DesramautAskese


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Askese
Die spirituelle Askese
Die christliche Askese weist, obwohl sie sehr real ist, nicht notwendig, wie man es
manchmal glaubt1, die harten und trockenen Züge von Simeon dem Styliten auf,
dem auf der Säule stehenden Anachoreten, der sich während neunundsechzig Jah-
ren in beständigem Kampf befand, um sich den Besitz eines heiligen, geistigen
Körpers zu sichern, fähig an der Erhebung seines Geistes zum Himmel teilzuneh-
men. Wenn sie salesianisch ist, ist ihr Vorbild Franz von Sales, der Bischof mit
dem geordneten Gesichtsausdruck und dem wohlwollenden Blick, der sich den-
noch zu einer beständigen Disziplin verpflichtete, um nach Heiligkeit zu streben.
Aber wer spricht denn heute von Askese? Trotzdem existiert sie tatsächlich,
auch wenn sie sich weigert, sich in diesem verdächtigen, strapazierten Wort er-
kennen zu lassen. Man definiert sie durch eine Karikatur. „Die Gesamtheit der
physischen oder moralischen Übungen, die nach der Befreiung des Geistes durch
die Verachtung des Körpers streben. Im weiteren Sinne: gewünschte und hero-
ische Entbehrung. Antithese: Vergnügen, Genuss“, lesen wir in einem neuen fran-
zösischen Wörterbuch (Le Petit Robert). Dieses Bild hat auf die übliche Spirituali-
tät übergegriffen. Der allgemein verbreitete Hedonismus lehnt es ab, sogar unter
den Ordensangehörigen. Es erinnert an Anstrengung, nicht nachlassendem, rigo-
rosen Eifer, um die Leidenschaften zu bezwingen, die schlechten Begierden, die
natürliche Nachlässigkeit. Man muss, denkt man, sich selbst eine strenge Dressur
auferlegen, die sich auf alle Lebensbereiche erstreckt: den Schlaf, die Nahrung,
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die Arbeit, die Freizeit, die Verwendung der Zeit; und auf alle „Regungen der
Seele“: die Ungeduld, den Zorn, die Sinnlichkeit, das Streben nach Macht, all das,
was natürliches Verlangen der Begierde ist. Diese unversöhnliche Beherrschung
betrifft das Verhalten nach außen, aber auch das Innere, denn die Askese muss bis
in die Gedanken reichen. Der „Vollkommene“ in der klassischen Spiritualität ist
derjenige, der bis in die Wurzeln seine „Eigenliebe“ ausgerottet hat, das heißt die
Anhänglichkeit an sich selbst.
Aber diese Sicht der Dinge ist alles in allem (genommen) einseitig. Der heili-
ge Paulus verachtete seinen Leib nicht, als er ihn dienstbar machte. Die Antithese
der Askese ist keineswegs „Genuss und Vergnügen“. Der Tod der Begierde defi-
niert die Askese nicht. Ihre möglichen Gründe sind vielfältig. Sehen Sie sich um:
der Askese geht es besser, als Sie sich vorgestellt hatten. Die Willensbildung, die
Jules Payot wichtig ist, fordert ernste asketische Anstrengungen. Viele unserer
Zeitgenossen haben die Askese wiederentdeckt, seitdem die Epidemie AIDS ih-
nen nicht mehr erlaubt, sich ihrer durch ein Achselzucken zu entledigen. Die As-
kese bahnt sich neue Wege in den anspruchsvollen Freizeiten im Gebirge und am
Meer. Man stellt sich gewissenhafte Sportler nicht ohne Askese vor. Und welcher
Intellektuelle praktiziert nicht eine gewisse Form der Askese? Wir werden hier die
sichtbare Willensanstrengung, die man sich selbst auferlegt, um die moralische
Energie, die Stärke und Charakterfestigkeit eines heiligen und tugendhaften We-
sens zu erlangen, Askese nennen. Das angestrebte Ziel ist die vollkommene Näch-
stenliebe. Beim Christen setzt sie den Glauben an Gott Vater voraus, der die rein
menschliche Anstrengung „zu Fall bringt“. Die Askese nimmt oft (nicht immer)

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die Form der Abtötung an, die aufwendige Ausübung charakterisiert die Askese
immer.2
Der spirituelle Kampf
Die Übung der Askese impliziert einen Kampf. Der heilige Franz von Sales und
die Salesianer der ersten Generationen verehrten und betrachteten die Abhandlung
von Lorenzo Scupoli, mit dem Titel „Der geistliche Kampf“. „Meine liebe Toch-
ter, lesen Sie das 28. Kapitel des „Geistlichen Kampfes“, dieses mir teuren Bu-
ches, das ich seit etwa achtzehn Jahren in meiner Tasche bei mir trage“, schrieb
Franz (von Sales) an Johanna von Chantal 16073. Sehen wir uns also dieses klei-
ne, zu sehr vergessene Buch an. Die von Scupoli für den geistlichen Kampf vor-
geschlagenen Waffen waren vier an der Zahl: 1. das Misstrauen gegen sich selbst,
2. das Gottvertrauen, 3. die Übung und 4. das Gebet.
