muss man
sich der Familienpastoral widmen, die umso nötiger ist in diesem Augen-
blick der Geschichte, da eine verbreitete und tiefgreifende Krise dieser
fundamentalen Institution zu verzeichnen ist... Man muss alles daran set-
zen, dass durch eine immer vollkommenere Erziehung im Geist des Evan-
geliums die christlichen Familien ein überzeugendes Beispiel dafür geben,
dass man eine Ehe leben kann, die voll und ganz dem Plan Gottes und den
tatsächlichen Bedürfnissen der menschlichen Person entspricht: jener der
Eheleute und vor allem jener viel zerbrechlicheren der Kinder“.2
2 Novo millennio ineunte, Nr. 47.
5

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1 Risiken und Bedrohungen, die heute auf der Familie lasten
Der Gedanke von Johannes Paul II. wurde von Papst Benedikt XVI.
aufgegriffen, der in seinen Ansprachen von der Familie als von einer
„neuralgischen Frage“ sprach, „die unsere größte pastorale Aufmerksam-
keit fordert; die Familie ist zutiefst verwurzelt im Herzen der jungen Gene-
rationen und kümmert sich um vielfältige Probleme, indem sie Unterstüt-
zung und Hilfe für sonst aussichtslose Situationen bietet. Dennoch ist die
Familie im aktuellen kulturellen Klima vielen Risiken und Bedrohungen
ausgesetzt, die wir alle kennen. Zu der inneren Zerbrechlichkeit und Insta-
bilität kommt noch die in der Gesellschaft und Kultur verbreitete Tendenz,
ihren einzigartigen Charakter und die der Familie eigene Sendung, die sich
auf die Ehe gründet, zu bestreiten“.3
o Ein der Familie zuwiderlaufendes kulturelles Umfeld
Heute werden mit einer gewissen Leichtigkeit und Oberflächlichkeit
vermeintliche „Alternativen“ zu der als „traditionell“ eingestuften Familie
vorgeschlagen und vorgestellt. Die Aufmerksamkeit wendet sich so vom
Problem der Scheidung auf das der „de facto“-Paare, von der Behandlung
der weiblichen Unfruchtbarkeit zur medizinisch betreuten Zeugung, von
der Abtreibung zur Erforschung und Manipulation der aus den Embryonen
gewonnenen Stammzellen, vom Problem der empfängnisverhütenden Pille
zu dem der Pille am Tag danach, die abtreibend wirkt. Die Legalisierung
der Abtreibung ist praktisch in der ganzen Welt verbreitet. Es kommt auch
vor, dass man kurzlebigen Paaren, die sich nicht einmal in der Zivilehe
formal binden wollen, die Rechte und Vorteile einer echten Familie zu-
spricht. Das ist der Fall bei der offiziellen Anerkennung von „de facto“-
Verbindungen, zu denen auch die homosexuellen Paare gehören, die
manchmal sogar das Recht der Adoption in Anspruch nehmen und so sehr
schwere Probleme psychologischer, sozialer und rechtlicher Art auslösen.
Das Erscheinungsbild oder die Wirklichkeit der Familie hat sich also
gewandelt. Wie oben schon gesagt, muss man noch die ausgeprägte Vorlie-
be für eine Form wachsender „Privatisierung“ hinzufügen sowie die Ten-
denz zur Einschränkung der Dimensionen der Familie, die vom Modell der
„mehrere Generationen umfassenden Familie“ zu dem der „Kernfamilie“
übergeht und diese auf die Wirklichkeit von Vater, Mutter und einem ein-
zigen Kind reduziert. Viel schwerwiegender ist noch die Tatsache, dass ein
großer Teil der öffentlichen Meinung in der auf die Ehe gegründeten Fami-
3 Audienz für die Teilnehmer der Italienischen Bischofskonferenz, OR 30.-31. Mai 2005, S.
5 (ital.) Ausgabe).
6

1.7 Page 7

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lie nicht mehr die fundamentale Zelle der Gesellschaft und ein unverzicht-
bares Gut anerkennt.
o Eine leichte „Lösung“, die Scheidung
Wenn ich dieses kulturelle Klima bedenke, das vor allem in der west-
lichen Gesellschaft präsent ist, scheint es mir angebracht zu sein, einen
Abschnitt aus dem Evangelium in Erinnerung zu rufen, in dem Jesus von
der Ehe spricht: „Da kamen Pharisäer zu ihm und fragten: Darf ein Mann
seine Frau aus der Ehe entlassen? Damit wollten sie ihm eine Falle stellen.
Er antwortete ihnen: Was hat euch Mose vorgeschrieben? Sie sagten Mose
hat erlaubt, eine Scheidungsurkunde auszustellen und die Frau aus der Ehe
zu entlassen. Jesus entgegnete ihnen: Nur weil ihr so hartherzig seid, hat er
euch dieses Gebot gegeben. Am Anfang der Schöpfung aber hat Gott sie als
Mann und Frau geschaffen. Darum wird der Mann Vater und Mutter ver-
lassen, und die zwei werden ein Fleisch sein. Sie sind also nicht mehr zwei,
sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht
trennen“ (Mk 10, 2-9).
Es handelt sich nach meiner Einschätzung um einen sehr aufschluss-
reichen Text, weil er sich auf das Thema der Ehe bezieht, insofern sie Ur-
sprung und Grundlage der Familie ist; besonders aber weil er uns die Art
und Weise aufzeigt, wie Jesus argumentiert hat. Er lässt sich nicht in die
Netze des Legalismus bezüglich dessen verstricken, was erlaubt und was
verboten ist. Vielmehr stellt er sich dem ursprünglichen Entwurf des
Schöpfers; und keiner wusste besser als Er, welcher der ursprüngliche Plan
Gottes war. In diesem Entwurf finden wir die „Gute Nachricht“ der Fami-
lie.
Wenngleich wir anerkennen, dass es auch viele Familien gibt, die
den Wert einer stabilen und treuen Einheit leben, so müssen wir dennoch
feststellen, dass die Vorläufigkeit des ehelichen Bandes eines der Kennzei-
chen der derzeitigen Welt ist. Sie spart keinen Kontinent aus und macht
sich auf jedem sozialen Niveau bemerkbar. Oft macht diese Praxis die Fa-
milie zerbrechlich und untergräbt die erzieherische Sendung der Eltern.
Solche unbeständige Vorläufigkeit, die sogar als ein „Tatsachenbestand“
akzeptiert wird, führt oftmals zum Entschluss der Trennung und der Schei-
dung, die dann als der einzige Ausweg angesichts der eingetretenen Krisen
gesehen werden.
Diese Denkweise schwächt die Eheleute und macht ihre persönliche
Zerbrechlichkeit noch risikovoller. „Aufzugeben“, ohne zu kämpfen, ist
heute allzu üblich. Eine richtige Auffassung vom Wert der Ehe und ein
7

1.8 Page 8

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fester Glaube könnten dagegen dabei hilfreich sein, die ernsthaftesten
Schwierigkeiten mit Mut und Würde zu überwinden.
Von der Scheidung muss man in der Tat sagen, dass sie nicht nur
eine Frage rechtlicher Art ist. Sie ist keine „Krise“, die vorübergeht. Sie hat
eine tiefeinschneidende Wirkung auf die menschliche Erfahrung. Sie ist ein
Beziehungsproblem, und zwar ein Problem zerstörter Beziehung. Für im-
mer zeichnet sie ein jedes Mitglied der familiären Gemeinschaft. Sie ist
Ursache der wirtschaftlichen, affektiven und menschlichen Verarmung.
Und diese Verarmung berührt besonders die Frau und die Kinder. Zu all
dem kommen noch die sozialen Kosten, die immer besonders hoch sind.
Ich möchte darauf hinweisen, dass es verschiedene Elemente sind,
die zur derzeitigen Zunahme der Scheidungen beitragen, und zwar mit ver-
schiedenen Nuancen und Komponenten nach Maßgabe der verschiedenen
Länder. Insbesondere ist die Kultur des Umfeldes zu beachten, die immer
mehr säkularisiert ist und in der als prägende Elemente ein falscher Begriff
von der Freiheit, die Angst vor dem Engagement, die Praxis des Zusam-
menlebens, die „Banalisierung des Geschlechtlichen“ gemäß dem Aus-
spruch von Johannes Paul II. sowie die wirtlichen Einschränkungen, die
manchmal eine Mitursache solcher Trennungen sind, vorherrschen. Le-
bensstile, Modeerscheinungen, Schauspiele und Fernsehromanzen stellen
den Wert der Ehe in Zweifel, verbreiten die Idee, dass die wechselseitige
Hingabe der Eheleute bis zum Tod etwas Unmögliches sei, machen die
Familieninstitution zerbrechlich, lassen ihre Wertschätzung sinken und
gelangen zu dem Punkt, wo sie sie zum Vorteil anderer „Modelle“ von
Pseudofamilien abqualifizieren.
o Privatisierung der Ehe
Unter den Phänomenen, deren Zeugen wir sind, muss man zudem auf
einen um sich greifenden radikalen Individualismus hinweisen. Dieser of-
fenbart sich in zahlreichen Sphären der menschlichen Aktivität: im wirt-
schaftlichen Leben in der erbarmungslosen Konkurrenz, im sozialen Wett-
kampf, in der Missachtung der Randgruppen und auf vielen anderen Gebie-
ten. Dieser Individualismus fördert gewiss nicht das großherzige, treue und
bleibende Geschenk seiner selbst. Und er ist bestimmt keine kulturelle
Grundhaltung, die die Lösung der Krisen in der Ehe begünstigen könnte.
Es kommt vor, dass die staatlichen Autoritäten, die für das Gemein-
wohl und die soziale Zusammengehörigkeit verantwortlich sind, diesen
Individualismus nähren, indem sie ihm eine uneingeschränkte Ausdrucks-
form durch entsprechende Gesetze zubilligen (wie z.B. im Fall der „zivilen
8

1.9 Page 9

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Solidaritätsvereinbarungen“), die sich dann als zumindest implizite Alter-
nativen zur Ehe darstellen. Noch schlechter ist, wenn es um homosexuelle
Vereinigungen geht, die zudem das Recht der Kinderadoption für sich in
Anspruch nehmen. Auf diese Weise geben solche Gesetzgeber und Regie-
rungen in der allgemeinen Denkweise der Institution der Ehe den Charakter
der Vorläufigkeit und Unsicherheit und tragen dazu bei, Probleme zu schaf-
fen, die nicht lösbar sind. So geschieht es, dass die Ehe sehr oft nicht mehr
als ein Gut für die Gesellschaft betrachtet wird; und ihre „Privatisierung“
führt dazu, ihren öffentlichen Wert einzuschränken oder gar auszuschalten.
Diese soziale Ideologie einer Pseudofreiheit verleitet das Individuum
dazu, an erster Stelle gemäß seinen Interessen und seinem Nutzen zu han-
deln. Das übernommene Engagement gegenüber dem Ehepartner nimmt die
Form eines einfachen Vertrags an, unendlich oft revidierbar. Das gegebene
Wort hat lediglich einen begrenzten zeitlichen Wert. Man verantwortet sich
nicht für die eigenen Handlungen, es sei denn vor sich selbst.
o Falsche Erwartungen an die Ehe
Man muss auch feststellen, dass sich zahlreiche Jugendliche eine
idealistische oder sogar irrige Vorstellung von der Ehe machen; z.B. als Ort
eines völlig ungestörten Glücks, der Erfüllung eigener Wünsche, ohne da-
für den Preis zu zahlen. So kann es dann zu einem latenten Konflikt zwi-
schen dem Wunsch der Vereinigung mit dem anderen und dem des Schut-
zes der eigenen Freiheit kommen.
Eine wachsende Verkennung der Schönheit der echten menschlichen
Verbindung, des Reichtums der Unterscheidung und der wechselseitigen
Ergänzung „Mann/Frau“ führt zu einer zunehmenden Verwirrung bezüglich
der sexuellen Identität; einer Verwirrung, die ihren Gipfel in der feministi-
schen Ideologie findet. Andererseits beschränken die derzeitigen Voraus-
setzungen der beruflichen Beschäftigung der beiden Ehepartner die ge-
meinsam verbrachten Zeiten und die Kommunikation in der Familie. Und
all das führt zur Verarmung der Dialogfähigkeit zwischen den Ehegatten.
Wenn sich die Krise einstellt, fühlen sich die Eheleute oft bei der
Lösung derselben alleingelassen. Sie haben niemanden, der ihnen zuhören
und sie beraten könnte, was vielleicht noch die Vermeidung einer unwider-
ruflichen Entscheidung ermöglichen könnte. Dieser Mangel an Hilfe be-
wirkt, dass das Ehepaar in seinem Problem eingeschlossen bleibt. Es sieht
keine andere Möglichkeit mehr als die Trennung oder sogar die Scheidung
zur Lösung der eigenen Misere und Mutlosigkeit. Dem gegenüber drängt
sich der Gedanke auf, dass viele dieser Krisen vorübergehender Art sind
9

