praeventionskonzepte


praeventionskonzepte

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Franz Schmid
Das »Präventivsystem« Don Boscos
und die Präventionskonzepte von heute 1
Präventionskonzepte sind heute vielfach praktizierte Handlungsstrategien –
nicht nur im Gesundheitswesen sind Vorsorgeuntersuchungen an der Tagesord-
nung. In der Ökologie wird »Nachhaltigkeit« gefordert – das meint nichts anderes als
vorbeugen – und selbst in der Technik sind »Inspektionen« oder »Sicherheits-
Checks« das Gebot der Stunde. Viele Maßnahmen werden mit dem Adjektiv »prä-
ventiv« versehen. In der Erziehung scheint man mit »Prävention« nicht so selbstver-
ständlich umzugehen. Warum haben Pädagoginnen und Pädagogen Vorbehalte? –
Was ist mit »Prävention« gemeint? Und warum hat »Prävention« gerade heute Kon-
junktur?
Darf Erziehung »präventiv« sein?
Eine »Präventivpädagogik« hat ein schlechtes Image. Zu rasch werden damit
die Vorstellungen von Vermeidung, Verhinderung und Verbot verbunden, die einher-
gehen mit Begrenzung von Entwicklungschancen und Beschränkung von persönli-
cher Freiheit. Nicht erst die »antiautoritäre« Phase der Gesellschaftsentwicklung um
1968 stellte eine solche Pädagogik in Frage – schon Jahrzehnte vorher war vermutet
worden, dass sich hinter einer »Präventivpädagogik« häufig eine »präventive Re-
pression« verbirgt. Prävention ist bei vielen Erzieherinnen und Erziehern bis heute
kein so recht angesehenes pädagogisches Konzept im pädagogischen Alltag – oder
Pädagogik wird nicht als solches verstanden. Wer Verbote aufstellt und bestimmte
Erfahrungen nicht zulassen will, wer die Einhaltung von Regeln und Normen kontrol-
liert und Sanktionen androht, gilt als »Verhinderer« und man nennt solche Pädago-
ginnen und Pädagogen schlicht »autoritär«. Das will niemand sein und niemand will
sich so nennen lassen. Darf Erziehung deshalb nicht präventiv sein?
Eine lange und erfolgreiche Tradition
Wer sich in der Fachliteratur umsieht, trifft in den ausgesprochen pädagogi-
schen Handbüchern, Lexika und Wörterbüchern 2 auf den Begriff Prävention tatsäch-
1 Der Beitrag stellt die überarbeitete Fassung eines Vortrags dar, der am 26. Oktober 2000 im Don-
Bosco-Haus Wien das Symposium »Prävention – Gestalten statt verhindern. Das Präventivsystem Don Boscos
als Orientierung für pädagogisches Handeln heute« eröffnete. Er erschien in überarbeiteter Fassung in: Or-
densnachrichten. Amtsblatt und Informationsorgan der Österreichischen Superiorenkonferenz. 40. Jg., 2001, H.
4, S. 31-39

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lich selten bzw. gar nicht. Im Lexikon der Pädagogik der Gegenwart aus dem Jahre
1932 findet sich das Stichwort ”Vorbeugende Erziehung”, verfasst von dem Pastoral-
theologen Linus Bopp.3 Er nennt Don Bosco den großen Meister der Präventiv-
Pädagogik und fügt einschränkend hinzu, Don Bosco behandle das Thema nur aus
der Perspektive der Schul- und Anstaltsdisziplin. Dann scheint 50 Jahre lang der
Begriff aus der Pädagogik verschwunden. Erst in den letzten zehn Jahren 4 erscheint
er wieder – und zwar im Zusammenhang mit sozialpädagogischen Fragestellungen
und als »präventive Maßnahmen«.
Der Präventivgedanke lässt sich weit in der Geschichte zurück verfolgen. Au-
gustinus (354-430) wird der bekannte Satz zugeschrieben: Vorbeugen ist besser als
heilen. Der Gedanke einer dezidiert präventiven Erziehung entwickelte sich, als man
die Armut nicht mehr nur mit dem Appell an die christlichen Nächstenliebe zu be-
kämpfen versuchte, sondern nach Gründen für die Armut zu suchen begann. Man
fand die Ursachen für die Armut in einem psychologischen und einem wirtschaftli-
chen Zusammenhang. Der Humanist Juan Luis Vives (1492-1540) forderte im 16.
