Papst_Botschaft_GK28


Papst_Botschaft_GK28

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Botschaft von
Papst Franziskus
an die
Teilnehmer des
28. Generalkapitels
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Botschaft von Papst Franziskus
Liebe Brüder!
Ich grüße Euch herzlich und danke Gott, dass ich, wenngleich aus der
Ferne, einen Moment des Weges, den Ihr gerade geht, mit Euch teilen
kann.
Es ist bedeutungsvoll, dass Euch die Vorsehung nach einigen Jahr-
zehnten wieder in Valdocco zum Generalkapitel zusammengeführt hat.
Denn an diesem Ort der Erinnerung konkretisierte sich der Traum der
Gründung und erfolgten die ersten Schritte dazu. Ich bin mir sicher, dass
der Lärm und das Stimmengewirr der jungen Menschen im Oratorium
die beste, wirksamste Musik sind, damit der Heilige Geist die charisma-
tische Gabe Eures Gründers wieder aufleben lässt. Schließt vor dieser
Geräuschkulisse nicht die Fenster ... Lasst es zu, dass sie Euch begleitet
und Euch unruhig und unerschrocken in der Unterscheidung hält; und
erlaubt, dass diese Stimmen und Gesänge ihrerseits in Euch die Ge-
sichter von vielen anderen jungen Menschen hervorrufen, die aus ver-
schiedenen Gründen wie Schafe ohne Hirten sind (vgl. Mk 6,34). Dieses
Stimmengewirr und diese Unruhe werden Euch aufmerksam und wach-
sam gegenüber jeder Art von selbst auferlegter Betäubung halten. Sie
werden Euch auch helfen, Eurer salesianischen Identität auf kreative Art
und Weise treu zu bleiben.
Die empfangene Gabe wieder aufleben lassen
Über den Salesianer für die jungen Menschen von heute nachzudenken
beinhaltet auch anzunehmen, dass wir in einer Zeit des Wandels leben,
mit allem, was das an Unsicherheiten erzeugt. Niemand kann mit Sicher-
heit und Präzision sagen (wenn es jemals möglich war), was in naher Zu-
kunft auf sozialer, wirtschaftlicher, erzieherischer und kultureller Ebene
passieren wird. Die Unbeständigkeit und „Wechselhaftigkeit“ der Ereig-
nisse, aber vor allem die Schnelligkeit, mit der die Dinge aufeinander
folgen und sich ausbreiten, sorgt dafür, dass jede Vorhersage zu einer
Lesart wird, die sehr bald überarbeitet werden muss (vgl. Apostolische
Konstitution Veritatis gaudium, 3-4). Diese Perspektive verschärft sich
noch mehr durch die Tatsache, dass Eure Werke sich in besonderer Wei-
se an die Welt der Jugend richten, die selbst eine Welt in Bewegung und
andauerndem Wandel ist. Das erfordert von uns eine doppelte Fügsam-
keit: Fügsamkeit gegenüber den jungen Menschen und ihren Bedürfnis-
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Botschaft von Papst Franziskus
sen und Fügsamkeit gegenüber dem Heiligen Geist und all dem, was Er
verwandeln will.
Wenn wir diese Lage – sowohl auf persönlicher als auch auf gemein-
schaftlicher Ebene – verantwortlich annehmen wollen, müssen wir eine
Rhetorik verlassen, die uns andauernd sagen lässt, dass „alles im Wan-
del ist“, und die schließlich, aufgrund der ständigen Wiederholung, in
einer lähmenden Untätigkeit erstarrt, die Eurer Sendung den Freimut
(griech. Parrhesie) raubt, der den Jüngern des Herrn eigen ist. Eine sol-
che Untätigkeit kann sich auch ausdrücken in einem Blick und einer Hal-
tung voll Pessimismus gegenüber allem, was uns umgibt, und zwar nicht
nur angesichts der Wandlungen, die sich in der Gesellschaft vollziehen,
sondern auch in der Beziehung zur eigenen Kongregation, zu den Mitbrü-
dern und zum Leben der Kirche. Eine solche Haltung „boykottiert“ und
verhindert schließlich jede Antwort oder jeden Prozess, die eine Alterna-
tive bieten. Aber auch das genaue Gegenteil kann eintreten: Ein blinder
Optimismus kann die Kraft und Neuheit des Evangeliums verflüchtigen
und verhindern, dass die Komplexität, die die Situation erfordert, und
die Prophetie, die fortzuführen der Herr uns einlädt, konkret angenom-
men werden. Weder Pessimismus noch Optimismus sind Gaben des Hei-
ligen Geistes, weil sie beide aus einer selbstbezogenen Sicht kommen,
die nur fähig ist, sich an den eigenen Kräften, Fähigkeiten oder Fertig-
keiten zu messen und uns daran hindert, das zu sehen, was der Herr
unter uns wahrmacht und verwirklichen will (vgl. Nachsynodales Apo-
stolisches Schreiben Christus vivit, 35). Wir sollten uns weder an eine
Modekultur anpassen noch in eine heroische Vergangenheit fliehen, die
keine Gegenwart mehr verkörpert. In Zeiten des Wandels tut es gut, sich
an die Worte des Heiligen Paulus an Timotheus zu halten: „Darum rufe
ich dir ins Gedächtnis: Entfache die Gnade Gottes wieder, die dir durch
die Auflegung meiner Hände zuteilgeworden ist! Denn Gott hat uns nicht
einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der
Liebe und der Besonnenheit“ (2 Tim 1,6-7).
