Leitgedanke 2008

Der Geist des Herrn ruht auf mir;

denn der Herr hat mich gesalbt.

Er hat mich gesandt,

damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe;

damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde

und den Blinden das Augenlicht;

damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze

und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“

(Lk 4,18-19).



Liebe Brüder und Schwestern in der Don-Bosco-Familie!

Am Ende des Jahres 2007, in dem Ihr Euch in der Nachahmung unseres Gottes, „der das Leben liebt“ für das Leben eingesetzt habt, und an der Schwelle des Jahres 2008, das sich vor uns als ein „Gnadenjahr des Herrn“ auftut, wende ich mich mit dem Herzen Don Boscos an Euch.

Ich stelle Euch den neuen Leitgedanken mit dem spirituellen und pastoralen Programm für das Jahr 2008 vor. Wie Ihr an der Überschrift und an den Inhalten, die ich Euch im voraus mitgeteilt habe, ersehen konntet, will ich meine Aufmerksamkeit nicht so sehr auf die Zielgruppen unseres Erziehungswerkes richten, sondern direkt auf Euch alle, liebe Erzieherinnen und Erzieher, die Ihr Euch wie Jesus vom Heiligen Geist geweiht und gesandt fühlt, das Evangelium zu verkünden, aus Abhängigkeiten zu befreien, die rechte Sicht wiederzugeben und ein Gnadenjahr denen anzubieten, an die sich Euer Erziehungswerk wendet (vgl. Lk 4,18-19). Der Leitgedanke des Jahres 2008 ist somit ausdrücklich direkt an die Mitglieder der Erziehungs- und Pastoralgemeinschaften, an die Gemeinschaften der Erzieherinnen und Erzieher, an die Pastoralräte usw. im weiten Bereich der Salesianischen Familie gerichtet. Er möchte ein Aufruf dazu sein, unsere Identität als Erzieherinnen und Erzieher zu stärken, das salesianische Erziehungsangebot deutlich zu machen, die Erziehungsmethode zu vertiefen, das Ziel unserer Aufgabe zu erklären und uns der sozialen Auswirkung des erzieherischen Handelns bewusst zu werden.

Genau zu dieser Sendung sind wir berufen. Der Text des Lukasevangeliums, den ich zur Vorstellung des Leitgedankens gewählt habe, umschreibt unsere Berufung als Erzieherinnen und Erzieher im Stil Don Boscos. Nicht zufällig wurden diese Verse in den Konstitutionen der Salesianer als inspirierende biblische Begründung für „unseren Erziehungs- und Pastoraldienst“ gewählt.

Am Anfang seines öffentlichen Lebens erkennt Jesus im Text des Propheten Jesaja, der in der Synagoge von Nazareth vorgelesen wurde, seine messianische Sendung und bekräftigt vor seinen Mitbürgern: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt“ (Lk 4,21). Dieses „Heute“ aus dem Munde Jesu setzt sich in unserer erzieherischen Sendung fort. Durch die Taufe sind wir geweiht mit der Salbung des Heiligen Geistes und sind gesandt, um den Jugendlichen die Neuartigkeit des Lebens zu verkünden, das Christus uns anbietet. Wir suchen dieses Leben durch eine Erziehung zu fördern und zu entfalten, die die Jugendlichen und die Armen von jeder Form der Unterdrückung und der Ausgrenzung befreit. Solche Situationen der Ausgrenzung hindern sie daran, die Wahrheit zu suchen, sich der Hoffnung zu öffnen, sinnvoll und froh zu leben und die eigene Freiheit aufzubauen.

Der Leitgedanke für das Jahr 2008 steht in gedanklichem Zusammenhang mit den Leitgedanken der letzten zwei Jahre. Das Leben ist das große Geschenk, das Gott uns als „Samen“ anvertraut hat, damit wir gemeinsam mit Ihm daran arbeiten, dass dieser Same wächst und Früchte in Fülle bringt. Der Same muss „in ein gutes Erdreich fallen“, in dem es keimen und Frucht bringen kann. Dieses Erdreich ist die Familie, die Wiege des Lebens und der Liebe, der erste Ort menschlicher Entfaltung. Sie nimmt freudig und dankbar das Geschenk des Lebens an und bietet das natürliche Umfeld, das für sein Wachstum und seine Entwicklung geeignet ist. Aber wie beim Samen ein gutes Erdreich allein nicht genügt, bedarf es der geduldigen und mühevollen Anstrengungen des Landmannes, der den Samen begießt, ihn pflegt und sein Wachstum fördert. Der Landmann, der das Leben in seiner Entfaltung unterstützt, ist der Erzieher. Don Bosco sagte hierzu Folgendes: „Wie es kein undankbares und unfruchtbares Erdreich gibt, das man mit Geduld schließlich nicht doch noch so bearbeiten könnte, dass es Frucht bringt, so ist es beim Menschen: Echtes sittliches Erdreich, mag es noch so unfruchtbar und widerstrebend sein, erzeugt dennoch früher oder später ehrenwerte Gedanken und dann ein tugendhaftes Handeln, wenn ein Direktor (eine Erzieherin, ein Erzieher) mit eifrigen Gebeten die eigenen Anstrengungen dem Wirken der Hand Gottes in dem Bemühen hinzufügt, dieses Erdreich zu pflegen und es fruchtbar und schön zu gestalten“ (MB V, 367).

Ich möchte wiederholen, was ich bei anderer Gelegenheit schon gesagt habe. Der Leitgedanke für dieses Jahr will kein neues Thema vorlegen, als ob die Leitgedanken der vorangegangenen Jahre endgültig abgeschlossen oder beiseite gelegt worden seien. Ich bin davon überzeugt, dass die erzieherisch-pastorale Arbeit nicht episodenhaft verstanden und abgewickelt werden kann wie etwa ein Feuerwerk. Sie ist vielmehr wie die Arbeit des Ackerbaus, die lange Zeiten erfordert sowie zielgerichtete Maßnahmen, sorgsame Pflege und vor allem große Hingabe und Liebe. In diesem Fall handelt es sich um den denkbar besten „Ackerbau“ (italienisch: „agricoltura“): die Kultur, anders gesagt die Kultivierung, die Förderung der Frau und des Mannes. Auf diese Weise steht das für dieses Jahr gewählte Thema in einem engen gedanklichen Zusammenhang mit dem Thema der Familie und dem Thema des Lebens.

Hier nun der Leitgedanke für das Jahr 2008:

Erziehen wir mit dem Herzen Don Boscos!
Begleiten wir die Jugendlichen,

besonders die ärmsten und am meisten benachteiligten,

bei der ganzheitlichen Entfaltung des Lebens.

Fördern wir ihre Rechte.“

Am Anfang des Kommentars zu diesem spirituellen und pastoralen Jahresprogramm, das der Leitgedanke enthält, erinnere ich an den bedeutungsvollen Appell, den P. Duvallet an uns Salesianer gerichtet hat. Er war zwanzig Jahre lang Mitarbeiter von Abbé Pierre im Apostolat der Betreuung gestrauchelter Jugendlicher. P. Duvallet sagte: „Ihr habt Werke, Kollegien und Oratorien für die Jugendlichen; aber ihr habt nur einen Schatz: die Pädagogik Don Boscos. In einer Welt, in der die Jugendlichen verraten, erschöpft, zerrieben und ausgebeutet werden, hat der Herr euch eine Pädagogik anvertraut, in der die Achtung vor dem Jugendlichen, vor seiner Größe, vor seiner Zerbrechlichkeit und vor seiner Würde als Kind Gottes herrscht. Bewahrt sie, erneuert sie, verjüngt sie, bereichert sie durch alle modernen Entdeckungen, passt sie diesen Geschöpfen des zwanzigsten Jahrhunderts und ihrer Dramatik an, die Don Bosco noch nicht kennen konnte. Aber, um Gottes willen, bewahrt sie! Verändert alles, verliert, wenn es der Fall sein sollte, euere Häuser; aber bewahrt diesen Schatz, der das Erbe Don Boscos bildet, indem ihr in Tausenden von Herzen die Art, die Jugendlichen zu lieben und zu retten, einpflanzt, die das Erbe Don Boscos ist.“1

Man dürfte wohl kaum einen beschwörenden Appell finden, der treffender ist als dieser. Im Bewusstsein der Größe unserer Berufung als Erzieherinnen und Erzieher und des Geschenks, das wir in der Pädagogik Don Boscos empfangen haben, die eine echte „Pädagogik des Herzens“ ist, wollen wir uns bemühen, die prophetischen Worte dieses bedeutsamen Zeugnisses Wirklichkeit werden zu lassen.

Konkret möchte der Leitgedanke Folgendes hervorheben:

  • das Thema der salesianischen Pädagogik und des Präventivsystems als Antwort auf das Bedürfnis der Vertiefung und der Ausbildung unserer Erzieherinnen und Erzieher, um den Reichtum dieses kostbaren Erbes nicht zu verlieren;

  • den gültigen Beitrag, den wir durch die Erziehung anbieten können, um den außergewöhnlichen Herausforderungen des Lebens und der Familie gerecht zu werden;

  • die Förderung der Menschenrechte, insbesondere der Rechte der Schwächsten, als wichtigen Weg der positiven Einbindung unseres erzieherischen Einsatzes in allen Kulturen.





1 Mit dem Herzen Don Boscos erziehen

Mit dem Herzen erziehen, bedeutet für die Erzieherin und den Erzieher, „Vernunft, Religion und Liebenswürdigkeit“ zunächst zu pflegen und sodann aus dem Inneren des eigenen Herzens hervorströmen zu lassen. Dabei geht es darum, aus der Liebenswürdigkeit die diamentene Spitze für die praktische Umsetzung dessen zu machen, was Religion und Vernunft vorgeben. Es handelt sich darum, das Präventivsystem zu leben, das eine Form der Liebe ist, und sich liebenswert zu machen (vgl. Konst. SDB 20). Das gelingt nur mit einer erneuerten Präsenz unter den Jugendlichen, die in affektiver und effektiver Nähe, Anteilnahme, Begleitung und Animation, Lebenszeugnis und Berufungsangebot im Stil der salesianischen Assistenz besteht. Dazu bedarf es einer erneuerten Entscheidung, insbesondere zu Gunsten der ärmsten und gefährdetsten Jugendlichen, indem wir ihre Situation sichtbarer oder verborgener Missstände aufzeigen, auf die positiven Möglichkeiten eines jeden Jugendlichen, auch des vom Leben besonders benachteiligten, vertrauen und uns für ihre Erziehung vorbehaltlos einsetzen.

Die Liebe Don Boscos für diese Jugendlichen bestand in konkreten und geeigneten Gesten. Sie interessierte sich für ihr gesamtes Leben, erkannte ihre dringendsten Bedürfnisse und erahnte die verborgensten. Wenn man sagt, dass er sein Herz ganz an die Jugendlichen verschenkte, so bedeutet dies, dass seine ganze Person, seine Intelligenz, sein Herz, sein Wille, seine physische Kraft, sein ganzes Dasein darauf ausgerichtet war, ihnen Gutes zu tun, ihr ganzheitliches Wachstum zu fördern und für sie das ewige Heil zu ersehnen. Ein Mensch des Herzens zu sein, hieß für Don Bosco: sich ganz dem Wohl seiner Jugendlichen zu widmen und ihnen alle seine Kräfte zu schenken – bis zum letzten Atemzug!“2

Um den berühmten Ausspruch Don Boscos „Die Erziehung ist Herzenssache und Gott allein ist ihr Herr“ (MB XVI, 447)3 und dann das Präventivsystem zu verstehen, scheint es mir wichtig zu sein, einen der am meisten anerkannten Experten des heiligen Erziehers zu hören: „Die Pädagogik Don Boscos ist identisch mit seinem ganzen Handeln; und das ganze Handeln ist identisch mit seiner Persönlichkeit; und der ganze Don Bosco ist definitiv zusammengefasst in seinem Herzen.“4 Das ist seine Größe und das ist das Geheimnis seines Erfolgs als Erzieher: Don Bosco hat es verstanden, Autorität und Milde, Liebe zu Gott und Liebe zu den Jugendlichen miteinander in Einklang zu bringen.



    1. Berufung und Weg der Heiligung

Zweifellos ist die einzigartige Heiligkeit Don Boscos die Erklärung für die Fähigkeit der salesianischen Pädagogik, die Zeiten zu überdauern, sich in die mannigfaltigsten Umweltbedingungen zu übersetzen und auf die je neuen Bedürfnisse und Erwartungen der Jugendlichen einzugehen.

Ein glückliches Zusammentreffen von persönlichen Begabungen und bestimmten Umständen hat bewirkt, dass er „Vater, Lehrmeister und Freund der Jugend“ wurde, wie Johannes Paul II. ihn 1988 nannte. Bemerkenswert sind sein angeborenes Talent, mit den Jugendlichen in Kontakt zu kommen und ihr Vertrauen zu gewinnen; die Ausübung des Priesteramtes, die ihm eine tiefe menschliche Herzenskenntnis und die Erfahrung der Wirksamkeit der Gnade in der Entwicklung des Jungen vermittelte; eine geniale praktische Fähigkeit, die erlangten Einsichten in einfachen Formen umzusetzen; das lange Verweilen unter den Jugendlichen, das es ihm erlaubte, die anfänglichen Erkenntnisse zur vollen Entfaltung zu bringen.

An der Wurzel von allem steht eine Berufung. Für Don Bosco war der Dienst an den Jugendlichen die großherzige Antwort auf einen Ruf des Herrn. Die Verbindung von Heiligkeit und Erziehung im Hinblick auf die Pflichten, die Askese und die Ausdrucksformen der Liebe bildet den unverwechselbaren Grundzug seiner Persönlichkeit. Er ist ein heiliger Erzieher und ein erziehender Heiliger.