Jhdt. ein System der Arbeitsvermittlung als wirksame Prävention gegen Armut und
Elend. Der Pietist August Hermann Francke (1663-1727) führte zu Beginn des 18.
Jhdt. diese Ideen fort und entwickelte in Halle (Sachsen-Anhalt) einen Typus von
Kinderfürsorge. Er nahm Kinder armer Familien zur Erziehung und Bildung in sein
Haus auf, um sie in einem Beruf auszubilden und ihnen das böse Schicksal der Ar-
mut zu ersparen. Die in der Zeit der Industrialisierung entwickelten Bemühungen um
die junge Generation folgten allesamt solchen Präventionsgedanken: Johann Hinrich
Wichern (1808-1881) in Hamburg ebenso wie Adolph Kolping (1813-1864) in Köln.
In dieser Linie finden wir auch Don Bosco (1815-1888) in Turin.
Das Konzept der Prävention wurde aber nicht nur hinsichtlich der Armutsbe-
kämpfung als notwendig erkannt. Vorbeugung wurde nach und nach auch hinsicht-
lich abweichendem Verhalten als notwendig erachtet. Es galt, kindlichen und jugend-
lichen Fehlentwicklungen vorzubeugen, die durch die Lebensbedingungen im Zuge
der Industrialisierung sich mehrten. Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) hatte
mit seinen Überlegungen und seiner Praxis Maßstäbe gesetzt, die mit »Kriminalpä-
dagogik« ebenso beschrieben wurden wie mit »Heilpädagogik«. Der Typus der nach-
folgenden Einrichtungen nannte sich »Rettungshäuser«, die Kinder vor dem Weg in
die Gefängnisse retten wollten. Diese, vor allem vom Pietismus gepflegten Einrich-
2 U. a.: HEHLMANN, Wilhelm: Pädagogisches Wörterbuch. Stuttgart: 1941; HORNEY, Walter u. a.
(Hrsg.): Pädagogisches Lexikon. 2 Bde. Gütersloh: 1970; ROTH, Leo (Hrsg.): Handlexikon zur Erziehungswis-
senschaft. München: 1976; SPECK, Josef / WEHLE, Gerhard (Hrsg.): Handbuch pädagogischer Grundbegriffe. 2
Bde. München: 1970; WILLMANN-INSTITUT (Hrsg.): Wörterbuch der Pädagogik. 3 Bde. Freiburg i. Br.: 1977
3 BOPP, Linus: Art. Vorbeugende Erziehung. In: Lexikon der Pädagogik der Gegenwart. 2. Bd. Hrsg.
vom Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik Münster in Westfalen. Freiburg im Breisgau: (Herder)
1932, Sp. 1239-1243
4 Vgl. MEYERS kleines Lexikon Pädagogik. Hrsg. von Meyers Lexikonredaktion. Mannheim: (Meyers
Lexikonverlag) 1988

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tungen, sorgten sich aber ebenso um das Heil der kindlichen Seelen, die verloren zu
gehen drohten. Alle Bemühungen waren materiell (wirtschaftlich), pädagogisch, psy-
chologisch und religiös (theologisch) ausgerichtet.
Auch was zu Beginn des 20. Jhdt. dann mit »Verwahrlosung« beschrieben
wurde, sollte durch »vorbeugende Erziehung« verhindert werden. Man hatte erkannt,
dass Fehlentwicklungen im Verhaltensbereich eine vielfältige Belastung darstellen.
Man mag damals den volkswirtschaftlichen Aufwand bedeutender gewertet haben
als die Belastung, die das betroffene Kind zu tragen hat; aber man wollte »vorsor-
gend« tätig werden.
Die Biographie Don Boscos erzählt von seinem starken Engagement für Kin-
der und Jugendliche, die verschiedensten Gefahren ausgesetzt waren, die von Ver-
wahrlosung bedroht waren, die im Sinne des Gesetzes immer wieder kriminell ge-
worden waren und denen er im Jugendgefängnis La Generala in Turin begegnet
war.
