Aktion


Aktion

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Aktion*1
Eine Anschauung (Konzeption) von Aktion1
„Hier ist dein Feld, hier musst du arbeiten. Werde demütig, stark und robust“,
sprach die Dame im Traum, den er im Alter von neun Jahren hatte, zu Johannes Bosco2.
Seine Augen erblickten damals eine große Schar von Kindern, die es zu erziehen galt. Der
Schüler Don Boscos ist, wie er selbst es in seiner Zeit war, ein Wesen der Aktion und der
Praxis.
Genau genommen wird seine Aktion nicht „immanent“ sein, in ihm bleibend, wie
es diejenige eines Redners oder Philosophen wäre (Beispiele: sehen, verstehen, kennen),
sondern „transitiv“, auf einen Gegenstand gerichtet (Beispiele: heizen, ernten, erziehen).
Die einzige Aktion, die wir hier schließlich aufzuhellen suchen, wird also (im Prinzip) die
Praxis sein, jene Form der Aktion, die Aristoteles von diesen anderen Formen unterschei-
det, die wir Théôria (Prüfung), Poièsis (Produktion) oder Proairesis (Wahl im Voraus,
Projekt, Plan) nennen.
Don Bosco dachte seine Aktion in der religiösen Welt, derjenigen seines Traumes.
Er stellte darin selbstverständlich die Aktion der Kontemplation gegenüber und sah beide
in ihrer Besonderheit und Eigenart. In der Kirche gibt es Kontemplative und Aktive. Die
Mönche betrachten und beten während die Salesianer handeln, so dachte er und verein-
fachte die Dinge sehr. Er platzierte sich also systematisch unter die Aktiven und zog die
Seinen in ihre Reihen. Die Nächstenliebe, die er ihnen als Programm im ersten Artikel der
Salesianischen Konstitutionen gab, war eine „aktive Nächstenliebe“, mit anderen Worten
eine Praxis der Nächstenliebe.
Und trotzdem stellte ihn die Handlung allein, gleich welcher Art, nicht zufrieden.
Er verwechselte sie gewiss nicht mit Aktivität, sei sie geordnet oder nicht. Gern hätte er
sie, Aristoteles folgend, als eine Aneinanderreihung von Etappen aufgefasst: wünschen,
überlegen, wählen, handeln3. Ein gutes Beispiel wäre hierfür der Beginn der Mission unter
den Indios Patagoniens im Jahre 1875. Der Weise weiß, wohin er geht. Er entscheidet sich
nur nach Überlegung, trifft seine Wahl in Kenntnis des Grundes und schließlich handelt er.
Diese Handlung vollzieht sich in der Wirklichkeit: Sie ist Praxis. Wer sie auf die Endbe-
wegung reduziert, welche die Freude am ausgeführten Werk hervorbringt, amputiert sie.
Die theoretischen Probleme, die die salesianische praktische Aktion aufwerfen
könnte, sind unüberschaubar. Einige Beobachtungen scheinen hier zu genügen: über die
Notwendigkeit des praktischen Handelns, den Unterschied zwischen Aktion und Aktivis-
mus und über den spirituellen Wert der Praxis. Eine Zusammenstellung von Erwägungen
über die salesianische Aktion, ausgehend von einem neuen offiziellen Dokument wird die-
sen Artikel abschließen.
*1 Der französische Titel „action“ deckt sich nicht völlig mit dem was wir in unserem Sprachgebrauch unter
„Aktion“ verstehen. Es finden sich vielseitige Übersetzungsvarianten. Im Kontext dieses Artikels könnte man
bevorzugt nennen: „Handeln, Tun, Wirken“. Dennoch entscheiden wir uns hier für die Grundbedeutung
„Aktion“.

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„Man muss handeln“ (Don Rua)
Die Welt ist voll von Unentschlossenen, die in den vorhergehenden Etappen der
Aktion, so wie wir sie uns vorstellen, stehen bleiben. Don Rua widmete ihnen eines Tages
eine ganze Predigt mit dem Titel: „Bisogna fare“ (Man muss handeln)4. Er schrieb als
Motto auf sein Heft: „Omnis arbor quae non facit fructus bonos excidetur et [in] ignem
mittetur“, mit anderen Worten: „Jeder Baum, der keine guten Früchte hervorbringt, wird
umgehauen und ins Feuer geworfen.“, ein wenig erfreuliches Schicksal für die „Inaktiven“
(Untätigen), denen er die Hölle versprach.