Aus dieser Verbindung entsteht ein „System“, das heißt eine Gesamtheit von Einrichtungen und praktischen Verwirklichungen, die in einer wissenschaftlichen Abhandlung dargelegt, in einem Film erzählt, in einer Dichtung besungen oder in einem Musical dargestellt werden kann. Es handelt sich um ein Abenteuer, das die Mitarbeiter leidenschaftlich mit einbezogen hat und das die Jugendlichen hat träumen lassen.

Dieses System haben seine Schüler, für die die Erziehung ebenfalls eine Berufung war, übernommen. Sie haben es in eine große Vielfalt von kulturellen Situationen hinein getragen und in verschiedenartige Erziehungsangebote übertragen – immer in Übereinstimmung mit den Lebensbedingungen der Jugendlichen, die Empfänger dieser Angebote waren.

Wenn wir auf die persönliche Geschichte Don Boscos oder auf die Geschichte irgendeines seiner Werke zurückblicken, ergeben sich ganz spontan einige Fragen: Und heute? Inwieweit sind seine Einsichten noch maßgebend? Inwieweit können die praktischen Lösungen, die er verwirklicht hat, dazu beitragen, Schwierigkeiten zu lösen, die für uns so gut wie unüberwindbar scheinen: den Dialog zwischen den Generationen, die Möglichkeit der Wertevermittlung, die Umsetzung einer Vision von der Wirklichkeit etc.?

Ich möchte hier nicht die Unterschiede aufzählen, die zwischen der Zeit Don Boscos und unserer Zeit bestehen. Wir finden sie – und nicht in geringem Maße – auf allen Gebieten vor: in den jugendlichen Lebensbedingungen, in der Familie, in den Sitten und Gebräuchen, in der Art der Erziehungsvorstellungen, im sozialen Leben, ja selbst in der religiösen Praxis. Wenn es schon schwierig ist, eine Erfahrung der Vergangenheit bis an die Grenzen der getreuen geschichtlichen Rekonstruktion zu verstehen, so ist es noch viel schwieriger, sie in einem total andersartigen Umfeld neu zu beleben und in die Praxis umzusetzen.

Dennoch sind wir der Überzeugung, dass das, was mit Don Bosco geschehen ist, ein Moment der Gnade voller Möglichkeiten ist. Wir sind davon überzeugt, dass diese gnadenhafte Erfahrung Einsichten enthält, die Eltern und Erzieher in der Gegenwart interpretieren können; dass es bedeutungsvolle Anregungen für die Entwicklung gibt: Keime sozusagen, die aufblühen möchten.5

1.2 Vorsorgende Liebe

Eine der Botschaften, die es aufzugreifen gilt, bezieht sich zweifellos auf die Vorbeugung (prevenzione), auf ihre Dringlichkeit, ihre Vorteile, ihre Bedeutung und mithin auf die damit verknüpften Verantwortlichkeiten. Heute drängt sie sich mit stets klareren und alarmierenderen Daten auf. Sie aber als Prinzip zu übernehmen und wirksam umzusetzen, ist in der aktuellen Entwicklung unserer Gesellschaft nicht vorgesehen. Leider ist sie nicht die vorherrschende Kultur. Im Gegenteil!

Und dennoch kostet die Vorbeugung weniger und bringt mehr Vorteile als das bloße Eindämmen der Gefahr des Abgleitens Jugendlicher und deren spätere Rückgewinnung. Sie entspricht in der Tat dem Bedürfnis der meisten Jugendlichen, frei zu sein von der Last negativer Erfahrungen, die die physische Gesundheit, die psychologische Reife, die Entfaltung der Leistungsfähigkeiten und das ewige Glück aufs Spiel setzen. Sie entspricht auch ihrem Bedürfnis, die besten Energien freizusetzen, die wichtigsten Abläufe der Erziehung möglichst weitgehend zu nützen und andere bei den ersten eventuellen Fehltritten zurückzuholen. Das war die Schlussfolgerung Don Boscos nach der Erfahrung mit den Jungen im Gefängnis und dem Kontakt mit den jugendlichen Hilfsarbeitern von Turin.

Aus einer sozusagen polizeilichen Aktion zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung verwandelt sich für Don Bosco die Vorbeugung in eine ureigene und fundamentale Qualität der Erziehung. Nach seiner Vorstellung war sie vorbeugend wegen ihres rechtzeitigen Einwirkens, aber auch wegen der Inhalte und Verfahrensweisen. Sie sollte die Entstehung von negativen Situationen und Gewohnheiten materieller und spiritueller Art quasi vorwegnehmen. Sie sollte gleichzeitig die Initiativen, die die noch gesunden Kräfte der Person auf vielversprechende und gültige Projekte hinlenkt, vervielfältigen. Don Bosco war davon überzeugt, dass das Herz der Jugendlichen, eines jeden Jugendlichen, gut ist; dass sogar in den schlechtesten Jugendlichen Samenkörner des Guten stecken und dass es Aufgabe eines einsichtigen Erziehers ist, diese Ansätze zu entdecken und zu entfalten. Er musste also eine allgemein positive Situation im Hinblick auf das Familienklima, die Freunde, die Angebote und die Kenntnisse schaffen, die das Selbstbewusstsein anregte, die Kenntnis von der realen Welt erweiterte und ihnen das Empfinden für das Leben und die Freude am Guten vermittelte.

Man braucht nur an die Geschichte Michael Magones, des „Generals der Freizeit“ am Bahnhof von Carmagnola, denken. Ihm bietet Don Bosco zunächst seine Freundschaft an, dann ein erzieherisches Klima in der kleinen Welt des Oratoriums von Valdocco und schließlich seine kompetente Führung („Lieber Magone, ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust, ... dass du mich für einen Augenblick Herr deines Herzens sein lässt“). Don Bosco verfolgt dabei das Ziel, dass Michael in Gott den Sinn des Lebens und die Quelle des wahren Glücks finde („O, wie sehr bin ich glücklich!“), so dass dieser sogar zum Leitbild für die Jugendlichen von gestern und heute werden sollte.

Eines der Probleme unserer Gesellschaft heute ist die Unzulänglichkeit des erzieherischen Dienstes. Er kommt nicht bei allen an, verliert viele unterwegs und erreicht die Einzelnen in ihren je eigenen Lebensräumen nicht. Darunter leiden diejenigen, deren Ausgangslage die Benachteiligung ist oder die nicht Schritt halten können. Um dieses Phänomen durch vielfältige Maßnahmen der Vorbeugung in den Griff zu bekommen und die Erziehung angemessen gestalten zu können, bedarf es der einmütigen und synergetischen Verantwortung seitens der Familien, der politischen Organismen, der sozialen Kräfte, der mit der Erziehung betrauten zuständigen Stellen, der kirchlichen Gemeinschaften und der individuellen Kräfte.

Die Erziehung, besonders die der benachteiligten Jugendlichen, ist nicht so sehr ein Problem der professionellen Beschäftigung und Qualifikation als vielmehr und hauptsächlich eine Frage der Berufung. Don Bosco war ein Charismatiker und ein Pionier. Er überschritt die üblichen Grenzen der Gesetzgebungen und der Praktiken. Er schuf all das, was mit seinem Namen verbunden ist, unter dem Antrieb eines ausgeprägten sozialen Empfindens, aber kraft einer selbständigen Initiative, die Frucht seiner Berufung war. Vielleicht ist die Anforderung heute keine andere: die verfügbaren Energien gedeihen zu lassen, die erzieherischen Berufungen zu fördern und entsprechende Projekte des Engagements zu unterstützen.

Die vorbeugende Wirksamkeit der Erziehung beruht auf ihrer Qualität. Die Gesamtheit der Gesellschaft, die Vielfalt der Sichtweisen und Botschaften, die angeboten werden, und die Trennung der verschiedenen Bereiche, in denen sich das Leben abspielt, haben Risiken auch für die Erziehung mit sich gebracht. Eines davon ist eine Bruchstückhaftigkeit der Inhalte, die dargeboten werden, und der Formen, unter denen man sie aufnimmt. Wir leben von Pillen, auch von mentalen. Der Slogan ist das Leitbild der Botschaften.

Ein weiteres Risiko ist die Auswahl der Angebote nach den je eigenen individuellen Vorlieben: Es geht hier um Subjektivismus. Das beliebig Wählbare (engl. optional) ist vom Markt ins Leben zurückgekehrt. Wir alle kennen die schwierigen Gegensätze, die es miteinander zu versöhnen gilt: individueller Profit und Solidarität, Liebe und Sexualität, weltliche Sichtweise und Sinn für Gott, Übermaß an Informationen und Schwierigkeiten der Bewertung, Freiheit und Gewissen.

Es war das Kriterium Don Boscos, all das zu entfalten, was der Jugendliche als positive Antriebskraft oder Sehnsucht in sich trägt, indem man ihn auch mit einem kulturellen Erbe in Kontakt bringt, das aus Visionen, Gebräuchen und Glauben besteht; ihm die Möglichkeit einer tiefen Glaubenserfahrung bietet; ihn in eine soziale Wirklichkeit einführt, als deren aktiven Teil er sich durch die Arbeit, die Mitverantwortung für das Allgemeinwohl und das Engagement für ein friedliches Zusammenleben fühlt. Don Bosco hat das in schlichten Formeln ausgedrückt, die die Jugendlichen verstehen und aufnehmen konnten: „gute Christen und ehrbare Bürger“, „Gesundheit, Weisheit, Heiligkeit“, „Vernunft und Glaube“.

Die persönlichen Vorteile, die er durch die Erziehung vermittelte, waren letztlich in solider und kritischer Weise auf ihre soziale Bewertung ausgerichtet. Das Leben in ehrenwertem Wohlstand in dieser Welt war an die spirituelle, transzendente und christliche Dimension gebunden. Die Unterweisung und berufliche Vorbereitung waren mit einer christlichen Sicht der Wirklichkeit, mit der Gewissensbildung und mit der Öffnung auf menschliche Beziehungen hin vereinigt.

Um nicht in utopische Höchstforderungen zu verfallen, begann Don Bosco dort, wo es möglich war, entsprechend den Lebensbedingungen des Jugendlichen und der Situation des Erziehers. In seinem Oratorium spielte man, war man aufgenommen, schuf man Beziehungen, bekam man religiöse Unterweisung, lernte man Lesen und Schreiben, wurde man in die Arbeitswelt eingeführt, gab man sich gesellschaftliche Verhaltensnormen, dachte man über das Recht zur handwerklichen Arbeit nach und versuchte, sie zu verbessern.

Heute kann es einen Unterricht geben, der die Probleme des Lebens nicht in den Blick nimmt. Das ist eine häufig wiederkehrende Klage der Jugendlichen. Es kann eine berufliche Ausbildung geben, die sich nicht um die ethische oder kulturelle Dimension kümmert. Es kann eine menschliche Erziehung geben, die sich mit dem unmittelbar Vorfindbaren begnügt und keine Fragen nach der Existenz stellt.

Wenn das Leben und die Gesellschaft zu einem Gesamtkomplex geworden sind, ist die Einzelperson auf eine einzige Dimension ohne Plan und ohne Kompass verwiesen und dazu bestimmt, entweder in die Irre zu gehen oder abhängig zu werden. Die Bildung des Geistes, des Gewissens und des Herzens ist nötiger denn je.

Ein Schwachpunkt der Erziehung von heute ist die Kommunikation: zwischen den Generationen wegen der rapiden Veränderungen, zwischen den Personen wegen des Nachlassens der Beziehungen, zwischen den Institutionen und ihren Zielgruppen wegen des unterschiedlichen Verständnisses der jeweiligen Zielsetzungen. Die Kommunikation, so wird gesagt, ist konfus, gestört, der Mehrdeutigkeit ausgesetzt - wegen des übertriebenen Lärms und Aufsehens, wegen der Vielfalt der Botschaften, wegen des Mangels an Übereinstimmung zwischen Sender und Empfänger. Daraus ergeben sich Missverständnisse, Schweigen, begrenztes und wählerisches Hören in Form von Hin- und Herwechseln („Zappen“), Nichtangriffspakte zur Gewährleistung einer größeren Ruhe. So ist es schwierig, zu Haltungen zu raten, Verhaltensweisen zu empfehlen und Werte zu vermitteln.



    1. Sprache des Herzens

Auch die Sprache des Herzens hat sich seit den Zeiten Don Boscos nicht wenig verändert. Von ihm stammen Hinweise, die in ihrer Schlichtheit bezwingend sind, wenn man die Art und Weise herausfindet, sie in Handlungen umzusetzen. Einer dieser Hinweise lautet: „Liebt die Jugendlichen.“ „Man wird mehr erreichen“, so liest man in dem sogenannten „Brief über die Strafen“, „mit einem Blick der Liebe und einem Wort der Ermutigung als mit vielen Worten des Tadels“ (MB XVI, 445).6

Die Jugendlichen zu lieben, will sagen: sie so anzunehmen, wie sie sind; Zeit mit ihnen zu verbringen; die Freude und den Willen zu zeigen, ihren Geschmack und ihre Themen mit ihnen zu teilen; Vertrauen in ihre Fähigkeit zu beweisen und auch das zu ertragen, was vorübergehend und gelegentlich ist; stillschweigend das zu verzeihen, was ungewollt oder Frucht von Spontaneität oder Unreife ist. Das war der Gedanke Don Boscos: „Alle Jungen haben ihre gefährlichen Tage, und auch ihr habt sie. Wehe, wenn wir uns nicht bemühen, ihnen zu helfen, sie rasch und ohne Tadel zu überstehen“ (MB XVI, 445).7

Es gibt ein Wort, das heute kaum noch verwendet wird und das die Salesianer eifersüchtig bewahren, weil es all das zusammenfasst, was sich Don Bosco im Hinblick auf die erzieherische Beziehung zu eigen machte und empfahl: die Liebenswürdigkeit (amorevolezza). Ihre Quelle ist die Liebe, wie sie das Evangelium vorstellt. Der Erzieher erkennt den Entwurf Gottes im Leben eines jeden Jugendlichen und hilft ihm, diesen Entwurf kennen zu lernen und ihn mit derselben befreienden und großherzigen Liebe zu verwirklichen, mit der Gott ihn vorgezeichnet hat. Liebenswürdigkeit ist die Liebe, die wahrgenommen und zum Ausdruck gebracht wird.