Diese Worte fordern uns auf, eine kontemplative Haltung zu pflegen,
die fähig ist, die neuralgischen Punkte zu identifizieren und zu unter-
scheiden. Das wird auf dem Weg helfen, sich vertraut zu machen mit
dem Geist und dem Beitrag, der den Söhnen Don Boscos eigen ist, und
wie er eine „mutige kulturelle Revolution“ (Enzyklika Laudato sì, 114) zu
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fördern. Diese kontemplative Haltung wird Euch erlauben, selbst Eure
Erwartungen zu übertreffen und über Eure Programme hinauszugehen.
Wir sind Männer und Frauen des Glaubens, was von Jesus Christus be-
geisterte Menschen voraussetzt. Wir wissen, dass unsere Gegenwart
wie unsere Zukunft von dieser apostolisch-charismatischen Kraft durch-
drungen sind. Sie ruft uns dazu auf, weiterhin das Leben vieler junger
Menschen zu prägen, die verlassen und gefährdet sind, arm und bedürf-
tig, ausgeschlossen und „abgeschrieben“, ohne Rechte und ohne Dach
über dem Kopf usw. Diese jungen Menschen erwarten einen Blick voll
Hoffnung, der jeder Art von Fatalismus oder Determinismus entgegen-
steht. Sie warten darauf, den Blick von Jesus zu kreuzen, der ihnen sagt,
„dass es in all den dunklen oder schmerzhaften Situationen [...] einen
Ausweg gibt“ (Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christus vivit,
104). Genau dort wohnt unsere Freude.
Weder Pessimist noch Optimist, ist der Salesianer des 21. Jahrhun-
derts ein hoffnungsvoller Mann, weil er weiß, dass er seine Mitte beim
Herrn hat, der alles neu machen kann (vgl. Offb 21,5). Nur das wird uns
davor retten, in einer resignativen Haltung bloßen Überlebenskampfes
zu verharren. Nur das wird unser Leben fruchtbar machen (vgl. Predigt,
2. Februar 2017), weil es ermöglicht, dass die empfangene Gabe weiter-
hin für und mit den jungen Menschen von heute erfahren und als gute
Nachricht verstanden wird. Diese Haltung der Hoffnung ist in der Lage,
alternative erzieherische Prozesse zur herrschenden Kultur zu instal-
lieren und zu eröffnen, deren Prozesse in nicht wenigen Situationen –
sowohl aufgrund von Not und extremer Armut als auch von Überfluss,
der in einigen Fällen sogar extrem ist – darin enden, die Träume unserer
jungen Menschen zu ersticken und zu töten, und sie zu einem ohren-
betäubenden, kriecherischen und oft auch betäubenden Konformismus
verdammen. Wir sollen weder billig triumphieren noch immerzu Alarm
schlagen, sondern fröhliche und hoffnungsvolle Männer und Frauen
sein, keine Automaten, sondern geschickt Handelnde: fähig, „andere
Träume zu zeigen, die die Welt nicht geben kann, und Zeugnis zu ge-
ben für die Schönheit der Großherzigkeit, des Dienstes, der Reinheit, der
Stärke, der Vergebung, der Treue zur eigenen Berufung, des Gebets, des
Kampfes für die Gerechtigkeit und für das Gemeinwohl, der Liebe für die
Armen und der sozialen Freundschaft“ (Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Christus vivit, 36).