Viele denken daran, gut zu handeln, wünschen gut zu handeln, sagen, dass sie gut
handeln werden, und machen schließlich nichts. Ihre Ideen, ihre Pläne oder ihre Absichts-
erklärungen, immer ohne Folge, verursachten wiederholt seine „außergewöhnlich ernsten
Überlegungen“*2. Man denkt daran, zu handeln, wenn man sich die Eventualität eines un-
vorhergesehenen unabänderlichen Todes vor Augen führt. Der untätige Denker ist nur eine
Statue, von der man sich nichts erwarten kann. Der heilige Paulus spottete über die heidni-
schen Philosophen, die den Sinn in ihren Gedanken verloren5. An Wünschen nach guten
Taten fehlt es in der ganzen Welt nicht. Man wünscht gut zu handeln, besser zu werden,
tugendhaft zu sein. Aber tausend Schwierigkeiten stellen sich dagegen: Furcht vor der
Meinung des anderen; Bedenken, hinderliche menschliche Bindungen zu lösen*3; Hem-
mungen, die man nicht überwindet; eine Befriedigung, der man nicht widersteht. Und das
Leben geht weiter. In der Bewertung unseres Predigers sind dies nicht wahre Wünsche,
sondern Halbwünsche, geteilte Vorsätze. Das Herz, wie dasjenige des Faulenzers, „will
und will nicht“6. Schließlich gibt es die Redner, wie derjenige, der redete und der nicht
ging, reden sie und handeln nicht. Jene Leute fließen über von Versprechen, die sie nie
halten werden. Sonderbarerweise stellte Don Rua ihr Verhalten dem des jungen Makkabä-
ers in der Bibel gegenüber, der dem Henker zugleich seine Zunge und seine Hände hin-
hielt: Sie führen ihre Zunge spazieren, strecken ihre Hände aber nie aus.
Die Ideen genügen nicht, die Wünsche genügen nicht, die guten Worte ohne die
Werke, die sie ankündigen, reichen nicht aus. Die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflas-
tert. Nicht derjenige, der sagt: „Herr! Herr!, wird gerettet werden“, sondern „nur wer den
Willen meines Vaters im Himmel erfüllt“7. Und Don Rua zitiert einen anonymen Heiligen,
nach dem Worte ohne Werke nur Holz für das Feuer der Hölle sind. Und er schloss mit
einer Anekdote. Seine in Eile zusammengestellte Predigt, ausgehend von einigen Bibelsät-
zen, war kein Wunder der Rhetorik. Aber wir sehen ihn darin mit Interesse die Etappen
durchlaufen, die zur Handlung der Praxis führen, und als guter Salesianer bedauert er zu
sehen, dass die Leute auf dem Weg stehen bleiben. Erhabene Gedanken, sagenhafte Pläne
und rauschende Reden sind nicht zu verachten. Der Salesianer wartet auf das was folgt, die
verwirklichende Handlung.
Aktion und (unruhige) Geschäftigkeit*4
*2 Im französischen Text: „réflexions plus ou moins sarcastiques“. Von „sarkastischen“ Überlegungen darf n.
M. des Übersetzers im Blick auf den seligen Don Michael Rua nicht gesprochen werden, zumal seine Gedan-
ken hier im Grunde nur an die Verurteilung der „Untätigen“ beim Weltengericht bei Mt 25,41 ff. erinnern.
*3 Sinnentsprechende Wiedergabe des französischen Originaltextes „ne pas changer de compagnon (ou de
compagne)
*4 Originaltitel: „Action et agitation“. Eine mögliche Übersetzungsalternative „Aktivität und Agitation“,
Francis Desramaut, Einhundert Schlüsselworte der salesianischen Spiritualität,
Art.: „Action“ – „Aktion

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Wenn wir dem Generaloberen Albera glauben, hatte der Salesianer übrigens, min-
destens früher, ein bisschen zu sehr die Tendenz, sich zu begnügen und Aktion mit (unru-
higer) Geschäftigkeit zu verwechseln.
Die Krankheit der Geschäftigkeit, d. h. der ungeordneten Aktivität, bedrohte ihn am
Anfang des Jahrhunderts. Ein Rundbrief von 1911 mahnte ihn ungeschminkt: „Die große
Krankheit vieler, die sich dem Dienst Gottes anheimgegeben haben, ist die Geschäftigkeit
und der übermäßige Eifer, den sie in den äußerlichen Dingen aufbringen. Wie schwierig ist
es, unsere Aktivität in den rechten Grenzen aufrechtzuerhalten! Wenn wir darauf nicht ach-
ten, gehen wir das Risiko ein, der Bewegung der Welt zu folgen, die sich mitreißen lässt
im Wirbel der Geschäfte, als Opfer dieses Übels, das schon der heilige Bernhard als evis-
ceratio mentis oder Ausweidung der Seele bezeichnete. Sie erschöpft im Studium und den
äußerlichen Werken all ihre Fähigkeiten, ihre Intelligenz, ihr Gedächtnis, ihre Vorstel-
lungskraft. Wie es der Weise über den Menschen sagte, der von seinen Beschäftigungen
aufgerieben wird: projecit in vita intima sua8.