In das Zentrum des Werkes, stellte er „die Übung“, die auf einer Gesamtzahl
von sechsundsechzig Seiten siebenunddreißig Kapitel ausfüllte (Kap. 7-43). Wir
werden uns in dieser Stelle daran erinnern, dass der ursprüngliche Sinn des Wor-
tes Askese gerade „Übung“ („exercice“) ist. Im Werk Scupolis handelte der Ab-
schnitt über die Übung vom guten Gebrauch der inneren und äußeren Fähigkeiten,
um die Tugend zu erwerben. Als hervorragender Psychologe organisierte Scupoli
den Kampf und schlug nicht einen imaginären, platonischen Kampf vor, sondern
einen christlichen und inneren Kampf. Der zu sichernde Hauptpunkt war die Stär-
ke der Persönlichkeit: Intelligenz (Kap. 7-9) und Wille (Kap. 10-11), deren Fehler
es zu korrigieren und deren Aktivität es zu leiten galt. Der härteste Kampf betraf
den Willen. Die Kräfte dieses Kampfes stritten im Menschen selbst, wo Scupoli
gleichsam zwei Willen aufdeckte: den übergeordneten, höheren (die Vernunft)
und den unteren (Begehrlichkeit, Sinne, Leidenschaften). Der höhere Wille wurde
zwischen zwei Polen hin- und hergerissen: oben der Wille Gottes, der den Men-
schen erziehen wollte, unten die Leidenschaften, die ihn zum Bösen hin anzogen
(Kap. 12). Scupoli entwarf eine Strategie des Kampfes gegen die Leidenschaften,
insbesondere gegen die ungeordnete Eigenliebe, überall wo sie sich zeigte oder
versteckte (Kap. 13-18). Die inneren Leidenschaften hatten ihre äußeren Verbün-
deten im sinnenhaften Begehren. Daher die Notwendigkeit mit Entschlossenheit
gegen die Fehler der Sinne zu kämpfen (Unreinheit, Faulheit, Geschwätz), und sie
als Mittel zu benutzen, den Geist zu erheben, die göttlichen Eigenschaften und das
Leben Christi zu betrachten (Kap. 19-26). Scupoli empfahl, immer achtsam zu
bleiben auf die subtilen, verfänglichen Schliche des Dämons, die „Kunstgriffe“ in
seiner Sprache, und er bemühte sich, sie aufzudecken (Kap. 27-32). Man wird
dafür sorgen, die Energien und die Anstrengungen nicht zu zerstreuen, sondern
die Aufmerksamkeit auf ein Laster oder eine zu besiegende besondere Leiden-
schaft oder auf eine zu erwerbende besondere Tugend zu konzentrieren (Kap. 33-
35). Es ist sehr wichtig, nie im Kampf innezuhalten, sondern immer das Verlan-
gen nach Vollkommenheit wach zu erhalten, denn der gute Soldat sucht weder die
Ruhe noch die Beseitigung der Schwierigkeit, und der Dämon betrügt ihn nicht
durch indiskrete Gefallen (Kap. 36-43).4
Dieser systematische „Kampf“ stimmt ein bisschen nachdenklich, denn so
präsentiert, enthält er offensichtliche Risiken. Die christliche Askese ist immer
Francis Desramaut, Einhundert Schlüsselworte der salesianischen Spiritualität,
Art.: „Ascèse“ - „Askese“

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eine Askese der Antwort, Frucht der Arbeit des Geistes in der Person. Sie ist ge-
wiss ein Kampf, aber ein aufnehmender Kampf. Zudem warnt uns der Moraltheo-
loge davor, die Askese gut von der ethischen Devianz zu unterscheiden, die der
Voluntarismus darstellt. An sich muss die Askese den spirituellen Menschen be-
freien. Regeln, Übungen, schwere und sogar verpflichtende Praktiken haben zur
Aufgabe, Zwänge zu lösen, die man zuerst nicht einmal sieht, die aber in Wirk-
lichkeit unendlich hart sind: das Gesetz des Fleisches, ja sogar die Herrschaft Sa-
tans. Nur, ändert alles den Sinn, wenn die Askese aufgezwungen wird, und wenn
sie, statt gerade die einer Kunst gebotene Übung zu sein, in die reine Unterdrü-
ckung wechselt, die durch andere, aber vor allem durch sich selbst ausgeübt wird.