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Die „Option Valdocco“ Eures 28. Generalkapitels ist eine gute Gelegen-
heit, um sich mit den Quellen zu messen und den Herrn zu bitten: „Gib
mir Seelen, alles andere nimm!“45 Nimm vor allem das, was erst während
des Weges allmählich einverleibt wurde und sich verewigt hat und Euch
heute, auch wenn es in einer anderen Zeit eine angemessene Antwort
gewesen sein konnte, daran hindert, die salesianische Präsenz in einer
bedeutungsvollen Weise gemäß dem Evangelium in den verschiedenen
Situationen der Sendung zu gestalten und auszuformen. Das erfordert
von unserer Seite, die Ängste und Sorgen zu überwinden, die auftau-
chen können, weil man geglaubt hat, dass das Charisma sich auf ganz
bestimmte Werke oder Strukturen reduzieren lasse oder mit diesen
identifiziert werden könne. In Treue das Charisma zu leben ist reicher
und anregender als das einfache Verlassen, Aufgeben oder Anpassen
der Häuser oder der Tätigkeiten; es beinhaltet einen Mentalitätswechsel
angesichts der zu verwirklichenden Sendung.46
Die „Option Valdocco“ und das Geschenk der jungen Menschen
Das salesianische Oratorium und alles, was von diesem ausgeht, ent-
steht, so erzählen es die Erinnerungen an das Oratorium, als Antwort
auf das Leben der jungen Menschen mit einem Gesicht und einer Ge-
schichte, die jenen jungen Priester bewegten, der nicht fähig war, neu-
tral oder unbeweglich gegenüber dem, was passierte, zu bleiben. Es war
viel mehr als eine Geste guten Willens oder von Güte, und sogar sehr
viel mehr als das Ergebnis eines Studienprojekts über die „rechnerische
und charismatische Machbarkeit“. Ich sehe es wie einen andauernden
Akt der Bekehrung und der Antwort an den Herrn, der, „müde“ davon,
an unsere Türen „anzuklopfen“, darauf wartet, dass wir gehen, um ihn
45 Ein Motto, das das Feuer der ersten Missionare prägte. Ich erinnere an den Brief von
Don Giacomo Costamagna an Don Bosco, in dem dieser zum Schluss sagt, nachdem
er von den Schwierigkeiten auf der Reise und verschiedenen Fehlschlägen, denen
sie begegnet waren, erzählt hatte: „Wir bitten einmütig nur um eine Sache: Wir wol-
len bald nach Patagonien gehen, um unzählige Seelen zu retten“. Das Bewusstsein,
aufgefordert zu sein, das Heil der Seelen an den Rändern zu suchen und vermeintli-
che Fehlschläge zu überwinden, ist ein Identitätsmerkmal, an dem das Charisma zu
messen ist: „Gib mir Seelen, alles andere nimm!“
46 Erinnern wir uns an die Belehrung des Herrn: „Ihr gebt Gottes Gebot preis und haltet
euch an die Überlieferung der Menschen“ (Mk 7,8).
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zu suchen und zu treffen ... Oder dass wir ihm aufmachen, wenn er von
innen klopft. Es war eine Bekehrung, die sein ganzes Leben einschloss
(und verkomplizierte) und auch das der ihm Nahestehenden. Don Bosco
entschied sich nicht, sich von der Welt abzutrennen, um die Heiligkeit zu
suchen, sondern er ließ sich in Frage stellen und entschied, wie und in
welcher Welt er leben wollte.