Prävention bei Don Bosco
Der Namen Don Bosco wurde beinahe über die ganze Welt verbreitet und
zahlreiche Verantwortliche für Bildung und Erziehung haben auf dieses Erziehungs-
Konzept gesetzt, das er selbst »Präventivsystem« genannt hatte. Aber in den letzten
fünfzig Jahren wollten sich viele Pädagoginnen und Pädagogen auch mit seinem
Konzept von Prävention nicht so recht anfreunden. Es ging ihm wie den anderen
Präventionskonzepten. Man bewunderte und verehrte Don Bosco vor allem wegen
seines Engagements für Kinder und Jugendliche, seine Parteilichkeit, wie man das
heute nennt, wegen seiner Kreativität und seiner Ideenvielfalt. Man staunte über sein
Organisationstalent, seine große Offenheit und sein Geschick, in politisch schwieri-
gen Situationen eine Balance zu finden. Aber mit Prävention wollte sein Konzept
kaum jemand in Zusammenhang bringen und verstanden wissen. Man suchte eine
neue Bezeichnung und fand die »Pädagogik der Vorsorge«.5
Zur Zeit Don Boscos aber war Prävention ein geradezu allgegenwärtiges Prin-
zip: in der Politik, im Sozialen, in Recht und Strafvollzug, in Bildung und Erziehung
und natürlich auf dem religiösen Sektor. Man war generell bemüht, Umwälzungen,
wie sie die Französische Revolution (1789) und die Herrschaft Napoleons mit sich
gebracht hatten, vorzubeugen – für die Zukunft zu vermeiden. Die einen taten dies,
indem sie die alten Ordnungen wieder herzustellen suchten (Restauration), die ande-
ren, indem sie mit einer neuen Ordnung und neuem Denken solchen »Revolutionen«
vorbeugten: Schulpflicht, um Wissen zu verbreiten, Organisation von Arbeit und so-
ziale Solidarität, Entwicklung von karitativen Hilfswerken und Genossenschaften,
5 Vgl. PETZELT, Alfred: Grundlegung der Erziehung. Freiburg: 1961, 2. Aufl.

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Anwendung gerechterer Maßnahmen und Mittel im Kampf gegen Armut und Krimina-
lität.6
Don Bosco ist mit vielen anderen Zeitgenossen zu jenen zu rechnen, die
Schul- und Berufsbildung, christliche Erziehung, solidarisches Verhalten und siche-
res Einkommen zu den wichtigsten Maßnahmen von Prävention zählten. Auf den
pädagogischen Feldern Bildung, Erziehung und Resozialisierung wurde in jener Zeit
die Unterscheidung »repressiv« und »präventiv« üblich, was sich hinsichtlich des Er-
ziehungsstils (etwas vereinfacht) mit »autoritär« bzw. »familiär« beschreiben lässt.
Pietro Braido zeigt die Entwicklung auf, die Repressiv- und Präventivsystem in Schu-
len und Internaten nahmen. Er verweist auf die Franzosen Pierre-Antoine Poullet
(1810-1846), Pierre Sébastien Laurentie (1793-1876) und Felix Dupanloup (1800-
1878), die den öffentlichen Schulen und Kollegien das Repressivsystem zuschrie-
ben, in den kirchlichen Einrichtungen jedoch das Präventivsystem verwirklicht sa-
hen.7
Don Bosco trat entschieden für eine »familiäre« Erziehung ein und reihte sich
unter den Vertretern des »Präventivsystems« ein. Die Schule, die sich damals als öf-
fentliche Bildungseinrichtung zu etablieren begann, suchte nach einem Konzept. Es
gab bis dahin zwei Modelle zur Erziehung: die Familie und das Militär. Woran sollte
sich die Schule orientieren? Don Bosco wollte die Schule ganz und gar nicht im mili-
tärischen Stil sich entwickeln lassen, sondern nach familiärem Muster gestalten –
ebenso die Kollegien (Internate). Ohne es zu wissen, folgte er dem anderen großen
Protagonisten einer neuen »Anstaltserziehung«: Johann Heinrich Pestalozzi, der das
Familienprinzip in der öffentlichen Erziehung durchsetzte und wie »Vater und Mutter
seiner Zöglinge« diese in einem »Wohnstubengeist« einem Beruf zugeführt wissen
wollte.