„Nie ein Moment um sich zu sammeln, um sich selbst wiederzufinden, um zu wis-
sen wohin man geht. Die Welt glaubt, dass jene mit großen Schritten auf dem Weg des
Guten gehen, aber der heilige Augustinus versichert uns, dass sie außerhalb des rechten
Pfades wandeln: magni passus, sed extra viam (mit großen Schritten, aber außerhalb des
Weges). Sie arbeiten viel, aber ihre Arbeiten haben keinen Wert ad aeternitatem. Oh! dass
die Salesianer fortfahren, das Beispiel des Unternehmungsgeistes, einer großen Aktivität,
zu geben, aber dass es immer und überall das Ergebnis eines rechten Eifers sei, vorsichtig,
beständig und gestützt von einer soliden Frömmigkeit.“9 Lesen wir diese letzten Worte
noch einmal. Don Albera war geprägt vom Werk „L“Ame de tout apostolat“ des Dom
Chautart. Einige Monate vor seinem Tod prangerte er noch das Motto „Aktion für Aktion“
als neues Ideal seines Zeitalters an.10
„Der Salesianer läuft immer“, wiederholte P. Augustin Auffray gern in seinen E-
xerzitienvorträgen, die ich Mitte dieses Jahrhunderts hörte. Es schien, man könne nichts
dagegen einwenden. Aber damit ahmte der Schüler kaum seine Lehrer und Vorbilder nach.
Sprechen wir hier nicht von Don Bosco, dem Heiligen, der natürlicherweise so wenig ge-
drängt war, dass es ihm oft geschah, einen Zug zu verpassen. „Ach was, bemerkte er mit
Philosophie, wir werden den nächsten nehmen.“ Der Salesianer beeilt sich langsam.
Der selige Filippo Rinaldi mit seinem so gutmütigen Aussehen, war sein Leben
lang ein Mann der Tat. Aus seiner Biographie erfahren wir, wie sehr seine Aktivität als
Direktor, dann als Provinzial, danach als Generalpräfekt und schließlich als Generaloberer,
beständig und intensiv war. Betrachten wir ihn hier nur in seiner Zeit als Provinzial in Spa-
nien. Sorgen um das Provinzhaus, Schriftverkehr und Reisen für die Neugründungen, not-
wendige Versetzungen aufgrund seines Amtes, innere Angelegenheiten verschiedener Art,
finanzielle Schwierigkeiten, unmittelbare Sorge um die Häuser und Belange der Töchter
Mariä, Hilfe der Christen. All diese Aufgaben füllten seine Tage mit Beschäftigungen und
Sorgen aus, umso mehr als er niemand hatte, mit dem er seine Verantwortung teilen konn-
te. Eines Tages, Mitte Februar, schrieb er einem seiner Freunde: „Dieses Jahr reicht mir
das Wasser bis zum Hals. Vom ersten Tag des Jahres bis gestern bin ich nicht zur Ruhe
gekommen. Die Arbeit wächst mit dem Laden“ (16. Februar 1895). Ein anderes Mal:
wenn man „Agitation“ nicht politisch akzentuiert versteht. Insofern weichen wir auf den umschreibenden und
doch treffenden Begriff „Geschäftigkeit“ aus.
Francis Desramaut, Einhundert Schlüsselworte der salesianischen Spiritualität,
Art.: „Action“ – „Aktion

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„Gewisse Tage habe ich so viele Sachen im Kopf, dass mir keine Zeit zum Denken bleibt“
(2. März 1895). Oder noch: „Die Schwierigkeiten brechen mehr denn je über mich herein.