1.10 Page 10

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und leicht überwunden werden könnten, wenn das Ehepaar die Unterstüt-
zung einer menschlichen und kirchlichen Gemeinschaft gehabt hätte.
o Wirtschaftliche und konsumbedingte Faktoren im familiären Leben
Die wirtschaftlichen Faktoren in ihrer großen Komplexität beein-
flussen auch in starkem Maße die Gestaltung des familiären Modells, die
Bestimmung seiner Werte, die Organisation seines Verlaufs, ja sogar die
Definition des familiären Entwurfs selbst. Die Einnahmen, die man sicher-
stellen will; die Ausgaben, die man für unbedingt notwendig hält, um die
Bedürfnisse zu befriedigen oder das angestrebte Wohlstandsniveau zu er-
reichen oder zu erhalten; der Mangel an Ressourcen oder gar an Arbeit,
wovon sowohl die Eltern als auch die Kinder betroffen sind, beeinflussen
und bestimmen in gewissem Maße einen großen Teil des Lebens der Fami-
lien. Man braucht nur an die befreundeten Paare zu denken, die nicht unbe-
dingt zusammenleben, aber wegen fehlender finanzieller Mittel keine Ehe
schließen können. Eine andere besorgniserregende Situation ist die der
Emigranten, die gezwungen sind, ihr Land und ihre Familie auf der Suche
nach Arbeit und Unterhaltsmitteln zu verlassen. Das ist eine Situation, die
nicht selten wegen der langen Abwesenheit oder aus anderen Motiven das
Verlassen oder die Auflösung der Familie, die man hinter sich gelassen hat,
bewirkt.
Einen wirtschaftlichen Ursprung haben auch die Mechanismen, die
das Klima des Konsumdenkens prägen, in das sich viele Familien einge-
taucht sehen. Aus dieser Perspektive werden oftmals die Parameter des
Glücklichseins definiert. Sie schaffen so Frustration und Ausgrenzung.
Wirtschaftlicher Art sind ferner die Faktoren, die eine so wichtige Realität
bestimmen, wie es der familiäre Raum ist; und zwar bezogen auf das Grö-
ßenmaß der Wohnungen und Häuser und die Möglichkeit, an diese heran-
zukommen. Schließlich sind es die wirtschaftlichen Faktoren, die die erzie-
herischen Möglichkeiten und die Zukunftserwartungen der Kinder bestim-
men.
Angesichts dieser Situation muss man ein tiefes Mitgefühl empfin-
den für das, was die Wiege des Lebens und der Liebe und die Schule der
menschlichen Entfaltung ist oder sein sollte.
10

2 Pages 11-20

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2.1 Page 11

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2 Die Familie, Weg der Menschwerdung des Gottessohnes
Die Menschwerdung des Gottessohnes, geboren von einer Frau, ge-
boren unter dem Gesetz, um die zu erlösen, die unter dem Gesetz waren,
und ihnen die Macht zu geben, Kinder Gottes zu werden (vgl. Gal 4,4-5),
war ein Ereignis, das nicht nur an den Augenblick der Geburt gebunden
war, sondern den ganzen menschlichen Lebensbogen Jesu umfasst hat, bis
hin zum Tod am Kreuz, wie der Apostel Paulus bekennt (vgl. Phil 2, 8).
Das Zweite Vatikanische Konzil sagt, dass der Sohn Gottes mit den Hän-
den eines Menschen gearbeitet und mit dem Herzen eines Menschen geliebt
hat (vgl. GS 22). Seine Menschheit war also kein Hindernis dafür, seine
Göttlichkeit zu offenbaren. Vielmehr war sie das Sakrament, das ihm dazu
gedient hat, Gott zu offenbaren und ihn sichtbar und zugänglich zu machen.
Es ist schön, einen Gott zu betrachten, der es mit dem Menschen so gut
gemeint hat, dass er zum Weg geworden ist, auf dem man zu Ihm gelangen
kann. Gerade deswegen ist der Mensch der Weg der Kirche. Sie muss ihn
lieben, ihm dienen und ihm helfen, seine Lebensfülle zu erlangen.
Aber gerade, weil Gott Mensch werden wollte, musste er sich zuerst
eine Familie, eine Mutter (vgl. Lk 1,26-38) und einen Vater (vgl. Mt 1,18-
25) suchen. Wenn der menschgewordene Gott im jungfräulichen Schoß
Mariens menschliche Gestalt angenommen hat, hat er im Schoße der Fami-
lie von Nazaret das Menschwerden gelernt. Um geboren zu werden,
brauchte Gott eine Mutter, um heranzuwachsen und Mensch zu werden,
brauchte Gott eine Familie. Maria war nicht nur diejenige, die Jesus gebo-
ren hat. Als echte Mutter neben Josef ist es ihr gelungen, aus dem Haus in
Nazaret eine Kernzelle der „Vermenschlichung“ des Sohnes Gottes zu ma-
chen (vgl. Lk 2,51-52).
Die Menschwerdung des Sohnes Gottes hat, gerade weil sie authen-
tisch ist, in uneingeschränkter Weise die Modalität der natürlichen Ent-
wicklung einer jeden menschlichen Kreatur angenommen, die eine Familie
braucht, die sie aufnimmt; sie begleitet, sie liebt und die mit ihr zusammen
an der Entfaltung aller ihrer menschlichen Dimensionen arbeitet; jene Di-
mensionen, die die Kreatur wirklich zu einer menschlichen „Person“ ma-
chen. Das alles geschieht im Zusammenhang mit der Entdeckung eines
Entwurfs vom Leben, der uns verstehen lässt, wie man die eigenen Res-
sourcen entwickeln sowie Sinn und Erfolg im Leben finden kann.
Diese notwendige und unverzichtbare erzieherische Funktion, die
jede Familie ihren Mitgliedern anbieten muss, findet im Fall der Familie
von Nazaret ihr Zeugnis auf einer Seite des Lukasevangeliums. Es ist die
Episode, die sich auf das Auffinden Jesu im Tempel bezieht: „Als seine
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2.2 Page 12

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Eltern ihn sahen, waren sie sehr betroffen und seine Mutter sagte zu ihm:
Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll
Angst gesucht. Da sagte er zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wuss-
tet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? Doch
sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte. Dann kehrte er mit ihnen
nach Nazaret zurück und war ihnen gehorsam“ (Lk 2,48-52).
Auf dieser Seite finden wir drei wertvolle Hinweise auf die Berufung
der Familie, in der Erziehung der Kinder so zu verfahren, dass sie „echte
Bürger und gute Christen“ werden. In diesem Sinn könnte dieser Text als
eine zutreffende salesianische Beschreibung des Prinzips der Menschwer-
dung in einem Erziehungsentwurf gesehen werden.
Es ist nicht gleichgültig, dass Josef und Maria Jesus in einem Alter
zum Tempel gebracht haben, in dem das Kind lernen muss, sich voll in das
Leben seines Volkes einzufügen und sich die Traditionen zueigen zu ma-
chen, die den Glauben der Eltern genährt und gestützt haben. Die Familie
Jesu hat zum Gehorsam gegenüber dem Gesetz und zur Praxis des Glau-
bens hingeführt, wenngleich seine Eltern wussten, dass ihr Kind der Sohn
Gottes war. Die göttliche Herkunft Jesu hat ihn nicht der allgemeinen
Pflicht in Israel entzogen, das Gesetz zu beobachten. Der Sohn Gottes hat
gelernt, Mensch zu sein, indem er gelernt hat, den Menschen zu gehorchen.
Aufmerksamkeit verdient zudem das respektvolle Verhalten der El-
tern gegenüber dem Sohn, der für sich allein den Willen Gottes für sein
Leben sucht. Die Antwort Jesu hat sozusagen einen Ton der Verwunde-
rung, als wollte er sagen: „Aber wieso denn? Ihr habt mich doch gelehrt,
Gott ‚Abba - Vater’ zu nennen und immer seinen Willen zu suchen. Und
gerade heute und hier in seinem Hause am Tag des ‚Bar Mitzva’, an dem
ich voll und ganz ‚Sohn des Gesetzes’ geworden bin, um von jetzt an im-
mer in der Erfüllung des Willens des Vaters zu leben, fragt ihr mich, wo ich
war und warum ich das gemacht habe?“ (vgl. Lk 2,49). Noch nicht volljäh-
rig, erinnert Jesus seine Eltern daran, dass sie es gewesen sind, die ihn ge-
lehrt haben, dass Gott und seine Dinge noch vor der Familie und ihrer Sor-
ge kommen.
Schließlich wird uns klar, dass das Unverständnis der Eltern kein
Hindernis für den Gehorsam des Sohnes ist, der mit ihnen nach Nazaret
zurückkehrt. Jesus unterwirft sich der Autorität der Eltern, die ihn nicht
mehr verstehen können. Und so schließt der Evangelist: Während Maria
„alles, was geschehen war, in ihrem Herzen bewahrte“ (Lk 2,51), „wuchs
Jesus heran und nahm zu an Weisheit und Gefallen bei Gott und den Men-
schen“ (Lk 2,52). Das ist das größte Loblied auf die erzieherische Fähigkeit
12

2.3 Page 13

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von Josef und Maria. Das ist es, was es bedeutet: aus der Familie ein Haus
und eine Schule, „Ursprung des Lebens und der Liebe und den ersten Ort
menschlicher Entfaltung“ zu machen.
In der Familie hat Jesus den Gehorsam gegenüber dem Gesetz ge-
lernt. Er hat sich in die Kultur eines Volkes eingefügt. In der Familie hat
Jesus gezeigt, dass er Gott den ersten Platz einräumen und sich vornehm-
lich mit den Dingen Gottes beschäftigen will. Jesus, der sich seiner Gottes-
sohnschaft bewusst ist, ist in das Familienleben zurückgekehrt, um als
Mensch und vor den Menschen zu wachsen „an Alter, an Weisheit und an
Gnade“. Der Sohn Gottes hätte von einer jungfräulichen Mutter geboren
werden können, ohne dabei auf eine Familie zu setzen. Aber ohne Familie
hätte er nicht als Mensch wachsen und reifen können! Eine Jungfrau emp-
fing den Sohn Gottes. Eine Familie schaffte die Voraussetzungen für seine
menschliche Entfaltung.
Ich frage mich, ob man noch mehr über den heiligen Wert der Fami-
lie sagen kann!
3 Familienleben und salesianisches Charisma
Für uns Söhne und Töchter Don Boscos darf die Familie kein Thema
sein, das unserem Leben und unserer Sendung fremd ist. Als Erzieher ken-
nen wir sehr wohl die Bedeutung des Bemühens, ein Klima der Familie für
die Erziehung der Kleinkinder und Kinder, der Jugendlichen und der He-
ranwachsenden zu schaffen. Für diesen Zweck ist gerade das Umfeld das
Beste, das man nach dem Basismodell der Familie herstellt: ein Klima, das
„die Erfahrung des heimischen Hauses“ wiedergibt, wo die Gefühle, die
Grundhaltungen, die Ideale und die Werte lebhaft kommuniziert werden,
oftmals mit einer nicht-verbalen und vor allem nicht-systematischen Spra-
che, aber nicht weniger wirksam und beständig. Der berühmte Ausspruch
Don Boscos „Die Erziehung ist Sache des Herzens“4 findet seine hand-
lungsbezogene Übersetzung in der Aufgabe, die Türen der Herzen unserer
Kinder aufzuschließen, damit sie unsere erzieherischen Angebote aufneh-
men und befolgen können.
Für uns, die Salesianische Familie, bedeutet Leben in der Familie
nicht nur eine strategische pastorale Wahl, die heute notwendig ist, sondern
ist eine Art und Weise, wie man unser Charisma und ein vorrangiges Ziel
in unserer apostolischen Sendung verwirklichen kann. Als unverkennbaren
charismatischen Grundzug leben die Salesianer und die Mitglieder der Sa-
4 Lettera circolare di Don Bosco sui castighi... 1883, Epistolario di San Giovanni Bosco
(herausgegeben von E. Ceria), SEI Turin, Bd. IV, S. 209.
13

