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1.1 Page 1

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Der Heilige Stuhl
NACHSYNODALES
APOSTOLISCHES SCHREIBEN
CHRISTIFIDELES LAICI
VON PAPST
JOHANNES PAUL II.
ÜBER DIE BERUFUNG UND SENDUNG
DER LAIEN
IN KIRCHE UND WELT
An die Bischöfe
An die Priester und Diakone
An die Ordensleute
An alle Laien
EINLEITUNG
1. DIE LAIEN (Christifideles laici), deren »Berufung und Sendung in Kirche und Welt zwanzig
Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil« Thema der Bischofssynode 1987 war, gehören zu
jenem Volk Gottes, für das die Weinbergarbeiter im Matthäusevangelium stehen: »Denn mit dem
Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer, der früh am Morgen sein Haus verließ, um Arbeiter
für seinen Weinberg anzuwerben. Er einigte sich mit den Arbeitern auf einen Denar für den Tag
und schickte sie in seinen Weinberg« (Mt 20, 1-2).
Das Gleichnis des Evangeliums öffnet unseren Blick für den weit ausgedehnten Weinberg des
Herrn und für die großen Scharen von Männern und Frauen, die er ruft und sendet, darin zu
arbeiten. Der Weinberg ist die ganze Welt (vgl. Mt 13, 38), die nach dem Plan Gottes für das
endgültige Kommen des Reiches gewandelt werden muß.
Geht auch ihr in meinen Weinberg
2. »Um die dritte Stunde ging er wieder auf den Markt und sah andere dastehen, die keine Arbeit

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hatten. Er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg« (Mt 20, 3-4).
Von diesem Tag an erklingt der Ruf unseres Herrn Jesus in der Geschichte weiter: »Geht auch ihr
in meinen Weinberg«. Er richtet sich an jeden Menschen, der in diese Welt eintritt.
In unseren Tagen ist in der Kirche durch die erneute Herabkunft des Heiligen Geistes, die mit dem
II. Vatikanischen Konzil geschehen ist, ein vertieftes Bewußtsein ihres missionarischen Charakters
gereift. Sie hat neu auf die Stimme ihres Herrn gehört, der sie als »allumfassendes
Heilssakrament«(1) in die Welt sendet.
Geht auch ihr. Der Ruf ergeht nicht nur an die Hirten, an die Priester, an die Ordensleute. Er
umfaßt alle. Auch die Laien sind persönlich vom Herrn berufen, und sie empfangen von ihm eine
Sendung für die Kirche und für die Welt.
Gregor der Große erinnert an diese Tatsache wenn er zum Volk predigt und das Gleichnis vom
Weinberg so kommentiert: »Überprüft eure Lebensweise, geliebteste Brüder, und seht, ob ihr
schon Arbeiter des Herrn seid. Ein jeder von euch überdenke, was er tut, und überlege, ob er dem
Weinberg des Herrn dient«.(2)
Vor allem das Konzil hat wertvolle Passagen seiner so reichhaltigen theologischen, spirituellen
und pastoralen Lehre dem Wesen, der Würde, der Spiritualität, der Sendung und der
Verantwortung der Laien gewidmet. Und die Konzilsväter haben den Ruf Christi wiederholt und
alle Laien, Männer und Frauen, gerufen, in seinem Weinberg zu arbeiten: »Das Heilige Konzil
beschwört also im Herrn inständig alle Laien, dem Ruf Christi, der sie in dieser Stunde noch
eindringlicher einlädt, und dem Antrieb des Heiligen Geistes gern, großmütig und entschlossen zu
antworten. In besonderer Weise möge die jüngere Generation diesen Anruf als an sich gerichtet
betrachten und ihn mit Freude und Hochherzigkeit aufnehmen; denn der Herr selbst lädt durch
diese Heilige Synode alle Laien noch einmal ein, sich von Tag zu Tag inniger mit ihm zu verbinden
und sich in seiner heilbringenden Sendung zusammenzuschließen; dabei seien sie auf das, was
sein ist, wie auf ihr eigenes bedacht (vgl. Phil 2, 5).Von neuem sendet er sie in alle Städte und
Ortschaften, in die er selbst kommen will (vgl. Lk 10, 1)«.(3)
Geht auch ihr in meinen Weinberg. Diese Worte sind während der Bischofssynode, die in Rom
vom 1. bis 30. Oktober 1987 stattgefunden hat, gleichsam neu erklungen. Die Väter gingen den
Spuren des Konzils nach und öffneten sich den persönlichen und gemeinsamen Erfahrungen der
gesamten Kirche. Durch die vorausgegangenen Synoden bereichert, haben sie sich spezifisch
und umfassend mit dem Thema der Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt befaßt.
Bei dieser Bischofsversammlung fehlte es nicht an Vertretungen qualifizierter Laien, Männer und
Frauen, die für die Arbeit der Synode einen wesentlichen Beitrag eingebracht haben. Dieser ist bei
der Abschlußhomilie öffentlich gewürdigt worden: »Wir danken nicht nur dafür, daß wir uns

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3
während der Synode an der Teilnahme der Laien (der »Auditores« und der »Auditrices«) erfreuen
konnten, sondern mehr noch dafür, daß der Verlauf der Diskussionen uns die Möglichkeit
gegeben hat, die Stimme der Gäste, der Vertreter der Laien aus der ganzen Welt und aus den
verschiedenen Ländern zu hören und ihre Erfahrungen, ihre Ratschläge und Vorschläge, die aus
ihrer Liebe für die gemeinsame Sendung entspringen, in uns aufzunehmen«.(4)
Der Blick auf die nachkonziliare Zeit schenkte den Synodenvätern die Überzeugung, daß der
Geist die Kirche weiterhin erneuert, indem er in zahlreichen Laien neue Impulse der Heiligkeit und
der Teilnahme weckt. Zeugnis davon gibt unter anderem der neue Stil der Zusammenarbeit
zwischen Priestern, Ordensleuten und Laien; die Mitwirkung in der Liturgie, in der Verkündigung
des Wortes Gottes und in der Katechese; die vielen Dienste, die Laien anvertraut und von diesen
übernommen werden; das vielfältige Entstehen von Gruppen, Vereinigungen und geistlichen
Gemeinschaften, sowie von gemeinsamen Initiativen der Laien; die umfassendere und
bedeutsamere Teilnahme der Frauen am Leben der Kirche und an den Entwicklungen in der
Gesellschaft.
Die Synode hat aber auch gezeigt, daß der Weg, den die Laien nach dem Konzil begangen
haben, nicht ganz frei von Gefahren und Schwierigkeiten war. Wir denken vor allem an zwei
Versuchungen, denen sie nicht immer widerstanden haben: Die Versuchung, ihr Interesse so stark
auf die kirchlichen Dienste und Aufgaben zu konzentrieren, daß sie sich praktisch oft von ihrer
Verantwortung im Beruf, in der Gesellschaft, in der Welt der Wirtschaft, der Kultur und der Politik
dispensieren; und die Versuchung, die zu Unrecht bestehende Kluft zwischen Glauben und
Leben, zwischen der grundsätzlichen Annahme des Evangeliums und dem konkreten Tun in
verschiedenen säkularen und weltlichen Bereichen zu rechtfertigen. Die Synode hat in ihrer Arbeit
immer wieder auf das II. Vatikanische Konzil zurückgegriffen, dessen Lehre über die Laien aus
einem Abstand von zwanzig Jahren eine erstaunliche Aktualität, ja eine fast prophetische
Bedeutung aufweist. Sie kann die Antworten, die heute auf die neuen Probleme gegeben werden
müssen, erhellen und für diese richtungweisend sein. Die Herausforderung, der sich die
Synodenväter stellten, bestand im Grunde darin, konkrete Wege zu finden, damit die
vielversprechende »Theorie« über die Laien, die das Konzil zum Ausdruck gebracht hat, zur
echten kirchlichen Praxis wird. Einige Probleme treten durch eine bestimmte »Neuartigkeit«
hervor, so daß sie zumindest im chronologischen Sinn als nachkonziliar bezeichnet werden
können. Ihnen widmeten die Synodenväter im Lauf ihrer Besprechungen und Überlegungen
besondere Aufmerksamkeit. Von diesen sollen vor allem die kirchlichen Dienste und Aufgaben,
die Laien anvertraut sind oder anvertraut werden sollen, hier genannt sein, das Wachstum und die
Verbreitung von neuen »Bewegungen« neben anderen Formen der Zusammenschlüsse der Laien
sowie die Stellung und Aufgabe der Frau in Kirche und Gesellschaft.
Am Schluß ihrer Arbeit, die sie mit großem Engagement, mit Kompetenz und Hochherzigkeit
ausgeführt haben, legten die Synodenväter mir den Wunsch und die Bitte vor, zu gegebener Zeit
der Kirche ein Abschlußdokument über die Laien zu schenken.(5)