Als Don Bosco in den Jahren 1841-1845 in Turin die Not von Jugendlichen
kennen lernte, die vom Land geflüchtet in der Stadt nicht Fuß fassen konnten, mit
der Polizei in Konflikt gerieten und im Gefängnis landeten, begann Don Bosco sys-
tematisch mit der Entwicklung präventiver Maßnahmen: Freizeitbeschäftigungen, Be-
rufs- und Schulbildung, religiöse Unterweisung, Heimunterbringung – und das alles
in einem »familiären« Stil. Don Bosco realisierte einmal eine »soziale Dimension der
Prävention«: verschiedene Formen der Sozialhilfe und Wohltätigkeit, Existenzsiche-
rung, Gesundheitshilfen und eine Einführung in die Arbeitswelt. Damit emanzipierte
sich die »arme verlassene Jugend« gleichsam aus ihrem schicksalhaften Milieu und
entkam der Marginalisierung. Und Don Bosco kannte eine »pädagogische Dimensi-
on der Prävention«: unumstößliche (religiöse) Basiswerte, die integrierend wirken
und einer Devianz zuvorkommen bzw. sie verhindern (defensive Komponente), und
6 Vgl. BRAIDO, Pietro: Junge Menschen ganzheitlich begleiten. Das pädagogische Anliegen Don Bos-
cos. München: (Don Bosco) 1999, S. 27-38
7 vgl. BRAIDO, S. 39-49

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solche, die positiv aufbauen und zur Entfaltung der Fähigkeiten anregen (fördernde
Komponente).8 Wie die anderen Vertreter des Präventivsystems unter seinen Zeit-
genossen 9 betonte und praktizierte er die ständige Anwesenheit (ital. assistenza)
der Erzieher unter den Jugendlichen, die wie Väter, Brüder und Freunde mit ihnen
»wie in einer Familie« lebten – und einem Abgleiten in die Kriminalität zuvor kommen
wollten.
Diese nichtautoritäre pädagogische Beziehung wurde denn auch zum Kenn-
zeichen »salesianischer Pädagogik« – bis es den Erziehern immer weniger gelang,
den Stil Don Boscos zu realisieren und die personale Beziehung mehr und mehr ei-
ner funktionalen wich. Verloren ging bisweilen auch die allgemeine Zielsetzung der
ursprünglichen Prävention: die gesellschaftliche Integration und die Verselbständi-
gung der Person – umschrieben mit dem Erziehungsziel ehrenwerter Bürger und gu-
ter Christ.10
Von der Vorsorge zur Fürsorge
Im ausgehenden 19. Jhdt. entstanden landauf landab zahlreiche Initiativen für
Kinder-, Mädchen- und Lehrlingsschutz – allesamt präventive Maßnahmen, die der
gesellschaftlichen Integration »gefährdeter« Kinder und Jugendlicher dienten. Die
staatlicherseits organisierte Jugendfürsorge geschah im Rahmen der sich entfalten-
den Jugendwohlfahrtsgesetze. Die Jugendfürsorgemaßnahmen – allesamt als prä-
ventive Maßnahmen gedacht – zeigten aber sehr bald die Grenzen präventiver Kon-
zepte in der modernen Gesellschaft. Die Versuche, Kinder und Jugendliche vor Ver-
wahrlosung und Kriminalität zu bewahren, führten sie in großer Zahl in »Anstalten«,
die zwar »Heime« hießen, es aber selten waren. Die Gruppen waren viel zu groß, als
dass zwischen den Erziehern und den Zöglingen personale Beziehungen hätten ent-
stehen können. Der Aufenthalt dauerte viel zu lange und eine Rückkehr in die Fami-
lie war erst gar nicht vorgesehen. Der »Anstaltsstil« glich eher dem einer Kaserne
oder einer Strafanstalt als einem »Heim«, in dem sich die Kinder und Jugendlichen
umsorgt fühlen konnten. Die einmal präventiv gedachte Jugendfürsorge konnte ihre
Vorhaben nicht wie erwünscht einlösen.
Ein weiteres klassisches Konzept der Prävention – der Jugendschutz – seit
Beginn des 20. Jhdt. immer wieder formuliert, blickt ebenfalls auf eine ununterbro-
chene Serie von Niederlagen zurück. Diese Hilflosigkeit setzte sich fort in den Jahren
nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen u. a. eine Freizeitsozialisation alle Versuche
8 Vgl. SCHEPENS, Jacques: Ursprung und Entwicklung des Präventivsystems bei Don Bosco. Wien:
(Don-Bosco-Haus) 2000, S. 8-13
9 Vgl. BRAIDO, S. 50-70
10 Die nach und nach sich vollziehende Hinwendung zum Internat – zur »Anstalt« – muss auch als eine
Abwendung von der Gesellschaft gesehen werden, in die es doch zu integrieren galt.