Die Liebenswürdigkeit erzeugt ein Gefühl, das nach dem Auffassungsvermögen des Jugendlichen, besonders des armen, ausgedrückt wird. Sie ist die vertrauensvolle Annäherung, der erste Schritt und das erste Wort; die Wertschätzung, die in verständlichen Gesten erwiesen wird; in Gesten, die das Vertrauen fördern, innere Sicherheit vermitteln sowie den Willen eingeben und unterstützen, sich zu engagieren, und die Kraft schenken, eventuelle Schwierigkeiten zu überwinden.

Auf diese Weise reift – freilich nicht ohne Schwierigkeiten – eine Beziehung, auf die man das Augenmerk richten muss, wenn man eine Übersetzung der Einsichten Don Boscos in unserem Zusammenhang bieten will. Sie ist eine Beziehung, die von Freundschaft geprägt ist und bis hin zur Väterlichkeit gedeiht.

Die Freundschaft wächst mit den Gesten der Familiarität und nährt sich von ihnen. Sie bringt ihrerseits das Vertrauen hervor. Und das Vertrauen ist in der Erziehung alles. Denn nur in dem Augenblick, in dem der Jugendliche uns die Türen seines Herzens öffnet und uns seine Geheimnisse anvertraut, kann man mit ihm in Beziehung treten. Die Freundschaft hat für uns eine sehr konkrete Ausdrucksform: die Assistenz.

Man kann die Tragweite der salesianischen Assistenz nicht von der Bedeutung her verstehen, die das Wörterbuch oder die aktuelle Umgangssprache dem Wort gibt. Sie ist ein Begriff, der im Innersten einer Erfahrung geprägt wurde und mit ganz originellen Bedeutungen und Anwendungen angefüllt ist. Sie bringt den Wunsch mit sich, bei und mit den Jugendlichen zu sein: „Hier bei euch fühle ich mich wohl.“ Sie ist physische Präsenz dort, wo die Jugendlichen sich aufhalten und Erfahrungen austauschen oder Pläne machen. Gleichzeitig ist sie moralische Kraft, weil sie imstande ist, Verständnis zu äußern, aufzuwecken und Mut zu machen. Sie ist auch Orientierung und Rat je nach den Bedürfnissen der Einzelnen.

Die Assistenz erreicht die Ebene der erzieherischen Väterlichkeit, die mehr ist als Freundschaft. Sie ist eine gefühlsmäßige und maßgebliche Verantwortung, die Leitung und lebenswichtige Belehrung bietet sowie Disziplin und Engagement fordert. Die erzieherische Väterlichkeit ist Liebe und Autorität.

Sie zeigt sich besonders in der Fähigkeit, in persönlicher Weise „zum Herzen zu sprechen“, weil man so das erreicht, was die Gedanken des Jugendlichen beschäftigt, die Bedeutung der Ereignisse ihres Lebens enthüllt, ihnen den Wert der Verhaltensweisen und Empfindungen erschließt und somit an ihr innerstes Gewissen rührt.

Man soll nicht viel, aber in direkter Weise, nicht in erregter, sondern in klarer Form reden. In der Pädagogik Don Boscos gibt es zwei Beispiele dieser Art zu reden: „die Gute-Nacht-Ansprache“, jenes Wort an alle, das am Ende des Tages den Sinn dessen erschloss, was man erlebt hatte; und „das Wort ins Ohr“, jenes persönliche Wort, das in den informellen Augenblicken der Freizeit fiel. Das sind zwei Augenblicke, die reich sind an emotionaler Beteiligung. Sie beziehen sich immer auf konkrete und unmittelbare Ereignisse und bieten täglich die rechten Einsichten, um mit ihnen umgehen zu können. Kurzum: Sie geben Lebenshilfen und lehren die Kunst zu leben.

Freundschaft, Assistenz und Väterlichkeit schaffen das Familienklima, in dem die Werte verständlich und die Forderungen annehmbar werden. So zieht man die Grenze zwischen einem absoluten Autoritätsanspruch, der Gefahr läuft, keinen Einfluss zu gewinnen und nur formelle Ergebnisse zu erzielen, und dem Fehlen von Angeboten; zwischen Aufdringlichkeit, die keinen Raum dafür lässt, sich frei auszudrücken, und einem erzieherischen Abtauchen, das sich der Pflicht entzieht, Werte zu vermitteln; zwischen Kameradschaft und der Verantwortung des Erwachsenen.

Die Ausdrucksformen der Väterlichkeit Don Boscos bewegten sich in einem deutlich markierten Rahmen einer beispielhaften Art von patriarchalischer Familie. Ihre Rollenverteilungen dienten als Bezugspunkt für alle Arten von Autorität: der zivilen, der unternehmerischen und der erzieherischen. Alles war damals „familiär“: die Erziehung, das Unternehmen, die Wirtschaft. Es war ein unbestrittener Grundsatz, dass der Erzieher ein „väterliche Erscheinungsbild“ darstellen musste.

Auch für uns hat die Väterlichkeit immer noch eine unverzichtbare Bedeutung: Sie ist eine Liebe, die Leben schenkt und sich für dessen Entfaltung verantwortlich fühlt. Sie will das Wohl des Herzens, meldet sich im rechten Augenblick zu Wort, verfolgt den Reifungsprozess, ermöglicht Selbständigkeit und freut sich über die Rückkehr.

Vorbeugung, Angebot und Beziehung verbinden sich im Umfeld der Jugendlichen. Die Jugendlichen müssen ihre Lebenslust ausdrücken können und all das, was sie in sich fühlen, erwarten und erarbeiten. Die Jugendlichen müssen sich in der Verantwortung, in der Verwirklichung der Werte, die sie formulieren, in der Solidarität und in der Selbstbestimmung erproben können.

Für einen salesianischen Erzieher ist der „erzieherische Ort“, wo man den Jugendlichen kennen lernen kann, nicht in erster Linie der psychologische Test, sondern der Spielhof; dort, wo sich der Jugendliche spontan äußern kann. Die erzieherische Begegnung ist nicht in erster Linie die formelle, sondern die spontane Begegnung. Der Wachstumsweg des Jugendlichen besteht natürlich in der Anerkennung der Normen und in der Folgsamkeit gegenüber dem Erzieher. Sehr viel mehr aber findet er sich in der Fähigkeit, mit Freude am Leben und an den Initiativen teilzunehmen, die sich in der Gruppe, im Miteinander und in der Gemeinschaft der Jugendlichen abspielen. In diesen Bereichen haben die Erzieher die nicht leichte Aufgabe, zu motivieren, anzuspornen, zu ermutigen, Räume zu eröffnen und die Kreativität zu fördern.

Die Werke, die sich auch heute noch an Don Bosco orientieren, weisen die Kennzeichen auf, die er seinen Tätigkeitsbereichen mitgegeben hat. Sie bemühen sich, den Bedürfnissen der Jugendlichen mit einem konkreten und möglichst ganzheitlichen Programm entgegenzukommen: Unterricht, Unterkunft, Erziehung zur Arbeit, Freizeit. Sie beziehen auch die Erwachsenen mit ein; vor allem dann, wenn sie dem einfachen Volk entstammen oder daran interessiert sind, den Jugendlichen zu helfen. Diese Werke stehen „offen“ und sind nicht exklusiv. Sie arbeiten in Netzwerken, in Verbindung mit den Institutionen, dem Umfeld, dem Volk und den Behörden.

Heute empfindet man die Notwendigkeit von „Räumen“ für die Jugendlichen: kleine, mittlere und große Räume. Dafür steht das Beispiel der Diskotheken und der Gruppen. Im Hintergrund lauert das Übel der Einsamkeit, die der Ursprung vieler Fehltritte ist. Die erzieherische Analyse traf ins Schwarze, als sie eine grobe Unterscheidung gemacht hat zwischen institutionellen und organisierten Orten für bestimmte Ziele und lebensfrohen, offenen Orten für spontane Ausdruckformen, für die Suche nach Sinn, für Projekte und für Kreativität; zwischen Orten der Pflichterfüllung und Orten für die eigene Entscheidung; zwischen aufgegebenen Orten und Orten des Lebens. Der Raum, der Don Bosco vorschwebte, ist eine Synthese von beiden. Auf diese Weise entgeht man im Alltagsfluss den gegensätzlichen Zweiteilungen, zwischen denen die Erziehung sich windet und verfangen kann.



2 Die ganzheitliche Entfaltung der Jugendlichen pflegen

Angesichts der Situation der Jugendlichen trifft Don Bosco die Wahl der Erziehungsart. Es handelt sich um eine Art von Erziehung, die dem Bösen durch das Vertrauen in das Gute vorbeugt, das im Herzen eines jeden Jugendlichen existiert; eine Erziehung, die Fähigkeiten der Jugendlichen mit Ausdauer und Geduld entfaltet und die persönliche Identität eines jeden aufbaut. Sie formt solidarische Menschen, aktive und verantwortliche Bürger; Menschen, die offen sind für die Werte des Lebens und des Glaubens; Männer und Frauen, die fähig sind, mit einem Gespür für Sinn, Freude, Verantwortung und Zuständigkeit zu leben. Es geht um eine Erziehung, die zu einer echten spirituellen Erfahrung wird; die „aus der Liebe Gottes“ schöpft, „die jedem Menschen mit seiner Vorsehung zuvorkommt, ihn mit seiner Gegenwart begleitet und rettet, indem er ihm sein Leben verleiht“ (Konstitutionen der SDB, 20). Um diese Wahl Don Boscos ins Heute umzusetzen, bedarf es einiger grundsätzlicher Optionen.



2.1 Allgemeines Vertrauen in die Erziehung

Unsere Zeitepoche beweist, dass sie großes Vertrauen in die Erziehung hat. Deshalb setzt sie sich dafür ein, dass alle in den Genuss der Erziehung kommen. Sie versucht, die Erziehung ständig an die Herausforderungen anzupassen, die sich im Bereich der Arbeit, der Erkenntnisse und der sozialen Organisation ergeben. Sie vertraut die Erziehung zunehmend spezialisierten Einrichtungen an. Sie richtet sie auf die kulturelle Kommunikation, die wissenschaftliche Information und die berufliche Vorbereitung aus. Die Verantwortung für die Erziehung wird immer mehr aufgeteilt zwischen der Familie, den Institutionen und dem Staat.

So wurde die Erziehung zu einem sozialen Phänomen, zum anerkannten Recht und zum Bestreben eines jeden Menschen. Die Fragen, die die Erziehung betreffen, sind zu Problemen

aller geworden. Sie beschäftigen die Führungs- und Unternehmerschichten, den einfachen Bürger und die öffentliche Meinung. Im Grunde handelt es sich um die Anerkennung des einzigartigen Werts und der zentralen Stellung der menschlichen Person in der Entwicklung der Kulturen, des sozialen Lebens und sogar der Produktionsprozesse.

Von Seiten der Kirche ist das Bemühen nicht geringer. Sie hat es nicht daran fehlen lassen, Leitlinien auch auf diesem Gebiet beizusteuern. Ihr aktiver Anteil an der Erziehung dürfte in vielen Umfeldern - sei es in Bezug auf die Ausdehnung wie auch auf die Qualität - bestimmend sein. Die enge Beziehung, die zwischen Evangelisierung und Erziehung besteht, veranlasst die Kirche dazu, die Erziehung nicht als ein freigestelltes Engagement zu betrachten, sondern als das Herz ihrer Sendung. Die Kirche weiß sich als Erzieherin des Menschen und will es sein.

Der beachtlichste Ausdruck dieses Engagements sind die heiligen Erzieher, die aus der Erziehungsaufgabe den Ausdruck der Vorzugsentscheidung für Gott, die tägliche Ausübung der Liebe zum Mitmenschen und den Weg der eigenen Heiligkeit gemacht haben. Und hinter ihnen stehen die Einrichtungen und kirchlichen Bewegungen, für die die Erziehung ihre Sendung und ihren Stil darstellt.

Don Bosco und die Salesianische Familie haben ihren Platz unter diesen kirchlichen Bewegungen, die von einem heiligen Erzieher inspiriert sind. Sie wollen auf die tiefen Sehnsüchte der Menschen, besonders der ärmsten, Antwort geben, sich in die aktuelle geschichtliche Situation einfügen und die Einladung zu einer neuen Evangelisierung annehmen.



2.2 Wieder neu von den Allerletzten ausgehen

Trotz dieses allgemeinen Vertrauens in die Erziehung haben wir den dennoch den Eindruck, dass diesbezüglich eine Distanz besteht zwischen Erwartungen und Möglichkeiten, zwischen Versprechungen und Erfüllungen, zwischen Absichten und Verwirklichungen, zwischen anerkanntem Recht und garantiertem Recht. Das merkt man in einigen Bereichen ganz besonders:

Der erste Hilferuf kommt von dort, wo die minimalsten Dienste und die unverzichtbaren Gegebenheiten für die Erziehung fehlen. Am Anfang Dritten Jahrtausends ist es so, dass die erzieherische Wüste – wie auch die geographische – sich nicht verringert, sondern sich weiter ausdehnt.

Die Möglichkeiten der Erziehung werden in weiten Gebieten der Welt dramatisch weniger – dies sowohl absolut gesehen wie auch gemessen an der Zunahme der Bevölkerungszahl. Die internen Konflikte, der Einbruch der Dienste, die zerrütteten und gefräßigen Verwaltungen sowie der soziale und politische Abstieg verursachen eine fortschreitende Unterentwicklung, deren erstes Opfer die Jugend ist.

Die Möglichkeiten der Erziehung nehmen aber auch in fortschrittlichen Gesellschaften ab. Der Mangel zeigt sich in schulischer Aufsplitterung, im Fehlen familiärer Unterstützung, in vielfältigen Formen des Fehlverhaltens, in Jugendarbeitslosigkeit und in frühen Handlangertätigkeiten, die oft mit Kriminalität verknüpft sind.