2.4 Page 14

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lesianischen Familie den Familiengeist. Als vorrangige Sendung teilen wir
mit den Familien, die uns die Kinder und die Jugendlichen anvertrauen, die
Aufgabe, sie zu erziehen und zu evangelisieren. Als methodologische Er-
ziehungsoption setzen wir in unseren Tätigkeitsbereichen den Familiengeist
um.
3.1 „Im Anfang war die Mutter“5
Margherita Occhiena war „die erste Erzieherin und Lehrmeisterin der
Pädagogik“6 Don Boscos. Johannes Paul II. sagte zu den im Jahre 1988 in
Turin versammelten Erziehern im schulischen Bereich: „Es ist allen be-
kannt, welche Bedeutung Mamma Margherita im Leben des hl. Johannes
Bosco hatte. Sie hat nicht nur im Oratorium von Valdocco jenen charakte-
ristischen ‚Familiengeist’ hinterlassen, der heute noch besteht, sondern hat
es auch verstanden, das Herz des kleinen Giovanni zu jener Güte und zu
jener Liebenswürdigkeit zu erziehen, die ihn zum Freund und Vater seiner
armen Jugendlichen machen sollten“7.
3.1.1 Kurzer biographischer Querschnitt
Auch ich bin von der entscheidenden Rolle der Mamma Margherita
bei der menschlichen und christlichen Bildung Don Boscos sowie bei der
Schaffung des erzieherischen „familiären“ Umfeldes in Valdocco über-
zeugt. Es scheint mir notwendig zu sein, hier, wenn auch kurz, ihr Leben
und ihr spirituelles Profil zu skizzieren.
a) Bis zur Übersiedlung nach Valdocco (von 1788 bis 1846)
Geboren in Serra di Capriglio, Ortsteil des kleinen Dorfes in der
Provinz von Asti, am 1. April 1788 als Kind von Melchiorre Occhiena und
Domenica Bassone, wurde Margherita noch am Tage ihrer Geburt getauft.
Ihre Eltern waren ein wenig besser situierte Dorfbewohner, Eigentümer
eines Hauses und der anliegenden Grundstücke.
Capriglio hatte keine Schule. Deshalb lernte Margherita weder lesen
noch schreiben. Ungebildet zu sein, bedeutet aber nicht, unwissend zu sein.
Sie vermochte es, sich eine hervorragende Weisheit anzueignen, indem sie
5 So begann G. Joergensen seine Biographie über Don Bosco, Don Bosco (italienische Aus-
gabe, herausgegeben von A. Cojazzi), SEI Turin, 1929, S. 19.
6 P. Braido, Prevenire non reprimere. Il sistema educativo di Don Bosco. LAS, Rom 1999,
S. 139.
7 Ansprache an die im Schulbereich tätigen Erzieher. Der Text wurde im Rundbrief von Don
Egidio Viganò Der Papst spricht zu uns über Don Bosco, vgl. Amtsblatt 328, S. 15, zitiert.
14

2.5 Page 15

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mit wachem Herzen in der Pfarrkirche die Predigten und Katechesen hörte
und sich zudem ihre tägliche Erfahrung formte, die nicht immer schön und
heiter war. Don Lemoyne, der Verfasser der ersten Biographie über Mam-
ma Margherita aus dem Jahr 1886, schreibt: „Von Natur aus war sie mit
einer Entschlossenheit des Willens ausgestattet, die sie, unterstützt von
einem feinen und guten Gespür und von der göttlichen Gnade, befähigte,
über all jene geistlichen und materiellen Hindernisse zu siegen, die sie im
Laufe ihres Lebens antreffen sollte... Aufrichtig in ihrem Gewissen, in ih-
ren Gefühlen und in ihren Gedanken; sicher in ihren Urteilen über Men-
schen und Dinge, unbefangen in ihrem Umgang und frei in ihrem Sprechen,
wusste sie nicht, was Zögern sei... Diese Freiheit war ein Schutz für ihre
Tugend, weil sie geeint war mit einer Klugheit, die sie vor Fehltritten be-
wahrte“8.
Zwei Kilometer von Capriglio entfernt, auf dem Hügel gegenüber in
„Becchi“, Ortsteil von Morialdo und Castelnuovo d’Asti, lebte Francesco
Bosco, ein junger Bauer von 27 Jahren, Witwer, der die Sorge für einen
kleinen dreijährigen Jungen namens Antonio hatte; er erbat sie zur Ehefrau.
Nach der Eheschließung am 6. Juni 1812 begab sich Margherita Bosco auf
den Bauernhof Biglione. Die kleine Familie zögerte nicht, sich zu vergrö-
ßern. Am 8. April 1813 wurde ein erster Sohn namens Giuseppe geboren
und zwei Jahre später am 16. August 1815 ein zweiter Sohn namens Gio-
vanni Melchiorre: der künftige heilige Johannes Bosco.
Nach dem plötzlichen Tod von Francesco mit gerade 33 Jahren wur-
de Margherita mit 29 Jahren Familienoberhaupt – drei Söhne und die
Großmutter väterlicherseits – und war nunmehr verantwortlich für den
landwirtschaftlichen Betrieb. Kurz nachdem sie Witwe geworden war, er-
hielt sie das Angebot einer sehr vorteilhaften Ehe: die Kinder wären einem
Vormund anvertraut worden. Sie lehnte strikt ab: „Gott hat mir einen E-
hemann gegeben und ihn mir wieder genommen. Vor seinem Tod schenkte
er mir drei Söhne, und ich wäre eine grausame Mutter, wenn ich sie in dem
Augenblick verlassen würde, wo sie mich am meisten brauchen.“
Vor allem diesen Söhnen widmete sie sich nun, um ihren Erzie-
hungsauftrag zu erfüllen. In dieser Aufgabe wird Margherita ihre außerge-
wöhnlichen Begabungen an den Tag legen: ihren Glauben, ihre Tugend, ihr
8 Mehr als eine Biographie, müsste das Werk von Lemoyne gelesen werden als eine vorbild-
liche Erzählung erbaulichen Charakters. Der Autor war sich dessen bewusst, als er dem
Bändchen den Titel gab: Scene morali di famiglia esposte nella vita di Margherita Bosco.
Racconto edificante ed ameno. Turin, Tip. Salesiana, 1886, S. 192ff.
15

2.6 Page 16

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Handlungsvermögen, ihre Klugheit als piemontesische Bauersfrau und als
echte Christin voll des Hl. Geistes.
Sie verstand es, sich einem jeden der Söhne anzupassen. Antonio
hatte die Mutter im Alter von drei Jahren und seinen Vater im Alter von
neun Jahren verloren. Er war ein leicht reizbarer Heranwachsender, ein
mürrischer Jugendlicher, der oft in Gewalttätigkeit abglitt. Margherita hörte
ihn manchmal „Stiefmutter“ rufen, während sie ihn stets als einen Sohn mit
unendlicher Geduld behandelte. Aber sie verstand es auch, gerecht und
stark zu sein: Für den Frieden im Hause, für das Wohl von Giuseppe und
Giovanni fasste sie schmerzhafte Entschlüsse, die sich aufzwangen. Am
Ende des Jahres 1830 vollzog sie die Trennung der Güter: Haus und
Grundstücke. Antonio, der allein geblieben war, heiratete schon bald und
hatte sieben Kinder. Nachdem er sich mit den Seinen vollkommen ausge-
söhnt hatte, ist er fortan ein guter und sehr geschätzter Familienvater und
ein treuer Christ.
Der fünf Jahre jüngere Giuseppe war sanft, verträglich und ruhig.
Von seinem Bruder Giovanni war er unzertrennlich und ertrug ohne Eifer-
sucht seinen Aufstieg. Er verehrte seine Mutter; und während der langen
Studienjahre des Giovanni wird er der gehorsame und fleißige Sohn sein,
auf den sie sich stützen kann. Auch er heiratete früh mit 20 Jahren, und
zwar ein Mädchen aus dem Dorf namens Maria Colosso, von der er zehn
Kinder hatte.
Giovanni wollte studieren. Mamma Margherita, die ihn in diesem
Vorhaben unterstützen wollte, stieß auf die entschiedene Opposition von
Antonio. Mit gequältem Herzen schickte sie ihn dann für zwanzig Monate
zur Arbeit als Gehilfe auf den Bauernhof der Familie Moglia (1828-1829).
Als Antonio endlich seine Eigenständigkeit bekam, hatte Mamma Marghe-
rita die Möglichkeit, Giovanni auf die Öffentliche Schule in Castelnuovo
(1831) und dann auf die in Chieri zu schicken, wo er zehn Jahre verbrachte
(1831-1841): vier Jahre an der Öffentlichen Schule und sechs im Priester-
seminar. Das war für Mamma Magherita endlich eine ruhige, glückliche
und hoffnungsvolle Zeit, in der sie Großmutter der Kinder von Antonio und
Giuseppe wurde.
Don Bosco wird sich mit 70 und mehr Jahren an den gebieterischen
Ton erinnern, mit dem Mamma Margherita im Jahre 1834, als er konkret
über seine Zukunft entscheiden musste, gesagt hatte: „Höre, Giovanni. Ich
habe dir nichts zu dem zu sagen, was deine Berufung betrifft, wenn nicht
dies: ihr zu folgen, wie Gott es dir eingibt. Sorge dich nicht um mich. Von
dir erwarte ich nichts. Und behalte dies gut im Gedächtnis: Ich bin in Ar-
16

2.7 Page 17

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mut geboren, habe in Armut gelebt und will in Armut sterben. Ja, ich versi-
chere dir: Wenn du unglücklicherweise ein reicher Priester werden solltest,
werde ich dir keinen einzigen Besuch machen“9.
Am 26. Oktober 1835 legte Giovanni im Alter von 20 Jahren in
Castelnuovo in der Pfarrkirche das klerikale Gewand an. Von jenem Tage
an, vertraut uns Don Bosco an, „behielt mich meine Mutter im Blick... Am
Vorabend der Abreise rief sie mich zu sich und hielt mir diese denkwürdige
Ansprache: ‚Mein lieber Johannes, du hast das priesterliche Gewand ange-
legt. Ich empfinde darüber den ganzen Trost, den eine Mutter im Hinblick
auf das Glück ihres Sohnes empfinden kann. Aber denke daran, dass es
nicht das Gewand ist, das deinem Stand Ehre macht; es ist vielmehr die
Praxis der Tugend. Wenn du jemals in Zweifel gerietest bezüglich deiner
Berufung, dann entehre um Himmels willen nicht dieses Kleid. Lege es
sofort ab. Ich möchte lieber einen armen Bauernsohn haben als einen Pries-
tersohn, der seine Pflichten vernachlässigt’“10.
Giovanni wurde am Samstag, dem 5. Juni 1841 in Turin zum Priester
geweiht. Am folgenden Tag, nachdem er die feierliche Messe in der Pfarr-
kirche von Castelnuovo gefeiert hatte, ging er nach Becchi hinaus. Beim
Anblick der Orte des ersten Traumes und so vieler Erinnerungen wurde der
Neupriester zu Tränen gerührt. In der Stille des Abends war er mit seiner
Mutter allein. Sie sagte zu ihm: „Giovanni, du bist Priester, und liest die
Messe. Von jetzt ab wirst du also näher bei Jesus Christus sein. Denke aber
daran, dass anfangen die Messe zu lesen sagen will, anfangen zu leiden. Du
wirst das nicht gleich merken; aber nach und nach wirst du sehen, dass
deine Mutter dir die Wahrheit gesagt hat. Ich bin sicher, dass du alle Tage
für mich beten wirst; sei es, dass ich noch lebe oder dass ich schon gestor-
ben bin. Das genügt mir. Denke du von nun an einzig an das Heil der See-
len und mach dir keine Gedanken um mich“11.
Am 3. November 1841 verabschiedete sich der junge Priester Don
Bosco von seiner Mutter und von seinen Brüdern und reiste nach Turin ab.
Auf den Rat von Don Giuseppe Cafasso trat er ins kirchliche Konvikt ein
und begann sofort sein Apostolat unter den Jungen von der Straße und in
den Gefängnissen. Am 8. Dezember begann er seine Katechese mit Barto-
lomeo Garelli. Das war der Anfang des großen salesianischen Abenteuers.
Der junge Priester bemühte sich, eine immer zahlreichere Schar von
Jungen zu versammeln, und zwar zunächst beim Konvikt, dann bei der
9 Vgl. Memorie Biografiche I, S. 296.
10 Memorie dell’Oratorio, herausgegeben von A. da Silva Ferreira, LAS 1991, S. 90.
11 Memorie Biografiche, I, S. 522.
17

2.8 Page 18

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Gräfin Barolo, danach auf den nahegelegenen Wiesen, bis er schließlich an
Ostern 1846 in den Schuppen Pinardi in Valdocco einzog. Während dieser
Zeit lebte Margherita zufrieden in Becchi als glückliche Großmutter einer
Schar von Enkelkindern im Alter zwischen 13 Jahren und wenigen Mona-
ten.
Im Juli 1846 war Don Bosco von seiner apostolischen Arbeit er-
schöpft und stand sozusagen an der Schwelle des Todes. Nachdem die Ge-
sundheit wieder hergestellt war, ging er nach Becchi, um eine längere Ge-
nesungszeit zu verbringen. Mutter und Sohn fanden sich in der Intimität
wieder. Das Herz des Priesters Giovanni Bosco war aber in Turin geblie-
ben. So viele Jugendliche erwarteten ihn! Und es gab ein Problem zu lösen:
Als junger Priester von 30 Jahren kann Giovanni nicht allein in den Räu-
men wohnen, die er seit kurzem im Haus Pinardi in diesem verrufenen
Viertel Valdoccos angemietet hatte. „Nimm deine Mutter mit!“, sagte ihm
der Pfarrer von Castelnuovo. Und so hat Don Bosco die großherzige Reak-
tion seiner Mutter wiedergegeben: „Wenn du meinst, dass das dem Herrn
gefällt, bin ich bereit, im Augenblick abzureisen.“12 Am 3. November 1846
machten sich Mutter und Sohn zu Fuß auf nach Turin.
b) Zehn Jahre mit Don Bosco (von 1846 bis 1856)
Für Mamma Margherita begann die letzte Periode, in der ihr Leben
sich mit dem ihres Sohnes und mit der Gründung des salesianischen Wer-
kes verband.
Indem Margherita Don Bosco half, wollte sie ganz offensichtlich den
Jungen dienen, denen ihr Sohn sein Leben gewidmet hatte. Zunächst muss-
te sie sich an das Geschrei und den Lärm des Oratoriums tagsüber sowie an
die späten Stunden der Abendschulen gewöhnen. Dann kam die Aufnahme
der ersten herumstreunenden Waisen in ihr Haus. Wie groß war die Zahl
dieser Jungen, die die große Familie der Mamma Margherita bildeten? Et-
wa fünfzehn im Jahre 1848, dreißig im Jahre 1849 und fünfzig im Jahre
1850. Der Bau eines Hauses mit zwei Etagen erlaubte die Aufnahme von
etwa siebzig Jungen im Jahre 1853 und hundert im Jahre 1854. Zwei Drittel
waren Handwerkslehrlinge, ein Drittel Schüler oder Seminaristen der Diö-
zese, die in die Stadt entweder arbeiten oder studieren gingen. Wenigstens
dreißig Jungen waren den ganzen Tag der Obhut Don Boscos überlassen.
An einem Abend des Jahres 1850 hatte Margherita ihre Getsema-
nistunde. Vier Jahre dieses Lebens sollten genug sein. Sie konnte nicht
12 Memorie dell’Oratorio (zitierte Ausgabe), S. 174.
18