Er entschied sich, die Welt der verlassenen Kinder und Jugendlichen,
die ohne Arbeit und Ausbildung waren, anzunehmen. Das erlaubte ih-
nen, die Vaterschaft Gottes spürbar zu erfahren, und gab ihnen Mittel,
ihr Leben und ihre Geschichte im Licht einer bedingungslosen Liebe zu
deuten. Sie halfen ihrerseits der Kirche, der ihr eigenen Sendung erneut
zu begegnen: „Ein Stein, den die Bauleute verwarfen, er ist zum Eckstein
geworden“ (Ps 118,22). Weit davon entfernt, passiv Handelnde oder Zu-
schauer des Sendungswerkes zu sein, wurden diese, ausgehend von
ihrer eigenen Situation – in vielen Fällen „ungebildete Ordensmänner“
und „soziale Analphabeten“ – die Hauptdarsteller des gesamten Grün-
dungsprozesses.47 Die Salesianität entstand genau aus diesem Aufein-
andertreffen und vermochte Prophetie und Visionen hervorzurufen: Sie
ließ die besten Qualitäten als Geschenk für die anderen empfangen,
ergänzen und wachsen, besonders für die ausgeschlossenen und ver-
lassenen Jugendlichen, von denen nichts erwartet wurde. Papst Paul
VI. drückte es so aus: „Die Kirche, Trägerin der Evangelisierung, beginnt
damit, sich selbst zu evangelisieren. [...] [Das bedeutet, dass sie immer
wieder evangelisiert werden muss,] wenn sie ihre Lebendigkeit, ihren
Schwung und ihre Stärke bewahren will, um das Evangelium zu verkün-
den“ (Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi, 15). Jedes Charisma
47 Dank der Hilfe des weisen Don Cafasso entdeckte Don Bosco, wer er in den Augen
der jungen Gefangenen war; und diese jungen Gefangenen entdeckten ein neues
Gesicht im Blick Don Boscos. So entdeckten sie gemeinsam den Traum Gottes, der
solche Begegnungen braucht, um sich zu zeigen. Don Bosco entdeckte seine Sen-
dung nicht vor einem Spiegel, sondern in dem Schmerz, junge Menschen zu sehen,
die keine Zukunft hatten. Der Salesianer des 21. Jahrhunderts wird seine eigene
Identität nicht entdecken, wenn er nicht fähig ist, mitzuleiden mit den „Scharen von
Jugendlichen […], alle gesund, robust und mit wachem Verstand; [aber gepeinigt im
Gefängnis und] nach geistlicher und zeitlicher Nahrung darbend […]. Die Schande
ihrer Heimat, die Unehre ihrer Familien […] waren in diesen Unglücklichen geradezu
personifiziert“ (Erinnerungen an das Oratorium des Heiligen Franz von Sales, Mün-
chen 2001, S. 136f.). Und wir könnten hinzufügen: die Schande unserer Kirche selbst.
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bedarf der Erneuerung und Evangelisierung. In Eurem Fall geschieht das
vor allem durch die ärmeren jungen Menschen.
Die Gesprächspartner Don Boscos gestern und der Salesianer heute
sind nicht bloß Empfänger einer im Voraus geplanten Strategie, sondern
lebendige Protagonisten des zu verwirklichenden Oratoriums.48 Durch
sie und mit ihnen zeigt uns der Herr seinen Willen und seine Träume.49
Wir könnten sie Mitgründer Eurer Häuser nennen, wo der Salesianer der
Fachmann dafür ist, diese Art von Dynamik hervor- und zusammenzu-
rufen, ohne sich als Chef davon zu fühlen. Eine solche Verbindung erin-
nert uns daran, dass wir „Kirche im Aufbruch“ sind, und mobilisiert uns
dafür: eine Kirche, die fähig ist, bequeme, sichere und manchmal privi-
legierte Positionen aufzugeben, um in den Letzten die typische Frucht-
barkeit des Reiches Gottes zu finden. Es handelt sich nicht um eine stra-
tegische Entscheidung, sondern um eine charismatische. Eine solche
Fruchtbarkeit hält sich auf der Grundlage des Kreuzes Christi, was eine
skandalöse Ungerechtigkeit für diejenigen ist, die ihre Sensibilität ge-
genüber dem Leid abgeschnitten haben oder sich mit der Ungerechtig-
keit gegenüber dem Unschuldigen abgefunden haben. „Wir dürfen kei-
ne Kirche sein, die angesichts dieser Tragödien ihrer jungen Söhne und
Töchter keinen Schmerz empfindet. Wir dürfen uns nie daran gewöhnen,
denn wer nicht in der Lage ist zu weinen, ist keine Mutter. Wir sollen
weinen, damit auch die Gesellschaft mütterlicher wird“ (Nachsynodales
Apostolisches Schreiben Christus vivit, 75).