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4
Dieses nachsynodale Apostolische Schreiben möchte den Wert und den Reichtum der gesamten
Synodenarbeit ins Licht stellen, angefangen von den Lineamenta bis hin zum Instrumentum
Laboris, von der einleitenden Relatio bis zu den Beiträgen der einzelnen Bischöfe und Laien und
der zusammenfassenden Relatio nach der Diskussion im Plenum, von den Diskussionen und
Berichten der »circoli minori« bis hin zu den »propositiones« und der Schlußbotschaft. Darum ist
dieses Dokument nicht neben der Synode zu sehen, sondern es ist vielmehr ihr getreuer und
kohärenter Ausdruck. Es ist das Ergebnis der kollegialen Arbeit, zu deren endgültigem Gelingen
der Rat des Generalsekretariates der Synode und das Sekretariat selbst beigetragen haben.
Das Apostolische Schreiben möchte ein neues Bewußtsein von den Gaben und der
Verantwortung aller Laien und jedes einzelnen für die Sendung und communio der Kirche wecken
und lebendig erhalten.
Die Bedürfnisse der heutigen Welt: Warum steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum?
3. Der tiefste Sinn dieser Synode und die kostbarste Frucht, die sie sich gewünscht hat, liegen
darin, daß die Laien den Ruf Christi vernehmen, in seinem Weinberg zu arbeiten, in dieser
herausragenden und dramatischen Stunde der Geschichte am Übergang zum dritten Jahrtausend
an der Sendung der Kirche teilzunehmen: lebendig, verantwortlich und bewußt.
Neue kirchliche, gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und kulturelle Gegebenheiten rufen
heute mit besonderer Intensität nach dem Engagement der Laien. Sich der Verantwortung zu
entziehen, war schon immer verfehlt. Heute aber liegt darin eine noch größere Schuld.
Niemandem ist es erlaubt, untätig zu bleiben.
Verfolgen wir das Gleichnis des Evangeliums weiter: »Als er um die elfte Stunde noch einmal
hinging, traf er wieder einige, die dort herumstanden. Er sagte zu ihnen: Was steht ihr hier den
ganzen Tag untätig herum? Sie antworteten: Niemand hat uns angeworben. Da sagte er zu ihnen:
Geht auch ihr in meinen Weinberg!« (Mt 20, 6-7).
Die Arbeit, die alle im Weinberg des Herrn erwartet, ist so groß, daß kein Raum für Untätigkeit
bleibt. Der »Gutsbesitzer« wiederholt noch nachdrücklicher seine Einladung: »Geht auch ihr in
meinen Weinberg!«
Im tiefsten Wesen eines jeden Christen, der durch den Glauben und die christlichen
Initiationssakramente Christus gleichgeschaltet, lebendiges Glied der Kirche und aktives Subjekt
ihrer Heilssendung ist, erklingt die Stimme des Herrn. Sie wird aber auch in den Ereignissen der
Kirchengeschichte und der Geschichte der Menschen vernehmbar, wie das Konzil es uns in
Erinnerung gebracht hat: »Im Glauben daran, daß es vom Geist des Herrn geführt wird, der den
Erdkreis erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen,
die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre

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Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind. Der Glaube erhellt nämlich alles mit einem
neuen Licht, enthüllt den göttlichen Ratschluß hinsichtlich der integralen Berufung des Menschen
und orientiert daher den Geist auf wirklich humane Lösungen hin«.(6) Wir müssen darum einen
klaren Blick auf diese unsere Welt mit ihren Werten und mit ihren Problemen, mit ihren Nöten und
mit ihren Hoffnungen, mit ihren Errungenschaften und mit ihren Niederlagen werfen: Eine Welt,
deren wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische und kulturelle Verhältnisse größere und
gravierendere Probleme und Schwierigkeiten aufweisen, als die, die das Konzil in der
Pastoralkonstitution Gaudium et Spes(7) beschrieben hat. Und dennoch ist diese Welt der
Weinberg, sie ist der Ort, wo die Laien dazu berufen sind, ihre Sendung zu erfüllen. Jesus will,
daß sie wie alle seine Jünger Salz der Erde und Licht der Welt seien (vgl. Mt 5, 13-14): Wie aber
sieht das Antlitz der »Erde« und der »Welt« aus, deren »Salz« und »Licht« die Christen sein
sollen?
Die Verschiedenheit der Situationen und Probleme in der heutigen Welt ist groß und von raschen
Veränderungen gekennzeichnet. Von unzutreffenden Verallgemeinerungen und Vereinfachungen
muß darum abgesehen werden. Aber es ist möglich, einige Grundtendenzen, die in der heutigen
Gesellschaft erkenntlich sind, aufzugreifen. Wie auf dem Feld, das im Evangelium beschrieben
wird, Unkraut und gutes Getreide wachsen, so finden sich in der Geschichte als der täglichen
Bühne des oft widersprüchlichen Gebrauchs menschlicher Freiheit das Gute und das Böse, die
Ungerechtigkeit und die Gerechtigkeit, die Not und die Hoffnung oft nebeneinander und zuweilen
sogar eng miteinander verkettet.
Säkularismus und Bedürfnis nach dem Religiösen
4. Die wachsende Verbreitung der religiösen Gleichgültigkeit und des Atheismus in ihren
verschiedenen Ausprägungen, vor allem in der heute geläufìgsten Form des Säkularismus, kann
nicht ungenannt bleiben. Vom Erfolg seiner Errungenschaften und durch die unaufhaltsame
wissenschaftliche und technische Entwicklung verblendet, mehr noch aber durch die älteste und
immer neue Versuchung, im unbegrenzten Gebrauch seiner Freiheit wie Gott sein zu wollen (vgl.
Gen 3, 5) fasziniert, reißt der Mensch die religiösen Wurzeln aus seinem Herzen. Er vergißt Gott,
betrachtet ihn als bedeutungslos für seine eigene Existenz und verwirft ihn, um verschiedenste
»Idole« anzubeten.
Das aktuelle Phänomen des Säkularismus ist in Wahrheit ein schweres Problem: Es betrifft nicht
nur den einzelnen, sondern in gewissem Sinn auch ganze Gemeinschaften, wie es das Konzil
schon herausgestellt hat: »... breite Volksmassen (geben) das religiöse Leben praktisch auf«.(8)
Ich habe selbst schon des Öfteren das Phänomen der Entchristlichung in Erinnerung gerufen, das
die Völker alt überkommener christlicher Tradition befällt und dringend eine neue Evangelisierung
erfordert.
Und dennoch lassen sich das Suchen und das Bedürfnis nach dem Religiösen nicht ganz aus