2.9 Page 19

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mehr! Ihrem Sohn schüttete sie ihr Herz aus: „Höre, Giovanni, es ist nicht
mehr erträglich. Jeden Tag stellen diese Jungen etwas Neues an... Lass
mich weggehen. Lass mich zurückgehen nach Becchi. Dort will ich in Ruhe
meine Tage beenden.“ Don Bosco war erschüttert, schaute sie an und erhob
dann den Blick zum Kruzifix, das an der Wand hing. Margherita folgte
diesem Blick. „Du hast recht“, sagte sie, “du hast recht.“ Und sie griff nach
ihrer Schürze. „Von diesem Augenblick an kam kein Wort der Unzufrie-
denheit mehr über ihre Lippen.“13 Wer wird dieses ihr persönliches Opfer
für die Entwicklung des salesianischen Werkes jemals gebührend einschät-
zen können?
Gewiss war Mamma Margherita auch aktiv präsent bei der ersten
„spirituellen“ Entwicklung des Werkes: die ersten Momente der Formung
der Methode und des salesianischen Klimas, die Präsenz und die Beglei-
tung der ersten Schüler: Cagliero (1851), Rua (1852), Don Alasonatti und
Dominikus Savio (1854); die ersten Bündnisse, die ersten Früchte der Hei-
ligkeit, die ersten Kleriker und die Vorbereitung der Salesianischen Gesell-
schaft, die schon drei Jahre nach ihrem Tod gegründet wurde. Diese lange
weibliche und mütterliche Präsenz ist eine einmalige Tatsache in der Ge-
schichte der Gründer von Erziehungskongregationen. „Die Salesianische
Kongregation hatte ihre Wiege auf den Knien von Mamma Margherita“,
hat ein Biograf Don Boscos geschrieben.14
Dennoch war die schönste Aufgabe der Mamma Margherita die, bei
der sie nicht nur ihre Arme, sondern ihr Herz, ihr angeborenes Erziehungs-
talent einsetzte. Alle diese Waisenkinder nannten sie „Mamma“. Es war
sehr wohl klar, dass sie sich nicht darauf beschränkte, ihre Köchin oder ihre
Garderobenfrau zu sein. Ihr gegenüber hatten sie ein vorbehaltloses Ver-
trauen, die Zuneigung von Waisenkindern, die sich von ihr geliebt fühlten.
Tagsüber griff sie mit feinsinnigen Gesprächen ein, um zu korrigieren, zu
ermahnen, zu trösten, einen passenden Rat zu geben, ihren Charakter und
ihr Herz als Glaubende zu formen, an die Gegenwart Gottes zu erinnern,
bei Don Bosco beichten zu gehen und ihnen die Marienverehrung ans Herz
zu legen.
Sie kannte jeden einzelnen von all diesen Jungen und sie wusste sie
zu beurteilen. Zwei Jahre lang konnte sie einen einzigartigen Heranwach-
senden beobachten, der aus Mondonio gekommen war. Sein Verhalten
beeindruckte sie: „Du hast“, sagte sie eines Tages zu Don Bosco, „so viele
gute Jugendliche, aber keiner überragt die Schönheit des Herzens und der
13 Memorie Biografiche, IV, S. 233.
14 Teresio BOSCO, Una nuova biografia di Don Bosco, EDC, Leumann (Turin) 1978.
19

2.10 Page 20

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Seele des Savio Domenico... Ich sehe ihn ständig beten... Er kniet in der
Kirche wie ein Engel aus dem Paradies.“15
Die einzigen Augenblicke der Ruhe und der Erholung der Mamma
Margherita in diesen Jahren waren die wenigen Wochen der Herbstferien in
Becchi. Es war allerdings ein relatives Ausruhen, weil ihr Don Bosco alle
Jungen ohne Familie zuführte. Nach der Rückkehr aus den Ferien 1856
Mitte November fühlte sie sich übel und legte sich zu Bett. Der Arzt diag-
nostizierte eine Lungenentzündung. Sie starb am 25. November um drei
Uhr. Am Abend davor hatte Don Borel, ihr Beichtvater, ihr die letzten Sak-
ramente gespendet. Zu Don Bosco sagte sie: „Gott weiß, wie sehr ich dich
geliebt habe. Aber da oben wird es noch besser sein. Ich habe all das getan,
was ich konnte. Wenn ich manchmal streng war, war es zu eurem Wohl.
Sage den Jungen, dass ich wie eine Mutter für sie gearbeitet habe. Sie mö-
gen für mich beten und eine heilige Kommunion für mich aufopfern.“16
Mamma Margherita lebte arm und starb arm. Sie wurde in einem
Gemeinschaftsgrab beigesetzt, und ihr Name wurde nie auf einen Grabstein
geschrieben.
3.1.2 Spirituelles Profil der Mamma Margherita
Der Tod der Mutter „stellt noch deutlicher das starke Band zwischen Don
Bosco und seiner Mutter heraus, jene primäre Beziehung, die die funda-
mentalen Grundzüge seiner Persönlichkeit geprägt hat.“17 Sie war geliebt
von den Salesianern und Jugendlichen, und gleich nach ihrem Tod entstand
eine gemeinsame Überzeugung: „Sie war eine Heilige!“. Dennoch wurde
das Verfahren der Seligsprechung und der Kanonisierung der Mamma Mar-
gherita erst am 8. September 1994 eingeleitet. Nachdem der Diözesanpro-
zess in Turin im Jahre 1996 abgeschlossen war, wurde die Positio (d.h. die
Dokumentation über den Ruf der Heiligkeit und den heroischen Grad des
Lebens und der Tugenden) offiziell am 25. Januar 2000 der Kongregation
für die Heiligsprechungen übergeben.18 Ich kann dem Wunsch nicht wider-
stehen, hier ihr spirituelles Profil zu skizzieren, das sich gerade aus der
Positio ergibt.
15 Memorie Biografiche, V, S. 207.
16 Memorie Biografiche, V, S. 563.
17 P. Braido, Don Bosco, prete dei giovani nel secolo della libertà. Bd. I. LAS, Rom 2003,
S. 317.
18 Bei dieser Arbeit hatte die historische Kommission, die sich mit der Angelegenheit be-
fasste, ein großes Verdienst. Sie setzte sich zusammen aus: Sr. P. Cavaglià, Don F. Desra-
maut, Don R. Farina, Don G. Milone, Don F. Motto und Don G. Tuninetti.
20

3 Pages 21-30

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3.1 Page 21

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a) Eine starke Frau
In ihrem ganzen Leben trifft man niemals auf Momente des leichten
Nachgebens gegenüber natürlichen Neigungen. Sie beweist eine außerge-
wöhnliche Ausgeglichenheit, wenn es darum geht, schwierige Spannungen
im Familienleben zu harmonisieren. Ihre Verhaltensweise erscheint uns
immer wachsam und geleitet von einer höheren Sorge: der Sorge eines
Menschen, der beurteilt, welches Verhalten für das Wohl seiner Kinder vor
Gott besser ist. Sie erweist sich so als zartfühlend und entschlossen, als
verständnisvoll und unbeirrbar, als geduldig und entschieden.
Was Margherita zur Harmonisierung der Gegensätze bewegte, war
die Tatsache, dass sie ihren Söhnen gegenüber auch die Vaterrolle ausüben
musste. Mamma Margherita, die auch die Möglichkeit gehabt hätte, die
problematische Situation der Witwe zu vermeiden und wieder zu heiraten,
hat es verstanden, immer den gerechten Ausgleich zwischen diesen beiden
Rollen zu erreichen und zu bewahren: eine Mütterlichkeit, die genügend
stark war, um die Abwesenheit des Vaters zu kompensieren, und eine „Vä-
terlichkeit“, die sanft genug war, die unverzichtbare mütterliche Wärme
nicht aufs Spiel zu setzen. Also keine leeren Streicheleinheiten, kein wü-
tendes Geschrei; aber Festigkeit und Gelassenheit.
Von ihrem Aussehen her gingen immer Ruhe, Heiterkeit, Selbstbe-
herrschung und echte Güte aus. Sie schlug ihre Söhne nicht; aber sie gab
ihnen nie nach. Sie drohte strenge Strafen an; aber sie vergab ihnen beim
ersten Zeichen von Reue. Don Bosco erinnert sich: In einer Ecke der Küche
stand die Rute, ein kleiner flexibler Stock. Aber sie benutzte ihn nie, ent-
fernte ihn aber auch nie aus dieser Ecke. Sie war eine überaus gütige Mut-
ter, aber energisch und stark. Sie wusste mit zwei Präsenzen zurecht zu
kommen, die sich im Allgemeinen in einer Familie als problematisch er-
weisen: die Präsenz einer kranken Schwiegermutter und die eines beson-
ders schwierigen Stiefsohns. Als kluge Erzieherin verstand sie es, eine fa-
miliäre Situation, die reich war an Schwierigkeiten, in ein erzieherisch ein-
flussreiches und fruchtbares Umfeld umzuwandeln.
Mit dem Beispiel und dem Wort brachte sie den Söhnen die großen
Tugenden des piemontesischen Humanismus jener Zeit bei: den Sinn für
Pflichterfüllung und Arbeit, den täglichen Mut zu einem harten Leben, die
Offenheit und Ehrenhaftigkeit und den guten Humor. Sie lernten auch, die
alten Leute zu respektieren und sich gern für den Dienst am Nächsten zur
Verfügung zu stellen. Andererseits fürchtete sich die ruhige und starke Frau
nicht, ihre Meinung denen zu sagen, deren Worte oder Taten Ärgernis er-
21

3.2 Page 22

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regten. Solche Beispiele drangen ganz tief ins Bewusstsein der drei Jungen
ein.
Die Dimension des Glaubens gab einer jeden Lektion, die diese an-
alphabetische Lehrmeisterin ihren Söhnen erteilte, den Beigeschmack der
Weisheit und nachhaltige Wirksamkeit.
b) „Salesianische“ Erzieherin
Diese erzieherische Kunst war es, die es Mamma Margherita erlaub-
te, die verborgenen Kräfte in ihren Söhnen zu entdecken, sie ans Licht zu
fördern, sie zu entfalten und sie sozusagen sichtbar in ihre Hände zu legen.
Das gilt besonders im Hinblick auf ihre reichste Frucht: Giovanni. Wie
beeindruckend ist es, in Mamma Margherita diesen bewussten und klaren
Sinn „mütterlicher Verantwortung“ vorzufinden, mit der sie den eigenen
Sohn christlich und aus der Nähe begleitet hat. Dennoch ließ sie ihm seine
Selbständigkeit in Bezug auf die Berufung; begleitete ihn aber ununterbro-
chen in allen Phasen seines Lebens bis zu ihrem Tod!
Der Traum, den der kleine Giovanni mit neun Jahren hatte, war eine
Offenbarung für ihn, aber sicher auch (wenn nicht schon früher) für Mam-
ma Margherita. Sie war es, die die Interpretation bereit hatte und darlegte:
„Wer weiß, ob du nicht Priester werden sollst!“. Einige Jahre später, als sie
verstand, dass das Klima im Hause wegen der Feindseligkeit des Stiefbru-
ders Antonio auf Giovanni negativ wirkte, brachte sie das Opfer, ihn als
Hilfsjungen aufs Land auf den Bauernhof Moglia in der Nähe von Moncuc-
co zu schicken. Eine Mutter, die auf ihren jüngsten Sohn verzichtet, um ihn
zum Arbeiten aufs Land, weit von zu Hause weg, zu schicken, bringt ein
echtes Opfer. Aber sie tat es nicht nur, um eine familiäre Zwietracht auszu-
schalten, sondern um Giovanni auf jenen Weg zu lenken, den ihm (und ihr)
der Traum offenbart hatte.
Man kann sagen, dass Mamma Margherita das Verdienst zukommt,
in Don Bosco die Samenkörner jener berühmten Dreiheit eingesenkt zu
haben: Vernunft, Religion, Liebenswürdigkeit, die sie in ihrer Ausgegli-
chenheit, freundlichen Art und natürlichen Autorität auf schlichte Weise
lebte. Die göttliche Vorsehung schenkte ihr die Gnade, eine von einer vor-
beugenden Liebe beseelte „salesianische“ Erzieherin zu sein, die zu ver-
stehen, zu fordern, zu korrigieren, sich zu gedulden und zu lächeln wusste.
Ihre Söhne waren gut beaufsichtigt, kontrolliert, und geführt, aber
nicht unterdrückt. Sie mussten gehorchen und um Erlaubnisse bitten. Aber
die Mutter überließ sie gern ihrer Fröhlichkeit und ihren Spielen. Sie gab
nie ihren Launen nach und wies sie liebevoll zurecht. Don Lemoyne be-
22