Aus diesen Tatsachen ergibt sich ein unüberhörbarer Aufruf. Man muss die fundamentalen Güter der Erziehung teilen. Man muss Aufmerksamkeit, Zeit und Mittel zu Gunsten derer neu verteilen, die in jeder einzelnen Gesellschaft und im weltweiten Rahmen Mangel leiden.

Eine (apostolische) Familie wie die unsere, die die Armen zu ihrem Erbe gemacht und eine umfassende Anstrengung für einen armen Kontinent wie Afrika unternommen hat, kann dieses Phänomen nicht übergehen; allein schon, um einige Gesten von prophetischer Aussagekraft zu vollziehen.



2.3 Eine neue Erziehung

Die moderne Begeisterung für die Erziehung ist zwar – insgesamt gesehen – eine positive Tatsache. Aber sie ist nicht ohne Zweideutigkeit hinsichtlich der zugrunde liegenden Ansätze und der praktischen Leitlinien.

Wie gesagt: Erziehen heißt, einem jeden zu helfen, durch die Reifung des Gewissens, die Entfaltung der Intelligenz und das Erkennen der eigenen Bestimmung im Vollsinn Person zu werden. Um diesen Kernpunkt herum sammeln sich die Probleme und begegnen sich die verschiedenen pädagogischen Konzepte.

Man spürt heute einen mangelnden Ausgleich zwischen Freiheit und ethischem Empfinden, Macht und Gewissen, technischem und sozialem Fortschritt. Dieses mangelnde Gleichgewicht wird oft durch andere Ausdrucksformen angezeigt: das Wettrennen um das Haben und die Vernachlässigung des Seins, der Wunsch nach Besitz und die Unfähigkeit zum Teilen, das Konsumieren ohne Wertschätzung.

Es handelt sich um reichhaltige Polaritäten von Energien, wenn es der Person gelingt, sie miteinander in Einklang zu bringen. Sie wirken aber zerstörerisch, wenn man die Hierarchie (Rangordnung) der Werte verkehrt und vor allem wenn jene hauptsächliche Ordnung verneint wird oder verflacht. Strukturelle Faktoren, kulturelle Strömungen und soziale Lebensformen können in starkem Maße in eine Richtung drängen. Die Erziehung wird immer eine positive Haltung der Unterscheidung, des Angebots und der Prophetie nötig haben. Ich benenne einige dieser Polaritäten, auf die wir achten müssen, um unser erzieherisches Angebot erneuern zu können.



2.3.1 Komplexität und Freiheit

Viele haben den Eindruck, dass wir in einer äußerst verworrenen Welt im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen gut und böse leben. Die Soziologen sprechen von „Komplexität“, d.h. einer sozialen und kulturellen Situation, in der es viele Botschaften und viele Sprachformen für deren Vermittlung gibt; viele Auffassungen vom Leben, die ihnen zugrunde liegen, und verschiedene und selbständige Agenturen, die sich für die Verbreitung der Botschaften stark machen, sowie unzählige und unvereinbare Interessen, die sie dabei antreiben. Und es gibt keine Autorität, die fähig wäre und die Macht hätte, eine gemeinsame Vision von der Welt und vom menschlichen Leben, ein System von sittlichen Normen, eine einheitliche Auffassung vom Dasein, eine „Liste“ gemeinsamer Werte vorzulegen und durchzusetzen.

Unter diesen Voraussetzungen werden die erzieherischen Prozesse schwierig. Die Erwachsenen fühlen sich nicht im Besitz eines sicheren kulturellen Erbes. Darüber hinaus reicht die Zeit nicht, es weiterzugeben; und die ungebetenen Einmischungen sind zahllos. Deshalb scheint das, was sie noch vermitteln können, einem raschen Verschleiß ausgesetzt zu sein. Das Paket erzieherischer Angebote wirkt nicht immer anziehend und wird in seiner Gesamtheit nicht verstanden. Die Angebotsfähigkeit wankt.

Die auffälligste Folge für alle, besonders aber für die jungen Generationen, ist die Sorge, sich in der Vielfalt der Anstöße, Probleme, Visionen und Angebote zurechtzufinden. Die verschiedenartigen Dimensionen des Lebens erweisen sich als verworren; und es ist nicht leicht, deren Wert zu erfassen.

Die Schwäche der kulturellen Kommunikation von Seiten der Familie, der Schule, der Gesellschaft und der religiösen Institution erschwert die Planung des eigenen Lebens. Das zeigt sich im Aufgeben angesichts der Konflikte und Frustrationen; in der Mühe, Entscheidungen auf lange Sicht zu treffen und aufrecht zu erhalten; im Aufschieben von Lebensentscheidungen; in der Unfähigkeit, sich in Identifikationsmodellen, die die Gesellschaft bereithält, wiederzuerkennen.

Das erzieherische Problem der Identität ist nicht neu. Zu allen Zeiten mussten die Jugendlichen sich damit auseinandersetzen, um sich des eigenen Daseins bewusst zu werden und sich in positiver Weise in das soziale System einzubringen.

Neu ist die Situation, in der sich das Problem heute stellt. Es werden verschiedene Faktoren miteinander verknüpft, die zugleich Vorteile und Schwierigkeiten darstellen. Einerseits werden weitreichendere und größere Freiheiten angeboten. Es sieht so aus, als würde man dem Jugendlichen sagen: „Wähle du und mache, was dir behagt!“ Das ist ein Versprechen von Selbständigkeit und eine Garantie für Selbstverwirklichung – allerdings in Einsamkeit. Es gibt heute keinen Mangel an Freiheit, aber sehr wohl an Bewusstsein und Verantwortung, an Unterstützung und Begleitung.

Deshalb stößt die Person sehr rasch auf ihre eigenen Grenzen und auf die Barrieren, die die nachindustrielle Gesellschaft errichtet: Konkurrenz und Auswahl in allen Bereichen, fehlende Arbeitsplätze, die Verlängerung von Abhängigkeit, Einschränkung der Räume für öffentliche Partizipation (Teilnahme), Fehlen von erreichbaren Alternativen.

All das schafft ein Gefühl der Unsicherheit, das die Jugendlichen verwundbar macht gegenüber der Manipulation, die in unserer Gesellschaft über verschiedene Kanäle wirksam ist. Die Überzeugungsprozesse, die auf den Erwerb von Produkten ausgerichtet sind, bestimmen nicht wenige ihrer Vorlieben für Produkte und Leitbilder: der Typ des Mannes und der Frau, das Bild von Schönheit und Glück, die Werteskala, die Verhaltensformen und die soziale Stellung.



2.3.2 Subjektivität und Wahrheit

Die Betonung der Subjektivität ist einer der Schlüssel zur Interpretation der aktuellen Kultur. Sie ist an die Anerkennung der Einzigartigkeit einer jeden Person und des Wertes ihrer Erfahrung und Innerlichkeit gebunden. Beansprucht wird sie von jenen Gruppen, die sich sehr lange als „Objekte“ von Gesetzen, einer auferlegten Identität oder von sozialen Übereinkünften gefühlt haben, durch die sie daran gehindert wurden, ihre eigenen Ausdrucksformen zu finden. Wenn aber der Mensch ohne Bezug zur Wahrheit, zur Gesellschaft und zur Geschichte seiner eigenen Dynamik überlassen ist, kann sich die Subjektivität nicht verwirklichen.

Die Privatisierung und subjektive Ausarbeitung tritt vermehrt in der Ethik und in der Gewissensbildung in Erscheinung. Das nächstliegende, aber nicht einzige Beispiel ist die Sexualität. In diesem Bereich sind die sozialen und manchmal auch die familiären Kontrollen verschwunden. Es gibt eine öffentliche Toleranz und ein Recht auf verschiedene Entscheidungen. Presse, Literatur und öffentliche Aufführungen verherrlichen die Überschreitungen und stellen die Abwegigkeiten als Folge unterschiedlicher Gegebenheiten dar. Jede ethische Dimension, auch wenn sie nur menschlicher Art ist, wird vernachlässigt oder gar ignoriert, sogar in weit verbreiteten öffentlichen Programmen. Man ist nur darauf bedacht, die Sexualität in befriedigender Weise zu leben und sich gegen Risiken für die physische und psychische Gesundheit abzusichern. Man distanziert sich von den Elementen, die der Sexualität Sinn und Würde geben.

Das Fehlen von Bezügen zur Wahrheit findet man auch in den Regeln, die die wirtschaftliche und soziale Aktivität leiten. Oft inspirieren sie sich an Kriterien aus dem eigenen Umfeld und am Konsens zwischen den stärksten Parteien. Sie entsprechen nicht immer dem Allgemeinwohl oder den Zielen der Wirtschaft oder der Gesellschaft.

Die Qualität der Erziehung spielt sich im Ausgleichen des Mangels an Ausgewogenheit zwischen Wahlmöglichkeiten und Gewissenbildung, zwischen Wahrheit und Person ab. Man muss dazu anleiten, die geschichtliche Tragweite der eigenen Optionen zu begreifen, die ungezügelte Subjektivität ins Gleichgewicht zu bringen und die objektive Beschaffenheit der Realität und der Werte zu erfassen.



2.3.3 Eigener Profit und Solidarität

Die Vielschichtigkeit und die Überbetonung der Subjektivität haben Einfluss auf eine gerechte Verknüpfung des Strebens nach dem eigenen Profit und der solidarischen Öffnung gegenüber den anderen.

Es gab eine Zeit, in der man es für möglich hielt, eine freie und gerechte Gesellschaft zu organisieren, die durch Gesetze und Strukturen die Bedingungen für das Wohlergehen aller herstellen könnte. Viele Jugendliche setzten sich leidenschaftlich für die Umwandlung der Gesellschaft und die Befreiung der Völker ein. Die Vorbereitung des politischen Engagements war Teil der menschlichen Bildung und der Glaubenspraxis. Sie galt als ein Zeichen reifer Verantwortung und des großherzigen Idealismus.

Dann kam der Winter der Utopien, der Niedergang der Ideologien und mit ihnen der Kollektiventwürfe, das moralische Problem und die Gegensätzlichkeiten zwischen den Institutionen. Die politische Auseinandersetzung wurde gewalttätig. Die Politik wurde zum Schauspiel und war nicht immer vorbildhaft. Und so folgten der Zusammenbruch der Wertschätzung der Politik und Politikverdrossenheit, deutlich angezeigt durch eine geringe Teilnahme. Eine gewisse praktische Vision vom Allgemeinwohl schwand allmählich dahin; doch es trat keine andere an ihre Stelle, die organisch und erprobt gewesen wäre. Im Gegenteil: Man hatte nur „Krümel“ eines gegenseitigen guten sozialen Willens im Angebot.

Wir durchleben heute die Ära des „Marktes“ als Mentalität und als Bild des Sozialen. Zurzeit gewinnt ein individualistisches Verständnis des Sozialen an Boden. Die Gesellschaft wird als eine Summe von Individuen gesehen. Jedes Individuum wird dabei getragen von dem Gedanken, sein persönliches Interesse und die Befriedigung seiner potentiell unbegrenzten Bedürfnisse zu suchen. Das ist der Vorrang der je eigenen Wünsche und Rechte des Einzelnen.

In dieser unaufhörlichen Spannung im Hinblick auf die Befriedigung der künstlichen Bedürfnisse wird man taub gegenüber den fundamentalen und echten Bedürfnissen. Die Ideale der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität verkommen zu leeren Formeln, die man für nicht praktikabel hält.

Nicht unbegründet ist demnach die Schlussfolgerung vieler, die im Markt das hauptsächliche moralische, kulturelle und rechtliche Hindernis dafür sehen, dass in Erwachsenen und Jugendlichen auf nationaler und internationaler Ebene eine solidarische Mentalität wachsen kann.



2.4 Die Glaubensreifung der Jugendlichen in diesem Umfeld

Vielschichtigkeit, Subjektivität und ein individuelles Verständnis von der Person wirken auf die Glaubensreifung der Jugendlichen ein, die im Wesentlichen in Aufgeschlossenheit, Gemeinschaft und Annahme der Wirklichkeit des Lebens und der Geschichte besteht.

Zwei Phänomene machen heute Eindruck. Es gibt eine verbreitete Religiosität, die die verschiedenartigsten Wege geht. Sie antwortet auf die Suche nach Sinn in einer Gesellschaft, die dafür nicht Sorge trägt, und auf die vage Wahrnehmung einer anderen Dimension der Existenz, die unausgedrückt bleibt. Im Zusammenhang damit bemerkt man aber ein Fehlen von objektiven Grundlagen und Begründungen und somit einen Bruch zwischen religiöser Erfahrung, Lebensauffassung und ethischen Entscheidungen. Auch die religiösen Wahrheiten werden auf Meinungen verkürzt. Die Vermittlung der Kirche wird problematisch, erst recht die ihrer einzelnen Amtsdiener oder Repräsentanten. Man bedient sich ihrer in selektiver Form.

Es gibt eine Minderheit, die die christliche Erfahrung vertieft, wertschätzt und reifen lässt und sie im Glauben, im kirchlichen Sinn und im sozialen Engagement zum Ausdruck bringt. Es gibt aber auch eine große Anzahl von Jugendlichen, die sich vom Glauben ohne Bedauern entfernen, nachdem sie das Evangelium gehört haben. Das Lebensalter für die religiöse Bildung hat sich verlängert und kann dabei nicht immer auf Angebote zählen, die es ganz abdecken.

Das alles gibt dem Glauben eine stark ichbezogene Färbung (Subjektivismus). Wenn der Glaube von der konkreten Wirklichkeit der geschichtlichen Heilsereignisse losgelöst ist, wird er äußerst brüchig, eine Art Konsumgut, von dem jeder nach Belieben Gebrauch macht. Auf diese Weise stellt man den Glauben in eine Reihe mit anderen Aspekten des Lebens und Denkens, die sich dann eigenständig herausbilden. Die Gefahr einer Trennung zwischen Leben und Glauben sowie zwischen Glauben und Kultur ist die Situation, in der wir uns alle befinden und in der heute die Jugendlichen aufwachsen. Und das auch in einer Zeit, in der die Kirche aussagekräftige Zeichen gemeinschaftlicher Lebendigkeit, sozialen Engagements und missionarischen Ansporns setzt.