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von Freizeitpädagogik ablöste, die Kinder und Jugendliche vor den Gefahren des
Konsums und der Straße bewahren sollte. – Präventionskonzepte in der Pädagogik
hatten »ausgedient«. Schließlich war die gesellschaftliche Überzeugung in der zwei-
ten Hälfte des 20. Jhdt. derart, dass jedem Jugendlichen alle Erfahrungen offen ste-
hen sollten und ihn niemand daran hindern durfte, durch (eigene) Erfahrung klug zu
werden.
Renaissance der Prävention
Eine erneute Hinwendung zu präventiven Konzepten geschah zuerst in der
Medizin und dann durch die zunehmenden Probleme mit den illegalen Drogen. Prä-
ventives Denken wurde langsam wieder akzeptiert und wieder nachgefragt. Die Er-
kenntnis wuchs, dass manche Formen abweichenden Verhaltens irreparable Schä-
den erzeugen, denen nur durch Prävention begegnet werden kann. Obwohl sich
sehr differenzierte und durchaus wirksame therapeutische Verfahren entwickelt hat-
ten, musste man erkennen, dass die Akzente der Hilfen sich von therapeutischen In-
terventionen auf Präventivmaßnahmen verlagern müssen – so viele Therapeuten
können gar nie zur Verfügung stehen!
Man versteht heute unter Prävention ”alle Maßnahmen, die entweder das Auf-
treten von unerwünschten Entwicklungen verhindern oder aber den schon eingetre-
tenen unerwünschten Entwicklungen durch ein frühzeitiges Erfassen und Intervenie-
ren entgegenwirken oder zumindest deren zusätzliche Folgen vermeiden oder aus-
gleichen sollen.” 11
Die modernen Human- und Sozialwissenschaften begannen die Konzepte von
Prävention mit ihren Methoden zu differenzieren, zu optimieren und ihre Wirkungen
zu evaluieren. Zu den bekannten Differenzierungen von Prävention zählen jene von
Gerald Caplan 1964 für den Gesundheitsbereich vorgelegten, die von der Sozialpä-
dagogik übernommen wurden. Primäre Prävention wendet sich demnach mit Aufklä-
rung, Verhaltens-Anleitung und Beratung an alle Personen, damit sie Gefährdungen
hinsichtlich abweichendem Verhalten wiederstehen können. Ungünstige Lebensbe-
dingungen sollen beeinflusst werden, bevor sie einen negativen Effekt haben kön-
nen. Sekundäre Präventionsmaßnahmen richten sich demgegenüber an solche Per-
sonengruppen, die normabweichendes Verhalten zeigen, das aber noch nicht mani-
fest ist und durch beratende, behandelnde und betreuende Angebote eine Verfesti-
gung verhindern sollen. Es geht dabei darum, sich anbahnende Veränderungen und
erste Störungen zu erkennen und ihnen mit einer »Frühbehandlung« zu begegnen.
Unter tertiärer Prävention werden schließlich solche Maßnahmen verstanden, die der
11 MEYERS kleines Lexikon Pädagogik, S. 312

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»Besserung«, Nacherziehung und der Resozialisierung mit dem Zweck dienen, zu-
künftige Normverstöße zu vermeiden. Folgeschäden sollen minimiert und Langzeit-
schäden verhindert werden. Es handelt sich um eine Art »Rückfallprophylaxe«, um
»Nachsorgemaßnahmen«.
Natürlich nahm sich der Strafvollzug der Prävention an. Die Kriminologie
spricht von einer Generalprävention, die durch allgemeine Strafandrohung grund-
sätzlich davon abschrecken soll, Straftaten zu begehen. Spezialprävention hingegen
zielt darauf ab, durch das direkte Einwirken auf den Täter durch Bestrafung künftige
Straftaten zu verhindern. In vielen Resozialisierungskonzepten wurde die Prävention
weiter entwickelt und erfolgreich angewandt.
Diesem Konzept der Disziplinierung steht das sozialwissenschaftliche Modell
mit der Auffassung gegenüber, dass erst durch die Herstellung positiver sozialer
Rahmenbedingungen abweichendes Verhalten verhindert werden kann. Dabei sind
personenbezogene Präventionsstrategien zu unterscheiden, die sich ausschließlich
auf die Verhaltensmerkmale einzelner konzentrieren und versuchen, Störungen
durch kontrollierende, erzieherische oder beratende Interventionen zu verhindern.