3.3 Page 23

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zeugt: „Sie wollte auf jeden Fall, dass die Zurechtweisung weder Jähzorn,
noch Misstrauen, noch Lieblosigkeit erregte. Ihre Maxime bezüglich dieses
Punktes war präzise: die Söhne anzuleiten, jede Sache aus Zuneigung oder
aus dem Bemühen, Gott zu gefallen, zu machen. Und deshalb war sie eine
Mutter, die verehrt wurde.“19 Don Bosco wird später sagen, dass die Erzie-
hung Herzenssache ist. Er hatte bereits diese glückliche Erfahrung im häus-
lichen Familienkreis in Becchi gemacht.
c) Erfolgreiche Katechetin
Mamma Margherita hatte die seltene Fähigkeit, aus allem, was im
Leben geschah, eine Anregung für eine Katechese zu gewinnen. Sie war die
Erstverantwortliche für die Belehrung ihrer Söhne im Glauben und verstand
es, ihnen einfache und starke Werte in ihrer Schule der Familie zu vermit-
teln. Das, was sie an erster Stelle ihren Söhnen in den Jahren ihres Wachs-
tums mit Geduld beibrachte, waren ihr ungetrübter Glaube, das Bewusst-
sein eines stets präsenten Gottes der Liebe, eine zarte Verehrung Mariens.
Berühmt geblieben ist der Katechismus der Mamma Margherita. Sie, die
weder lesen noch schreiben konnte und die in ihrer Kindheit die notwendi-
gen Formeln auswendig gelernt hatte, gab sie an ihre Söhne weiter, fasste
sie aber auch zusammen und interpretierte sie entsprechend ihrem untrügli-
chen mütterlichen Instinkt.
Die großen Glaubenswahrheiten wurden in ganz einfacher und ele-
mentarer Weise vermittelt, allesamt ausgedrückt in kürzesten Formeln:
- „Gott sieht dich!“, das war die Wahrheit eines jeden Augenblicks;
nicht mit dem Ziel, Angst einzujagen, sondern um den Kindern Sicher-
heit zu geben über die Tatsache, dass Gott für sie sorgte und dass eben
diese Güte Gottes von ihnen forderte, mit einer guten Lebensweise dar-
auf zu antworten.
- „Wie gut ist doch der Herr!“, rief sie jedes Mal aus, wenn irgendetwas
die Phantasie der Kinder berührte, und weckte so ihre Bewunderung.
- „Mit Gott scherzt man nicht!“, sagte sie aus Überzeugung, wenn es
darum ging, den Abscheu vor dem Bösen und der Sünde einzuschärfen.
- „Wir haben nur wenig Zeit, um das Gute zu tun!“, erklärte sie, wenn
sie die Kinder dazu anspornen wollte, emsiger und großherziger zu
sein.
19 G.B. Lemoyne, Scene morali di famiglia esposte nella vita die Magherita Bosco. Turin, S.
39.
23

3.4 Page 24

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- „Was nützt es, schöne Kleider zu haben, wenn dann die Seele hässlich
ist?“, merkte sie an, wenn sie die Kinder zu einer würdigen Armut und
zur Pflege der inneren Schönheit der Seele erziehen wollte.
Dann gab es den Katechismus der Sakramente. Aus der Erzählung
Don Boscos wissen wir, wie sie ihn beim kleinen Giovanni anwendete. Als
die Zeit der ersten Kommunion näher kam, begann sie damit, ihm jeden
Tag irgendein Gebet oder irgendeine besondere Lektüre vorzulegen. Dann
bereitete sie das Kind auf eine gute Beichte vor und ließ es sie dreimal
während der Fastenzeit wiederholen. Als dann der große Tag an Ostern
1826 kam, sorgte sie dafür, dass das Kind tatsächlich eine Erfahrung der
Vereinigung mit Gott machen konnte. An diesem Tage sagte sie zu ihrem
Sohn: „Ich bin davon überzeugt, dass Gott von deinem Herzen Besitz er-
griffen hat! Nun versprich ihm, alles zu tun, was zu du kannst, um bis ans
Ende des Lebens gut zu bleiben.“20
Schließlich gab es den Katechismus der Liebe: sei es in den Jahren
des relativen Wohlstands wie auch in denen des Hungers. Das Haus Mar-
gheritas blieb immer offen für Arme, Straßenhändler, Polizeipatrouillen,
die um ein Glas Wein baten, Jungen in moralischen Schwierigkeiten. So
stand das Haus auch offen für Nachbarn, wenn irgendein Missgeschick zu
lindern war; für Kranke, die des Beistands bedurften, oder für Sterbende,
die bei ihrem letzten Übergang eine Begleitung brauchten.
d) Erste Mitarbeiterin
Es gibt Formen, Akzente und Ausprägungen im von Don Bosco
praktizierten Präventivsystem, die etwas Mütterliches, Liebevolles und
Beruhigendes an sich haben und die dazu berechtigen, in Margherita nicht
nur eine weibliche Gestalt zu sehen, die ihren Einfluss von ferne ausübt,
sondern auch von innen her als inspirierende Kraft und Leitbild, und ge-
wiss auch als erste Mitarbeiterin.
Vor allem während der letzten zehn Jahre ihres Lebens hatte die
Präsenz der Mamma Margherita in Valdocco nicht nur einen beiläufigen
Einfluss auf jenen „Familiengeist“, den wir alle als das Herz des salesiani-
schen Charismas betrachten. Das waren keine beliebigen zehn Jahre, son-
dern die erste Zeit, in der die Grundlagen für jenes Klima geschaffen wur-
den, das in die Geschichte eingehen wird als das Klima von Valdocco. Don
Bosco hatte seine Mutter eingeladen aufgrund der praktischen Notwendig-
20 Memorie dell’Oratorio (zitierte Ausgabe), S. 43.
24

3.5 Page 25

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keiten. In Wirklichkeit war diese Präsenz im Plan Gottes dazu bestimmt,
die Grenzen einer zufälligen Notwendigkeit zu überschreiten, um sich in
das Bild einer von der Vorsehung bewirkten Mitarbeit an einem noch im
Entstehen begriffenen Charisma einzugravieren.
Mamma Margherita war sich dieser ihrer neuen Sendung bewusst.
Sie nahm sie mit Demut und klarer Einsicht an. So erklärt sich der Mut, den
sie unter den härtesten Umständen bewiesen hat. Man denke nur an die
Choleraepidemie. Man denke an die Gesten und Worte, die etwas Propheti-
sches an sich haben, wie das Benutzen der Altartücher, um daraus Binden
für die Kranken zu machen. Besondere Bedeutung hat das Beispiel der
berühmten „Guten Nacht“, ein unverwechselbares Kennzeichen der salesi-
anischen Tradition. Das war ein Punkt, dem Don Bosco viel Bedeutung
beimaß. Es begann in der Tat durch Mamma Margherita mit einer kleinen
Ansprache an den ersten Jungen, der im Hause Aufnahme fand.21 Don Bos-
co wird dann diesen Brauch fortsetzen, aber nicht in der Kirche in der Art
einer Predigt, sondern im Spielhof, in den Gängen oder in den Vorhallen,
und zwar in väterlicher und familiärer Form.
Das innere Wesen dieser Mutter war so, dass der Sohn, auch später
als erfahrener Erzieher, immer noch von ihr zu lernen hatte. Will man das
Gesagte zusammenfassen, so gilt das Urteil von Don Lemoyne: „Man
konnte sagen, dass sich in ihr das Oratorium personifizierte.“22
3.2 Valdocco, „eine Familie, die erzieht“23
Auch wenn Valdocco die erste und die einzige Hilfs- und Erzie-
hungseinrichtung war, die von Don Bosco in Person gegründet und geleitet
wurde, können das typische Erscheinungsbild des Werkes und vor allem
das dort angewandte Erziehungssystem der Vorbeugung nur richtig ver-
standen werden in Verbindung nicht nur mit Don Bosco, mit seinem Tem-
perament und mit seinen Erfahrungen, sondern auch mit denen seiner Hel-
fer. Von den Anfängen des Oratoriums an war es ein Gemeinschaftsunter-
21 Don Bosco erzählt diese Episode in den Memorie dell’Oratorio (zitierte Ausgabe, S. 181-
182).
22 Memorie Biografiche, III, S. 376.
23 Die Formel ist dem Zeugnis Don Boscos selbst entnommen: „Diese Kongregation war
1841 nichts anderes als ein Katechismus, ein Garten der Rekreation an Festtagen, zu dem
1846 ein Hospiz für arme Handwerksjungen kam. Das war ein privates Institut nach Art
einer Großfamilie“ (G. Bosco, Brevi notizie sulla Congregazione di S. Francesco di Sales
dall’anno 1841 al 1879, in „Esposizione alla S. Sede sullo stato morale e materiale della Pia
Società di S. Francesco di Sales“, S. Pier d’Arena, 1879, in: Opere edite, Bd. XXXI, S. 240).
25

3.6 Page 26

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nehmen, errichtet und weiterentwickelt im Zusammenwirken zwischen dem
Gründer und seinen Mitarbeitern.24
Unter ihnen gibt es eine feste Gruppe von Frauen. Mamma Marghe-
rita ist sicherlich nicht die einzige Mitarbeiterin Don Boscos im Oratorium
gewesen. „Andere Mütter lebten in Valdocco und gaben dem Werk ein
familiäres Gepräge, das sich notwendigerweise aus ihrem Wesen und aus
ihrer Erfahrung ergab.“ Nach dem Tode Margheritas blieb die ältere
Schwester Marianna noch für ein Jahr bis zu ihrem Tod im Oratorium.
Dann „ließ sich im Oratorium die Mutter von Don Rua nieder. Ihr zur Seite
standen die Mütter des Klerikers Bellia, des Kanonikers Gastaldi und ande-
re. Im Oratorium lebte auch Marianna Magone, Mutter des bekannten
Schülers Don Boscos.“25 Nach ihrem Tode 1872 hört die Präsenz und der
Einfluss der Mütter im Oratorium auf.26
Man muss dennoch betonen, dass die Mutter Don Boscos während
der zehn Jahre von 1846 bis 1856 seine hauptsächliche Begleiterin und
Mitarbeiterin war, die mit ihm „Brot, Arbeit, Mühen, Sorgen und die Sen-
dung zu den Jugendlichen teilte“27. „Mamma Margherita“ – das war nun-
mehr ihr endgültiger Name in Valdocco – ist aktiv präsent in der Phase der
ersten „äußeren“ Entwicklung des Werkes: erstes Oratorium, „angrenzen-
des Haus“ oder Pensionat für die ersten Handwerkslehrlinge und Schüler,
erste Schulen und erste Werkstätten, kleine Kirche zur Ehren des hl. Franz
von Sales, Start der Letture Cattoliche in einem Klima der Revolutionen
und der Drohungen gegen Don Bosco (1853).
In diesen Tagen lebte man im Oratorium ein Familieleben, so gut es
ging – knapp an Mitteln und voll von Träumen. Oft musste Don Bosco aus
dem Haus gehen, um die Mittel zu besorgen, damit er – wenn auch in Ein-
fachheit – ein immer stärker bewohntes Pensionat leiten oder ein wenig
Frieden finden und seine Bücher in der Konviktsbibliothek oder anderswo
schreiben konnte. Mamma Margherita unterstützte ihn in der Assistenz der
Jungen und kümmerte sich um die gewöhnlichen Hausarbeiten, indem sie
am Tage die Küchenarbeiten machte und nachts die Kleider der Jungen
24 Vgl. P. Braido, Prevenire non reprimere. Ill sistema educativo di Don Bosco. LAS, Rom
1999, S. 158.
25 Vgl. P. Stella, Don Bosco nella Storia della Religiosità Cattolica. Bd. I: Vita e Opere,
LAS Rom 1997, S. 115.
26 „Es waren Zeiten, in denen das Kolleg bereits gut organisiert war, das religiöse Leben der
Kongregation die Präsenz von Frauen im Hause nicht mehr erforderte und Don Bosco schon
an die Schwestern Mariens, der Hilfe der Christen, dachte“ (P. Stella, a.a. O. S. 115).
27 P. Braido, Don Bosco, prete dei giovani nel secolo della libertà. Bd. I. LAS, Rom 2003,
S. 213.
26