Ich bedarf des Gebetes und des Rates, aber ich weiß nicht einmal, wie man darum bitten
sollte“ (5. Dezember 1900). Und dennoch, wer sich ihn ohne Unterlass zerzaust umherlau-
fend vorstellen würde, und wenigstens in solchem Ausmaß beschäftigt, weder die Zeit
noch die Muße zu haben, an seine Untergebenen zu denken, der würde sich vollkommen
täuschen. Don Rinaldi hatte immer wieder die unerschütterliche Ruhe Don Boscos in den
Wechselfällen des Lebens beobachtet. Die Erinnerung daran bewahrte er, sie brachte ihn
dazu, ständig mit Ruhe und einer vollkommenen Ausgeglichenheit voranzugehen. Er konn-
te nicht vergessen, dass er der Vater zahlreicher Kinder war. All diese Zeugnisse aus dieser
Periode seines Lebens stimmen überein, um uns zu versichern, dass bei ihm die Ruhe und
die personifizierte Väterlichkeit zu finden war.11
„Frömmigkeit“ und besonnene Ruhe charakterisieren im Ideal das salesianische
Handeln (die salesianische Aktion).
Spiritueller Wert der Praxis
Don Bosco hat also durch sein Leben die praktische Handlung gepriesen, die fünf
Jahre nach seinem Tod ein christlicher Philosoph in gelungener Weise theoretisieren sollte.
Maurice Blondel (1861-1949) fügte seinem Hauptwerk von 1893, mit dem Titel*5 Die Ak-
tion, den Untertitel hinzu: „Versuch einer Kritik des praktischen Lebens und einer Wissen-
schaft der Praxis“12. Er projektierte so, in Verbindung mit einer vertieften Wiederaufnahme
des Kantianismus („Kritik des Lebens“, nicht nur der Vernunft) eine „Wissenschaft der
Praxis“ zu gründen, die uns erlauben wird, eine salesianische Spiritualität, eine Spiritualität
der Praxis, aufzuwerten. Ohne Hemmungen und im Gegensatz zu Platon, der die Erkennt-
nis privilegiert hatte, interpretierte er diese Wissenschaft und ihren Gegenstand als den
Gipfel der Philosophie. Ist die Praxis nicht die feine Blüte der Aktion?13
Die Aktion, das war für Blondel der ganze Mensch als Synthese in Bewegung. Von
Kapitel zu Kapitel zeigte er beharrlich deren Sinn und Größe. Zu handeln ist eine Notwen-
digkeit. Weder der Dilettant, der beabsichtigt, nichts zu wollen, noch der Pessimist, der das
Nichts will, können sich hier entziehen, denn nichts wollen heißt noch zu wollen, und das
Nichts wollen, bedeutet im Grunde genommen das „Besser-sein-Wollen“. In der Tat, es
weicht keiner dem Problem der Praxis aus, und jeder entscheidet es unvermeidlich. Ohne
irgendein Zugeständnis an eine Wahrheit außerhalb der Vernunft zu machen, sondern in-
dem er sich auf die Autonomie derselben stützte und die Aktion in ihrer gesamten Entfal-
tung verfolgte, gelang es Blondel, ein Gesetz der Aktion herauszuarbeiten: die Nichtent-
sprechung („inadéquation“) zwischen dem „ursprünglichen Wollen“ („volonté voulante“) und
dem „jeweils verwirklichten Wollen“ („volonté volue“)*6 . Nie schafft es eine Realisierung
des Wollens (das jeweils verwirklichte Wollen), den grundlegenderen Plan zu erschöpfen,
der dem (ursprünglichen) Wollen des Menschen innewohnt. Die Aktion tendiert unver-
meidbar dazu, das freiwillig zu integrieren, was sie spontan und notwendig benutzt. Sie
verwandelt in das bewusste Ende, das verwirklichte Wollen, das was in ihr erlebtes Prinzip
ist, das ursprüngliche Wollen, sonst wird sie sich widersprechen und in sich selbst zertei-
*5 Französischer Titel: „L“Action: Essai d“une critique de la vie et d“une science de la pratique“.
*6 Vgl. R. Scherer, in: LThK, Bd. 2., Art. „Blondel“: Hier finden wir die begriffliche Wiedergabe von „vo-
lonté voulante“ als „ursprüngliche(s) Wollen“ und von „volonté volue“ als „jeweils Verwirklichte(s)“ Wol-
len.
Francis Desramaut, Einhundert Schlüsselworte der salesianischen Spiritualität,
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len. Blondel demonstrierte es, indem er die Aktion „analysierte“*7 .
Wenn folglich über die natürlichen, psychischen und sozialen Kräfte hinaus, es ein
Unendliches im Ursprung der Aktion gibt, so muss dieses am Ende wiedergegeben werden.