Die „Option Valdocco“ und das Charisma der Präsenz
Es ist wichtig festzuhalten, dass wir nicht für die Sendung ausgebil-
det werden, sondern dass wir in der Sendung ausgebildet werden, um
die sich unser ganzes Leben mit seinen Entscheidungen und Prioritä-
ten dreht. Die Grundausbildung und die Weiterbildung dürfen von der
48 Heute sehen wir in vielen Regionen, dass sich die jungen Menschen als erste erhe-
ben und organisieren, um gerechte Anliegen zu fördern. Eure salesianischen Häuser,
weit davon entfernt, dieses Erwachen zu verhindern, sind gerufen, Räume zu wer-
den, die dieses christliche und staatsbürgerliche Gewissen anschieben können. Er-
innern wir uns an den diesjährigen Jahresleitgedanken des Generaloberen: „Gute
Christen und verantwortungsbewusste Staatsbürger”.
49 Ich fordere Euch auf, immer diejenigen im Blick zu behalten, die sich zwar an derglei-
chen Dingen nicht beteiligen, die wir aber nicht einfach ignorieren können, wenn wir
kein geschlossener Verein werden wollen.
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Identität und Sensibilität des Schülers nicht abgespalten werden in ei-
ner vorausgehenden oder parallelen Sonderwelt. Die Mission unter den
Völkern (inter gentes) ist unsere beste Schule: von ihr ausgehend beten,
überlegen, studieren und ruhen wir. Wenn wir uns vom Volk isolieren
oder entfernen, dem wir doch zu dienen berufen sind, dann droht unsere
Identität als Geweihte verzerrt und entstellt zu werden.
In diesem Sinne hat eines der Hindernisse, die wir ausmachen können,
nicht so sehr mit einer äußeren Verfassung unserer Gemeinschaften zu
tun, sondern es berührt eher direkt ein Zerrbild des Amtes ..., das uns
sehr weh tut: den Klerikalismus. Es ist das persönliche Streben, Räume
besetzen, bündeln und bestimmen zu wollen und dabei die Salbung des
Volkes Gottes zu minimieren und zu annullieren. Der Klerikalismus lebt
die Berufung auf eine elitäre Art und Weise und verwechselt Wahl mit Pri-
vileg, Dienst mit Unterwürfigkeit, Einheit mit Uniformität, Verschieden-
heit mit Widersetzlichkeit, Bildung mit Indoktrination. Der Klerikalismus
ist eine Perversion, die funktionelle, paternalistische, besitzergreifende
und sogar manipulatorische Beziehungen mit den übrigen kirchlichen
Berufungen fördert.
Ein anderes Hindernis, dem wir begegnen – verbreitet und sogar ent-
schuldbar, vor allem in dieser unsicheren und brüchigen Zeit – ist die
Neigung zum Rigorismus. Er verwechselt Autorität mit Autoritarismus.
Er gibt vor, die menschlichen Vorgänge mit einer gewissenhaften, stren-
gen und sogar kleinlichen Haltung gegenüber den eigenen Grenzen und
Schwächen oder denen der anderen (besonders der anderen) zu steu-
ern und zu kontrollieren. Der Rigorist vergisst, dass das Korn und das
Unkraut gemeinsam wachsen (vgl. Mt 13,24-30) und „dass ‚nicht alle
alles können‘, und dass in diesem Leben die menschliche Hinfälligkeit
nicht vollständig und ein für alle Mal durch die Gnade geheilt wird. Wie
der heilige Augustinus lehrte, lädt Gott in manchen Fällen ein, das zu
tun, was man kann, und ‚das zu erbitten, was man nicht kann‘“ (Apo-
stolisches Schreiben Gaudete et Exsultate, 49). Der heilige Thomas von
Aquin erinnert uns mit großer Feinheit und geistlichem Scharfsinn da-
ran, dass „der Teufel viele verführt. Einige lockt er, Sünden zu begehen,
andere hingegen zu einer übermäßigen Strenge gegenüber dem Sünder,
so dass, wenn er sie nicht über ihr sündhaftes Verhalten haben kann, er
jene zur Verdammnis führt, die er schon hat. Dabei nutzt er die Stren-
ge der Kirchenmänner, die nicht mit Barmherzigkeit zurechtweisen. So
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verirren sie sich und fallen dem Teufel ins Netz. Und das geschieht uns,
wenn wir den Sündern nicht vergeben“.50
Wer andere Menschen bei ihrem Wachsen und Reifen begleitet, muss
selber einen weiten Horizont haben, dazu fähig, Begrenzungen und Hoff-
nung zusammenzubringen, um so dabei zu helfen, immer nach vorne zu
schauen, mit einer heilbringenden Perspektive. Ein Erzieher, „der sich
nicht fürchtet, Grenzen zu setzen, und der sich gleichzeitig auf die Dyna-
mik der Hoffnung verlässt, die sich in seinem Vertrauen auf das Handeln
des Herrn bei den Prozessen ausdrückt, ist das Bild eines starken Men-
schen, der leitet, was nicht ihm, sondern seinem Herrn gehört“.51 Wir
dürfen nicht die Kraft und die Gnade des Möglichen hindern und ersti-
cken, verbirgt sich doch in dessen Verwirklichung immer ein Samen neu-
en und guten Lebens. Lernen wir mitzuarbeiten und auf die Zeiten Gottes
zu vertrauen, die immer größer und weiser sind als unsere kurzsichtigen
Maßnahmen. Er will niemand zugrunderichten, sondern alle retten.