2.5 Die Antwort der Don-Bosco-Familie

Welche Antworten auf die Hilferufe der Jugendlichen kann man von Seiten der Salesianischen Familie erwarten? Welche Kräfte können wir aktivieren?

Heute werden die Erzieher und Erzieherinnen, vor allem die professionellen, immer zahlreicher. Daneben gibt es die informellen Erzieher, die keine spezifische Aufgabe und Vorbildung haben. Es gibt ja auch Ausbildungsformen, die offiziell als solche ausgewiesen sind, und solche, die sich mehr inoffiziell im Verborgenen abspielen. Im Mittelpunkt des Erziehungsprozesses steht zunehmend das Subjekt als „Richter“, das nach freiem Ermessen die Dinge, die ihm angeboten werden oder die es selbst entdeckt hat, auswählt und verarbeitet. Weniger denn je kann man heute die Erziehung an irgendjemanden delegieren und darauf setzen, dass er in der Lage sei, deren Verlauf unter Kontrolle zu haben. Zu Erziehern werden wir insgeheim von den Jugendlichen ernannt, wenn sie uns zu ihrem Verstand und zu ihrem Herzen Zugang gewähren; wenn sie von uns ein Wort hören oder eine Geste wahrnehmen wollen, die sie im Hinblick auf den Sinn ihres Lebens für gültig erachten. Die Verantwortung kann jedem zufallen – in jedem Augenblick.

Die Einflussnahme der Erzieher, denen die Erziehungsaufgabe übertragen wird, und derer, die von der jeweiligen Person ausgewählt werden, hängt von drei Faktoren ab: die Glaubwürdigkeit seines Angebots in Bezug auf die Lebenssituation des Jugendlichen, seine Autorität als Zeuge und seine Kommunikationsfähigkeit.

Es gibt demnach eine Herausforderung für den Erwachsenen: eine Orientierung und ein Angebot auszusprechen, ohne die Vielschichtigkeit und die Anforderung der Subjektivität zu scheuen und ohne sich vereinnahmen zu lassen. Das erfordert Offenheit gegenüber dem Positiven und festes Verankern an den Punkten, aus denen das menschliche Leben Bedeutung und Unterscheidungsfähigkeit schöpft. Das also sind drei Aspekte, die die Salesianische Familie in besonderer Weise pflegen muss.



2.5.1 Rückkehr zur Jugend mit größerer Qualität

Don Bosco hat seinen Lebensstil, sein pastorales und pädagogisches Erbe, sein System und seine Spiritualität unter den Jugendlichen entwickelt. Das ausschließliche Engagement für die Sendung zur Jugend war für Don Bosco immer und überall Wirklichkeit, auch wenn er aus besonderen Gründen nicht direkt im Kontakt mit den Jugendlichen war, wenn sein Handeln nicht unmittelbar im Dienst an den Jugendlichen stand oder wenn er sein Gründercharisma für alle Jugendlichen der Welt gegen Druckmittel kirchlicher Amtsträger, die nicht immer sehr einsichtig waren, zäh verteidigte. Salesianische Sendung ist Weihe an die Jugend und „Vorliebe“ für die Jugendlichen. Und diese Vorliebe ist in ihrem Anfangsstadium ein Geschenk Gottes, dessen Entwicklung und Vervollkommnung eine Aufgabe unserer Intelligenz und unseres Herzens ist.

Der echte Salesianer flieht das Feld der Jugendlichen nicht. Salesianer ist der, der eine lebendige Kenntnis von den Jugendlichen hat: Sein Herz schlägt dort, wo das Herz der Jugendlichen schlägt. Der Salesianer lebt für sie und ist für ihre Probleme da. Sie sind der Sinn seines Lebens: in der Arbeit, in der Schule, in seinem Gefühlsleben, in der Freizeit. Salesianer ist der, welcher von den Jugendlichen eine theoretische und existentielle Kenntnis hat, die es ihm erlaubt, ihre Bedürfnisse zu entdecken und eine Jugendpastoral zu schaffen, die den Notwendigkeiten der jeweiligen Zeit angemessen ist.

Wenn die Treue zu unserer Sendung wirksam sein soll, muss sie mit den „Kernpunkten“ der Kultur von heute, mit den Grundbildern der Mentalität und der gegenwärtigen Verhaltensformen in Kontakt bleiben. Wir stehen vor kolossalen Herausforderungen, die Ernsthaftigkeit der Analyse, Ausdauer der kritischen Beobachtungen, vertiefte kulturelle Auseinandersetzung und Fähigkeit zum psychologischen Nachempfinden der Situation erfordern. In diesem Zusammenhang bevorzugt die erzieherische Kommunikation einige Kanäle.

Der erste ist derjenige des Teilens der Interessen und Forschungen anstelle von vorgefertigten Lösungen; des Dialogs auf allen Gebieten anstelle von eingeschränkten Informationen; der Transparenz oder der realen Erklärungen anstelle von Halbwahrheiten.

In ihrem Bemühen, sich eine Vision von der Welt zu bilden, hören, reagieren, verinnerlichen und experimentieren die Jugendlichen. Sie fühlen sich wie auf einem Markt, wo sie den Preis und die Qualität der Angebote sehen und diejenigen nehmen können, die ihnen zusagen. Zeugnisse und Worte, denen es gelingt, Licht und Hoffnung aufstrahlen zu lassen, werden Gehör finden.

Der Erzieher der Zukunft wird derjenige sein, der es versteht, die Jugendlichen in der Vielfalt der Botschaften und Visionen auf eine Auswahl von Werten und Kriterien hin zu orientieren, die geeignet sind, ein beständiges Wachstum zu fördern. Gerade in der Werteerziehung muss er noch mehr seinen auf die aktive Einbeziehung des Einzelnen richten als nur auf dessen fügsame Bereitschaft zur Annahme der Werte.

Die Anforderungen werden mutig vorgetragen. Zu verwerfen ist die bloße Anpassung an unmittelbare Fragen, die den Einzelnen der Weitsicht berauben und letztendlich in ihm eine narzisstische Grundhaltung fixieren.

Die Verantwortung hingegen ist die hauptsächliche Kraftquelle für die Entwicklung der Person. Diese muss die erzieherischen Angebote durch die Erfahrung verinnerlichen und so die eigenen Schlussfolgerungen herausarbeiten. Nur wenn der Jugendliche Subjekt und nicht nur Objekt wird, dringen die Angebote in sein Bewusstsein ein und werden zum gültigen Erbbesitz für sein Leben.

Es gibt sodann noch ein weiteres Schlüsselelement in den Kommunikationsmodellen: das Umfeld. Heute werden die sogenannten „Lebensräume“ – neben den traditionellen Erziehungseinrichtungen – aufgewertet. Sie nehmen Einfluss durch ihre Strukturen und Programme und die in ihnen vorgegebenen Rollen und Normen. Aber sie reichen nicht aus, um die Fragen der Jugendlichen nach Sinn und Beziehung zu beantworten. Die Lebensräume ermöglichen aber Spontaneität, die auf Positives, auf freie Teilnahme, Freundschaft, gegenseitige Annahme, Utopie, symbolische Sprache oder Projekte ausgerichtet ist. Es ist wünschenswert, dass die Familien und christlichen Gemeinschaften, die engagierten Gruppen und Orte jugendlicher Treffen sowie die Schulen zu solchen Räumen werden.

Da ich mich an Mitglieder der Salesianischen Familie wende, ist es nicht abwegig, daran zu erinnern, dass Don Bosco mehr durch Intuition als durch theoretische Erkenntnis den Anfang für eine ganzheitliche Kommunikation gemacht hat: Im Oratorium, das ein Umfeld voller Spontaneität und freier Ausdrucksformen bot, gab es anerkannte Rollen und informelle Beziehungen, wechselten regelmäßige Programme für alle sowie Räume für die persönliche und die Gruppenkreativität einander ab.

Im ersten Oratorium im Haus Pinardi, wie es Don Bosco erdacht worden ist, gab es einige wichtige Einsichten, die man sich in der Folgezeit in ihrer tieferen Bedeutung einer umfassenden humanistisch-christlichen Synthese angeeignet hat:

  • eine flexible Struktur, die in einer Art „Brücken“-Funktion als Vermittlerin zwischen Kirche, städtischer Gesellschaft und volkstümlichen Jugendschichten wirkt;

  • der Respekt vor dem volkstümlichen Umfeld und dessen Wertschätzung;

  • die Religion als Basis der Erziehung, wie es der Lehre der katholischen Pädagogik, die geprägt vom Klima des Konvikts auf Don Bosco übergegangen ist, entspricht;

  • die dynamische Verflechtung zwischen religiöser Bildung und menschlicher Entwicklung, zwischen Katechismus und Erziehung, oder auch die Übereinstimmung zwischen Erziehung und Glaubenserziehung sowie die Integration von Glauben und Leben;

  • die Übereinkunft, dass die Unterweisung ein wesentliches Instrument für die Aufklärung des Geistes ist;

  • die Erziehung, die sich wie die Katechese in allen Ausdrucksformen entfaltet, die mit der Begrenztheit von Zeit und Mitteln vereinbar sind: die Alphabetisierung derjenigen, die niemals in den Genuss irgendeiner Form von Schulbildung gekommen sind; die Vermittlung von Arbeitsstellen; die Hilfestellung während der Woche; die Entfaltung von Gruppenaktivitäten und wechselseitigen Austauschformen etc.

  • die volle Beschäftigung und die Wertschätzung der Freizeit;

  • die Liebenswürdigkeit als erzieherischer Stil und allgemeiner als christlicher Lebensstil.

Das so verstandene Oratorium wird weiterhin für uns die „Formel“ sein, die wir auf jedwede Situation oder Erziehungsstruktur anwenden wollen.



2.5.2 Erneuerte Bedeutung des „ehrenwerten Bürgers“

Die gesteigerte Beachtung, die die soziale Qualität der Erziehung erfährt und die schon – wenn auch unvollkommen verwirklicht – in Don Bosco präsent war, müsste die Schaffung von ausdrücklichen Erfahrungen des sozialen Einsatzes im weitesten Sinne fördern. Voraussetzung dafür ist eine tiefe Reflexion sowohl auf theoretischer Ebene im Hinblick auf die Ausweitung der Inhalte der menschlichen, jugendlichen, volkstümlichen Förderung und der Verschiedenheit der anthropologischen, theologischen, wissenschaftlichen, historischen und methodologischen Betrachtungsformen als auch auf der Ebene der Erfahrung und der praktischen Überlegung der Einzelnen und der Gemeinschaften. Im salesianischen Bereich hat das 23. Generalkapitel bereits von der „sozialen Dimension der Liebe“ und der „Erziehung der Jugendlichen zum Engagement und zur Teilnahme an der Politik“ – einem „von uns ein wenig vernachlässigten und kaum beachteten Bereich“ – gesprochen.8

Die erzieherische Präsenz im sozialen Bereich umfasst folgende Wirklichkeiten: die erzieherische Sensibilität, die Formen der Erziehungspolitik, die erzieherische Qualität des sozialen Lebens und die Kultur.

Wer um die erzieherische Dimension wirklich besorgt ist, versucht durch die politischen Instrumente Einfluss auszuüben, damit sie in allen Bereichen in Betracht gezogen wird: im Bereich der Urbanisierung (wachsende Verstädterung) und des Tourismus bis hin zu den Bereichen des Sports oder von Rundfunk und Fernsehen. All das sind Wirklichkeiten, in denen oft die Kriterien des Marktes vorherrschen.

Sodann gibt es den spezifischen Aspekt der Erziehungs- und Jugendpolitik in ihren jeweiligen Ausprägungen. Man muss das Interesse daran wach halten und dafür kämpfen, damit die Lösungen einiger dringender Anliegen nicht zu kurz kommen; wie beispielsweise die umfassende Aktion der Vorsorge, die Qualität eines integrierten Erziehungssystems, die angemessene Vielfalt der Erziehungsmöglichkeiten zu Gunsten der Bedürfnisse der Einzelnen, die wirtschaftliche Gleichstellung und die Rückgewinnung derer, die im Verlauf der Erziehung Schaden gelitten haben.

Der Stil des sozialen Lebens und der politischen Praxis ist darüber hinaus in sich eine große tägliche Schule, aus der Erwachsene und Jugendliche stillschweigend praktische Lehren ziehen. Es ist fast unnütz, so kann man sagen, dass die Erziehungseinrichtungen zur Gesetzestreue erziehen wollen, wenn im öffentlichen Leben mit ruhigem Gewissen andere Kriterien gelebt werden, weil diese am Ende unsere Überzeugungen und Verhaltensweisen prägen. Es ist schwierig, den Gerechtigkeitssinn einzuschärfen, wenn in der öffentlichen Verwaltung Korruption und Kompromiss vorherrschen. Es ist nicht leicht, den Respekt vor der Person zu lehren, wenn in der politischen Debatte gegenseitiges Misstrauen, Betrug und Streitlust die Oberhand gewinnen. Erziehung, soziales Zusammenleben und politische Praxis bilden eine Einheit, so dass man, wenn man in einer dieser Sparten einen Qualitätssprung machen will, notwendigerweise Energien aufbringen muss, um die anderen zu verändern.