Das ist es übrigens, was die imaginäre (wörtl.: „abergläubische“) Aktion auszudrücken
scheint, die darin besteht, das Endliche unendlich zu machen. Aber diese Anwesenheit des
Unendlichen bereitet der Aktion ein Problem, das sie, ohne dass es ihr gelingen wird, sich
jemals dem entziehen zu können, nicht lösen kann. Denn das Unendliche zu integrieren ist
unmöglich, man kann sich nur dem Unendlichen integrieren. Und an dieser Stelle weicht
die Vernunft verboten zurück. Die christliche Botschaft aber meldet sich laut zu Wort. Die
in sich unausführbare Geste würde durch eine großzügige Mitteilung Gottes ermöglicht
werden, angedeutet in jedem Geist als Erleuchtung und Anregung, und er könnte sie bis
zur Vergöttlichung gelangen lassen. Die Aktion mündet in einen existenziellen Schnitt-
punkt ein: die Option dem einzig Notwendigen gegenüber: „Der Mensch strebt danach,
Gott zu spielen, Gott zu sein, ohne Gott und gegen Gott, Gott zu sein, durch Gott und mit
Gott, das ist das Dilemma.“14
So entsteht in der Dialektik der Aktion das Problem oder die Hypothese, die wir als
das Übernatürliche bezeichnen. Der Philosoph Blondel hütete sich davor, aus der Hypo-
these auf die Wirklichkeit zu schließen. Auf die notwendige Frage konnte die positive
Antwort nur in einem anderen Licht gegeben werden. Unfähig, diese Hypothese zurück-
zuweisen oder sogar ihr einen Inhalt zu geben, kann die Vernunft nur deren Bedingungen
und sozusagen die Form vorzeichnen. Sie weiß, dass diese Frage alle anderen beherrscht,
da die allerletzte Vollkommenheit universal schöpferisch ist. Die Praxis nährt sich von
einem desiderium naturale nach dem Guten, um eine Idee aufzugreifen, die der heilige
Thomas in Contra gentiles entwickelte.
Gehen wir ein bisschen zurück, um aus den Analysen Blondels einige spirituelle
Konsequenzen festzustellen. Die notwendige Freiheit der Entscheidung verwirklicht sich in
der „vollendeten Aktion“, nämlich in der Praxis. Wer aber von Entscheidung spricht, meint
damit auch den Primat des Willens über den Verstand. Wenn man sich nicht täuschen lässt,
mindestens augenblicklich, so verliert, wie wir verstehen, die Entscheidung ihren wesentli-
chen Charakter: Es handelt sich nicht mehr um eine Entscheidung. Man erfasst damit, dass
in der salesianischen Spiritualität der Wille natürlich den Vorrang vor dem Verstand hat.
An Stelle (der Formulierung) des heiligen Johannes „Am Anfang war das Wort“, soll man
hier „Am Anfang war die Aktion“ ... setzen.*8 Die Aktion, die bis zur praktischen Durch-
führung gelangt, lässt die Person wachsen und vervollkommnet sie. Und wer dann von
Entscheidung im Hinblick auf das einzig Notwendige spricht, erhebt den Anteil des Men-
schen an dieser Stelle bis ins Unendliche. Blondel hob dies durch die ontologische Bedeu-
tung hervor, die er diesem „entscheidenden Schlüssel“*9 seiner Wissenschaft der Praxis15
zuschrieb. Die Theologen haben sofort diese drohende Gefahr des Pelagianismus in den
Gedankengängen Blondels angeprangert. Die Kampagne gegen die „Methode der Imma-
nenz“ hat im zwanzigsten Jahrhundert lange angedauert.
*7 Wörtl.: ... die Aktion „zerpflückte“.
*8 Wörtlicher Text des Autors Desramaut: „Au lieu du Au commencement était le Verbe de saint Jean, il faut
placer l’Au commencement était l’Action du mythe goetéen“.
Nach dem Empfinden des Übersetzers ist dieser Vergleich sehr problematisch – vielleicht auch wie die ge-
samte Deutung der salesianischen Praxis im Sinne der „action“ nach Blondel. Zumindest bleibt hier unklar,
was unter „l’Action du mythe goetéen“ (etwa: „Aktion im Sinne des Mythos Goethes“) verstanden werden
soll.
*9 Wörtlich: „clé de voûte“.