3.7 Page 27

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flickte. Es sind ganz und gar gewöhnliche Dinge, „kleine Einzelheiten“
gewiss; aber sie „hatten ihren Einfluss auf viele Aspekte des Lebens Don
Boscos und der Jugendlichen und sie helfen uns, die ‚Familie’ des Oratori-
ums in ihrer konkreten Wirklichkeit zu sehen“28: Das Oratorium sollte nach
der Intention Don Boscos „ein Haus, d.h. eine Familie, und kein Kolleg
sein“29.
Don Egidio Viganò hat einmal mit Begeisterung die Auswirkung der
mütterlichen Präsenz von Mamma Margherita in Valdocco und ihren Bei-
trag bei der Gestaltung des familiären Klimas im Oratorium hervorgeho-
ben: „Die geradezu heroische Übersiedlung Mamma Margheritas nach
Valdocco diente dazu, das Umfeld jener armen Jugendlichen mit dem glei-
chen familiären Stil zu prägen, aus dem die Substanz des Präventivsystems
und so vieler traditioneller Formen, die daran gebunden sind, hervorgegan-
gen ist. Don Bosco hatte die Erfahrung gemacht, dass die Bildung seiner
Persönlichkeit vital eingewurzelt war im außergewöhnlichen Klima der
Hingabe und Güte (Geschenk seiner selbst) seiner Familie in Becchi, und er
wollte die bedeutungsvollsten Qualitäten davon im Oratorium von Valdoc-
co unter jenen armen und verlassenen Jugendlichen wiederherstellen.“30
Es ist also deutlich geworden, dass die Komponenten der „Erzie-
hungsfamilie“31, zu der Don Bosco sein Oratorium machen wollte, nicht
alle nur aus den pädagogischen und theologischen Idealisierungen kamen,
sondern auch aus dem Alltag des ländlichen piemontesischen Lebens32. Die
weiblichen Präsenzen der Mütter, die in Valdocco waren, und in erster Li-
nie die der Mamma Margherita, leisteten diesen besonderen Beitrag des
Glaubens und der Einfachheit, der Wirklichkeitsnähe und der erzieheri-
schen Weisheit.
28 P. Stella, a.a. O., S. 115. Vgl. José M. Prellezo, „Don Bosco, fundador de comunidad.
Aproximación a la comunidad de Valdocco“: Cuadernos de Formación Permanente 7
(2001) 166.
29 A. Caviglia, „Il Magone Michele“, in Opere e scritti editi e inediti di Don Bosco. Bd. V.,
SEI, Turin 1965, S. 141.
30 E. Viganò. Im Jahr der Familie. Vgl. Amtsblatt 349, Juni 1994, S. 22.
31 Ich übernehme die Ausdrucksweise von P. Braido, Prevenire non reprimere. Il sistema
educativo di Don Bosco, LAS, Rom 1988, S. 138.
32 Vgl. P. Baido, Prevenire non reprimere. Il sistema educativo di Don Bosco. (Von beson-
derem Interesse sind Kap. 15, S. 305ff und Kap. 8, S. 158ff).
27

3.8 Page 28

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4 Die Familie als Sendung
Diese Reflexionen über Mamma Margherita und ihre Familie lassen
uns verstehen, dass die Familie nicht nur ein - wenn auch indirekter - Teil
unserer Sendung ist, sondern darüber hinaus und vor allem aus ihrer Na-
tur heraus eine soziale Institution, deren Mitglieder sich innerhalb der Fa-
milie durch zwischenmenschliche Beziehungen miteinander verbunden
fühlen. Diese Beziehungen sind zwar verschiedener Art, aber allesamt von
einem affektiven, kommunikativen und normativen Klima beseelt, das sie
mit einer besonderen charismatischen Lebenskraft ausstattet. Unsere Ziel-
gruppe sind die Jugendlichen; unser Arbeitsfeld ist deren Erziehung und
Evangelisierung. Beide jedoch, Jugendliche und Erziehung, sind von der
Familie nicht zu trennen. Don Egidio Viganò erinnerte daran in seinem
Kommentar zur Synode der Bischöfe 1980 über die Familie, als deren Fol-
ge dann das Apostolische Schreiben Familiaris Consortio von Johannes
Paul II. veröffentlicht wurde: „Das Engagement unserer salesianischen
Berufung muss mit den Demütigen und Armen verwirklicht werden. Sie
sind es, die besonders der Familie bedürfen; und für sie gelangte Don Bos-
co, wie Pietro Braido schreibt, zu seiner genialsten Erfindung: der Lie-
benswürdigkeit, die im Klima einer freudig vereinten Familie erzieht.“33
4.1 „Familie, werde, was du bist!“
„Familie, werde, was du bist!“, mit diesem Aufruf lud Johannes
Paul II. die Familien der ganzen Welt dazu ein, in sich selbst die eigene
Wahrheit zu finden und sie inmitten der Welt zu verwirklichen. Heute, in
einer Welt, die bedroht ist vom Skeptizismus, muss diese Aufforderung des
Hl. Vaters erneut laut erklingen, die die Familien dazu ermutigte, die
Wahrheit in sich selbst zu finden, indem er hinzufügte: „Familie, glaube an
das, was du bist!“. „Architektur Gottes“, unverletzlicher Plan Gottes – die
Familie ist auch „Architektur des Menschen“, Engagement des Menschen
innerhalb des göttlichen Plans.
o Zelle der Gesellschaft
Die Familie ist Fundament und Stütze der Gesellschaft im Hinblick
auf ihre Wesensaufgabe des Dienstes am Leben: In der Familie werden die
Bürger geboren und in der Familie finden sie die erste Schule jener Tugen-
den, die die Seele des Lebens und der Entwicklung der Gesellschaft selbst
sind.
33 E. Viganò, Aufruf der Synode 1980. Vgl. Amtsblatt 299, Dezember 1980, S. 25.
28

3.9 Page 29

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Insofern sie zwischenmenschliche Gemeinschaft der Liebe ist, findet
die Familie in der Hingabe ihrer selbst das Gesetz, das sie leitet und sie
wachsen lässt. Das Geschenk ihrer selbst inspiriert die Liebe der Ehegatten
untereinander und gilt als Modell und Norm, die in den Beziehungen zwi-
schen Brüdern und Schwestern und zwischen den verschiedenen Generati-
onen, die in der Familie zusammenleben, verwirklicht werden soll. Die
Gemeinschaft und die Teilnahme, die täglich gelebt werden sollen im Hau-
se, in den Momenten der Freude und in denen der Schwierigkeiten, sind für
die Kinder die konkreteste und wirksamste Pädagogik im weitesten Um-
kreis der Gesellschaft. Jedes Kind ist ein Geschenk an die Brüder, an die
Schwestern, an die Eltern, an die ganze Familie. Sein Leben wird Geschenk
für diejenigen, die das Leben schenkten, die nicht umhin können, die Prä-
senz des Kindes, seine Teilnahme an ihrer Existenz, seinen Beitrag zum
Wohl der Familiengemeinschaft und der gesamten Gesellschaft wahrzu-
nehmen.
Die gleiche Erfahrung der Gemeinschaft und der Teilnahme, die das
tägliche Leben in der Familie prägen muss, stellt ihren ersten und funda-
mentalen Beitrag in der Gesellschaft dar. Die Beziehungen zwischen den
Gliedern der familiären Gemeinschaft sind inspiriert und geleitet vom Ge-
setz der „Unentgeltlichkeit“, die in allen und in jedem die persönliche
Würde als einzigen Wert anerkennt und zum Ort herzlicher Aufnahme, zur
Begegnung und zum Dialog, zur selbstlosen Verfügbarkeit, zum großherzi-
gen Dienst und zur tiefen Solidarität wird.
So wird die Förderung einer echten und reifen Gemeinschaft von
Personen in der Familie die erste und unverzichtbare Schule der Sozialisa-
tion. Sie ist ein Beispiel und ein Anreiz für die weitgehendsten zwischen-
menschlichen Beziehungen zum Lernen des Respekts, der Gerechtigkeit,
des Dialogs und der Liebe; Ursprungsort und wirksames Instrument der
Humanisierung und Personalisierung der Gesellschaft.34
Das alles ist heute in besonderer Weise wichtig, wenn man wirksam
den beiden eingeschränkten und begrenzten Familienmodellen entgegentre-
ten will, die Frucht der heutigen Konsumgesellschaft sind: Das der Familie
als „Festung“, die auf egoistische Weise nur auf sich selbst ausgerichtet ist,
und das der Familie als „Herberge“, in der es keine Identität und keine Be-
ziehungsfähigkeit gibt. Angesichts einer Gesellschaft, die Gefahr läuft,
immer mehr entpersonalisiert und vermasst und somit unmenschlich und
entmenschlichend mit den negativen Auswirkungen zahlreicher Formen des
34 Francesco di Felice, Radici umane e valori cristiani della famiglia, Libreria Editrice
Vaticana, 2005, S. 138ff.
29

3.10 Page 30

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„Ausbrechens“ zu sein, besitzt die Familie heute noch die Strahlkraft wun-
derbarer Energien, die in der Lage sind, den Menschen der Anonymität zu
entreißen, ihm das Bewusstsein seiner persönlichen Würde zu erhalten, ihn
mit tiefer Menschlichkeit zu bereichern und ihn mit seiner Einzigartigkeit
und Unwiederholbarkeit aktiv einzubeziehen in das Netz der Gesellschaft.
Wenn die Familie dem Leben dient, wenn sie die Bürger von morgen
prägt, wenn sie ihnen die menschlichen Werte vermittelt, die für die Nation
fundamental sind; wenn sie die Kinder in die Gesellschaft einführt, spielt
die Familie eine wesentliche Rolle: Sie ist gemeinsames Gut der Mensch-
heit. Sowohl die natürliche Vernunft wie die göttliche Offenbarung enthal-
ten diese Wahrheit. Wie das Zweite Vatikanische Konzil sagt, bildet die
Familie „die erste und vitale Zelle der Gesellschaft“35.
o Heiligtum des Lebens
Die erste und fundamentale Aufgabe der Familie ist der Dienst am
Leben, indem sie durch die Geschichte hindurch die ursprüngliche Segnung
des Schöpfers verwirklicht und so das göttliche Bild von Mensch zu
Mensch weitergibt (vgl. Gen 5,1ff). Diese Verantwortung ergibt sich aus
ihrem Wesen selbst, nämlich: Gemeinschaft des Lebens und der Liebe zu
sein, gegründet auf die Ehe, - und aus ihrer Sendung, die Liebe zu bewah-
ren, zu offenbaren und weiterzugeben. Im Spiel ist die Liebe Gottes selbst,
zu dessen Mitarbeitern und Interpreten die Eltern berufen sind, indem sie
das Leben weitergeben und es gemäß seinem väterlichen Plan erziehen. In
der Familie vermittelt die Liebe in der Zeit fortwährend Leben: Sie wird
zum Ort unentgeltlichen Wohlwollens, der Aufnahme und der Hingabe. In
der Familie ist ein jeder anerkannt, respektiert und geehrt, weil er Person
ist; und je mehr einer dessen bedarf, umso intensiver und wachsamer ist die
Sorge für ihn.
Die Familie ist also beteiligt im gesamten Bereich der Existenz ihrer
Mitglieder, von der Geburt bis zum Tode. Sie ist in der Tat das Heiligtum
des Lebens; der Ort, an dem das Leben, Geschenk Gottes, in angemessener
Weise aufgenommen und gegen die vielfältigen Angriffe, denen es ausge-
setzt ist, beschützt werden und sich entwickeln kann gemäß den Anforde-
rungen eines echten menschlichen Wachstums.
Als Hauskirche ist die Familie berufen, das Evangelium des Lebens
zu verkünden, zu feiern und ihm zu dienen. In der Zeugung eines neuen
Lebens werden sich die Eltern dessen bewusst, dass das Kind, wenn es
35 Apostolicam Actuositatem, Nr. 11.
30

4 Pages 31-40

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4.1 Page 31

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Frucht ihrer wechselseitigen Liebeshingabe ist, seinerseits ein Geschenk für
beide ist, ein Geschenk, das aus dem „Geschenk“ hervorgeht.
o Künderin des Evangeliums des Lebens
Besonders durch die Erziehung der Kinder erfüllt die Familie ihre
Sendung zur Verkündigung des Evangeliums des Lebens. Mit Wort und
Beispiel führen die Eltern im Alltag der Beziehungen und der Wahl der
Gesten und konkreten Zeichen ihre Kinder in die echte Freiheit ein, die sich
im aufrichtigen Geschenk seiner selbst verwirklicht. Sie entwickeln in ih-
nen den Respekt vor dem anderen, den Sinn für die Gerechtigkeit, die herz-
liche Aufnahmebereitschaft, den Dialog, den großherzigen Dienst, die Soli-
darität und jeden anderen Wert, der dazu verhilft, das Leben als Berufung
und als Sendung der Liebe zu verstehen.
Auch mitten in den Schwierigkeiten des erzieherischen Handelns
müssen die Eltern mit Vertrauen und Mut ihre Kinder zu den wesentlichen
Werten des menschlichen Lebens erziehen. Die Kinder müssen wachsen in
einer gerechten Freiheit gegenüber den materiellen Gütern, indem sie sich
einen einfachen und bescheidenen Lebensstil aneignen in der Überzeugung,
dass der Mensch mehr deswegen wert ist, was er ist, als deswegen, was er
hat.
Das erzieherische Vorgehen der christlichen Eltern ist demnach
Dienst am Glauben der Kinder und dient dazu, dass sie die von Gott erhal-
tene Berufung erfüllen. Es gehört zur erzieherischen Sendung der Eltern,
die Kinder den Sinn für das Leiden und das Sterben zu lehren und zu be-
zeugen. Sie werden dazu in der Lage sein, wenn sie es verstehen, aufmerk-
sam zu sein gegenüber jedem Leid, das sie in ihrem Umkreis vorfinden,
und (zuvor noch) Grundhaltungen der Nähe, des Beistandes und der Teil-
nahme gegenüber den Kleinen, Kranken und Alten im familiären Umfeld
zu entwickeln.
Wir sind uns alle dessen bewusst, dass die Kleinkinder, die Kinder
und die Jugendlichen einer menschlichen und affektiven Erziehung bedür-
fen, die die Persönlichkeit, ihre Verantwortung, ihren Sinn für die Treue
und die Initiative anspornt. Sie brauchen eine Erziehung ihrer Sexualität,
die, wenn sie gültig und in vollem Sinne menschlich sein soll, einhergehen
muss mit der Entwicklung der Liebesfähigkeit, die von Gott in das Herz
des Menschen eingeschrieben ist. Es handelt sich um eine harmonische
Bildung zur verantwortlichen Liebe, die gleichzeitig vom Wort Gottes und
von der Vernunft geleitet ist.
31