Die gefährlichsten Abirrungen schleichen sich hier ein: die Verfolgung durch sich
selbst, das Verbot, sich so zu kennen wie man ist, die eingebildete oder verzwei-
felte Erstarrung, die hartnäckige Fixierung auf ein „Ideal“, das eine Verweigerung
der Realität ist, etc. Zuviel Verkrampfung kann sogar Neurotiker, Wesen mit
Zwangsvorstellungen, mit irrer Strenge, nach sich ziehen, bis hin zu unkontrol-
lierbaren oder schmerzlichen Kompensationen.
Nach den heutigen Psychologen, die nicht notwendig Unrecht haben, müssen
dem geistlichen Kampf des teuren Scupoli also Nuancen hinzugefügt werden. Die
Strategie kann in diesem letzten Fall nachgiebiger werden und den Kurs wechseln.
Man kehrt dann die Einstellung um, die die Askese zu definieren scheint: Es wird
sich nicht mehr darum handeln, Anstrengung zu unternehmen, sondern gehen zu
lassen, mit anderen Worten, nicht zu versteifen, vor allem in den Beziehungen mit
anderen, eine Haltung des Empfangens, der Annahme, der Ehrfurcht, des Nichtbe-
sitzens, der Nicht-Verkrampfung, des Sich-Lösens, des 'Nicht-fertig-bringen-
Müssens', im Blick auf die ehrgeizigen Absichten der Persönlichkeit anzunehmen
und zu bewahren; zum Beispiel sie sprechen zu lassen. Diese Kur schreibt einen
Verzicht auf eine illusorische und mehr oder weniger todbringende Welt vor, um
eine authentischere Persönlichkeit zu finden. Ist das leicht? Nein, eine solche Dia-
lektik von Entbeherrschung und Beherrschung ist schließlich sehr anspruchsvoll.
Sie ruft nach zahlreichen Tugenden: Demut, Starkmut, Enthaltsamkeit, etc. Sie
verlangt eine große Bereitschaft, ein neues, mitunter überraschendes, Selbstbild
aufzunehmen. Es scheint sogar, dass diese Haltung in ihren reinsten Formen die
schwierigste Sache der Welt ist. In den Neurosenfällen erlaubt die „entgegenge-
setzte Askese“ des „Gehen-zu-Lassens“ die Auflösung des Systems, in welchem
der Kranke eingeschlossen wurde. Sie führt zum Auftreten dessen, was man für
unzulässig hielt: dem Eindringen des Verlangens. Da wo es sich darum handelte,
auf sich selbst zu verzichten, das Sichtbarwerden eines Ichs, das fordert, das nach
seinem Geschmack gehen will. Da wo man die geringste Ungeduld zügeln musste,
eine verhaltene Aggressivität. Da wo die Sinnlichkeit bis in die Phantasiegebilde
verfolgt werden mußte, Sexualität beanspruchende Anwesenheit, etc. Wirklich,
der geistliche Kampf kann verschiedenartige und unerwartete Formen annehmen5.
Die salesianische Asketik
Der heilige Franz von Sales, der von Selbstverleugnung als Maß der Vollkom-
menheit sprach, vom Zunichtewerden, als Traum der heiligen Seelen, den es je-
derzeit zu realisieren gilt, von vollendeter Prüfung der gottgeeinten Seele, von
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inneren und äußeren Abtötungen oder auch von völligem und beständigem Ver-
zicht, predigte sicherlich nicht die Leichtigkeit im Bereich des Asketischen6.
In seinem Denken wurden diese Auffassungen durch das reguliert, was er den
„heiligen Gleichmut“ nannte, ein Begriff, der Don Bosco schließlich teuer war.
Franz (von Sales) sagte zu den Schwestern der Heimsuchung: „Ich hab ein tiefes,
inniges Verlangen, in Ihre Geister eine Maxime zu gravieren, die von einer einzi-
gartigen Nützlichkeit ist: nichts verlangen und nichts ablehnen. Nein, meine lie-
ben Töchter, verlangen Sie nichts und lehnen Sie nichts ab; nehmen Sie das in
Empfang, was man Ihnen geben wird, und bitten Sie gar nicht um das, was man
Ihnen nicht anbieten oder nicht geben wird. In dieser Praktik werden Sie Frieden
für Ihre Seelen finden. Ja, meine lieben Schwestern, halten Sie Ihre Herzen in
diesem heiligen Gleichmut, all das anzunehmen, was man Ihnen geben wird, und
überhaupt nicht zu verlangen, was man Ihnen nicht geben wird. Ich will mit einem
Wort sagen: Wünschen Sie nichts, sondern überlassen Sie sich selbst und alle Ihre
Angelegenheiten völlig und vollkommen der Sorge der göttlichen Vorsehung.