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Man sieht, bis zu welchem Grad der Spiritualität die Aktion erhebt und wie sehr die
von der religiösen Praxis geforderte Vereinigung mit dem Unendlichen, das heißt mit
Gottvater (durch den Sohn und im Geist), dem unbewusst in der Handlung ersehnten Ziel
für den Christen von Bedeutung ist, während Gott den Wunsch hat, ihm seine ganze Fülle
zu schenken. Die Praxis des Alltäglichen, worin die salesianische Praxis besteht, findet
sich hier mit einem Nimbus umgeben. Die Reflexion hebt deutlich ihre (potentielle) Ver-
bindung mit der übernatürlichen Welt hervor. Es ist nicht nur möglich, sondern normal,
sich durch die Aktion der Praxis zu heiligen.
Die Charakteristika der salesianischen Aktion
Hervorgegangen aus einer theologischen Reflexion über die Aktion, während des
Rektorates von Don Viganò, hat die 1986 promulgierte „Regel für ein apostolisches Le-
ben“ der Salesianischen Mitarbeiter Don Boscos oft davon gesprochen. Die Wesensmerk-
male der Praxis der gesamten „Don-Bosco-Familie“*10 werden darin klar ersichtlich. Der
Salesianer, erfährt man dort, ist in der Nachfolge und der Nachahmung Don Boscos ein
Wesen der Initiativen, der Pläne und der Realisierungen (es versteht sich von selbst: im
Rahmen seiner Möglichkeiten). Die Regel hütete sich davor, die Empfehlungen Don Albe-
ras über die unerlässliche Reflexion zu vergessen. Und sie ging bis zum logischen Ziel der
Praxis, der Zeit der Entscheidung und des Leidens in der Realisierung.
Die Salesianischen Mitarbeiter verpflichten sich in ihrem Versprechen, an den Ini-
tiativen ihrer Ortskirche mitzuarbeiten; sie sind verfügbar für die neuen Initiativen als
Antwort auf die Erfordernisse, die sie entdecken; sie greifen sie mit den anderen Gruppen
der Don-Bosco-Familie auf und der Generalobere, unterstützt von der „Consulta“ (dem
Weltrat) der Vereinigung, bemüht sich, sie zu koordinieren.16
Die Aufgaben der Vereinigung der Mitarbeiter sind wesentlich apostolischer Natur.
Sie stellen für jeden Einzelnen ein Lebensprogramm dar und für die Vereinigung einen
Plan des Apostolates. Das gesamte Vorhaben der Mitarbeiter ist durch Don Bosco definiert
worden. Nach ihm ist der Generalobere der Salesianer Garant der Treue zu diesem Projekt
innerhalb der ganzen (Don-Bosco-) Familie. Bei seiner Aussendung verspricht der Mitar-
beiter, den evangeliumsgemäßen Plan der Vereinigung zu leben. Diese Vereinigung ist
ganz (mit-)verantwortlich für die Lebensfähigkeit des Werkes Don Boscos in der Welt17.
Schließlich beschreibt ein Artikel eindeutig den „Handlungs-Stil“, das heißt den
Stil der Realisierung, des Mitarbeiters. Er macht die Eigenschaften, die das Wesen des
salesianischen Handelns bestimmen, anschaulich: innerliches Leben, Verfügbarkeit, Groß-
herzigkeit, Sinn für das Realisierbare, Geist der Initiative und der Entscheidung, Kreativi-
tät, Fähigkeit zu revidieren und Mut im Unglück (= Tapferkeit in den Widrigkeiten).
„§ 1. Don Bosco war praktisch und unternehmungsfreudig, schöpferisch begabt und
ein unermüdlicher Arbeiter mit der Kraft eines ausgeglichenen, tief innerlichen Lebens.
Der Mitarbeiter ist überzeugt vom Wert des Tuns, er arbeitet gottverbunden, stellt sich den
verschiedenen Aufgaben entschlossen und mit Eifer, ist verfügbar und großherzig.
§ 2. Aufgeschlossen für die Wirklichkeit und die Zeichen der Zeit hat er Sinn für
das Realisierbare, bemüht sich, die Absichten des Herrn zu erkennen und setzt sich dafür
*10 Im deutschen Sprachraum „Don-Bosco-Familie“, statt „Salesianische Familie“ (vgl. entspr.Art.).
Francis Desramaut, Einhundert Schlüsselworte der salesianischen Spiritualität,
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ein, den jeweiligen Erfordernissen zu entsprechen. Er ist bereit, die eigene Tätigkeit zu
überprüfen und anzupassen.