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6
löschen. Das Gewissen eines jeden Menschen, der den Mut aufbringt, sich den fundamentalsten
Fragen menschlicher Existenz zu stellen, vor allem der Frage nach dem Sinn des Lebens, des
Leidens und Sterbens, kommt nicht umhin, sich das Wort der Wahrheit, das der heilige Augustinus
ausrief, anzueignen: »Auf dich hin, o Herr, hast du uns erschaffen. Unruhig ist unser Herz, bis es
ruhet in dir«.(9) So zeugt auch die heutige Welt in immer vielfältigerer und lebendigerer Weise
vom Geöffnet-Sein der Menschen auf ein geistliches und transzendentes Verständnis des Lebens
hin, von einer neuen Suche nach religiösen Werten, von der Wiederkehr zum Heiligen und zum
Gebet, vom Verlangen nach der Freiheit, den Namen des Herrn anzurufen.
Der Mensch: erniedrigte und erhöhte Würde
5. Denken wir darüber hinaus an die vielen Verletzungen, denen der Mensch heute ausgesetzt ist.
Immer dann, wenn er in seiner Würde als lebendiges Abbild Gottes (vgl. Gen 1, 26) nicht
anerkannt und geliebt wird, ist der Mensch den verdemütigendsten und absurdesten Formen des
Mißbrauchs, die ihn erbarmungslos zum Sklaven des Stärkeren machen, ausgeliefert. Dieses
Stärkere kann verschiedene Namen tragen: Ideologie, wirtschaftliche Macht, unmenschliche
politische Systeme, wissenschaftliche Technokratie, Überflutung durch die Massenmedien. Hier
stehen wir wieder vor Scharen unserer Brüder und Schwestern, deren Grundrechte auch wegen
einer übertriebenen Toleranz und sogar offenkundigen Ungerechtigkeit gewisser bürgerlicher
Gesetzgebungen verletzt werden: Das Recht auf Leben und dessen Unantastbarkeit, das Recht
auf Wohnung und Arbeit, das Recht auf die Gründung einer Familie und auf verantwortliche
Elternschaft, das Recht auf Teilnahme am öffentlichen und politischen Leben, das Recht auf
Gewissensfreiheit und freies Bekenntnis des Glaubens.
Wer kann die Zahl der Kinder nennen, die nicht geboren wurden, weil man sie im Schoß ihrer
Mütter getötet hat, der von ihren Eltern verlassenen und mißhandelten Kinder, der Kinder, die
ohne Liebe und Erziehung aufwachsen? In einigen Ländern müssen ganze Völker auf Wohnung
und Arbeit verzichten. Sie verfügen auch nicht über die erforderlichen Mittel, um ein
menschenwürdiges Leben führen zu können und nicht einmal das Unentbehrliche und
Lebensnotwendige wird ihnen zugestanden. In schrecklichen Ausmaßen haben materielle und
moralische Elends- und Armutserscheinungen in den Stadtrandgebieten der großen Metropolen
Hausrecht gewonnen und ganze Menschengruppen werden tödlich von ihnen getroffen.
Mag die Sakralität der Person aber noch zu oft verachtet und verletzt werden, vernichten kann
man sie nicht. Ihr unzerstörbares Fundament gründet in Gott, dem Schöpfer und Vater, darum
wird die Sakralität der Person sich immer wieder aufs neue behaupten.
Aus diesem Grund erfaßt eine größere Sensibilität für die Personenwürde eines jeden Menschen
immer weitere Kreise. Wie ein befreiender Strom durchzieht nunmehr das Bewußtsein der Würde
der Menschen alle Völker: Der Mensch ist keine »Sache« und kein »Objekt«, das benutzt werden
kann, sondern immer und allein »Subjekt«, dem Gewissen und Freiheit zu eigen ist, der dazu

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7
berufen ist, in der Gesellschaft und in der Geschichte verantwortlich zu leben und sich nach den
geistigen und religiösen Werten auszurichten.
Es wurde behauptet, unsere Zeit sei eine Zeit der »Humanismen«. Einige von ihnen, die
atheistischer und säkularistischer Prägung sind, führen letztlich zum Paradox der Verdemütigung
und Vernichtung des Menschen; andere Humanismen wiederum verherrlichen ihn bis hin zur
wahren Idolatrie; wieder andere erkennen schließlich der Wahrheit entsprechend die Größe und
das Elend des Menschen an, und sie bekennen, unterstützen und fördern seine volle Würde.
Zeichen und Frucht dieser humanistischen Strömungen ist das wachsende Bedürfnis nach
Teilhabe. Dieses ist ohne Zweifel eines der Kennzeichen der heutigen Menschheit, ein wahres
»Zeichen der Zeit«, das auf verschiedenen Gebieten und in verschiedene Richtungen reift: vor
allem unter den Frauen und Jugendlichen, und das nicht nur in Richtung des Familien- und
Schulwesens, sondern auch im kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereich. Das
Bedürfnis, Protagonisten und in gewissem Sinn Schöpfer einer neuen humanistischen Kultur zu
sein, wird sowohl auf individueller wie auf universaler Basis beobachtet.(10)
Konfliktualität und Friede
6. Schließlich darf ein anderes, für die heutige Menschheit charakteristisches Phänomen nicht
unerwähnt bleiben. Die Menschheit wird wie vielleicht noch nie zuvor in ihrer Geschichte täglich
und tiefgreifend durch das Erlebnis der Konfliktualität aus dem Gleichgewicht gebracht. Es handelt
sich hier um ein pluriformes Phänomen, das sich vom legitimen Pluralismus der Mentalitäten und
der Initiativen unterscheidet und sich in verhängnisvollen Gegensätzen zwischen Menschen,
Gruppen, Kategorien, Nationen und Nationenblocks Ausdruck verschafft. Diese Gegensätze
äußern sich in Gewalt, Terrorismus und Kriegen. Wieder einmal, dieses Mal jedoch in weit
größeren Ausmaßen, wiederholen ganze Teile der heutigen Menschheit den törichten Versuch,
den »Turm zu Babel« zu erbauen (vgl. Gen 11, 1-9), weil sie ihre »Allmacht« bekunden wollen.
Das Ergebnis dieses Experimentes aber bleibt Verwirrung, Kampf, Auflösung und Unterdrückung.
Die Menschheitsfamilie ist bis in ihr Inneres hinein auf dramatische Weise erschüttert und
zerrissen.
Das Streben nach dem unermeßlichen Gut des Friedens in Gerechtigkeit läßt sich dennoch nicht
aus den Herzen der einzelnen und der Völker ausrotten. Die Seligpreisung des Evangeliums:
»Selig, die Frieden stiften« (Mt 5, 9) findet unter den heutigen Menschen eine neue und
bedeutungsträchtige Resonanz: Ganze Völker leben, leiden und arbeiten heute für Frieden und
Gerechtigkeit.
Die Teilnahme von immer mehr Menschen am Leben der Gesellschaft ist heute der gängigste
Weg, damit der Friede nicht reiner Wunsch bleibt, sondern Realität wird. Auf diesem Weg
begegnen wir vielen Laien, die sich im sozialen und politischen Bereich, institutionell oder freiwillig