Lassen Sie sie mit Ihnen ganz so verfahren, wie sich die Kinder von ihren Ammen
leiten lassen ...“7
Was die hier betrachtete salesianische Asketik betrifft, die an sich eine didak-
tische Darstellung der Askese des Salesianers ist, so wurde sie früher gut im
Traum Don Boscos 'von den Diamanten' (10. September 1881) bildlich darges-
tellt, der den Heiligen vor dem Verschwinden der Askese unter seinen Söhnen
warnte. Seitdem, haben die Generaloberen Rinaldi, 19308, und Viganò9, 1981,
sich darum bemüht, diese Lektionen zu wiederholen, um die Identität der ganzen
Don-Bosco-Familie*1 zu schützen.
In einer ersten Szene stellte eine Person in einem prächtigen Mantel, der mit
zehn funkelnden Diamanten geschmückt war: Glaube, Hoffnung, Nächstenliebe,
Arbeit, Enthaltsamkeit, Gehorsam, Armut, Keuschheit, Himmelslohn, und Fasten,
die Kongregation dar, so wie sie hätte sein müssen. Plötzlich, nach einer Zeit der
Finsternis, erschien sie wieder mit einem durchlöcherten, befleckten und zerrisse-
nen Mantel bekleidet: die Kongregation, so wie sie geworden ist. Der Glaube
wurde durch den Schlaf und die Faulheit ersetzt; die Hoffnung durch das Lachen
und den Scherz; die Nächstenliebe durch die Suche seiner selbst; die Enthaltsam-
keit durch die Naschhaftigkeit; die Arbeit durch den Schlaf, den Diebstahl und
den Müßiggang; der Gehorsam durch ein breites Loch; die Keuschheit durch die
Begierde und den Hochmut des Lebens; die Armut durch das Bett, das Trinken
und das Geld; der Himmelslohn durch die Güter der Erde und das Fasten durch
ein anderes Loch. Ein kleiner Junge, weißbekleidet, mit Gold und Silbernähten,
sprach die vor Augen geführte Lektion aus: „Diener und Werkzeuge des allmäch-
tigen Gottes, hört und versteht. Fasst Mut und seid stark. Das, was ihr gesehen
habt und was ihr gehört habt, ist eine himmlische Warnung, die nun an euch und
an eure Brüder gerichtet ist. Denkt nach und versteht diese Rede.“ Don Bosco, der
sie mit Zittern wiederholte, machte sie sich sicherlich zu Eigen.10
Don Rinaldi wurde vom Reichtum dieser Beschwörung beeindruckt. „Der
wahre Salesianer wird hier zuerst im ganzen Glanz seiner Tugenden präsentiert,
bildlich dargestellt durch die zehn Diamanten, die alle Anlass geben zu solchen
*1 Anm. d. Ü.: Statt „Salesianische Familie“: „Don-Bosco-Familie“ (vgl. gleichnamigen Art.).
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Betrachtungen, die es ermöglichen, die ganze Spiritualität des salesianischen Le-
bens zu studieren (...) Wie aber das übermäßige Licht mitunter Schwindel verur-
sacht und verhindert zu sehen, so können die Nachlässigkeit in den göttlichen
Dingen, der Müßiggang, die Unmäßigkeit, die Sinnenlust, der Hochmut des Le-
bens und die Anhänglichkeit an die Güter der Erde uns den Blick auf das Vorbild
wegnehmen und uns in einem solchen Maß blenden, das Licht zu verdunkeln und
uns in die tiefsten Finsternisse zu stürzen, (...) Hier sehen wir die Gegenüberstel-
lung des wahren Salesianers und die Gefahr, die wir laufen, jeden Augenblick in
einen solchen, beklagenswerten Zustand zu fallen.“11 In diesem zweiten Fall, sind
die asketischen Übungen vom Schüler Don Boscos vernachlässigt oder völlig ver-
gessen worden. Er isst und trinkt gut, arbeitet wenig, nutzt das Leben aus, verfügt
über ausreichend Geld, um sich wohl zu fühlen, akzeptiert nur die Anweisungen,
die ihm passen, und hält seine Verstöße gegen die Keuschheit für Kavaliersdelik-
te.