Schließlich steht an der Wurzel der Erziehung, des sozialen Zusammenlebens und der politischen Praxis die Kultur. Sie steuert Motivationen bei und vermittelt Bedeutungen, die stillschweigend in das Bewusstsein eindringen und Verhaltensweisen festigen. Um einen Wert einzuwurzeln, genügen nicht noch so reichhaltige Initiativen und auch nicht großzügige und gut beratene Personen. Man muss auf die Reifung einer gemeinsamen Mentalität hinarbeiten. Die Kultur bezieht sich nicht nur auf private Absichten und Angebote, sondern auch auf den systematischen und rationalen Einsatz der Energien, über die die Gemeinschaft verfügt. Manchmal gibt es einen Bruch zwischen den Gesten der Einzelnen und der allgemeinen Mentalität, zwischen persönlichen Initiativen und sozialen Ausdrucksformen, zwischen der Praxis und ihren Fundamenten, so dass eine Sache das Wunschdenken der Person und eine andere die tägliche Wirklichkeit ist, der sie sich unterziehen muss.



2.5.3 Erneuerte Bedeutung des „guten Christen“

Andererseits müsste man von der Aufwertung des „guten Christen“ reden. Don Bosco, der vor Eifer für die Seelen förmlich „brannte“, hat die Mehrdeutigkeit und Gefahr der sozialen und moralischen Situation erkannt und sich gegen deren Voraussetzungen gewandt. Er hat neue Formen gefunden, um sich dem Übel mit den kargen kulturellen, wirtschaftlichen und anderen Mitteln, über die er verfügte, entgegenzustellen.

Wie kann man das von Don Bosco formulierte Erziehungsziel des „guten Christen“ für unsere Zeit übersetzen? Wie kann man heute die menschlich-christliche Ganzheitlichkeit des Projektes in formell oder vornehmlich religiösen und pastoralen Initiativen gegen die Gefahren alter und neuer Formen von Integralismus und Ausschließlichkeitsdenken bewahren? Wie kann man die religiöse Erziehungstradition in eine Erziehung umwandeln, die dazu anleitet, mit der eigenen Identität in einer Welt vielfältiger und verschiedenartiger Religionen, Kulturen und Bevölkerungen zu leben? Wie kann man angesichts der derzeitigen Überwindung der traditionellen Pädagogik des Gehorsams, die einem gewissen Verständnis von Kirche angeglichen ist, im Dienst einer Pädagogik der Freiheit und der Verantwortung vorgehen und auf den Aufbau einer starken Einzelpersönlichkeit setzten, die zu freien und reifen Entscheidungen fähig ist, offen für die zwischenmenschliche Kommunikation, aktiv eingebunden in die sozialen Strukturen, mit einer nicht konformistischen, sondern konstruktiv-kritischen Grundhaltung?

Es geht darum, aufzudecken und zu einem Leben zu verhelfen, das bewusst an der Berufung des Menschen und der Wahrheit der Person orientiert ist. Und gerade darin können die Glaubenden ihren sehr wertvollen Beitrag leisten.

Sie wissen, dass die Existenz und die Beziehungen der Person von ihrer Bedingtheit als Geschöpf her definiert werden. Das besagt nicht Unterlegenheit oder Abhängigkeit, sondern ungeschuldete und kreative Liebe von Seiten Gottes. Der Mensch schuldet die eigene Existenz einem Geschenk. Er steht in einer wechselseitigen Beziehung mit Gott. Sein Leben findet außerhalb dieser Beziehung keinen Sinn. Das „Darüber-hinaus“, das er vage begreift und ersehnt, ist das Absolute; kein fremdes und abstraktes Absolutes, sondern die Quelle seines Lebens, die ihn zu sich ruft.

In Christus findet die Wahrheit der Person, die die Vernunft ansatzweise erfasst, ihre volle Erleuchtung. Mit seinen Worten, besonders aber kraft seiner menschlich-göttlichen Existenz, in der sich das Bewusstsein des Gottessohnes offenbart, schließt er die Person für das volle Verständnis ihrer selbst und der eigenen Bestimmung auf.

In Ihm sind wir als Söhne und Töchter eingesetzt und dazu berufen, als solche in der Geschichte zu leben. Das ist eine Wirklichkeit und es ist ein Geschenk, dessen Sinn der Mensch allmählich durchdringen muss. Die Berufung zu Söhnen und Töchtern Gottes ist keine bloße „Luxuszugabe“, keine Ergänzung von außen zu Gunsten der Verwirklichung des Menschen. Sie ist vielmehr seine reine und schlichte Erfüllung, die unverzichtbare Voraussetzung für Echtheit und Fülle, die Befriedigung der ursprünglichsten Bedürfnisse; jener nämlich, mit denen seine Struktur als Geschöpf untermauert ist.

Wer erzieht, ob als Eltern, Freund oder Animator, hält das Bewusstsein aufrecht, dass er Zeuge und Begleiter dieser Enthüllung der Möglichkeiten des Lebens ist, die das Bewusstsein mit seiner Quelle und mit seinem Ziel verbindet, die das Leben entfaltet, die vor allem aber einen Gesprächpartner und ein Zeichen für die Gegenwart Gottes vorbereitet.

Es ist ein geheimnisvoller Dialog zwischen einem jeden Jugendlichen und dem, was von außen auf ihn zukommt, oder dem, was in ihm aufsteigt und was er als Anspruch, Gnade oder Sinn entdeckt. Manchmal erlangt der junge Mensch das volle Bewusstsein seiner selbst und erarbeitet ein Bild seiner Existenz, in dem er seine Kräfte einsetzt und seine Möglichkeiten ausspielt.

Die Erzieher – ob Berufserzieher oder nicht – sind aufgerufen, all das beizutragen, was sie für angebracht halten, um dann voller Hoffnung das Unbekannte der Zukunft zu überlassen. Sie interessieren sich aufrichtig für das ungewisse Menschliche, das da heranwächst. In ihm nämlich wird Gott Aufnahme finden und sich auch kraft des Wachstums mit stets größerer Strahlkraft offenbaren. Wenn die Dinge einigermaßen gut gehen, werden diejenigen, die in kindlicher Beziehung zu Ihm stehen, dazu beigetragen haben, in der Geschichte den „Stamm Gottes“ zu erhalten; und sie werden lebendige Orte Seiner Gegenwart geschaffen haben.



3 Die Menschenrechte, besonders die der Schwächsten, fördern

Wir sind Erben und Träger eines erzieherischen Charismas, das auf die Förderung einer Lebenskultur und des Strukturwandels hinwirkt. Deshalb haben wir die Verpflichtung, die Menschenechte zu fördern. Die Geschichte der Salesianischen Familie und die äußerst rasche Ausbreitung auch unter kulturellen und religiösen Bedingungen, die fern sind von denen der Entstehungszeit, bezeugen, dass das Präventivsystem Don Boscos ein garantierter Zugang zur Jugenderziehung in jedwedem Umfeld und eine Plattform des Dialogs für eine neue Kultur der Rechte und der Solidarität ist. Wenn wir die Würde eines jeden Menschen und die Gleichheit seiner Rechte in Betracht ziehen, können wir besser die Vielfalt der Gründe begreifen, die die Vorzugsoption der Kirche für die Armen stützen.

Unter diesem Gesichtspunkt muss man die Mahnung Don Boscos an die ersten Missionare lesen und wieder aktuell werden lassen: „Kümmert euch besonders um die Kranken, die Kinder, die Alten und die Armen, und ihr werdet den Segen Gottes und das Wohlwollen der Menschen ernten.“9 Für die Salesianer ist die Erziehung zu den menschlichen Rechten, besonders der Schwächsten, der bevorzugte Weg, um unter den verschiedenartigen Bedingungen das Engagement der Vorbeugung, der ganzheitlichen menschlichen Entfaltung, des Aufbaus einer gerechteren und gesünderen Welt zu verwirklichen. Die Sprache der Menschenrechte erlaubt uns auch den Dialog und die Einführung unserer Pädagogik in den verschiedenen Kulturen der Welt.



3.1 Menschenrechte und Würde der Person

Die Menschenrechte sind Rechte, die jeden Einzelnen betreffen, insofern er ein menschliches Wesen ist. Sie sind nicht abhängig von der Rasse, der Religion, der Sprache, der geographischen Herkunft, dem Alter und dem Geschlecht. Es sind grundsätzliche, allgemeine, unverletzliche und nicht verfügbare Rechte. Sie sind keine statische Wirklichkeit, sondern befinden sich in ständiger Entwicklung. Die bürgerlichen und politischen Rechte, die man auf die Zeit der Französischen Revolution (1789) zurückführt, ergeben sich aus der Forderung einer Reihe von fundamentalen Freiheiten, die für weite Schichten der Bevölkerung unzugänglich waren: Recht auf Leben, auf leibliche Unversehrtheit, auf Gedankenfreiheit, auf Freiheit der Religion, der Ausdrucksformen, der Vereinigung, der politischen Teilnahme. Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte erlangten Gesetzeskraft durch die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948: Recht auf Unterricht und Bildung, auf Wohnung und Arbeit, auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit usw. Es gibt sodann Völkerrechte auf Selbstbestimmung, auf Frieden, Entwicklung und ökologisches Gleichgewicht, auf Kontrolle der nationalen Ressourcen, auf Verteidigung und auf Schutz der Umwelt. Schließlich gibt es die Rechte, die mit der Achtung vor dem Menschen verbunden sind und sich auf die Bereiche der genetischen Manipulation, der Bioethik und der neuen Kommunikationstechnologien beziehen.

Man muss sich dessen bewusst sein, dass die volle Achtung der Menschenrechte vor allem in unserer Verantwortung liegt. Leider sind Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Es ist klar, dass die bestehenden Instrumente und Vorbeugemaßnahmen nicht ausreichen, um diese Verletzungen auszumerzen. Gerade in dieser Situation müssen wir für die Achtung vor der Würde der Person eintreten.

Die Lehre der Kirche bekräftigt, dass eine richtige Auslegung und ein wirksamer Schutz der Rechte von einem Menschenbild abhängen, das die Gesamtheit der bestimmenden Größen der menschlichen Person umfasst. Die Gesamtheit der Menschenrechte muss dem Wesen der Würde der Person entsprechen. Diese Rechte müssen sich auf die Befriedigung seiner wesentlichen Bedürfnisse, die Ausübung seiner Freiheiten, seine Beziehungen mit anderen Personen und mit Gott beziehen. Sie sind allgemeingültig, in allen menschlichen Wesen gegenwärtig, ohne irgendeine Ausnahme von Zeit und Ort. Die grundsätzlichen Menschenrechte gehören zur menschlichen Existenz, insofern sie Person ist; zu jeder Person und zu allen Personen, Männern und Frauen, Kindern und alten Leuten, Reichen und Armen, Gesunden und Kranken.



3.2 Salesianische Sendung und Rechte der Jugendlichen

In meinem Vortrag über das Thema „Lasst uns die Jugendlichen, die Zukunft der Welt, retten, bevor es zu spät ist“, den ich in Campidoglio in Rom am 27. November 2002 hielt, habe ich versucht, das Präventivsystem unter dem Blickwinkel der Förderung des einzelnen Jungen oder Mädchens zu beschreiben. Es geht ja darum, den Einzelnen in der Ganzheitlichkeit seines Lebens zu erziehen und im Sinn des christlichen Menschenbildes zu befreien; aber mit einer präzisen Bezugnahme auf die Umwandlung der Gesellschaft, damit Jugendliche nicht mehr ausgegrenzt werden. Vor allem habe ich das Präventivsystem aus der Sicht der bewussten Übernahme von Verantwortung seitens des Jugendlichen dargestellt, der sich aus einem Objekt der Schutzbedürftigkeit in ein verantwortliches Subjekt verwandelt, weil es Rechte hat und die Rechte der anderen anerkennt. Es kommt darauf an, im Jugendlichen von heute den Bürger von morgen vorzubereiten: den ehrenwerten Bürger und guten Christen. Ich lege euch einige Abschnitte aus diesem meinem Vortrag vor.

Schwerwiegend ist die Situation, in der sich viele Jugendliche in vielen Teilen der Welt befinden: Jugendliche, die der Gefahr ausgesetzt und an den Rand der Gesellschaft geraten sind. Es sind viele; es sind zu viele. Sie sind ein ungehörter Schrei. Sie sind eine Last auf dem Gewissen der Gesellschaft, die sich anschickt, die Wirtschaft zu globalisieren, nicht aber das Engagement für die Entwicklung der Völker und die Förderung der Würde eines jeden Menschen.

Die heutigen Herausforderungen stellt eine rasche Auflistung der Formen von Ausgrenzung und Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in der Welt dar:

Die Straßenkinder und diejenigen in Jugendbanden.

Die Kindersoldaten.

Die verletzten Kinder.

Die Kinderarbeiter und Kindersklaven.

Die Kinder, die „nichts gelten“.

Die inhaftierten Kinder und Jugendlichen.

Die Kinder, die zu Organspendern gemacht werden, und die verstümmelten Kinder.

Die armen und ausgegrenzten Kinder und Jugendlichen.

Die Kinder der Abwässerkanäle und die Umherstreunenden.

Die Flüchtlings- und Waisenkinder.

Die Kinder und Jugendlichen, die ...

Soviel Unglück weckt und belastet die Gewissen aller. Am Schluss des 25. Generalkapitels haben die Salesianer einen Appell an all jene gerichtet, die Verantwortung gegenüber den Jugendlichen haben: ‚Lasst uns die Jugendlichen, die Zukunft der Welt, retten, bevor es zu spät ist!’ Das ist auch mein Appell als Nachfolger Don Boscos.

Angesichts dieses so traurigen Gesamtbildes der Übel in der Welt der Jugendlichen ‚sind wir Salesianer auf der Seite der Jugendlichen, weil wir wie Don Bosco Vertrauen in sie haben; in ihrem Willen, zu lernen, zu studieren, aus der Armut herauszukommen, ihre eigene Zukunft in die Hand zu nehmen ... Wir sind auf der Seite der Jugendlichen, weil wir an den Wert der Person, an die Möglichkeit einer anderen Welt und vor allem an den großen Wert des erzieherischen Engagements glauben’.10 Investieren wir in die Jugendlichen!