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8
in den vielfältigen Formen des Dienstes an den Ärmsten hochherzig engagieren.
Jesus Christus, Hoffnung der Menschheit
7. So sieht das immense und steinige Feld aus, das sich den Arbeitern auftut, die der
»Gutsbesitzer« in seinen Weinberg sendet. Die Kirche: wir alle, Hirten und Gläubige, Priester,
Ordensleute und Laien arbeiten auf diesem Feld. Die Situationen, die eben in Erinnerung gerufen
worden sind, betreffen die Kirche auf entscheidende Weise, denn sie wird dadurch in gewissem
Sinn eingeengt, aber nicht zermalmt und auch nicht überwältigt, denn der Heilige Geist, ihr
Lebensprinzip, unterstützt sie bei der Erfüllung ihrer Sendung.
Die Kirche weiß, daß alles Bemühen der Menschheit um Einheit und Teilhabe trotz aller
Schwierigkeiten, Verzögerungen und Widersprüche, die menschliche Kontingenz, Sünde und das
Böse verursachen, in der Heilstat Jesu Christi, dem Erlöser des Menschen und der Welt, eine
Antwort finden wird.
Die Kirche weiß sich von ihm gesandt als »Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit
Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit«.(11)
Darum kann die Menschheit dennoch hoffen, ja, sie muß hoffen: Das personifizierte und lebendige
Evangelium, Jesus Christus selbst, ist die »neue Botschaft«, die Freude bringt, und die die Kirche
jeden Tag allen Menschen verkündet und bezeugt.
In dieser Verkündigung und in diesem Zeugnis kommt den Laien ein spezifischer und
unersetzlicher Beitrag zu: Durch sie wird die Kirche Christi in den verschiedensten Bereichen der
Welt als Zeichen und Quelle der Hoffnung und der Liebe präsent.
ERSTES KAPITEL
ICH BIN DER WEINSTOCK, IHR SEID DIE REBEN
Die Würde der Laien im Geheimnis der Kirche
Das Geheimnis des Weinbergs
8. Das Bild des Weinstocks wird in der Bibel auf vielfache Weise und in einem vielfältigen Sinn
benutzt. Es dient aber vor allem dazu, das Geheimnis des Volkes Gottes zum Ausdruck zu
bringen. In dieser tieferen Deutung sind die Laien nicht nur Arbeiter, die im Weinberg arbeiten,
sondern Teil des Weinbergs selbst. Jesus sagt: »Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben« (Joh
15, 5).

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9
Schon im Alten Testament greifen die Propheten zum Bild des Weinbergs, um das Volk Gottes zu
bezeichnen. Israel ist Gottes Weinberg, das Werk des Herrn, die Freude seines Herzens: »Ich
aber hatte dich als Edelrebe gepflanzt, als gutes, als edles Gewächs« (Jer 2, 21); »Deine Mutter
war wie ein Weinstock im Garten, der am Wasser gepflanzt ist. Voll von Früchten und Ranken war
er wegen des Reichtums an Wasser« (Ez 19, 10); »Mein Freund hat einen Weinberg auf einer
fruchtbaren Höhe. Er grub ihn um und entfernte die Steine und bepflanzte ihn mit den edelsten
Reben« (Jes 5, 1-2).
Jesus nimmt das Symbol des Weinbergs wieder auf und benutzt es, um einige Grundzüge des
Reiches Gottes zu offenbaren: »Ein Mann legte einen Weinberg an, zog ringsherum einen Zaun,
hob eine Kelter aus und baute einen Turm. Dann verpachtete er den Weinberg an Winzer und
reiste in ein anderes Land« (Mk 12, 1; vgl. Mt 21, 28 ff.).
Der Evangelist Johannes lädt uns ein, tiefer zu gehen und das Geheimnis des Weinbergs zu
entdecken: Der Weinberg symbolisiert und verkörpert nicht nur das Volk Gottes, sondern Jesus
selbst. Er ist der Weinstock und wir, seine Jünger, sind die Reben; er ist der »wahre Weinstock«,
in dem die Reben lebensnotwendig verwurzelt sind (vgl. Joh 15, 1 ff.).
Das II. Vatikanische Konzil stellt die verschiedenen biblischen Bilder, die das Geheimnis der
Kirche erhellen, dar und bietet erneut das Bild des Weinstocks und der Reben an: »Der wahre
Weinstock aber ist Christus, der den Rebzweigen Leben und Fruchtbarkeit gibt, uns nämlich, die
wir durch die Kirche in ihm bleiben, und ohne den wir nichts tun können (Joh 15, 1-5)«.(12) Die
Kirche selbst ist also der Weinberg im Evangelium. Sie ist Geheimnis, weil die Liebe und das
Leben des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes die völlig unverdienten Gaben sind für
alle, die aus dem Wasser und dem Geist geboren (vgl. Joh 3, 5), die berufen sind, die communio
Gottes selbst zu leben, zu bezeugen und in der Geschichte anderen mitzuteilen (Sendung): »An
jenem Tag werdet ihr erkennen: Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir, und ich bin in euch« (Joh
14, 20).
So kann sich die »Identität« der Laien, die ihnen eigene Würde nur vom Geheimnis der Kirche
her, das Geheimnis der communio ist, enthüllen. Und nur von dieser Würde her können ihre
Berufung und ihre Sendung in Kirche und Welt definiert werden.
Wer sind die Laien
9. Die Synodenväter haben mit Recht auf die Notwendigkeit hingewiesen, eine positive
Beschreibung von Berufung und Sendung der Laien auf der Grundlage eines vertieften Studiums
der Lehre des II. Vatikanischen Konzils im Licht sowohl der jüngsten Dokumente des Lehramtes
als auch der Erfahrungen, die die Kirche selbst unter der Führung des Heiligen Geistes in ihrem
Leben macht, zu formulieren und anzubieten.(13)

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10
Um die Frage: »Wer sind die Laien« zu beantworten, verzichtete das Konzil auf die
vorausgegangenen, vorrangig negativen Interpretationen und stellte sich auf einen entschieden
positiven Boden. Seine Grundabsicht beweist die Aussage von der vollen Zugehörigkeit der Laien
zur Kirche und ihrer vollen Teilnahme an deren Geheimnis, sowie vom spezifischen Charakter
ihrer Berufung, die in besonderer Weise die Aufgabe beinhaltet »in der Verwaltung und
gottgemäßen Regelung der zeitlichen Dinge das Reich Gottes zu suchen«.(14) »Unter der
Bezeichnung Laien« - so beschreibt sie die Konstitution Lumen Gentium - »sind hier alle
Christgläubigen verstanden, mit Ausnahme der Glieder des Weihestandes und des in der Kirche
anerkannten Ordensstandes, das heißt, die Christgläubigen, die durch die Taufe Christus
einverleibt, zum Volk Gottes gemacht und des priesterlichen, prophetischen und königlichen
Amtes Christi auf ihre Weise teilhaftig, zu ihrem Teil die Sendung des ganzen christlichen Volkes
in der Kirche und in der Welt ausüben«.(15)
Schon Pius XII. sagte: »Die Gläubigen, und genauer noch die Laien, stehen an der äußersten
Front des Lebens der Kirche; die Kirche ist für sie das Lebensprinzip der menschlichen
Gesellschaft. Darum müssen sie und gerade sie ein immer tieferes Bewußtsein gewinnen, daß sie
nicht nur zur Kirche gehören, sondern die Kirche sind, das heißt, die Gemeinschaft der Gläubigen
auf Erden unter der Führung des Papstes als des gemeinsamen Hauptes und der mit ihm
geeinten Bischöfe. Sie sind die Kirche ...«.(16)
Nach dem biblischen Bild des Weinstocks sind die Laien wie alle anderen Glieder der Kirche
Reben, die in Christus, dem wahren Weinstock verwurzelt sind, die er lebendig und
lebensspendend macht.
Die Eingliederung in Christus durch den Glauben und die christlichen Initiationssakramente ist der
tiefste Grund für den neuen Ort des Christen im Geheimnis der Kirche, der seine eigentlichste
»Physionomie« bestimmt, und ist Voraussetzung jeder Berufung und Dynamik im christlichen
Leben der Laien: »In Jesus Christus, der gestorben und auferstanden ist, wird der Getaufte zu
einem neuen Menschen« (Gal 6, 15; Kor 5, 17), zu einem von der Sünde gereinigten und durch
die Gnade neu belebten Menschen.
Darum kann die »Gestalt« des Laien nur auf dem Hintergrund des geheimnisvollen Reichtums,
den Gott den Christen in der Taufe schenkt, beschrieben werden.
Die Taufe und die Neuheit des Christlichen
10. Die Behauptung ist nicht übertrieben, daß der Sinn des gesamten Lebens des Laien darin
besteht, zur Erkenntnis der in der Taufe als Sakrament des Glaubens liegenden radikalen Neuheit
des Christlichen zu gelangen, um der Berufung, die er von Gott empfangen hat, zu entsprechen
und die damit verbundenen Pflichten zu erfüllen. Um die »Gestalt« des Laien zu beschreiben,
greifen wir nun unter allen anderen explizit und unmittelbar die drei grundlegenden