§ 3. „Arbeit und Mäßigkeit“ empfahl Don Bosco. Der Mitarbeiter stellt sich in
christlicher Gelassenheit den Mühen und Schwierigkeiten des Lebens und nimmt das
Kreuz an, das unvermeidlich zur apostolischen Arbeit gehört.“18
Don Egidio Viganò19 machte sich gerne die Formulierung und mehr oder weniger
den Gedanken des hl. Franz von Sales über die „Ekstase der Tat“ zu Eigen, den dieser in
seiner Abhandlung über die Gottesliebe*11 (Buch VII, Kap. IV-VI) auf die „ausführende
Tat“ („opération“), d. h. auf die alltägliche Praxis des Lebens anwendete. Die Ekstase,
welcher Art auch immer, erhebt über sich und die Welt. Und von den „heiligen Ekstasen
gibt es drei Arten, hatte dieser Heilige geschrieben: „Die erste ist die des Verstandes, die
andere die des Gemütes, die dritte die der Tat. Die erste beruht auf glanzvoller Schönheit,
die zweite auf der Inbrunst, die dritte auf dem Werk. Die eine geschieht durch Bewunde-
rung, die zweite durch fromme Hingabe, die dritte durch die Tat.“*12 Diese dritte Art der
Ekstase ging nach seiner Interpretation aus der Begegnung der Praxis mit dem Übernatürli-
chen, der Unendlichkeit Gottes hervor. Franz von Sales sprach eingehend mit Worten, die
an Maurice Blondel erinnern20, von „der ganz heiligen, ganz liebenswerten Ekstase“ die
die beiden anderen krönt, die Ekstase der Tat und des Lebens.“*13
„Nicht stehlen, nicht lügen, keine Unkeuschheit treiben, zu Gott beten, nicht sinn-
los schwören, seinen Vater lieben und ehren, nicht töten - das heißt entsprechend der natür-
lichen Vernunft leben. Aber all sein Hab und Gut aufgeben, die Armut lieben, sie die ganz
hohe Herrin nennen und sich ihr gegenüber auch so verhalten, Schmach und Schimpf, Ver-
achtung, Verfolgung und Martyrium als Seligkeit und Glück ansehen, vollkommene
Keuschheit bewahren – und schließlich inmitten der Welt und in diesem sterblichen Dasein
ein Leben ständigen Verzichtes, ständiger Entsagung und Selbstverleugnung führen, gegen
alle Meinungen und Behauptungen der Welt und gegen den Strom schwimmen, das heißt
nicht mehr menschlich, sondern übermenschlich leben, das ist nicht in uns leben, sondern
außer uns und über uns. Da aber niemand so über sich selbst hinausgehen kann, wenn ihn
nicht der ewige Vater zieht (Joh 6,44), so muss diese Art zu leben eine ständige Entrü-
ckung, eine fortwährende Ekstase der Tat und des Wirkens sein.“21
„Die Ekstase der Tat, ein besonderer Bezugspunkt beim hl. Franz von Sales, ist die Seele
der apostolischen Nächstenliebe bei Don Bosco“, wird die Carta di communio der Don-
Bosco-Familie bekräftigen.22
Die praktische Handlung, ausgehend vom Menschen, aber durch die Vereinigung
mit Gott über ihn selbst erhoben, kann und muss jedem Glied der Don-Bosco-Familie an-
empfohlen werden.
*11 Originaltitel: „Traité de l’amour de Dieu“.
*12 h.z.n.: Deutsche Ausgabe der Werke des hl. Franz von Sales (= DA), Bd. 4, Franz-Sales-Verlag Eichstätt-
Wien, 1990, S. 45.
*13 ebd., S. 50.
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Anmerkungen
1 Bibliographie. – M. Midali (a cura di), Spiritualità dell’azione. Contributo per un
approfondimento (coll. Studi di spiritualità 3), Roma, LAS, 1977, 302 S.
2 MO Da Silva, S.36.
3 Die Unterscheidungen ausgehend von Aristoteles sind der Nikomachischen Ethik VI, 2 u.
III, 1-7 entnommen.
4 Unveröffentlichte Notizen für eine nicht datierte Predigt, die nach ihren ersten Worten
zwischen zwei Exerzitien gehalten worden ist: „Parte di voi ha term[inato]. poco innanzi
gli esercizi, parte li comincierà lunedi“. Ms in: FdB 2907 C1-4.