Askese des Verzichts
Die Übungen der Askese sind dafür bestimmt, um Ordnung in ein Leben dieser
Art zu bringen. Wir werden sie kurzgefasst in Übungen des Verzichts und der
Annahme klassifizieren.
Bei den hochherzigen Seelen nehmen die Übungen oft die Form der Versa-
gung gewisser Befriedigungen an. Wenn die Befriedigungen sündhaft sind, ver-
steht sich für den Christen die Ablehnung von selbst, um so mehr für den Schüler
Don Boscos. Er enthält sich zum Beispiel der Gelegenheiten, von denen er weiß,
dass sie seine Keuschheit gefährden.
Aber die Befriedigungen können auch rechtmäßig sein. In diesem Fall be-
zeichnen wir die Übungen, die sie entziehen, gewöhnlich als freiwillige Abtötun-
gen. Ist es aber möglich, Abtötungen und salesianisches Leben in Einklang zu
bringen? Die allgemeine Meinung scheint dies zu bezweifeln. Die Abtötung ist
kaum mehr im Geschmack der Zeit. Dennoch ist ein strenges Leben unerlässlich
für das geistliche Leben, lehrte mit Grund Don Rua: „Wenn man sich nicht darum
sorgt, zu sparen, dem Leib in den Menüs zuviel zugesteht, in der Bekleidung, in
den Reisen, in den Bequemlichkeiten, wie soll man dann eifrig sein in den Übun-
gen der Frömmigkeit? Wie soll man dann bereit sein zu den Opfern, die dem sale-
sianischen Leben innewohnen? Jeder echte Fortschritt im geistlichen Leben wird
unmöglich, es ist unmöglich, wahre Söhne Don Boscos zu sein.“12 Er selbst war
ein Vorbild der freiwilligen Abtötung. Die Zeugen seines Kanonisationsprozesses
haben dies in überfließendem Maße wiederholt.
Der Salesianer muss fähig zum Verzicht sein, erinnerte Don Albera. Es gibt
Religiose, die ihren Sinnen nichts versagen. Wenn sie sich vorstellen, zu frieren,
wollen sie sich heizen; wenn sie glauben Hunger zu haben, wollen sie essen; wenn
ihnen eine Vergnügung in den Kopf schießt, geben sie sich dazu her, ohne weiter
nachzudenken, sehr entschlossen dazu, all ihre Launen zu befriedigen. Sie ignorie-
ren beinahe, worin die Abtötung sehr wohl bestehen kann. Und ihr ganzes Leben
verläuft dementsprechend. „Nehmen wir uns mit der größten Sorgfalt in Acht,
nicht in einen so erbärmlichen, unheilvollen Zustand zu fallen“, mahnte er. „Prak-
tizieren wir in der Nachahmung unseres ehrwürdigen Vaters eine beständige Ab-
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tötung der Sinne, der Esslust, aller Leidenschaften; bilden wir uns zu einem Meis-
ter unseres Herzens, indem wir unsere Regungen von Sympathie, Empfindlich-
keit, Wut oder Abneigung mäßigen, so dass wir sie beständig der rechten Absicht
unterstellen und sie beharrlich an der größeren Ehre Gottes und am Wohl des
Nächsten ausrichten.“13
Der zweite Teil des Leitwortes Don Boscos „Gib mir Seelen, alles andere
nimm“, impliziert die Abtötung, bemerkte seinerseits der Generalobere Viganò.
Aber da ist der schwache Punkt unseres geistlichen Aufschwungs, fügte er 1992
hinzu. Nun aber gibt es ohne konkrete Askese kein richtiges Leben im Geist.