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2.1 Page 11

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11
Gesichtspunkte heraus: Die Taufe erschafft uns neu zu einem Leben als Kinder Gottes, sie eint
uns mit Christus und mit der Kirche, seinem Leib, sie salbt uns im Heiligen Geist und macht uns
zu geistigen Tempeln.
Kinder Gottes im Sohn
11. Wir erinnern uns an die Worte Jesu an Nikodemus: »Amen, Amen, ich sage dir: Wenn jemand
nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen« (Joh 3, 5).
Die heilige Taufe ist also eine Neugeburt, sie ist eine neue Zeugung.
Angesichts dieser Gabe, die in der Taufe gegeben wird, stimmt der Apostel Petrus den Lobpreis
an: »Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus. Er hat uns in seinem großen
Erbarmen neu geboren, damit wir durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten eine
lebendige Hoffnung haben und das unzerstörbare, makellose und unvergängliche Erbe
empfangen, das im Himmel für euch aufbewahrt ist« (1 Petr 1, 3-4). Er nennt die Christen
diejenigen, die »nicht aus vergänglichem, sondern aus unvergänglichem Samen, aus Gottes Wort,
das lebt und das bleibt«, neu geboren wurden (1 Petr 1, 23).
Durch die heilige Taufe werden wir in seinem Eingeborenen Sohn Jesus Christus zu Kindern
Gottes. Wenn er aus dem Taufwasser steigt, vernimmt jeder Christ die Stimme, die am Ufer des
Jordan erklang: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden« (Lk 3, 22). Er
versteht, daß er als Erbe dem geliebten Sohn zugesellt (vgl. Gal 4, 4-7) und damit Bruder oder
Schwester Christi wurde. So erfüllt sich der ewige Plan des Vaters in der persönlichen Geschichte
eines jeden Christen: »...denn alle, die er im voraus erkannt hat, hat er auch im voraus dazu
bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene von
vielen Brüdern sei« (Röm 8, 29).
Der Heilige Geist ist es, der die Getauften zu Kindern Gottes und zu Gliedern des Leibes Christi
macht. Paulus erinnert die Christen von Korinth an diese Wahrheit: »Durch den Heiligen Geist
wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen« (1 Kor 12, 13). Und er kann
den Laien sagen: »Ihr aber seid der Leib Christi, und jeder einzelne ist ein Glied an ihm«
(1 Kor 12, 27); »Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz«
(Gal 4, 6; vgl. Röm 8, 15-16).
Ein Leib in Christus
12. Als »Kinder Gottes im Sohn« neu geboren, sind die Getauften untrennbar »Glieder Christi und
Glieder des Leibes der Kirche«, wie das Konzil von Florenz lehrt.(17)
Die Taufe bedeutet und bewirkt eine mystische aber reale Eingliederung in den gekreuzigten und

2.2 Page 12

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12
verherrlichten Leib Jesu. Durch das Sakrament eint Jesus den Getauften seinem Tod, um ihn mit
seiner Auferstehung zu vereinigen (vgl. Röm 6, 3-5), er zieht ihm den »alten Menschen« aus und
bekleidet ihn mit dem »neuen Menschen«, das heißt, mit sich selbst: »Denn ihr alle, die ihr in
Christus getauft seid« erklärt der Apostel Paulus -, »habt Christus (als Gewand) angelegt« (Gal 3,
27; vgl. Eph 4, 22-24; Kol 3, 9-10). Daraus folgt, daß »wir, die vielen, ein Leib in Christus« sind
(Röm 12, 5).
Die Paulusworte sind eine treue Wiedergabe der Lehre Jesu, der die geheimnisvolle Einheit der
Jünger mit sich selbst und unter sich geoffenbart hat und sie als Bild und Fortsetzung jener
unlöslichen Einheit dargestellt hat, die den Vater mit dem Sohn und den Sohn mit dem Vater im
Band der Liebe des Geistes eint (vgl. Joh 17, 21).
Es ist dieselbe Einheit, die Jesus im Gleichnis vom Weinstock und den Reben anspricht: »Ich bin
der Weinstock, ihr seid die Reben« ( Joh 15, 5 ). Dieses Bild erhellt nicht nur die tiefe Einheit der
Jünger mit Jesus, sondern auch die lebensmäßige Verbundenheit der Jünger untereinander, die
alle Reben des einen Weinstocks sind.
Lebendige und heilige Tempel des Geistes
13. Mit Hilfe eines anderen Bildes, nämlich das eines Bauwerkes, definiert Petrus die Getauften
als »lebendige Stein«, die auf Christus, dem »Eckstein« gründen und zum Bau eines »geistigen
Haus(es)« (1 Petr 2, 5 ff.) bestimmt sind. Dieses Bild schließt uns eine andere Dimension der
Neuheit der Taufe auf, die das II. Vatikanische Konzil so dargestellt hat: »Durch die Wiedergeburt
und die Salbung mit dem Geist werden die Getauften zu einem geistigen Bau ... geweiht«.(18)
Der Heilige Geist »salbt« den Getauften und drückt ihm sein unauslöschliches Siegel auf (vgl. 1
Kor 1, 21-22), er macht ihn zu einem geistigen Bau, das heißt, er erfüllt ihn durch die Vereinigung
mit Christus und die Umgestaltung in ihn mit der heiligen Gegenwart Gottes.
Durch diese geistige »Salbung« kann der Christ auf seine Weise die Worte Christi wiederholen:
»Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich
den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und
den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des
Herrn ausrufe« (Lk 4, 18-19; vgl. Jes 61, 1-2). Durch die mit der Taufe und Firmung gegebene
Ausgießung des Geistes nimmt der Getaufte teil an der Sendung Jesu, des Christus, des Messias
und Heilandes selbst.
Teilhabe am priesterlichen, prophetischen und königlichen Amt Jesu Christi
14. Der Apostel Petrus spricht die Getauften als »neugeborene Kinder« an, und er schreibt ihnen:
»Kommt zu ihm, dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen, aber von Gott

2.3 Page 13

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13
auserwählt und geehrt worden ist. Laßt euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus
aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen,
die Gott gefallen... Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein
heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten
dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat« (1 Petr 2,
4-5. 9).
Dieses ist ein neuer Aspekt der Taufgnade und -würde: Die Laien nehmen auf ihre Weise Teil am
dreifachen - priesterlichen, prophetischen und königlichen - Amt Christi. Diese Wahrheit wurde in
der lebendigen Tradition der Kirche nie vergessen, wie es zum Beispiel der Kommentar des
Augustinus zu Psalm 26 zeigt. Er schreibt: »David wurde zum König gesalbt. In jener Zeit wurden
nur der König und der Priester gesalbt. Diese beiden waren eine Präfiguration des künftigen und
einzigen Königs und Priesters, des Christus ('Christus' leitet sich von 'chrisma' ab). Aber nicht nur
unser Haupt wurde gesalbt, sondern auch wir, sein Leib ... Darum steht die Salbung allen Christen
zu, während sie in der alttestamentlichen Zeit nur zweien zustand. Wir bilden den Leib Christi, weil
wir alle gesalbt sind und in ihm Christus sind. Denn in einem gewissen Sinn wird Christus in seiner
Ganzheit vom Haupt und vom Leib gebildet«.(19)
Auf den Spuren des II. Vatikanischen Konzils(20) habe ich seit Beginn meines Hirtenamtes die
priesterliche, prophetische und königliche Würde des gesamten Gottesvolkes herausstellen
wollen: »Der aus der Jungfrau Maria geboren wurde, der Sohn des Schreiners - für einen solchen
hielt man ihn -, der Sohn des lebendigen Gottes, wie Petrus bekannt hat, ist gekommen, um aus
uns allen 'eine königliche Priesterschaft' zu machen. Das Konzil hat uns das Geheimnis dieser
Macht und die Tatsache, daß die Sendung Christi, des Priesters, Propheten, Lehrers und Königs
sich in der Kirche fortsetzt, wieder in Erinnerung gerufen. Alle, das gesamte Gottesvolk, nimmt teil
an dieser dreifachen Sendung«.(21)
In diesem Schreiben werden die Laien erneut aufgefordert, die reiche und fruchtbare Lehre des
Konzils über ihre Teilhabe am dreifachen Amt Christi(22) aufmerksam und mit bereitem Herzen zu
lesen und zu meditieren. Hier soll in einer Synthese auf die wesentlichen Elemente dieser Lehre
hingewiesen werden.
Die Laien nehmen teil am priesterlichen Amt Christi, durch das Jesus sich selbst am Kreuz
geopfert hat und sich in der Feier der Eucharistie ständig neu für die Verherrlichung des Vaters
und für das Heil der Menschheit darbringt. Christus eingegliedert, sind die Getauften in der
Hingabe ihrer selbst und all ihres Tuns mit ihm und seinem Opfer vereint (vgl. Röm 12, 1-2). Das
Konzil sagt über die Laien: »Es sind nämlich alle ihre Werke, Gebete und apostolischen
Unternehmungen, ihr Ehe- und Familienleben, die tägliche Arbeit, die geistige und körperliche
Erholung, wenn sie im Geist getan werden, aber auch die Lasten des Lebens, wenn sie geduldig
getragen werden, 'geistige Opfer, wohlgefällig vor Gott durch Jesus Christus' (1 Petr 2, 5). Bei der
Feier der Eucharistie werden sie mit der Darbringung des Herrenleibes dem Vater in Ehrfurcht