Es ist deshalb dringend, einen Erziehungsstil zu finden, der struktu-
rell der Tatsache gerecht wird, dass Evangelisierung die vollkommene
Teilhabe mit dem vollen Bürgerrecht eines jeden Getauften beinhaltet
– mit seinen ganzen Möglichkeiten und Grenzen – und nicht nur die der
sogenannten „qualifizierten Mitarbeiter“ (vgl. Apostolisches Schreiben
Evangelii gaudium, 120). Bei dieser Beteiligung soll der Dienst, und zwar
der Dienst an den Ärmsten, das Rückgrat sein, das unseren Herrn offen-
bar macht und besser zu bezeugen hilft. Er ist „nicht gekommen, um sich
dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als
Lösegeld für viele“ (Mt 20,28). Ich ermutige Euch, dass Ihr Euch weiterhin
darum bemüht, aus Euren Häusern ein „kirchliches Labor“ zu machen,
das in der Lage ist, die verschiedenen Berufungen und Sendungen in
der Kirche zu erkennen, zu schätzen, aufzumuntern und anzuspornen.52
50 Super II Cor., cap. 2, lect. 2 (in fine). Der vom heiligen Thomas kommentierte Ab-
schnitt ist 2 Kor 2,6-7, in dem der heilige Paulus über einen, der ihn betrübt hat,
schreibt: „Deshalb sollt ihr jetzt lieber verzeihen und trösten, damit ein solcher nicht
von allzu großer Traurigkeit überwältigt wird.“
51 Jorge Maria BERGOGLIO, Meditazioni per religiosi, 105.
52 Eine kirchliche Berufung ist, bevor sie ein Zeichen der Unterscheidung oder Ergän-
zung ist, eine Einladung, eine besondere Gabe für das Wachstum der anderen anzu-
bieten.
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Botschaft von Papst Franziskus
In diesem Sinne denke ich konkret an zwei Präsenzen Eurer salesia-
nischen Gemeinschaft, die hilfreiche Bausteine sein können, um den
Platz zu erörtern, den die verschiedenen Berufungen unter Euch einneh-
men; zwei Präsenzen, die ein „Gegengift“ gegen jede Neigung zu Kleri-
kalismus oder Rigorismus bilden könnten: der Salesianerbruder und die
Frauen.
Die Salesianerbrüder sind der lebendige Ausdruck der Selbstlosig-
keit, die zu wahren uns das Ordenscharisma auffordert. Eure Weihe ist
zuallererst Zeichen der selbstlosen Liebe des Herrn und der Liebe zum
Herrn in seinen jungen Menschen. Sie definiert sich nicht hauptsäch-
lich über ein Amt, eine Funktion oder einen besonderen Dienst, sondern
durch eine Präsenz. Noch bevor etwas zu tun ist, ist der Salesianer die
lebendige Erinnerung an eine Präsenz, in der Verfügbarkeit, Zuhören,
Freude und Hingabe die grundlegenden Elemente sind, um Prozesse in
Gang zu bringen. Die Selbstlosigkeit der Präsenz rettet die Kongregation
vor jeder Obsession des Aktivismus und vor jedem technisch-funktio-
nalen Reduktionismus. Der erste Ruf ist jener, inmitten der jungen Men-
schen freudig und selbstlos präsent zu sein.