„Gewiss muss die Askese mit dem unserem Charisma eigenen Charakter harmo-
nieren, aber es bedarf ihrer immer, täglich und in reichem Maß.“ Und er lud seine
Ordensbrüder dazu ein, den heiligen Ignatius von Loyola zu lesen: „Mehr Abtö-
tung der Eigenliebe als Abtötung des Fleisches; und mehr Abtötung der Leiden-
schaften als Gebete: Dem Menschen, der seine Leidenschaften abtötet, genügt
eine viertel Stunde, um Gott zu begegnen.“14
Die Abtötungen lassen den geistlichen Menschen am Geheimnis der Passion
Christi teilhaben. Eine vollständige österliche Spiritualität schließt die gewollte
Abtötung ein. Ohne das Kreuz bleibt sie hinkend. Auch in der Spiritualität der
Töchter Mariä Hilfe der Christen erhält die freiwillige Abtötung einen Platz erster
Wahl und ist Gegenstand eines besonderen Artikels in ihren neuen Konstitutio-
nen: „In einer innigen Teilnahme am Pascha des Herrn soll (die Tochter Mariä
Hilfe der Christen) im Glauben das Geheimnis des Kreuzes leben, das jede men-
schliche Existenz kennzeichnet und Quelle von Gnade und Freiheit ist. Sie bemü-
he sich, die Gelegenheiten der freiwilligen Abtötung in Liebe anzunehmen, um in
ihrem Fleische zu vollenden, was an den Leiden Christi für seinen mystischen
Leib noch fehlt“.15
Askese der Annahme
Der wahre Salesianer übt also die Askese des Verzichts; ohne Exzess, denn nor-
malerweise hat er nicht die Zeit, sich über sich selbst auszulassen und seine Fort-
schritte in diesem Bereich zu messen. Seine Askese ist vor allem Annahme. Die
Erfüllung der Pflicht, der Gehorsam, und sich dem Leben zu fügen, bedeutete für
Don Bosco eine asketische und läuternde Tugend. Seine Schüler haben seine Lek-
tion verstanden. Man kennt seine eher harte Antwort an Dominikus Savio, der
sich alle Arten schwerer Buße auferlegte: „Die Buße, die der Herr von dir erwar-
tet, ist der Gehorsam. Gehorche und das reicht für dich.“16 Don Bosco empfahl
den Direktoren seiner Werke nur die strenge Einfachheit des Alltäglichen: „Töte
dich ab durch die eifrige Erfüllung deiner Pflicht und das Ertragen der Unannehm-
lichkeiten der anderen“17. Und er schrieb französischen Korrespondenten, von
denen die eine alt war und die andere kränklich: „Was die körperlichen Bußen
angeht, sie sind unangebracht für Sie. Für die betagten Menschen reicht es, die
Leiden des Alters aus Liebe zu Gott zu erdulden; für die kränklichen Personen
genügt es, sanft, aus Liebe zu Gott, ihre Unannehmlichkeiten zu erdulden und den
Hinweisen des Arztes oder der Verwandten im Geiste des Gehorsams zu folgen;
Gott ist ein delikates Essen im Gehorsam angenehmer als ein Fasten gegen den
Gehorsam.“18
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Die alten, von Don Bosco verfassten, salesianischen Konstitutionen verlang-
ten, dass jeder Ordenschrist bereit sei, „bei Gelegenheit Hitze, Kälte, Durst, Hun-
ger, Müdigkeit, Verachtung zu ertragen, immer wenn es der größeren Ehre Gottes,
dem geistlichen Wohl des Nächsten und dem Heil seiner Seele dient.“19 Die Vo-
lontarie Don Boscos haben in ihre Konstitutionen von 1990 einen Artikel einge-
fügt, der von dieser Formulierung inspiriert ist20. Für sie sind die Armut und der
Gehorsam anzunehmende „Askesen“ im Glauben und in der Hingabe an Gott21.
Der Heilige Geist fordert den Salesianer auf, mit Mut die apostolische Askese
zu akzeptieren, erklärte ein zeitgenössischer spiritueller Autor mit klarem Blick.
Die salesianische Askese ist in die Dynamik der Handlung eingeschlossen. Wenn
sie erscheint, so tut sie es mit einem freundlichen Gesicht: Es sind die Rosen des
Traumes der Pergola, unter welchen sich lange Dornen verbargen, die die Füße
der Missionare bluten ließen.22 Ernst genommen weist sie vielfache Aspekte auf,
die in einem harten Verzicht konvergieren. Sie impliziert insbesondere für das
Glied der Don-Bosco-Familie die Weigerung, sich als Eigentümer der Mission zu
wähnen und zu benehmen, und die Annahme, nur ein Diener in den Händen Got-
tes zu sein. Der radikale Verzicht fordert, ganz verfügbar für die große Arbeit am
Reiche Gottes zu bleiben, ohne folglich nach und nach dem Verlangen nach
Wohlbefinden und Bequemlichkeiten nachzugeben, die eine direkte Bedrohung
für die Treue und den Großmut des Apostels darstellen. Er verlangt, die konkrete
und tägliche Ausübung des apostolischen Werkes zu akzeptieren: tatsächliche
Anwesenheit unter den Jugendlichen, Sorgen, Ermüdung jeden Abend, Weige-
rung, seine eigene Zufriedenstellung und seine eigene Ehre zu suchen, Kampf
gegen die „Welt“ und gegen die Opponenten des Reiches Gottes; und auch: weg
von sich selbst als Zentrum, Annahme der kulturellen Andersartigkeit des Jugend-
lichen im Verhältnis zu den Erwachsenen, Konfrontation mit der Krise des Ju-
gendalters, die eventuell den Erzieher dazu verpflichtet, in ihm selbst Unreife auf-
zudecken; und weiter: Annahme der Risiken im Dienst an den Armen, Respekt
und Geduld angesichts der Langsamkeit, mit der die Jugendlichen ihren Weg ge-
hen, andauernde und aufreibende Mühe, um in Kontakt mit einer Wirklichkeit zu
bleiben, die sich entwickelt, couragierte Annahme notwendiger Veränderungen
und die Anstrengung einer ständigen Fortbildung. Das erreicht man nicht an ei-
nem Tag. Es gibt in diesem Programm einer Aszese der Annahme „ein enormes
Bedürfnis nach Bekehrung“. Vor allem, dass die salesianische Askese normaler-
weise in der Freude gelebt wird. Sie müsste nie traurig sein. Nun aber ist es keine
leichte Sache, in der heutigen Welt die Freude zu leben.23
Anmerkungen
1 Dies ist der Fall in der Encyclopédie des Religions (dir. F. Lenoir et Y. T. Masquelier, Paris,
1997), Bd. II, S. 2268.