5 Don Rua schrieb dies in Latein: evanuerunt in cogitationibus suis. Ein Zitat, entnommen
aus dem Römerbrief: 1,21. (Hinzufügung d.Ü.: „... Sie verfielen in ihrem Denken der Nich-
tigkeit, ...“)
6 Vgl. Sprichwörter 13,4.
7 Vgl. Matthäus 7,21. Die folgende Formulierung: „Le parole quando sono senza le opere
sono tante legna per l’inferno, diceva un Santo.“
8 Übersetzung. „Ein Wesen, das noch lebend seine Eingeweide zerreißt“. Eccl 10,10. Diese
wenig verständliche Vorlage, die Don Albera der lateinischen Vulgata entnahm, leitet sich
vom griechischen Text des Buches Ecclesiasticus ab. Die Jerusalemer Bibel hat sie der
syro-hexaplarischen Version entsprechend korrigiert. Man liest hier in 10,9: „Un être qui,
vivant, a déjà les tripes dégoûtantes“ („Ein Wesen, das, schon zu Lebzeiten verwest.“)
9 „Ma sventuramente la grande malattia di molti addetti al servizio di Dio è l’agitazione e il
troppo ardore con cui si occupano delle cose esteriori. Quanto è difficile trattenere nei
giusti limiti la nostra attività! – Se non ci mettiamo in guardia, corriamo il rischio di seguir
l’andazzo del mondo, che si lascia involgere nel turbinio degli affari, e cade vittima di quel
morbo che già S. Bernardo chiamava sventramento dell’anima : evisceratio mentis. Essa
esaurisce nello studio e nelle opere esteriori tutte le sue facoltà, la sua intelligenza, la sua
memoria, la sua immaginazione, come già diceva il Savio, di chi tutto è assorto dalle
occupazioni, projecit in vita intima sua. – Mai un momento per raccogliersi, per rientrare
in se stesso, per sapere dove vada. Il mondo crede che queste tali camminino a gran passi
nel via del bene, ma S. Agostino ci assicura che camminano fuori del retto sentiero: magni
passus, sed extra viam. Essi lavorano molto, ma i loro lavori non servono ad aeternitatem.
Oh ! continuino i Salesiani a dar l’esempio di spirito d’iniziativa, di grande attività, ma sia
essa sempre e in ogni cosa l’espansione d“uno zelo vero, prudente, costante e sostenuto da
soda pietà.“ P. Albera, Rundbrief an die Salesianer, 15. Mai 1911 ; L.C., S . 37-38.
10 Vgl.: P. Albera, Rundbrief an die Salesianer, 19. März 1921; L.C., S. 402. „... questo
secolo di agitazione, il quale ha veduto nascere un ideale nuovo: l’amore dell’azione per
l’azione ...“ Hier kopierte Don Albera dom Chautard.
11 Nach: E. Ceria, Vita del Servo di Dio Sac. Filippo Rinaldi, SEI, 1948, S. 96-97.
Zitate Don Rinaldis: „Quest’anno sono ingolfato fino agli occhi. Dal primo dell’anno fino
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a ieri sera non mi fermai. Il lavoro cresce colla baracca.“ „Certi giorni ho tante cose per la
testa che non mi danno tempo di pensare.“ „ Mi trovo circondato da difficoltà più che mai.
Ho bisogno d’orazioni e di consigli, ma neppure si sa come chiederli.“
12 Paris, Félix Alcan, 1893, XXV, 496 S.
13 Vgl.: L’Action, 5ème partie, chap. 2 : „La valeur de la pratique littérale et les conditions
de l’action religieuse“.
14 L’Action, S. 356.
15 L’Action, 5ème partie, chap. 3: „Le lien de la connaissance et de l’action dans l’être“.
16 RVA (Regolamento di Vita Apostolica), Art. 16, 20, 22, 23, 30 u. 44.
17 RVA, Proemio 2, 3 ; Art. 3, 5, 19, 23, 24, 40.
18 RVA, Art. 30 : „Der salesianische Stil des Handelns“. (h.z.n. dt. Ausg.: „Regel für ein
apostolisches Leben).
19 Vgl. seine Rundbriefe April-Juni 1981, in: L.C., S. 261; vom 5. Dezember 1989, in:
L.C., S. 1017; und vom 15. August 1991, in: L.C., S. 1185-1186.
20 Es gilt zu beachten, dass der hl. Franz von Sales hier dem Wort „action“ einen viel wei-
ter gefassten Sinn verliehen hat als denjenigen, der oben beschrieben wurde.
21 Oeuvres de saint François de Sales, Bd. V, S. 21, 27-28. H.z.n.: DA 4, S.50 f.
22 Carta di comunione, 1995, art. 7, finale. (Anm.d.Ü.: Der Wortlaut dieser Zitation stellt
eine persönliche Übersetzung aus dem französischen Text dar).
Francis Desramaut, Einhundert Schlüsselworte der salesianischen Spiritualität,
Art.: „Action“ – „Aktion