4.2 Page 32

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o Schule des sozialen Engagements
Eine andere Aufgabe der Familie ist die, die eigenen Kinder zur Lie-
be zu erziehen und in jeder zwischenmenschlichen Beziehung die Liebe zu
praktizieren, so dass die Familie selbst sich nicht in ihrem eigenen Bereich
einschließt, sondern offen bleibt für die Gemeinschaft, inspiriert vom Sinn
für die Gerechtigkeit, die Solidarität und von der Sorge gegenüber den an-
deren sowie von der Pflicht der eigenen Verantwortung gegenüber der ge-
samten Gesellschaft.
So drückt sich der Dienst am Evangelium des Lebens in der konkre-
ten Wirklichkeit der Solidarität aus. Die soziale Aufgabe der Familie darf
nicht bei der Zeugung der biologischen Generation und der Erziehung der
Kinder stehen bleiben. Die christlich inspirierten Familien wissen um ihre
ständige Berufung, sich den Bedürfnissen des Nächsten zu öffnen. Einzeln
oder in Form eines Zusammenschlusses können und müssen sie sich viel-
fältigen Werken des sozialen Dienstes, besonders zum Vorteil der Armen,
widmen. Ein solches Werk wird dann besonders wichtig, wenn es darum
geht, in jenen Situationen und jenen Personen Hilfe zu leisten, die von den
Fürsorge- und Hilfsorganisationen der öffentlichen Behörden nicht erreicht
werden können.
Beseelt und gestützt vom neuen Gebot der Liebe, lebt die christliche
Familie die Aufnahmebereitschaft, den Respekt, den Dienst einem jeden
Menschen gegenüber, den man immer in seiner Würde als Person und als
Kind Gottes sieht. Die Liebe geht über die eigenen Brüder und Schwestern
im Glauben hinaus, weil „jeder Mensch mein Bruder oder meine Schwester
ist“. In jedem, besonders wenn er arm, schwach, leidend und ungerecht
behandelt ist, entdeckt die Liebe das Angesicht Christi und einen Bruder
oder eine Schwester, die unserer Liebe und unseres Dienstes bedürfen. Die
christliche Familie stellt sich in den Dienst des Menschen und der Welt,
indem sie eine echte „menschliche Förderung“ verwirklicht.
Wir alle wissen, dass die ungerechte Verteilung der Güter zwischen
der entwickelten Welt und der Welt auf dem Weg der Entwicklung, zwi-
schen Reichen und Armen desselben Landes, der Gebrauch der natürlichen
Ressourcen allein zum Wohl von Wenigen, der Massenanalphabetismus,
das Fortbestehen und Wiedererstehen von Rassismus, das Aufflammen von
ethnischen und bewaffneten Konflikten immer eine verheerende Auswir-
kung auf die Familie gehabt hat. Andererseits muss man aufzeigen, wie die
Familie der erste und hauptsächliche Erziehungsbereich sein kann, in dem
verschiedene Werte aufblühen können, die sich an der Gemeinschaft und an
der Liebe ausrichten.
32

4.3 Page 33

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Als Beispiel möchte ich die immer größere Bedeutung herausstrei-
chen, die in unserer Gesellschaft die Gastfreundschaft annimmt; und zwar
in all ihren Formen: vom Öffnen der Tür des eigenen Hauses und noch
mehr des eigenen Herzens für die Bitten der Brüder und Schwestern, bis
zum konkreten Bemühen, einer jeden Familie ein eigenes Haus als natürli-
ches Umfeld, das sie bewahrt und wachsen lässt, zuzusichern. Besonders
die christliche Familie ist aufgerufen, die Empfehlung des Apostels zu hö-
ren und zu bezeugen: „Gewährt jederzeit Gastfreundschaft!“ (Röm 12,13).
Indem sie das Beispiel und die Liebe Christi nachahmt und teilt, verwirk-
licht sie die Aufnahmebereitschaft gegenüber den Bedürftigen: „Wer einem
von diesen Kleinen auch nur einen Becher frischen Wassers zu trinken gibt,
weil es ein Jünger ist – amen, ich sage euch: er wird gewiss nicht um seinen
Lohn kommen“ (Mt 10,42).
Ein anderer besonders bedeutsamer Ausdruck der Solidarität für die
Familien ist die Verfügbarkeit für die Adoption oder das Anvertrauen von
Kindern, die von ihren Eltern verlassen wurden oder in schwierige Notla-
gen geraten sind. Die echte väterliche und mütterliche Liebe weiß über das
Band des Fleisches und des Blutes hinauszugehen und auch Kinder anderer
Familien aufzunehmen, indem man ihnen anbietet, was zu ihrem Leben und
ihrer vollen Entwicklung notwendig ist.
Die Kirchenväter haben oft von der Familie als von der „Hauskirche“
oder der „kleinen Kirche“ gesprochen. „Zusammensein“ wie in einer Fami-
lie – das zeigt sich darin, dass die einen für die anderen da sind und dass ein
gemeinsamer Raum für die Bestätigung eines jeden Mannes und einer je-
den Frau geschaffen wird. Manchmal handelt es sich um Personen mit phy-
sischen oder psychischen Schwächen, von denen sich die sogenannte „fort-
schrittliche“ Gesellschaft lieber befreien möchte. Auch die eine oder andere
Familie, die sich christlich nennt, kann sich entsprechend diesen Maximen
verhalten. Es ist sehr traurig, wenn man möglichst schnell jemanden los
werden will, der alt oder von einer Missbildung oder von Krankheiten be-
troffen ist. Man handelt so, weil der Glaube an jenen Gott geringer wird,
für den „alle leben“ (Lk 20,38) und von dem alle berufen sind zur Fülle des
Lebens.
4.2 „Familie, glaube an das, was du bist!“
Die Familie ist nicht das Produkt einer Kultur, das Ergebnis einer
Entwicklung, eine gemeinsame Lebensart, gebunden an eine bestimmte
soziale Organisation; sie ist vielmehr eine natürliche Institution, die früher
war als jede politische oder juridische Organisation. Sie bezieht den eige-
33

4.4 Page 34

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nen Bestand aus einer nicht von ihr produzierten Wahrheit, weil sie direkt
von Gott gewollt ist. In einer Treue ohne Vorbehalte geben sich der Mann
und die Frau einander hin und lieben sich mit einer für das Leben offenen
Liebe.
Was ich euch bisher geschrieben habe, findet seinen maßgeblichen
Ausdruck in den vier Aufgaben, die das Apostolische Schreiben Familiaris
consortio der Familie zuweist: die Bildung einer Gemeinschaft von Perso-
nen, der Dienst am Leben, die Teilnahme an der Entwicklung der Gesell-
schaft und die Sendung zur Evangelisierung.
Damit sich aber diese Aufgaben verwirklichen lassen und damit man
den Aufruf an die Familien von Papst Johannes Paul II. „Familie, glaube
an das, was du bist!“ erfüllt, ist es vor allem notwendig, dass die Familie –
die Ehegatten, die Kinder und alle Mitglieder des Familienkerns – fest von
diesen Aufgaben überzeugt ist, die sich aus dem Wesen und der Sendung
der familiären Institution ergeben und teilhaben am Plan Gottes für die
Familie und eine jede der Personen, aus denen sie sich zusammensetzt.
Es handelt sich um eine Überzeugung, die für die Glaubenden nicht
nur rationaler oder sozialer Art ist, sondern sich auf den Glauben an Gott
stützt, der die Familienzelle geschaffen hat als Gemeinschaft der Liebe und
des Lebens und der sie durch seinen Sohn geheiligt hat mit der Gnade des
Sakramentes, damit sie für alle Zeichen und Instrument der Einheit und
Gemeinschaft sei.
34

4.5 Page 35

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5 Pastorale und pädagogische Anwendungsmöglichkeiten
Wie es bereits Gewohnheit ist, gibt uns der Leitgedanke, und insbe-
sondere der des Jahres 2006, die Gelegenheit, der ganzen Salesianischen
Familie einige pastorale Anregungen und pädagogische Anwendungsmög-
lichkeiten anzubieten.
Mit Wertschätzung habe ich das gelungene Bemühen einiger salesia-
nischer Provinzen zur Kenntnis genommen, das Pastorale Angebot, das ich
mit dem Leitgedanken, wie schon 2004, verbinden wollte, in erzieherische
Programme umzusetzen. Auch die Zeitschrift Note di Pastorale Giovanile
hat eine Nummer ausschließlich darauf verwendet, um das Thema zu ver-
tiefen und günstige und wertvolle Hilfsmittel anzubieten. Ich bitte euch, all
diese Materialien zur Hilfe zu nehmen, da sie euch sehr nützlich sein kön-
nen, während ich persönlich euch die großen inspirierenden Grundlinien
des pastoralen Vorschlags darlegen möchte.
o Hier also meine Hinweise
Um eine besondere Aufmerksamkeit gegenüber der Familie in unserem
erzieherischen und evangelisierenden Angebot zu gewährleisten, ist es un-
ter anderem notwendig:
- Eine besondere Anstrengung auf die Erziehung zur Liebe zu ver-
wenden, und zwar im Bereich des salesianischen Erziehungshandelns
und auf dem Weg der Erziehung zum Glauben für die Jugendlichen.
Das 23. GK präsentierte die Erziehung zur Liebe als einen der Knoten-
punkte, in dem sich die Wirksamkeit des Glaubens auf das Leben oder
aber ihre praktische Irrelevanz offenbart. Die typische Erfahrung Don
Boscos sowie der erzieherische und spirituelle Inhalt des Präventivsys-
tems weisen uns in die folgende Richtung:
eine besondere Bedeutung dem Bemühen beimessen, im Umfeld der
Jugendlichen ein erzieherisches Klima, reich an kommunikativem
und affektivem Austausch, zu schaffen,
die echten Werte der Keuschheit hochhalten,
die Beziehung zwischen Jungen und Mädchen fördern im Respekt
vor sich selbst und den anderen, in Wechselseitigkeit und gegensei-
tiger Bereicherung, in der Freude eines unentgeltlichen Geschenks,
im Erziehungsbereich die Präsenz von klaren und freudigen Zeugnis-
sen der Liebe gewährleisten, insbesondere durch die Hingabe in der
Keuschheit.
35

4.6 Page 36

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- Die Eltern in ihrer Erziehungsverantwortung zu begleiten und zu
unterstützen, indem man sie voll in die Verwirklichung des salesiani-
schen Erziehungs- und Pastoralkonzeptes einbindet.
Das 24. GK spricht von der Einbindung der Laien in die salesianische
Sendung und erkennt das Engagement der Eltern und die Rolle der Fa-
milien in unseren Werken an; fordert aber auch, die Zusammenarbeit
mit der Familie zu intensivieren, insofern sie erste Erzieherin ihrer
Söhne und Töchter ist (vgl. 24. GK, 20. 177). Hierzu schlug es vor, den
unersetzlichen Beitrag der Eltern und der Familien der Kinder zu nüt-
zen, indem man die Gründung von Komitees und Vereinigungen för-
dert, die mit ihrer Teilnahme die Erziehungssendung Don Boscos ge-
währleisten und bereichern können (vgl. 24. GK, 115).
- Den salesianischen Familienstil zu fördern und zu qualifizieren: in
der eigenen Familie, in der salesianischen Gemeinschaft, in der Erzie-
hungs- und Pastoralgemeinschaft.
Der salesianische Familiengeist stellt ein unverkennbares Merkmal un-
serer Spiritualität dar (vgl. 24. GK, 91-93) und kommt zum Ausdruck:
in dem vorbehaltlosen Hören auf den anderen,
in der unentgeltlichen Aufnahme von Personen,
in der animierenden Präsenz des Erziehers unter den Jugendlichen,
im Dialog und in der Kommunikation zwischen den Personen und
Institutionen,
in der Verantwortung für ein gemeinsames Erziehungskonzept.
- Zu wachsen im Geist und in der Erfahrung der Salesianischen Fa-
milie zum Dienst am erzieherischen und pastoralen Einsatz unter den
Jugendlichen.
Die Salesianische Familie fordert von uns in besonderer Weise einen
übereinstimmenden Einsatz mit dem Ziel, jedem Jugendlichen ein an-
gemessenes Berufungsangebot und die entsprechende Begleitung zuzu-
sichern (vgl. 25. GK, 41 und 48). Dazu muss man als Familie wachsen
durch:
das gute Funktionieren des Rates der Salesianischen Familie,
die Einbeziehung der Jugendlichen in denselben,
Initiativen und Aktivitäten, die der Salesianischen Familie dazu ver-
helfen, immer mehr als „spirituelle apostolische Bewegung“ zu wir-
ken.
36