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14
dargeboten. So weihen auch die Laien, überall Anbeter in heiligem Tun, die Welt selbst Gott«.(23)
Die Teilhabe am prophetischen Amt Christi, der »durch das Zeugnis seines Lebens und in der
Kraft seines Wortes die Herrschaft des Vaters ausgerufen hat«,(24) befähigt und verpflichtet die
Laien, das Evangelium im Glauben anzunehmen, es durch ihre Worte und ihre Werke zu
verkündigen und mutig auf das Böse hinzuweisen. Christus, dem »großen Propheten« (Lk 7, 16)
vereint, im Geist zu »Zeugen« des auferstandenen Christus berufen, werden die Laien nicht nur
des übernatürlichen Glaubenssinnes der Kirche, der »im Glauben nicht irren« kann,(25) sondern
auch der Gnade des Wortes (vgl. Apg 2, 17-18; Offb 19, 10) teilhaftig; auch sind sie dazu berufen,
die Neuheit und die Kraft des Evangeliums in ihrem täglichen Familien- und Gesellschaftsleben
sichtbar werden zu lassen und mutig und geduldig inmitten der Widersprüche unserer Zeit »auch
durch die Strukturen des Weltlebens«(26) ihre Hoffnung auf die ewige Herrlichkeit zu bezeugen.
Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu Christus, dem Herrn und König der Welt, nehmen die Laien teil an
seinem königlichen Amt. Sie sind von ihm zum Dienst am Reich Gottes und an seiner Ausfaltung
in der Geschichte berufen. Die Laien leben das christliche Königtum vor allem durch ihren
geistlichen Kampf, um in sich selbst das Reich der Sünde zu überwinden (vgl. Röm 6, 12), und
durch ihre Selbsthingabe, um in der Liebe und der Gerechtigkeit Jesu, der in allen ihren Brüdern
und Schwestern, vor allem in den ärmsten zugegen ist, zu dienen (vgl. Mt 25, 40).
Die Laien sind in besonderer Weise aber dazu berufen, der Schöpfung ihren vollen ursprünglichen
Wert zurückzuschenken. Wenn sie durch ihr von der Gnade getragenes Tun die Schöpfung zum
Wohl der Menschen ordnen, nehmen die Laien teil an der Ausübung der Macht, mit der der
auferstandene Jesus alle Dinge an sich zieht, um sie mit sich selbst dem Vater zu unterwerfen,
damit Gott alles in allem sei (vgl. Joh 12, 32; 1 Kor 15, 28).
Die Teilhabe der Laien am dreifachen Amt Christi, des Priesters, Propheten und Königs, hat ihre
erste Wurzel in der Taufsalbung, und sie erfährt in der Firmung ihre Ausfaltung. In der Eucharistie
wird sie ständig genährt und vollendet. Diese Teilhabe wird den einzelnen Gläubigen, insofern als
sie den einen Leib des Herrn bilden, geschenkt: Es ist die Kirche, sein Leib und seine Braut, die
Jesus mit seinen Gaben bereichert. Als Glieder der Kirche nehmen die einzelnen teil am
dreifachen Amt Christi, wie der heilige Petrus es deutlich lehrt, wenn er die Getauften als
»Auserwähltes Geschlecht, ... königliche Priesterschaft, ... heiliger Stamm, ... Volk, das ... (Gottes)
besonderes Eigentum wurde« (1 Petr 2, 9) beschreibt. Weil sie sich von der kirchlichen communio
ableitet, muß die Teilhabe der Laien am dreifachen Amt Christi in der communio und um des
Wachstums der communio willen gelebt und verwirklicht werden. Augustinus schreibt: »So wie alle
aufgrund des mystischen Charismas Christen genannt werden, so nennen wir alle Priester, weil
sie Glieder des einzigen Priesters sind«.(27)
Die Laien und der Weltcharakter

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15
15. Die Neuheit des Christlichen ist Fundament und Rechtsgrund für die Gleichheit aller Getauften
in Christus, für die Gleichheit aller Glieder des Volkes Gottes: »... gemeinsam die Würde der
Glieder aus ihrer Wiedergeburt in Christus, gemeinsam die Gnade der Kindschaft, gemeinsam die
Berufung zur Vollkommenheit, eines ist das Heil, eines die Hoffnung und ungeteilt die Liebe«.(28)
Aufgrund der gemeinsamen Taufwürde ist der Laie mit den geweihten Hirten und den
Ordensleuten mitverantwortlich für die Sendung der Kirche.
Die gemeinsame Taufwürde ist dem Laien in einer Weise zu eigen, die ihn vom Priester und von
den Ordensleuten zwar unterscheidet, aber doch nicht trennt. Das II. Vatikanische Konzil hat diese
Modalität im Weltcharakter gefaßt: »Den Laien ist der Weltcharakter in besonderer Weise
eigen«.(29)
Um den Ort des Laien in der Kirche voll, sachgerecht und spezifisch zu verstehen, muß die
theologische Relevanz seines Weltcharakters im Licht des Heilsplanes Gottes und des
Geheimnisses der Kirche tiefer erörtert werden.
Wie Paul VI. schon gesagt hat, »eignet der Kirche eine welthafte Dimension an, die wesenhaft zu
ihr und zu ihrer Sendung gehört und die sich in ihren Gliedern auf verschiedene Weise
verwirklicht«.(30)
Wenn sie auch nicht von dieser Welt ist, lebt die Kirche in dieser Welt (vgl. Joh 17, 16), und sie ist
gesandt, das Heilswerk Jesu Christi fortzusetzen, »das auf das Heil der Menschen (zielt), aber
auch den Aufbau der gesamten zeitlichen Ordnung« umfaßt.(31)
Alle Glieder der Kirche nehmen auf verschiedene Weise an ihrer säkularen Dimension teil. Die
Laien vor allem aktualisieren und üben diese Teilhabe, die ihnen nach der Lehre des Konzils in
besonderer Weise zu eigen ist auf spezifische Weise aus. Sie wird mit dem Begriff
»Weltcharakter« bezeichnet.(32)
Das Konzil beschreibt diese Welthaftigkeit der Laien vor allem als den Ort, an dem der Ruf Gottes
sie trifft: »Dort sind sie von Gott gerufen«.(33) Dieser Ort wird mit Hilfe von dynamischen Begriffen
dargestellt: Die Laien »leben in der Welt, das heißt in all den einzelnen irdischen Aufgaben und
Werken und den normalen Verhältnissen des Familien- und Gesellschaftslebens, aus denen ihre
Existenz gleichsam zusammengewoben ist«.(34)
Die Laien leben in den gewöhnlichen Strukturen der Welt, sie studieren, arbeiten, gehen
freundschaftliche, soziale, berufliche und kulturelle Beziehungen ein usw. Das Konzil betrachtet
diese ihre Lebensverhältnisse nicht nur als ein äußerliches und milieubedingtes Moment, sondern
als eine Wirklichkeit, die in Jesus Christus die Fülle ihrer Bedeutung finden muß.(35) Es
behauptet, daß das »fleischgewordene Wort ... selbst in die menschliche Gesellschaft eingehen
(wollte) ... Die menschlichen, besonders die familiären Verflechtungen, den Anfang der