Hingegen zielen strukturbezogene Präventionsstrategien auf die Veränderung re-
striktiver und den einzelnen und Gruppen in seinen oder ihren Entwicklungsmöglich-
keiten hemmenden Lebensbedingungen ab, da diese als die wesentlichsten Ursa-
chen für Chancenungleichheit und soziale Auffälligkeit angesehen werden.
In der Medizin wird Prävention heute sehr umfassend verstanden. Man fasst
damit alle Maßnahmen zusammen, die darauf ausgerichtet sind, Krankheiten zu ver-
hüten oder in ihrem Verlauf zu verlangsamen bzw. zu bessern.
Die präventiven Konzepte sind also nicht nur vielfältiger, sondern auch diffe-
renzierter geworden. Stand am Anfang der Drogenprävention in den 1970er Jahren
überwiegend die Abschreckung im Vordergrund, die den Konsumentinnen und Kon-
sumenten ein böses Schicksal voraussagte, folgten bald Aufklärungskonzepte, die
die sachliche Information in den Vordergrund stellten. Beide Konzepte betrieben et-
was wie eine »Warenkunde« und führten nicht zur gewünschten Auseinanderset-
zung mit dem Problem, sondern schufen eine Ich-ferne Situation, mit wenig Wirkung.
Erst die »Auseinandersetzung« mit der ganz aktuellen Situation der konkreten Ziel-
gruppe und ein andauernder Diskussionsprozess zeigen Wirkung. Die jüngsten Kon-
zepte kehren zurück zur Erziehung und konzentrieren sich auf die Persönlichkeit des
Individuums, seine Fähigkeiten und Gefühle. Es geht um Trainings gegen negative
soziale Beeinflussungen, ja schließlich um die Vermittlung allgemeiner Bewältigungs-
formen, um die Aneignung von Lebenskompetenz überhaupt.
Diese Entwicklung macht u. a. deutlich, dass Hilfe- und Eingliederungsmaß-
nahmen nur dann wirklich erfolgreich verlaufen, wenn sie über eine längere Zeit hin-
weg »persönlich« begleitet und nicht nur »überwacht« oder administrativ vollzogen

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werden. Don Boscos »Assistenz« im eigentlichen und ursprünglichen Sinn scheint
wieder an der Reihe!
»Alles Prävention?«
Prävention hat geradezu eine Renaissance erlebt. Die Liste der Präventions-
felder ist lang geworden: AIDS-Prävention, Drogenprävention, Gewaltprävention,
Suchtprävention, Suizidprävention, Prävention gegen sexuellen Missbrauch, gegen
Burn out, gegen Essstörungen, gegen Trennung und Scheidung, präventiver Kinder-
und Jugendschutz, Präventivmedizin, präventiver Umweltschutz etc. Die Einsicht hat-
te sich verbreitet, dass alle Resozialisierungs- und Wiedereingliederungsmaßnah-
men der Öffentlichen Hand mehr Geld kosten als präventive Maßnahmen wie Ju-
gendarbeit (Freizeitmaßnahmen), Horte, unterstützende Maßnahme der frühkindli-
chen Entwicklung, für Schul- und Berufsbildung, Familienhilfen etc.12 Der Ausbau der
sozialen Netze schritt in vielen Ländern auf vielen Feldern erfreulich voran. Der Beg-
riff »Prävention« fand Eingang in die Sozial- und Bildungspolitik, in die Programme
von Sport- und Reiseveranstalter, in die Konzepte von Gemeinden und Freizeitan-
bietern, in weiterführende Überlegungen von Schulen, Krankenkassen und Trägern
der Erwachsenenbildung.
Sozialpädagogik als Prävention
Bei der Realisierung von verschiedenen präventiven Maßnahmen setzte man
zunächst vor allem auf die Schulen. Sie sind die (öffentlichen) Orte des Lernens, an
denen alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden (können). Aber dort stößt prä-
ventive Arbeit auf erhebliche Hindernisse. Schulisches Lernen ist nämlich in unserer
Gesellschaft in besonders ausgeprägter Weise auf die Vermittlung von Wissen und
auf die Ausbildung spezifischer Fähigkeiten ausgerichtet, so dass für die Förderung
des sozialen Verhaltens nur wenig Raum bleibt.