4.7 Page 37

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o Einige praktische Anregungen
- Innerhalb des Ausbildungsverlaufs der Jugendlichen eine allmähliche
und systematische Vorgehensweise der Erziehung zur Liebe vorberei-
ten, die den Heranwachsenden und Jugendlichen helfen soll,
den menschlichen und christlichen Wert der Sexualität zu erfassen,
eine positive und offene Beziehung zwischen Jungen und Mädchen
heranreifen zu lassen,
im Licht der Würde der menschlichen Person sich mit den Werten
des Lebens und den Kriterien des Evangeliums sowie mit den ver-
schiedenen modernen Fragen zum Leben und zur menschlichen Se-
xualität auseinander zu setzen,
sich dem Plan Gottes als dem konkreten Weg zu öffnen, um die ei-
gene Berufung zur Liebe zu leben.
Eine besondere Bedeutung muss man diesem Aspekt in den Ausbil-
dungsgängen für die Vereinigungen und Gruppen der Salesianischen
Jugendbewegung und für die persönliche Begleitung der Jugendlichen
beimessen.
- Unter den erwachsenen Jugendlichen unserer Tätigkeitsbereiche (Ani-
matoren, Volontäre, junge Mitarbeiter...) konkrete Kurse der Bildung,
Begleitung und Unterscheidung der Berufung zur christlichen Ehe för-
dern. Bei diesem Bemühen sei man darauf bedacht, die Mitarbeit der
christlichen Paare anzuregen, die schon in laikalen Gruppen der Salesi-
anischen Familie eingeschrieben sind.
- In unseren Werken und Tätigkeitsbereichen Gruppen, Bewegungen und
Vereinigungen von Paaren und von Familien ins Leben rufen, die dazu
verhelfen können, die eigene Berufung zur Ehe zu leben und zu vertie-
fen und mit Engagement die eigenen erzieherischen Verantwortungen
zu übernehmen.
In der Salesianischen Familie existieren die Gruppen „Famiglie Don
Bosco“, „Hogares Don Bosco“, gefördert und animiert von den Salesi-
anischen Mitarbeitern36; es existieren aber auch einige andere familiäre
36 Anm. des Herausgebers: Hierbei handelt es sich um eine Bewegung, die insbesondere in
Italien und Spanien unter dem Dach der „Vereinigung der Salesianischen Mitarbeiter“ ver-
breitet ist. Die Vereinigung kennt neben ihrer jugendpastoralen und missionarischen Sen-
dung auch das Familienapostolat als einen wichtigen Schwerpunkt. Aufgrund der Einsicht,
dass Don Boscos Präventivsystem auch den Familien etwas zu sagen hat, sollen in Gruppen,
die von Ehepaaren geleitet und evtl. von Seelsorgern aus der Don-Bosco-Familie begleitet
werden, durch Austausch und erfahrenes Miteinander Familien und Eheleuten Hilfen in der
Erziehung der Kinder und im Leben der eigenen Berufung gegeben werden. Es handelt sich
hier also um Eltern- oder Familienkreise.
37

4.8 Page 38

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Vereinigungen wie „Movimento Familiare Cristiano“37, „Marriage En-
counter“38 usw.
- Die Eltern der Jungen und Mädchen in unseren Werken in ihrer erzie-
herischen Verantwortung unterstützen durch die Schaffung von Verei-
nigungen der Eltern, Schulen der Eltern usw. mit einem konkreten und
systematischen Angebot der Bildung und der Teilnahme im Hinblick
auf erzieherische Themen.
- In jedem salesianischen Werk die Erziehungs- und Pastoralgemein-
schaft stärken, und zwar mit einer besonderen Beachtung der persönli-
chen Beziehungen und des Familienklimas, der möglichst breiten Teil-
nahme und Teilhabe an den salesianischen Werten und Zielsetzungen
des Erziehungs- und Pastoralkonzepts. Auf diese Weise wird das sale-
sianische Werk zu einem Haus für die Jugendlichen und zu einem
Stützpunkt für die mit eingebundenen Familien.
- Die Familien auf dem Weg der Erziehung und Evangelisierung, den
wir anbieten und unter den Jugendlichen anregen, mit einbeziehen, und
zwar durch Initiativen wie Begegnungen der Teilnahme zwischen El-
tern und Kindern, Familienkatechesen, Einbeziehung der Eltern in die
Animation von Gruppen der Salesianischen Jugendbewegung, gemein-
same Feiern und Zusammenkünfte, christliche Familiengemeinschaften
als Bezugspunkt für den Weg des Glaubens, den wir den Jugendlichen
anbieten, usw.
- Unsere Laienmitarbeiter ermutigen, vorbereiten und begleiten, damit
sie in der Gesellschaft die Rechte der Familie fördern und verteidigen,
Vgl. zu der im Jahre 1996 in Italien begründeten Bewegung „Familien Don Boscos“:
http://www.donboscoland.it/gruppo/cooperatori/docs/Manifesto%20MFDB.doc und zu
„Hogares Don Bosco“: http://www.cooperadores.org/HDB/hdbdest.htm.
37 Anm. des Herausgebers: Hierbei handelt es sich um eine Laienbewegung, die 1943 in
Chicago durch Pat und Patty Crowley gegründet wurde (Christian Family Movement).
Regelmäßigen Gruppentreffen, in denen das Leben im Licht des Wortes Gottes nach der
Methode „Sehen, Urteilen, Handeln“ betrachtet wird, dienen dem menschlichen und geistli-
chen Wachstum der Familien. Zeugnis und aktive Hilfe für Familien in Schwierigkeiten sind
ebenfalls ein Kennzeichen dieser Gruppen (vgl. http://web.tiscali.it/mfc_italy/ bzw.
www.cfm.org).
38 Anm. des Herausgebers: Diese 1965 durch P. Gabriel Calvo in Spanien begründete und
sich dann seit 1967 über die USA in der ganzen Welt ausbreitende Bewegung lädt Ehepaare,
Priester und Ordensleute im Rahmen von Wochenendtreffen ein, den Blick auf sich selbst,
auf das Leben in der Paarbeziehung bzw. in der Beziehung zu Gemeinde oder der Ordens-
gemeinschaft und auf Gottes Plan zu richten, um so zu vertieften Beziehung zu gelangen
(vgl. hierzu: www.marriage-encounter.at und www.me-deutschland.de).
38

4.9 Page 39

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und zwar gegenüber den Gesetzen und Situationen, die ihr Schaden zu-
fügen.
- Den Sinn für die Salesianische Familie unter den verschiedenen Grup-
pen in unserem Umfeld vertiefen, und zwar durch das Kennenlernen
und die Übernahme der „Charta der Gemeinschaft“ und der „Charta der
Sendung“ und die Verwirklichung des „Rates der Salesianischen Fami-
lie“ auf den verschiedenen Ebenen.
Schluss: Eine Legende mit weisem Beigeschmack
Um abzuschließen, stelle ich Euch, wie in den vorangegangenen
Kommentaren zum Leitgedanken, eine Legende vor, die als eine Synthese
dessen gelten kann, was ich in diesem Kommentar zum Ausdruck gebracht
habe.
Eine Familie
Inmitten einer Talebene mit Feldern, Wiesen und Wäldern lebte in
einem Häuschen mit zwei Stockwerken eine glückliche Familie. Für den
Moment waren es drei: eine Mutter, ein Vater und ein blondes Kind von
sechs Jahren. Der Vater arbeitete in einer Fabrik für Wasserhähne. Die
Mutter pflegte den Gemüsegarten hinter dem Haus mit sicherer Hand,
zwölf gackernde Hühner und einen stolzen Hahn. Das Kind ging glücklich
und froh zur Schule; dies umso mehr, als es schon seinen Namen zu schrei-
ben gelernt hatte. Es kannte auch die Bedeutung des Wortes „sprudelnd“. In
der Mitte des Tales floss ein munterer und verschlungener Bach.
Das kleine Haus stand ein wenig isoliert vom Dorf da, und so zwäng-
te sich die Familie am Sonntag in ein kleines Auto und fuhr zur Messe in
der Pfarrkirche. Und danach aßen sie Eis oder tranken warme Schokolade –
je nach Jahreszeit.
Abends war in dem Hause immer ein wenig Durcheinander, weil das
Kind, bevor es zu Bett ging, immer irgendeinen entschuldigenden Grund
fand, wie: die Sterne oder die Glühwürmchen oder die viereckigen Käst-
chen auf der Tischdecke zählen.
Vor dem Einschlafen beteten sie gemeinsam. Ein Engel des Herrn
sammelte all die Abende die Gebete und trug sie in den Himmel.
In einem Herbst regnete es viele Tage lang. Der Bach quoll über von
trübem Wasser. Weiter aufwärts bildeten die Baumstämme und der
Schlamm einen Damm, vor dem ein zähflüssiger See entstand. Bei Son-
nenuntergang brach der Damm unter dem Druck des Wassers zusammen.
Das Tal wurde allmählich vom Wasser überflutet.
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Der Vater weckte die Mutter und das Kind. Zutiefst erschrocken,
hielten sie sich eng umschlungen, weil das Wasser bereits in das Erdge-
schoss des Hauses eingedrungen war. Und es stieg weiter und weiter. Im-
mer dunkler, immer schneller.
„Steigen wir auf das Dach!“, sagte der Vater. Er nahm das Kind, das
sich still um seinen Hals klammerte, die Augen von Schrecken erfüllt, und
stieg auf den Dachboden und von dort auf das Dach. Die Mutter folgte
ihnen.
Auf dem Dach fühlten sie sich wie Schiffbrüchige auf einer kleinen
Insel, die immer noch kleiner wurde, weil das Wasser ständig stieg und
unnachsichtig bis zu den Knien des Vaters reichte.
Der Vater stellte sich fest auf das Dach, umarmte die Mutter und
sagte: „Nimm das Kind auf den Arm und steig auf meine Schultern!“
Mutter und Kind stiegen auf die Schultern des Vaters, der fortfuhr:
„Stell dich auf meine Schultern und hebe das Kind auf deine Schultern.
Hab keine Angst! Was auch immer passiert: ich werde dich nicht loslas-
sen!“.
Die Mutter küsste das Kind und sagte: „Steig auf meine Schultern
und hab keine Angst. Was auch immer passiert: Ich werde dich nicht los-
lassen!“.
Das Wasser stieg und stieg. Es überflutete den Vater und seine aus-
gestreckten Arme, die die Mutter hielten. Dann verschluckte es die Mutter
und ihre ausgestreckten Arme, die das Kind hielten. Aber der Vater ließ
den Griff nicht los, ebenso wenig die Mutter. Das Wasser stieg unaufhalt-
sam weiter. Es reichte bereits bis zum Mund des Kindes, bis zu seinen Au-
gen, bis zur Stirn.
Der Engel des Herrn, der des Abends gekommen war, um die Gebete
entgegenzunehmen, sah nur einen Blondschopf aus dem trüben Wasser
ragen.
Mit leichter Bewegung fasste er den Blondschopf und zog ihn em-
por. An dem Blondschopf kam das Kind hervor und an dem Kind die Mut-
ter und an der Mutter kam der Vater ans Tageslicht. Keiner hatte seinen
Griff gelockert und losgelassen.
Der Engel flog auf und setzte feinfühlig die ungewöhnliche Men-
schenkette auf dem höchsten Hügel ab, wo das Wasser nie hinkommen
konnte. Vater, Mutter und Kind purzelten ins Gras; dann umarmten sie sich
weinend und lachend.
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5.1 Page 41

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Statt der Gebete trug der Engel an jenem Abend ihre Liebe in den
Himmel. Und all die himmlischen Heerscharen brachen in tosenden Ap-
plaus aus.
***
Meine Lieben, es handelt sich um eine sehr salesianische „Parabel“,
weil die Botschaft lautet, dass wir, wenn wir bei den Kleinen beginnen, den
Rest der Familie „emporziehen“.
Ich schließe, indem ich die Glückwünsche für ein Gutes Jahr 2006
erneuere, das wir unter dem Schutz Mariens, der Mutter Gottes, beginnen
wollen. Sie möge uns lehren, jene Familie zu betrachten, die sie in Nazareth
zu schaffen vermochte, damit wir ihr Geheimnis verstehen und sie nachah-
men.
Verbunden in Don Bosco
Don Pascual Chávez V.
Generaloberer
Hochfest der Gottesmutter Maria
Rom, den 1. Januar 2006
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