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16
Gesellschaftlichkeit überhaupt, hat er geheiligt; freiwillig den Gesetzen seines Heimatlandes
untertan; er hat das Leben eines Arbeiters, wie es Zeit und Land eigen war, leben wollen«.(36)
So wird »die Welt« zum Bereich und zum Mittel der Erfüllung der christlichen Berufung der Laien,
weil sie dazu bestimmt ist, in Christus Gott den Vater zu verherrlichen. Darum kann das Konzil auf
den spezifischen Sinn der göttlichen Berufung, die an die Laien ergeht, hinweisen. Sie sind nicht
dazu berufen, ihren Ort in der Welt zu verlassen.
Wie schon der Apostel Paulus lehrte, nimmt die Taufe sie nicht aus der Welt: »Brüder, ein jeder
soll vor Gott in dem Stand bleiben, in dem ihn der Ruf Gottes getroffen hat« (1 Kor 7, 24). Die
Taufe beinhaltet vielmehr eine Sendung, die sich gerade auf die Situation in der Welt bezieht: Die
Laien sind »von Gott gerufen, ihre eigentümliche Aufgabe, vom Geist des Evangeliums geleitet,
auszuüben und so wie ein Sauerteig zur Heiligung der Welt gewissermaßen von innen her
beizutragen, und vor allem durch das Zeugnis ihres Lebens, im Glanz von Glaube, Hoffnung und
Liebe Christus den anderen kund zu machen«.(37) So stellen das In-der-Welt-Sein und In-der-
Welt-Handeln für die Laien nicht nur eine anthropologische und soziologische Gegebenheit dar,
sondern auch und vor allem eine spezifisch theologische und kirchliche. In der Welt offenbart Gott
ihnen seinen Willen und ihre besondere Berufung, »in der Verwaltung und gottgemäßen Regelung
der zeitlichen Dinge das Reich Gottes zu suchen«.(38)
In dieselbe Richtung geht auch die Behauptung der Synodenväter: »Der Weltcharakter der Laien
kann darum nicht nur im soziologischen, sondern muß auch im theologischen Sinn betrachtet
werden. Das Merkmal der Welthaftigkeit muß im Licht des Schöpfungs- und Erlösungsaktes
Gottes betrachtet werden, der die Welt den Menschen anvertraut, damit sie am Schöpfungswerk
teilnehmen, die Schöpfung von den Folgen der Sünde befreien und sich selbst in der Ehe oder in
der Ehelosigkeit, in der Familie, im Beruf und in den verschiedenen Bereichen des
gesellschaftlichen Lebens heiligen«.(39)
Der Ort der Laien in der Kirche muß grundsätzlich von dieser Neuheit des Christlichen her
definiert und durch den Weltcharakter der Laien charakterisiert werden.(40)
Die Bilder des Evangeliums: das Salz, das Licht und der Sauerteig, treffen unterschiedslos auf alle
Jünger Jesu zu, aber in besonderer Weise auf die Laien. Sie haben eine wundersam tiefe
Bedeutung für sie, denn sie bringen nicht nur die tiefe Verankerung und die volle Teilhabe der
Laien auf der Erde, in der Welt, in der Gemeinschaft der Menschen zum Ausdruck, sondern auch
und vor allem das Neue und Originelle einer Verankerung und einer Teilhabe, die ihren Sinn in der
Verbreitung des heilbringenden Evangeliums findet.
Zur Heiligkeit berufen
16. Die Würde der Laien erschließt sich uns voll, wenn wir die erste und fundamentale Berufung

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17
betrachten, die der Vater in Jesus Christus durch den Heiligen Geist an einen jeden von ihnen
richtet: Die Berufung zur Heiligkeit, das heißt zur Vollkommenheit in der Liebe. Der Heilige ist das
vollkommenste Zeugnis der Würde, die dem Jünger Christi verliehen wurde.
Das II. Vatikanische Konzil hat Entscheidendes über die universelle Berufung zur Heiligkeit
gesagt. Man kann sogar behaupten, daß dieser der wichtigste Auftrag eines Konzils, das die
Erneuerung des christlichen Lebens im Sinn des Evangeliums zum Ziel hatte(41), an alle Söhne
und Töchter der Kirche ist. Er ist nicht lediglich eine moralische Ermahnung, sondern eine
unausweichliche Forderung, die sich aus dem Geheimnis der Kirche ergibt: Die Kirche ist der
erwählte Weinstock, dessen Reben aus dem heiligen und heiligenden Lebensstrom Christi leben;
sie ist der mystische Leib, dessen Glieder am Heiligkeitsleben des Hauptes selbst, das Christus
ist, teilnehmen; sie ist die geliebte Braut des Herrn Jesus, der sich selbst dahingegeben hat, um
sie zu heiligen (vgl. Eph 5, 25 ff.). Der Geist, der die menschliche Natur Jesu im jungfräulichen
Schoß Marias geheiligt hat (vgl. Lk 1, 35), ist derselbe Geist, der in der Kirche gegenwärtig und
wirksam ist, um ihr die Heiligkeit des menschgewordenen Gottessohnes mitzuteilen.
Das Gebot der Stunde geht heute mehr denn je dahin, daß alle Christen den Weg der Erneuerung
im Geist des Evangeliums begehen, um sich hochherzig der Aufforderung des Apostels zu stellen,
daß ihr »ganzes Leben heilig« werde (1 Petr 1, 15). Zwanzig Jahre nach dem Abschluß des
Konzils hat die Außerordentliche Synode 1985 auf diese dringende Notwendigkeit hingewiesen:
»Weil die Kirche in Christus Geheimnis ist, muß sie als Zeichen und Werkzeug der Heiligkeit
verstanden werden ... In den schwierigsten Situationen der Geschichte der Kirche standen am
Ursprung der Erneuerung immer Heilige. Heute brauchen wir notwendig Heilige, die wir uns
beharrlich von Gott erbeten müssen«.(42)
Weil sie ihre Glieder sind, empfangen und teilen alle in der Kirche die universelle Berufung zur
Heiligkeit. Auch die Laien sind ohne den geringsten Unterschied wie die anderen Glieder der
Kirche voll und ganz dazu berufen: »Jedem ist also klar, daß alle Christgläubigen jeglichen
Standes oder Ranges zur Fülle des christlichen Lebens und zur vollkommenen Liebe berufen
sind«.(43) »Alle Christgläubigen sind also zum Streben nach Heiligkeit und ihrem Stand
entsprechender Vollkommenheit eingeladen und verpflichtet«.(44) Die Berufung zur Heiligkeit hat
in der Taufe ihre Wurzeln und wird in den anderen Sakramenten, vor allem in der Eucharistie,
erneuert. Da sie Christus angezogen und sich vom Heiligen Geist genährt haben, sind die
Christen »heilig« und darum befähigt und verpflichtet, die Heiligkeit ihres Seins in der Heiligkeit
ihres ganzen Wirkens zu zeigen. Der Apostel Paulus wird nicht müde, alle Christen zu ermahnen,
so zu leben, »wie es sich für Heilige gehört« (Eph 5, 3).
Das Leben nach dem Geist, dessen Frucht die Heiligung ist (vgl. Röm 6, 22; Gal 5, 22), fordert
von jedem Getauften Nachfolge und Nachahmung Christi und befähigt ihn dazu: in der Annahme
der Seligpreisungen, im Hören und Betrachten des Wortes Gottes, in der bewußten und aktiven
Teilnahme am liturgischen und sakramentalen Leben der Kirche, im persönlichen Gebet, im Gebet