Viele Präventionsmaßnahmen werden deshalb außerhalb der Schulen reali-
siert – in sozialpädagogischen Einrichtungen. Der Jugendarbeit in Verbänden wie
auch in offenen Formen (Jugendzentren) kommt eine besondere Bedeutung zu. Ihre
Freizeitangebote sind an sich Prävention. Sie nehmen aber auch ausdrückliche Ver-
anstaltungen in ihre Programme auf, durch die Kinder und Jugendliche lernen kön-
nen, in Konfliktsituationen verschiedenster Art zurecht zu kommen. Viele Träger prä-
ventiver Maßnahmen verlegen ihre Angebote dorthin, wo Kinder und Jugendliche
12 In Italien werden viele Maßnahmen für Kinder und Jugendliche mit “prevenzione” bezeichnet, die im
deutschen Sprachraum einen herkömmlichen Namen tragen. Geradezu alles, was öffentlich finanziert wird, gilt
als präventiv.

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sich aufhalten und ihre Freizeit verbringen: Auf Straßen und öffentliche Plätze, in
Parks, Bahnhöfe und bisweilen Discotheken.
Erneute Infragestellung
Nun sind Präventionsmaßnahmen aber auch in der Gegenwart nicht ganz un-
umstritten. Einmal wird – wieder vor allem von Pädagoginnen und Pädagogen – die
Gefahr gesehen, dass v. a. Behörden ihre Präventionsstrategien derart ausweiten
und intensivieren, dass sich Jugendliche ununterbrochener Kontrolle ausgeliefert se-
hen. Die Sorge um frühzeitiges Erkennen von Problemlagen soll aber nicht zu einem
permanenten »Kontrollzirkel« werden, der die Entwicklung von Eigenverantwortung
und Selbstwert unmöglich macht. Mit einer »Kolonialisierung« der Lebenswelt Ju-
gendlicher würde wieder eine »repressive Prävention« entwickelt, die pädagogisch
gesehen nicht gewollt sein kann.
Andere Vorbehalte gegen präventive Konzepte werden bisweilen von jenen
vorgetragen, die die Kosten tragen sollen: Politikerinnen und Politiker. Sie wollen
häufig kurzfristig Erfolge sehen oder sie lehnen die Maßnahmen als wirkungslos ab.
Ihr Erfolgsdruck scheint verständlich, denn sie müssen ihren Wählerinnen und Wäh-
lern Rechenschaft geben über ihre Maßnahmen und Veränderungen vorzeigen bzw.
nachweisen.
So kam es schließlich auch dazu: Als das Geld der öffentlichen Hand knapp
und die Mittel für viele Maßnahmen gekürzt wurden – und werden, stellte man prä-
ventive Konzepte erneut in Frage und viele Maßnahmen ein. Hilfen sollen nur noch
jene erfahren, die unmittelbar von einer Notlage »betroffen« sind. Primärprävention
wollen Staat, Länder und Gemeinden immer weniger mitfinanzieren. Mit dem
Schlagwort »Treffsicherheit« soll wohl ein endgültiger Abschied von dieser Präventi-
on eingeläutet werden und die uralte Frage nach den »wirklich Bedürftigen« wird
wieder aufgerollt. Man möchte wissen, ob denn die Hilfen wirklich gebraucht werden
und wer auch ohne sie zurecht kommen – oder wer sie von anderer Stelle bekom-
men kann.
Noch einmal Don Bosco
Es geht heute darum: Prävention als pädagogische und sozialpolitische Hand-
lungsmaxime ernst zu nehmen! Es geht auch darum, jungen Menschen Chancen zu
eröffnen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und es zu entfalten. Die zahlreich
gewordenen Gefahren müssen die Verantwortlichen auf den Plan rufen und geeig-
nete Präventionskonzepte entwickeln lassen. Viel Engagement ist notwendig, wenn
es darum geht, die Maßnahmen zu finanzieren; wie zur Zeit Don Boscos scheint es

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die Öffentliche Hand allein nicht zu können. Dazu braucht es aber auch eine große
Anzahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die in personaler Begegnung den Kin-
der und Jugendlichen gegenübertreten und ihnen nicht funktional »Maßnahmen ve-
rabreichen«. Don Boscos Praxis der »Assistenz« – des Daseins und Dabeiseins –
fordert auch heute heraus.
Autor: Dr. Franz Schmid SDB, Prof. für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Kath. Stif-
tungsfachhochschule München Abt. Benediktbeuern, Don-Bosco-Straße 1, D-83671
Benediktbeuern