Globalisieren wir deshalb das Erziehungsengagement und bereiten wir so eine positive Zukunft für die ganze Welt vor. In diesem Bemühen steuert die Salesianische Familie den Reichtum der von Don Bosco ererbten Erziehungsmethode bei: das wohl bekannte Präventivsystem.

Nach diesem System besteht die erste Sorge darin, dem Bösen durch die Erziehung zuvor zu kommen. Gleichzeitig geht es aber darum, den Jugendlichen zu helfen, die eigene Identität aufzubauen; die Werte neu zu beleben, die sie nicht zu entfalten vermochten, und sie gerade für ihre Situation der Ausgrenzung herauszuarbeiten sowie Beweggründe zu entdecken, die es ihnen ermöglichen, mit Sinn, Freude, Verantwortung und Kompetenz leben zu können.

Darüber hinaus glaubt dieses System fest, dass die religiöse Dimension der Person sein tiefster und bedeutendster Reichtum ist. Darum versucht es, als letztes Ziel all seiner Angebote jeden Jugendlichen auf die Verwirklichung seiner Berufung als Kind Gottes auszurichten. Ich denke, dass dies einer der wichtigsten Beiträge ist, die das Präventivsystem Don Boscos auf dem Gebiet der Erziehung der Kinder, der Heranwachsenden und der Jugendlichen in Situationen der Armut und der psychisch-sozialen Gefährdung anbieten kann.

Es handelt sich um eine klare und bedeutende Erfahrung der Solidarität, die zum Ziel hat, nach den Worten Don Boscos ‚ehrenwerte Bürger und gute Christen’, d.h. Erbauer der Stadt sowie aktive und verantwortliche Personen heranzubilden, die sich ihrer Würde bewusst sind, Lebensentwürfe planen und offen sind für die Transzendenz gegenüber den anderen und gegenüber Gott.“



3.3 Versuchen wir, die gleichen Begriffe mit der Sprache der Menschenrechte wiederzugeben

Wenn wir uns auf die oben angeführte Liste von Menschrechtsverletzungen beziehen, wird es deutlich, dass die ganzheitliche salesianische Erziehung heute nicht vom Engagement für die Grundrechte und die Würde der Person absehen kann.

Man darf zunächst anmerken, das dass das Thema der Erziehung zu den Grundrechten und Freiheiten eng verbunden ist mit den vorhergegangenen Leitgedanken, in denen ich die wichtige Rolle der Familie bei der Erziehung und der Förderung der Menschenrechte, insbesondere der Verteidigung und Förderung des Lebens, betont habe.

Die Erziehung auf diesem Gebiet setzt sich zum Ziel, zum Aufbau einer Kultur der Menschenrechte beizutragen, der es gelingt, einen Dialog zu führen, zu überzeugen und schließlich den Verletzungen dieser Rechte vorzubeugen, statt sie zu bestrafen und zu unterdrücken. Es ist der Übergang von der bloßen Anzeige und Anklage bereits begangener Verletzungen zur Präventiverziehung.

Aus dieser Perspektive muss die Erziehung zu den Menschrechten notwendigerweise vielseitig sein und sich als Erziehung zur ehrenwerten, aktiven und verantwortlichen Bürgerschaft auszeichnen, so dass sie in der Lage ist, die Beschreibung mit den Vorschriften und das Wissen mit dem Sein zu vereinigen sowie Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung miteinander zu verbinden.

Die Erziehung zu den Menschenrechten ist Erziehung zum Handeln, zur Geste, zur Stellungnahme, zur Übernahme von Verantwortung, zur kritischen Analyse, zum Denken, zum Sich-Informieren, zur Relativierung der aus den Medien bezogenen Informationen. Sie ist eine Erziehung, die zu einer dauernden und täglichen werden muss.

Auf diesen Grundlagen muss die anzuwendende Methodologie wenigstens drei Dimensionen umfassen:

  • eine erkenntnismäßige Dimension: erkennen, kritisch überdenken, begrifflich fassen, beurteilen; Don Bosco würde „Vernunft“ sagen.

  • eine gefühlsmäßige Dimension: erproben, Erfahrungen machen, Freundschaft herstellen, Empathie schaffen; Don Bosco würde „Liebenswürdigkeit“ sagen.

  • eine willentliche, verhaltensmäßige, aktive, ethisch motivierte Dimension: Entscheidungen treffen und entsprechend handeln, klare Grundhaltungen in Verhalten umsetzen; Don Bosco würde „Religion“ sagen.



3.4 Erziehen wir um der menschlichen Entfaltung willen uns selbst und die Jugendlichen zur persönlichen und gesellschaftlichen Umwandlung

Das Präventivsystem und der Geist Don Boscos rufen uns heute zu einem starken, persönlichen und gemeinsamen Engagement auf, das darauf ausgerichtet ist, die Strukturen der Armut und der Unterentwicklung zu ändern, damit wir zu Vorkämpfern der menschlichen Entwicklung werden und zu einer Kultur der Menschenrechte und der Würde des menschlichen Lebens erziehen.

Die Menschenrechte sind ein Mittel zur menschlichen Entwicklung. Die Erziehung zu den Menschenrechten verhilft uns dazu, zu einer persönlichen und gemeinsamen menschlichen Entwicklung und schließlich zur Verwirklichung einer gleichwertigeren, gerechteren und gesünderen Gesellschaft zu gelangen.

Jeder von uns kann Verteidiger, Vorkämpfer und Aktivist der Menschenrechte werden, gerade weil er oder sie Erzieher oder Erzieherin ist und gerade weil er oder sie sich für die christliche Sicht vom Menschen entscheidet, die Don Bosco inspiriert hat.

Deshalb müssen wir die Prinzipien, die das Fundament der Menschenrechte bilden, auf salesianische Weise neu buchstabieren. Dabei kommt es darauf an, die Herausforderungen zu erkennen, vor die die Menschenrechte unsere Salesianische Familie stellen.

Hier einige Elemente für dieses neue Verständnis:

  • Ganzheitlichkeit der Person und Anwendung des Prinzips der Unteilbarkeit und Unabhängigkeit aller Grundrechte der Person: der bürgerlichen, kulturellen, religiösen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rechte;

  • Erziehung zur ehrenwerten Bürgerschaft und Anwendung des Prinzips einer differenzierten gemeinschaftlichen Verantwortung für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte;

  • Eintreten des einen für den anderen und Anwendung des Prinzips des höchsten Interesses für den Schwächsten;

  • den Kleinen und Schwachen als aktives und teilhabendes Subjekt in den Mittelpunkt stellen und Anwendung des Prinzips der der aktiven Teilnahme (Partizipation) der Kleinen und Schwachen;

  • das Wort Don Boscos „Es genügt, dass ihr jung seid, damit ich euch sehr liebe“ und Anwendung des Prinzips der Nichtdiskriminierung;

  • das Wort Don Boscos „Ich will, dass ihr jetzt und für immer glücklich seid“, das den ganzen Menschen im Blick hat, und Anwendung des Prinzips einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung: der spirituellen, bürgerlichen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung der Kleinen und Schwachen.



3.5 Ein Text, den Don Bosco unterschreiben würde

Die Erziehung muss folgende Ziele haben:

  • die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen;

  • dem Kind Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten und den in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Grundsätzen zu vermitteln;

  • dem Kind Achtung vor seinen Eltern, seiner kulturellen Identität, seiner Sprache und seinen kulturellen Werten, den nationalen Werten des Landes, in dem es lebt, und gegebenenfalls des Landes, aus dem es stammt, sowie vor anderen Kulturen als der eigenen zu vermitteln;

  • das Kind auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft im Geist der Verständigung, des Friedens, der Toleranz, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Freundschaft zwischen allen Völkern und ethnischen, nationalen und religiösen Gruppen sowie zu Ureinwohnern vorzubereiten;

  • dem Kind Achtung vor der natürlichen Umwelt zu vermitteln.“

Das ist nichts anderes als der Artikel 29 der „UN-Kinderrechtskonvention“, die in der Generalvollversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989 angenommen und nunmehr von 192 Staaten ratifiziert worden ist.

Korrekturbedürftig sind daher die Praktiken vieler Erzieher, die die Menschenrechte auf eine Auflistung von Erkenntnissen reduzieren oder die Erziehung zu den Menschenrechten in gesetzgeberischer Form als Erklärung rechtlicher Texte verstehen.

Wir schlagen eine weiterreichende Annäherung vor, eine Annäherung des socio-civic learning, die zur praktischen Erfahrung, zur Übernahme von Verantwortung und zur aktiven und verantwortlichen Teilnahme anregt.

Die Erziehung zu den Menschenrechten oder besser zu einer „Präventivkultur der Menschenrechte“, die den Verletzungen vorzubeugen vermag, muss aus dem engen Bereich der Zuständigkeit von Juristen und Anwälten heraustreten, um Besitz aller und eines jeden zu werden, der bereit ist, einen Dialog zwischen den Kulturen zu eröffnen und aufrechtzuerhalten; einen Dialog, der seine Grundlage aus den Menschenrechten bezieht.

Die Menschenrechte sind nicht in erster Linie eine rechtliche oder philosophische Materie: Sie sind eine interdisziplinäre Materie und können in einer interkulturellen Annäherung im Bereich zahlreicher Disziplinen erklärt und diskutiert werden: Geschichte, Geographie, Fremdsprachen, Literatur, Biologie, Physik, Musik und Wirtschaft.

Sie stellen keine Sondermaterie, sondern ein übergreifendes Thema dar. Die Menschenrechte müssten fester Bestandteil der Aus- und Fortbildung der formellen und informellen Erzieher sein, damit sie in die Lage versetzt werden, sie als Leitmotiv und fachübergreifende Annäherung auf die verschiedenen Materien zu übertragen.

Wenn wir unter Belehrung eine didaktische Tätigkeit verstünden, bei der nur einer, nämlich der Lehrende, etwas zu lehren und alle anderen nur zuzuhören haben, könnte man diese Praxis im Fall der Menschenrechte nicht anwenden. Die Menschenrechte lehrt man nicht, wie man sie auch nicht auferlegen kann. Vielmehr erzieht man zu ihnen und auf sie hin durch den Dialog, die wechselseitige Auseinandersetzung und die persönliche Erarbeitung.

Als didaktische Methodologie kann man die Kunst, das Theater, die Musik, den Tanz, das Malen und die Dichtung verwenden. Wir erinnern in diesem Zusammenhang an die von Don Bosco „erfundenen“ Initiativen.

Wenn die Betonung des erzieherischen Prozesses auf den inneren Beweggründen liegt, die der Erzieher braucht, dann wird das Präventivsystem zu einer „Spiritualität“. Wenn die Betonung auf den drei Säulen der Vernunft, der Religion und der Liebenswürdigkeit liegt, wird das Präventivsystem zu einem asketischen Engagement, zu einem Bild der Werte und zu einem Lebensentwurf. Wenn die Betonung auf der Beziehung des Erziehers zum jungen Menschen liegt, erfordert das Präventivsystem eine starke Mystik. Wenn die Betonung auf dem Lebensentwurf liegt, den der Jugendliche oder Schüler in seinem Herzen heranreifen lassen soll, dann ist das Präventivsystem vollständige Evangelisierung, weil es darauf abzielt, den ehrenwerten Bürger und den guten Christen heranzubilden, der – um es mit dem Dokument „Christifideles Laici“ zu sagen – fähig ist, nach dem Evangelium zu leben, indem er dem Menschen und der Gesellschaft dient.

Letztendlich wandelt das Präventivsystem sowohl den Erzieher wie auch den Jugendlichen oder Schüler in eine Persönlichkeit um, die sich ihrer Verantwortung dafür bewusst ist, die Menschenrechte für die persönliche menschliche Entwicklung und die der ganzen Welt zu verteidigen und zu fördern.

Ich möchte eine geglückte Aussage von Papst Paul VI. in seiner Enzyklika „Populorum Progressio“ umwandeln und wage zu sagen: Die Erziehung zur Verteidigung und Förderung der Menschenrechte ist der neue Name für Friede.

Gewiss, mit dem Herzen Don Boscos für die ganzheitliche Entwicklung des Lebens der Jugendlichen, besonders der ärmsten und am meisten benachteiligten, durch die Förderung ihrer Rechte zu erziehen, bedeutet:

  • eine erneuerte Entscheidung an den konkreten Orten zu gemeinschaftlichem Handeln.

Der gemeinschaftliche Charakter der salesianischen pädagogischen Erfahrung erfordert das Bemühen, Gemeinschaft um die erzieherischen Ideale Don Boscos herum zu schaffen; alle Verantwortlichen in die verschiedenen erzieherischen Institutionen und Programme einzubeziehen; in ihnen ein kritisches Bewusstsein der Ursachen für die Ausgrenzung und Ausbeutung von Jugendlichen zu formen sowie eine starke Motivation, die den täglichen Einsatz stützt, und eine aktive und alternative Grundhaltung. All das stellt wieder die Bedeutung des Einsatzes für die Ausbildung der Erzieher in den Vordergrund.

  • eine erneuerte pastorale Zielsetzung.

Die salesianische Tätigkeit umfasst immer auch die Sorge um das Heil der Person: Erkenntnis Gottes und kindliche Einheit mit Ihm durch die Aufnahme Christi mit Hilfe der sakramentalen Vermittlung der Kirche. Weil die Salesianer sich für die Jugend und die armen Jugendlichen entschieden haben, akzeptieren sie die Ausgangssituation, in der die Jugendlichen sich befinden, und ihre Möglichkeiten, einen Weg hin zum Glauben zu gehen. In jeder Initiative der Rückgewinnung, der Erziehung und der Förderung der Person verkündigt und verwirklicht man das Heil, das sich allmählich in dem Maße weiterentfaltet, wie die Einzelnen sich dafür als fähig erweisen. Christus ist ein Recht für alle. Er wird verkündigt, ohne dass man die Zeit dazu allzu sehr beschleunigt, aber auch ohne sie ungenützt verstreichen zu lassen.