2 Vgl. z. B. L. B. Geiger, Philosophie et spiritualité, Bd. II (coll. Cogitatio fidei 6), Cerf, 1963,
S. 289-317, („Esquisse d'une théologie de l'ascèse“).
Francis Desramaut, Einhundert Schlüsselworte der salesianischen Spiritualität,
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3 Franz von Sales an die Baronin de Chantal, Viuz-en-Sallaz, 24. Juli 1607; Oeuvres, Bd. XIII,
S. 304. (h.z.n.: DA 5, S. 150f.).
4 Dieser Absatz über Lorenzo Scupoli schöpft aus der Analyse des Geistlichen Kampfes, in:
Bartolomeo Mas, „Scupoli“, Dictionnaire de Spiritualité, Bd. XIV, 1990, Sp. 473-474, der
ich die großen Gliederungen der Abhandlung verdanke.
5 Diese Nuancen zu Scupoli sind inspiriert durch den Artikel von Maurice Bellet: „Si tu veux
être parfait ...“, Christus, 85, 1975, S. 5-15, denen ich einige, dem Salesianerprofessor Xavier
Thévenot zu verdankende Anmerkungen hinzugefügt habe.
6 Vgl. in der Analytischen Tabelle der Oeuvres die Stichworte „Abnégation, Anéantissement,
Dépouillement, Mortification et Renoncement“.
7 Les Vrays Entretiens spirituels, VI; Oeuvres, Bd. VI, S. 92. Man findet diesen Gedanken,
nichts zu verlangen und nichts zurückzuweisen, in einem Artikel der Konstitutionen don
Boscos im Kapitel über den Gehorsam: „3. Niuno diasi sollecitudine di domandare cosa al-
cuna nè di ricusarla. Qualora conoscesse che una cosa gli è nocevole o necessaria, la esponga
rispettosamente al Superiore, che si darà massima cura di provveder a' suoi bisogni.“ (Costi-
tuzioni della Società di S. Francesco di Sales, 1875, Kap. 3, Art. 3; vgl. Ausgabe von 1923,
Art. 46).
8 Brief an die Salesianer, 24. Dezember 1930, Atti 55, S. 923-924.
9 Brief an die Salesianer, April-Juni 1981, Atti 300, S. 33-34.
10 „Servi e strumenti di Dio onnipotente, ascoltate e tenete ben in mente. Fatevi animo e siate
forti. Quanto avete veduto ed udito è avvertimento celeste che ora è fatto a voi e ai vostri fra-
telli: state attenti e comprendete le mie parole.“ Ein Manuskript dieses Traumes, korrigiert
durch Don Bosco, findet sich in ACS 132; Es ist herausgegeben worden in: C. Romero,
I sogni di Don Bosco, Leumann, 1978, S. 59-71.
11 „Il vero salesiano ci è presentato primieramente in tutto lo splendore delle sue virtù, raffigu-
rate nei dieci diamanti, ognuno dei quali porge argomento a tali e tante meditazioni da potere
studiare esaurientamente tutta la spiritualità della vita salesiana (...) Ma come la troppa luce
dà talora le vertigini al capo e impedisce di vedere, cosi' la negligenza delle cose divine, l'o-
ziosità, l'ingordigia della gola, i piaceri del senso, la superbia della vita e l'attaccamento ai
beni della terra possono toglierci di vista il modello e accecarci cosi' da rendere buia la luce
che era in noi e gettarci nelle più grandi tenebre. (...) Ecco il rovescio del vero salesiano e il
pericolo che noi possiamo quandochessia cadere in uno stato cosi' deplorevole!“ (F. Rinaldi,
zitierter Brief an die Salesianer, loc. cit., S. 923-924).