Was wäre Valdocco ohne die Präsenz von Mama Margerita? Wären
Eure Häuser möglich gewesen ohne diese gläubige Frau? In einigen
Regionen und Orten „gibt es Gemeinschaften, die lange Zeit hindurch
sich gehalten und den Glauben weitergegeben haben, ohne dass dort –
manchmal jahrzehntelang – ein Priester vorbeigekommen wäre. Dies ist
der Präsenz von starken und engagierten Frauen zu verdanken, Die, ge-
wiss berufen und angetrieben vom Heiligen Geist, tauften, Katechesen
hielten, den Menschen das Beten beibrachten und missionarisch wirk-
ten. Jahrhundertelang hielten die Frauen die Kirche an diesen Orten mit
bewundernswerter Hingabe und leidenschaftlichem Glauben aufrecht“
(Nachsynodales Apostolisches Schreiben Querida Amazonia, 99). Ohne
eine reale, effektive und warmherzige Präsenz von Frauen würde Euren
Werken der Mut wie die Fähigkeit fehlen, Präsenz als Gastfreundschaft,
als Zuhause zu deklinieren. Angesichts einer Strenge, die ausgrenzt,
muss es gelernt werden, das neue Leben des Evangeliums hervorzubrin-
gen. Ich lade Euch ein, Dynamiken voranzubringen, in denen die Stimme
der Frau, ihr Blick und ihr Handeln – geschätzt in ihrer Einzigartigkeit
– ein Echo beim Treffen von Entscheidungen findet. Frauen sollen nicht
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2 Pages 11-20

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2.1 Page 11

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Botschaft von Papst Franziskus
bloß behelfsmäßige, sondern wesentliche Akteure in Euren Präsenzen
sein.
Die „Option Valdocco“ in der Vielfalt der Sprachen
Wie in anderen Zeiten sucht der Mythos Babel sich im Namen der gesam-
ten Menschheit durchzusetzen. Ganze Systeme schaffen ein globales
digitales Kommunikationsnetz, das fähig ist, die verschiedenen Ecken
des Planeten miteinander zu verbinden. Dabei besteht die große Gefahr,
die Kulturen monolithisch zu vereinheitlichen und sie ihrer Wesenszüge
und Ressourcen zu berauben. Die weltweite Präsenz Eurer Don-Bosco-
Familie ist Anreiz und Einladung, den Reichtum vieler Kulturen, in die
Ihr eingetaucht seid, zu hüten und zu bewahren, ohne zu versuchen sie
„gleichzumachen“. Auf der anderen Seite sollt Ihr Euch darum bemühen,
dass das Christentum fähig ist, die Sprache und die Kultur der Menschen
vor Ort anzunehmen. Es ist traurig zu sehen, dass in vielen Teilen die
christliche Präsenz immer noch als eine fremde (vor allem europäische)
Präsenz erfahren wird. Das ist eine Gegebenheit, die man auch bei den
Ausbildungswegen und Lebensstilen antrifft (vgl. ebd., 90).53 Wir sollten
im Gegenteil so handeln, wie es uns diese Anekdote vorgibt: Don Bosco
antwortete auf die Frage, welche Sprache ihm zu sprechen gefiele: „Die-
jenige, die mir meine Mutter gelehrt hat: Das ist die, in der ich am leich-
testen kommunizieren kann“. Wenn wir dieser Gewissheit folgen wollen,
ist der Salesianer aufgerufen, in der Muttersprache der jeweiligen Kultur,
in der er sich befindet, zu sprechen. Die Einheit und Gemeinschaft Eurer
Familie ist in der Lage, diese ganzen Unterschiede anzunehmen und zu
akzeptieren, die den ganzen Leib durch wechselseitige Kommunikation
und Interaktion bereichern können, wo jeder das Beste von sich für das
Wohl des ganzen Leibes anbieten kann. So ist die Salesianität weit da-
von entfernt, sich in der Einförmigkeit der Töne zu verlieren. Sie wird ei-
nen schöneren und anziehenderen Ausdruck gewinnen ... Sie weiß sich
„im Dialekt“ auszudrücken (vgl. 2 Makk 7,26-27).
Gleichzeitig erfordert das Eindringen der virtuellen Realität als vorherr-
53 Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 116: „So verfügt das Christentum,
wie wir in der Geschichte der Kirche sehen können, nicht über ein einziges kulturel-
les Modell, sondern es bewahrt voll seine eigene Identität in totaler Treue zur Ver-
kündigung des Evangeliums und zur Tradition der Kirche und trägt auch das Ange-
sicht der vielen Kulturen und Völker, in die es hineingegeben und verwurzelt wird“.