Schluss

Ich schließe dieses Mal nicht mit einem Märchen, sondern mit einer in der salesianischen Familie vertrauten Erzählung; mehr noch: mit einem „Traum“, der an den Anfängen dessen steht, was wir sind und was wir tun. Ein „Traum“, der Gedenken und prophetische Ansage zugleich ist, Erinnerung an das Vergangene und Projekt für die Zukunft:

«Inzwischen war ich neun Jahre alt geworden. Meine Mutter wollte mich zur Schule schicken, war aber in großer Verlegenheit wegen der weiten Entfernung. Bis nach Castelnuovo waren es fünf Kilometer. In ein Internat konnte ich auch nicht gehen, weil mein Bruder Antonio dagegen war. Aber man fand eine Lösung. Im Winter besuchte ich die Schule im benachbarten Dörfchen Capriglio. Dort konnte ich die Grundelemente im Lesen und Schreiben lernen. Mein Lehrer war ein sehr frommer Priester. Sein Name war Giuseppe Delaqua. Er schenkte mir viel Aufmerksamkeit und widmete sich gern der Aufgabe, mich zu unterrichten und - mehr noch - mich christlich zu erziehen. Im Sommer half ich dann meinem Bruder bei der Arbeit auf dem Feld.

Ein Traum

In diesem Alter hatte ich einen Traum, der sich mir fürs ganze Leben tief ins Gedächtnis einprägte. Im Schlaf schien es mir, ich sei in der Nähe unseres Hauses auf einem sehr großen Spielhof. Dort war eine Menge von Jungen versammelt, die sich vergnügten. Einige lachten, andere spielten, manche fluchten. Als ich die Flüche hörte, begab ich mich sofort mitten unter sie und versuchte sie mit Schlägen und Worten zum Schweigen zu bringen. In diesem Augenblick erschien eine ehrwürdige Gestalt im besten Mannesalter in vornehmer Kleidung. Ein weißer Mantel bedeckte ihn ganz. Sein Gesicht war so leuchtend, dass ich ihn nicht anschauen konnte. Er rief mich beim Namen und befahl mir, mich an die Spitze dieser Kinder zu stellen. Folgende Worte fügte er hinzu: „Nicht mit Schlägen, sondern mit Milde und Liebe wirst sie zu Freunden gewinnen. Fang also sofort damit an und belehre sie über die Hässlichkeit der Sünde und die Kostbarkeit der Tugend.“

Verwirrt und erschrocken antwortete ich, ich sei ein armer und unwissender Junge und unfähig, mit diesen Jugendlichen über Religion zu sprechen. In diesem Augenblick hörten diese Jungen auf, zu lachen, zu schreien und zu fluchen. Sie versammelten sich alle um den, der da sprach.

Ohne eigentlich zu wissen, was ich sagte, fragte ich: „Wer seid Ihr, dass Ihr mir solch unmögliche Dinge befehlt?“ – „Gerade weil diese Dinge dir unmöglich erscheinen, musst du sie mit Gehorsam und dem Erwerb von Wissen möglich machen.“ – „Wo und mit welchen Mitteln werde ich mir dieses Wissen aneignen können?“ – „Ich werde dir die Lehrmeisterin geben, unter deren Anleitung du weise werden kannst und ohne die jedes Wissen zur Torheit wird.“ - „Aber wer seid Ihr, dass Ihr so sprechen könnt?“ - „Ich bin der Sohn derer, die deine Mutter dich dreimal täglich zu grüßen gelehrt hat.“ - „Meine Mutter sagt mir, ich soll mich nicht ohne ihre Erlaubnis mit denen einlassen, die ich nicht kenne. Nennt mir also Euren Namen.“ - „Meinen Namen erfrage von meiner Mutter.“

In diesem Augenblick sah ich an seiner Seite eine Frau von majestätischem Aussehen, bekleidet mit einem Mantel, der rundum strahlte, als wäre jeder Punkt des Mantels ein herrlich leuchtender Stern. Als sie sah, dass ich in meinen Fragen und Antworten immer verlegener wurde, bedeutete sie mir, mich Ihr zu nähern. Sie nahm mich gütig an der Hand und sagte: „Schau nur.“ Als ich aufblickte, sah ich, dass diese Jungen allesamt das Weite gesucht hatten. Statt ihrer erblickte ich eine Herde Ziegen, Hunde, Katzen, Bären und einige andere Tiere. – „Das ist dein Tätigkeitsfeld. Werde demütig, stark und kräftig. Und das, was du da an diesen Tieren geschehen siehst, musst du mit meinen Kindern tun.“

Ich wendete meinen Blick dorthin und siehe: An Stelle der wilden Tiere erschienen ebenso viele zahme Lämmer. Sie hüpften blökend um diesen Mann und diese Frau herum, als wollten sie ein Fest feiern.

Da musste ich – immer noch im Schlaf – weinen. Ich bat darum, doch so zu sprechen, dass ich es verstehe. Ich wusste nämlich nicht, was das bedeuten sollte. Sie legte mir die Hand auf den Kopf und sagte: „Zu seiner Zeit wirst du alles verstehen.“

Als Sie das gesagt hatte, weckte mich ein Geräusch auf. Ich war ganz verblüfft. Es schien, als ob mir die Hände noch wehtäten von den Schlägen, die ich ausgeteilt hatte, und dass das Gesicht mir noch schmerzte von den Ohrfeigen, die bekommen hatte. Diese Persönlichkeit, diese Frau und die gesagten und gehörten Dinge beschäftigten mich so sehr, dass ich nicht mehr einschlafen konnte.

Am nächsten Morgen habe ich in meiner Besorgnis diesen Traum sofort erzählt – erst meinen Brüdern, die mich auslachten; dann meiner Mutter und meiner Großmutter. Jeder und jede gab die eigene Deutung des Traums preis. Bruder Josef sagte: „Du wirst einmal Hirte von Ziegen, Schafen oder anderen Tieren werden.“ Die Mutter sagte: „Wer weiß, ob du nicht Priester werden sollst.“ Antonius bemerkte trocken: „Vielleicht wirst du einmal Räuberhauptmann.“ Die Großmutter, die sich in religiösen Dingen zwar gut auskannte, aber weder lesen noch schreiben konnte, äußerte: „Träumen soll man keine Bedeutung beimessen.“

Ich war der gleichen Meinung wie meine Großmutter. Aber es gelang mir nie, diesen Traum aus meinem Gedächtnis zu streichen. Die Dinge, die ich nun darlege, werden dem Traum eine gewisse Bedeutung geben. Ich habe dann nicht mehr über den Traum geredet. Und meine Angehörigen haben ihn nicht für wichtig gehalten. Als ich aber 1858 nach Rom reiste, um mit dem Papst über die Salesianische Kongregation zu verhandeln, ließ er sich bis ins Kleinste alles berichten, was auch nur den Anschein von etwas Übernatürlichem hätte. So erzählte ich zum ersten Mal den Traum, den ich mit neun bis zehn Jahren hatte. Der Papst trug mir auf, den Traum wortwörtlich und in allen Einzelheiten aufzuschreiben und ihn den Söhnen der Kongregation, die ja der Zweck dieser Romreise war, zur Ermutigung zu hinterlassen.» 11

Ich wünsche Euch allen, dass Ihr Euch den Traum des geliebten Vaters und Gründers unserer Salesianischen Familie, Don Bosco, zu Eigen macht. Bemühen wir uns, diesen Traum zu Gunsten der Jugendlichen, besonders der ärmsten, verlassensten und am meisten gefährdeten, Wirklichkeit werden zu lassen. Lasst uns auch weiterhin für sie neue Träume träumen.

Die Mutter Gottes, in deren Namen wir dieses Jahr der Gnade 2008 beginnen, möge Euch Mutter und Lehrmeisterin sein, wie sie es für Don Bosco war. In ihrer Schule werden wir lernen, ein Herz von Erziehern und Erzieherinnen zu haben.

Rom, den 31. Dezember 2007

Don Pascual Chávez Villanueva SDB

Generaloberer


1 AA.VV. „Il Sistema educativo di Don Bosco tra pedagogia antica e nuova“, Atti del Convegno Europeo Salesiano sul sistema educativo di Don Bosco, LDC Torino 1974, S. 314.

2 P. Ruffinato, Educhiamo con il cuore di Don Bosco, in „Note di Pastorale Giovanile“, Nr. 6/2007, S. 9.

3 Vgl. G. Bosco, Dei castighi da infliggersi nelle case salesiane, in P. Braido, Don Bosco educatore. Scritti e testimonianze, LAS, Roma 1992, S. 340.

4 Vgl. P. Braido, Prevenire non reprimere. Il sistema educativo di Don Bosco, LAS, Roma 1999, S. 181.

5 Vgl. P. Braido, Prevenire non reprimere. Il sistema di Don Bosco, LAS, Roma 1999, S. 391.

6 Vgl. G. Bosco, Dei castighi da infliggersi nelle case salesiane, in P. Braido, Don Bosco educatore. Scritti e testimonianze, LAS, Roma 1992, S. 335.

7 Ebd. S. 336.

Anm. der Redaktion: Der hier und im Folgenden mehrmals gebrauchte Begriff der Väterlichkeit nimmt Bezug auf die Väterlichkeit Don Boscos, der „seinen“ Jugendlichen „Vater, Bruder und Freund“ war. Wie Roger Burggraeve und Jacques Schepens darlegten, ist der Begriff „Väterlichkeit“ im Erziehungssystem Don Boscos heute nicht primär geschlechtsspezifisch zu verstehen, sondern hat aus heutiger Sicht eine symbolische Bedeutung. In der salesianischen Pädagogik verbinden sich vielmehr die für eine ausgewogene Erziehung so grundlegenden Prinzipien der „Mütterlichkeit“ (Liebenswürdigkeit, d.h.: Affektivität, Emotionalität) und der „Väterlichkeit“ (Vernunft, d.h: ethische Konfrontation, Rationalität) zu einer glücklichen Synthese. Vgl. hierzu: Roger Burggraeve / Jacques Schepens: Emotionalität, Rationalität und Sinngebung als Faktoren chrislicher Werterziehung. Eine Interpretation des pädagogischen Erbes Don Boscos für heute, Benediktbeurer Hochschulschriften 14, München 1999.

Anm. der Redaktion: In diesem und im folgenden Abschnitt wird das doppelte Erziehungsziel angesprochen, das Don Bosco so sehr am Herzen lag. Er verwendete vielfältige sprachliche Varianten, um es zum Ausdruck zu bringen. Am häufigsten sprach er vom „guten Christen und ehrenwerten Bürger“ („buon cristiano e onesto cittadino“). Das Adjektiv „onesto“ bedeutet soviel wie: ehrlich, ehrbar, anständig, redlich. Andere Varianten zeigen, dass es Don Bosco noch um mehr ging: „gute Bürger und wahre Christen“ („buoni cittadini e veri cristiani“), „gute Christen und kluge Staatsbürger“ („buoni cristiani e savii cittadini“) oder „gute Christen und rechtschaffene Menschen“ („buoni cristiani e uomini probi“). In späteren Schriften verwendete Don Bosco auch das Begriffspaar: „Zivilisierung und Evangelisierung“ („civilizzazione ed evangelizzazione“), um seine Zielsetzung auszudrücken; oder er sprach davon, „das Wohl der Humanität und der Religion“ fördern zu wollen. Don Bosco ging es also um eine ganzheitliche Bildung der jungen Menschen, die die soziale, gesellschaftliche und politische Bildung einschließen sollte und diese mit dem Glauben verbinden sollte, damit die jungen Menschen sich gemäß den Anforderungen der jeweiligen Zeit und Kultur als mitverantwortliche Glieder und als gläubige Christen in ihrem sozialen Umfeld, in Staat und Gesellschaft bewähren können. (Vgl. hierzu auch: Pietro Braido: Junge Menschen ganzheitlich begleiten, München 1999, S. 152-165.)

8 Vgl. 23. GK (SDB), 203-210; 212-214.

9 G. Bosco, Ricordi ai missionari, in P. Braido, Don Bosco educatore. Scritti e testimonianze, LAS, Roma 1992, S. 206.

Der Generalobere verwendet in jedem Glied der folgenden Aufzählung das Wort „ragazzi“, was sowohl Kinder als auch Jugendliche bedeuten kann.

10 25. GK (SDB), 140.

Übereinkommen über die Rechte des Kindes. UN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien, [am 26. Januar 1990 von der BRD unterzeichnet (…) am 5. April 1992 für Deutschland in Kraft getreten], hg. v. Bundesministerium für Familien, Frauen und Jugend, Berlin 2007, Art. 29, S. 22f.

Anm. der Redaktion: Die BRD hat die UN-Kinderrechtskonvention am26. Januar 1990 unterzeichnet; am 5 April 1992 trat sie in Deutschland in Kraft. Österreich hat sie ebenfalls am 26. Januar 1990 unterzeichnet; sie trat in Österreich am 5. September 1992 in Kraft. In der Schweiz trat sie am 26. März 1997 in Kraft.

 Anm. der Redaktion: Dieses Wort bedeutet soviel wie zivil-gesellschaftliches oder sozial-bürgerliches Lernen; anders gesagt ist damit eine politische Bildung gemeint, die nicht nur politisches Wissen vermittelt, sondern auch dazu befähigt, sich in Staat und Gesellschaft in mitverantwortlicher und solidarischer Weise für das Gemeinwohl zu engagieren.

Entwicklung, der neue Name für Friede“ (vgl. Papst Paul VI.: Enzyklika POPULORUM PROGRESSIO über die Entwicklung der Völker [1967], Überschrift zu den Artikeln 76-80).




11 G. Bosco, Memorie dell’Oratorio di San Francesco di Sales dal 1815 bis 1855, Einleitung, Anmerkungen und kritische Textausgabe von A. Da Silva Ferreira, LAS, Rom 1991, Seiten 34-37. Deutsch: Johannes Bosco: Erinnerungen von 1815 bis 1855 an das Oratorium des hl. Franz von Sales, München 2001, 46-49.

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