12 „Se non si cura l'economia, e troppo si concede al nostro corpo nel trattamento, nel vestiario,
nei viaggi, nelle comodità, come mai aver fervore nelle pratiche di pietà? Come esser disposti
a quei sacrifizi che sono inerenti alla vita Salesiana? E' impossibile ogni vero progresso nella
perfezione, impossibile d'esser veri figli di Don Bosco.“ (M. Rua, Brief an die Salesianer, 31.
Januar 1897; L. C., S. 154-155).
13 „Guardiamoci dunque con ogni cura, miei cari sacerdoti, dal cadere in uno stato cosi' mise-
rando e fatale: pratichiamo, ad imitazione del nostro Ven. Padre, una continua mortificazione
dei sensi, della gola, di tutte le passioni; rendiamoci padroni del nostro cuore, moderando gli
affetti di simpatia, di sensibilità, di collera, di avversione, in guisa da tenerli sempre soggetti
alla retta ragione, e da indirizzarli costantemente alla maggior gloria di Dio e al bene del
prossimo.“ P. Albera, Lettre aux prêtres salésiens, 19 mars 1921; L.C., p. 430-431 („Lo spiri-
to di mortificazione“).
14 „C'è pero', un aspetto spirituale che presenta tra noi delle deficienze: è quello dell'impegno
ascetico. Non c'è vera vita nello Spirito senza concreta ascesi. Certamente l'ascesi deve essere
in armonia con l'indole propria del nostro carisma, ma essa ci vuole sempre, quotidianamente,
e in abbondanza. E' questo, forse, il punto più debole della nostra ripresa spirituale. Eppure
ogni forma di Vita consacrata è stata in ogni tempo un esercizio di ascesi. Ricordiamo ancora
una volta l'affermazione di S. Ignazio di Loiola: „Più mortificazione di amor proprio che del-
la carne; e più mortificazione delle passioni che preghiera: a un uomo che tiene mortificate le
passioni, deve bastare un quarto d'ora per incontrare Dio.“ (Egidio Viganò, Brief an die Sale-
sianer, 8. September 1992; L.C., S. 1298).
Francis Desramaut, Einhundert Schlüsselworte der salesianischen Spiritualität,
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15 „In intima partecipazione alla Pasqua del Signore, viva con fede il mistero della Croce, che
segna ogni esistenza umana ed è sorgente di grazia e di libertà. Sappia cogliere con amore le
occasioni di mortificazione volontaria, per completare nella sua carne quanto manca ai pati-
menti di Cristo a favore del suo Corpo Mistico.“ (Konstitutionen der Töchter Mariä Hilfe der
Christen, Art. 46) (Anm. d. Ü.: deutsche Zitation: Übersetzung aus dem Französischen).
16 „La penitenza, che il Signore vuole da te, gli dissi, è l'ubbidienza. Ubbidisci, e a te basta.“ (G.
Bosco, Vita del giovanetto Savio Domenico, Kap. 15).
17 „Le tue mortificazioni siano nella diligenza a' tuoi doveri e nel sopportare le molestie altrui.“
(G. Bosco, Ricordi confidenziali; vgl. Amadei, MB X, S. 1041).
18 Französischer Brief von G. Bosco an Mme et Mlle Lallemand, 5. Februar 1884; Epistolario
Ceria, Bd. IV, S. 422.
19 „... ciascuno sia preparato, quando la necessità lo richieda, a soffrire caldo, freddo, sete, fa-
me, fatiche, disprezzi, qualora questo ridondi alla maggior gloria di Dio, ad utilità spirituale
altrui, e alla salvezza dell'anima propria“ (salesianische Konstitutionen, 1875, Kap. XIII, Art.
13).
20 Konstitutionen VDB, Art. 30.
21 Konstitutionen VDB, Art. 28, 36.
22 Vgl. MB III, 32-35.
23 Dieser Absatz schöpft aus einem Abschnitt von Joseph Aubry mit dem Titel: „L'Esprit invite
à accepter avec courage l'ascèse apostolique“, in: Avec Don Bosco vers l'an 2000, Rom,
1990, S. 162-165.
Francis Desramaut, Einhundert Schlüsselworte der salesianischen Spiritualität,
Art.: „Ascèse“ - „Askese“