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2.2 Page 12

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Botschaft von Papst Franziskus
schende Sprache in vielen Ländern, in denen Ihr Eure Sendung ausübt,
zuallererst alle Möglichkeiten und guten Dinge, die sie hervorbringt, an-
zuerkennen, ohne die Auswirkungen zu unterschätzen oder zu ignorie-
ren, die sie besitzt, weil sie vor allem auf affektiver Ebene Bindungen
schafft. Dagegen sind auch wir als Geweihte und Erwachsene nicht im-
mun. Die weitverbreitete (und notwendige) „Bildschirmpastoral“ fordert
uns auf, das Netz intelligent zu nutzen, indem wir es als einen Raum zur
Mission54 anerkennen. Diese fordert ihrerseits, alle notwendigen Ver-
mittlungen zu setzen, um nicht Gefangene seines Kreislaufs und seiner
besonderen (dichotomischen) Logik zu bleiben. Diese Falle kann uns –
wenn auch im Namen der Sendung – in uns selbst verschließen und uns
in einer bequemen, überflüssigen und nur wenig oder gar nicht mit dem
Leben der jungen Menschen, mit den Mitbrüdern der Gemeinschaft oder
mit den apostolischen Aufgaben in Berührung kommenden Virtualität
isolieren. Das Netz ist nicht neutral und es besitzt eine große Macht da-
rin, Kultur zu schaffen. Unter dem Avatar der virtuellen Nähe können wir
blind oder losgelöst vom konkreten Leben der Menschen enden. So ver-
flacht und verarmt die missionarische Kraft. Der individualistische Rück-
zug, der sehr verbreitet ist und in dieser weithin digitalisierten Kultur
gesellschaftlich vorgeschlagen wird, verlangt eine besondere Aufmerk-
samkeit, nicht nur in Bezug auf unsere pädagogischen Modelle, sondern
auch angesichts des persönlichen und gemeinschaftlichen Gebrauchs
der Zeit, unserer Aktivitäten und unserer Güter.
Die „Option Valdocco“ und die Fähigkeit zu träumen
Eines der „literarischen Genres“ Don Boscos waren Träume. Mit ihnen
trat der Herr in sein Leben und in das Leben Eurer ganzen Kongregation
und erweiterte die Vorstellung des Möglichen. Die Träume, weit davon
entfernt, ihn schläfrig zu machen, halfen ihm, wie es auch dem heiligen
Joseph geschah, ein anderes Format und ein anderes Maß für das Leben
anzunehmen, welche aus dem Inneren der Leidenschaft für Gott entste-
hen. Es war möglich, das Evangelium konkret zu leben ... Er träumte da-
von und gab ihm im Oratorium Gestalt.
54 Heute hingegen macht das „eine Evangelisierung nötig, welche die neuen Formen,
mit Gott, mit den anderen und mit der Umgebung in Beziehung zu treten, erleuchtet
und die grundlegenden Werte wachruft. Es ist notwendig, dorthin zu gelangen, wo
die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen“ (Apostolisches Schreiben Evan-
gelii gaudium, 74).
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2.3 Page 13

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Botschaft von Papst Franziskus
Ich möchte Euch diese Worte als „Gutenacht“ wie in jedem guten salesi-
anischen Haus am Ende des Tages anbieten und Euch einladen, Träume
zu haben, große Träume. Wisst, dass Euch das Übrige dazugegeben wird.
Träumt von offenen, fruchtbringenden und evangelisierenden Häusern,
die es dem Herrn erlauben, vielen jungen Menschen seine bedingungs-
lose Liebe zu zeigen, und die es Euch erlauben, Euch an der Schönheit
zu erfreuen, zu der Ihr berufen seid. Träumt ... Und nicht nur für Euch
und für das Wohl der Kongregation, sondern für alle jungen Menschen,
denen die Kraft, das Licht und der Trost der Freundschaft mit Jesus Chri-
stus fehlen, die ohne eine Glaubensgemeinschaft sind, die sie trägt, de-
nen der Horizont eines sinnvollen Lebens mangelt (vgl. Apostolisches
Schreiben Evangelii gaudium, 49). Träumt ... Und bringt zum Träumen!
Rom, Lateranbasilika, 4. März 2020
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