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18
der Familie und der Gemeinschaften, im Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit, in der Erfüllung
des Gebotes der Liebe in allen Situationen des Lebens und im Dienst an den Brüdern, vor allem
den Kleinen, Armen und Leidenden.
In der Welt zur Heiligkeit gelangen
17. Die Berufung der Laien zur Heiligkeit bringt es mit sich, daß das Leben nach dem Geist vor
allem in ihrem Einbezogensein in den weltlichen Bereich und in ihrer Teilnahme an den irdischen
Tätigkeiten zum Ausdruck kommt. Der Apostel ermahnt uns noch einmal: »Alles, was ihr in
Worten und Werken tut, geschehe im Namen Jesu, des Herrn. Durch ihn dankt Gott, dem Vater!«
(Kol 3, 17). Das Konzil wendet die Worte des Apostels auf die Laien an und erklärt ausdrücklich:
»Weder die häuslichen Sorgen noch die anderen Aufgaben, die das Leben in der Welt stellen,
dürfen außerhalb des Bereiches ihres geistlichen Lebens stehen«.(45) Die Synodenväter meinten
ihrerseits: »Die Einheit des Lebens der Laien ist von entscheidender Bedeutung: Sie müssen sich
in ihrem alltäglichen beruflichen und gesellschaftlichen Leben heiligen. Um ihre Berufung zu
erfüllen, müssen die Laien ihr Tun im Alltag als Möglichkeit der Vereinigung mit Gott und der
Erfüllung seines Willens sowie als Dienst an den anderen Menschen betrachten, um sie in
Christus zur Gemeinschaft mit Gott zu führen«.(46)
Die Laien müssen ihre Berufung zur Heiligkeit als unverzichtbare Pflicht, die sie fordert, vor allem
aber als leuchtendes Zeichen der Liebe Gottes, der sie zu seinem Leben der Heiligkeit erlöst hat,
verstehen und verwirklichen. Eine solche Berufung muß sich also als wesentlicher und
untrennbarer Bestandteil des neuen Lebens, das uns in der Taufe geschenkt wurde, und somit als
konstitutiver Bestandteil der Würde der Laien verstehen. Die Berufung zur Heiligkeit ist mit der
Sendung sowie mit der Verantwortung, die den Laien in der Kirche und in der Welt anvertraut ist,
aufs engste verknüpft. Die gelebte Heiligkeit, die aus der Teilnahme am Heiligkeitsleben der
Kirche fließt, stellt den ersten und grundlegenden Beitrag zum Aufbau der Kirche als
»Gemeinschaft der Heiligen« dar. Im Licht des Glaubens erschließt sich uns ein wundervoller
Horizont: Die zahlreichen Laien, Männer und Frauen, die in ihrem Leben und ihrem alltäglichen
Tun oft ungesehen und sogar unverstanden, von den Großen dieser Erde nicht anerkannt, aber
vom Vater in Liebe angeschaut, unermüdliche Arbeiter im Weinberg des Herrn sind und so
demütige, aber - durch die Kraft der Gnade Gottes - große Mitwirkende am Wachstum des
Reiches Gottes in der Geschichte werden.
Die Heiligkeit ist fundamentale Bedingung und unverzichtbare Voraussetzung für die Erfüllung der
Heilssendung der Kirche. Die geheime Quelle und das unfehlbare Maß der apostolischen
Wirksamkeit und der missionarischen Kraft der Kirche ist ihre Heiligkeit. Nur in dem Maß, in dem
sie sich als Braut Christi seiner Liebe aussetzt und ihn wiederliebt, wird die Kirche im Geist zur
fruchtbaren Mutter.
Greifen wir wieder zurück zum biblischen Bild: das Sprießen und Wachsen der Reben ist gegeben

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19
durch ihre Verbindung mit dem Weinstock. »Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann,
sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr keine Frucht bringen, wenn ihr nicht
in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der
bringt reiche Frucht; denn getrennt vor mir könnt ihr nichts vollbringen« (Joh 15, 4-5).
Es liegt nahe, hier die feierlichen Selig- und Heiligsprechungen von Laien, Männer und Frauen,
die während der Synode stattgefunden haben, in Erinnerung zu rufen. Das gesamte Volk Gottes
und vor allem die Laien können nun auf neue Vorbilder der Heiligkeit, die in gewöhnlichen und
alltäglichen Situationen menschlicher Existenz gelebt haben, auf neue Zeugnisse heroischer
Tugend schauen. Die Synodenväter sagten darüber: »Die Ortskirchen und vor allem die
sogenannten jungen Kirchen müssen aufmerksam unter ihren Gliedern jene Männer und Frauen
zu erkennen suchen, die in diesen Situationen (den alltäglichen Situationen der Welt und des
Ehestandes) ein Zeugnis der Heiligkeit gegeben haben und anderen Vorbild sein können, damit
sie gegebenenfalls für die Selig -oder Heiligsprechung vorgeschlagen werden«.(47)
Am Schluß dieser Überlegungen, die den Ort der Laien in der Kirche definieren wollten, kommt
uns die berühmte Ermahnung Leos des Großen in den Sinn: »O Christ, erkenne deine
Würde!«(48) Die gleiche Ermahnung hat Maximus, Bischof von Turin, an alle gerichtet, die die
Salbung der heiligen Taufe empfangen hatten: »Bedenkt die Ehre, die euch in diesem Geheimnis
zuteil wurde!«(49) Alle Getauften sind aufgerufen, erneut auf die Worte des heiligen Augustinus zu
hören: »Freuen wir uns und danken wir: wir sind nicht nur Christen, sondern Christus geworden ...
Staunt und frohlockt: Wir sind Christus geworden«.(50)
Die christliche Würde, die Ursprung der Gleichheit aller Glieder der Kirche ist, gewährleistet und
fördert den Geist der communio und der Brüderlichkeit und ist zugleich Geheimnis und Kraftquelle
der apostolischen und missionarischen Dynamik der Laien. Diese Würde ist anspruchsvoll, sie ist
die Würde der Arbeiter, die der Herr in seinen Weinberg gerufen hat: »So obliegt allen Laien« -
lesen wir in den Konzilstexten - »die ehrenvolle Bürde, dafür zu wirken, daß der göttliche
Heilsratschluß mehr und mehr alle Menschen aller Zeiten und überall auf der Erde erreiche«.(51)
ZWEITES KAPITEL
WIR ALLE SIND REBEN DES EINEN WEINSTOCKS
Die Teilhabe der Laien am Leben in der communio der Kirche
Das Geheimnis der Kirche als communio
18. Hören wir noch einmal auf die Worte Jesu: »Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist
der Winzer... Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch« (Joh 15, 1-4).

2.10 Page 20

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20
Diese einfachen Worte offenbaren uns die geheimnisvolle Gemeinschaft, die den Herrn und die
Jünger, den Herrn und alle Getauften zu einer Einheit verbindet. Sie ist lebendige und
lebensspendende Gemeinschaft, aufgrund derer die Christen nicht sich selbst gehören, sondern
wie die Reben am Weinstock Christi Eigentum sind.
Vorbild, Quelle und Ziel der Gemeinschaft der Christen mit Jesus ist die Gemeinschaft des
Sohnes mit dem Vater in der Hingabe des Heiligen Geistes. Durch das Liebesband des Geistes
Christi vereint, sind die Christen mit dem Vater geeint.
Jesus fährt fort: »Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben« (Joh 15, 5). Aus der Gemeinschaft
der Christen mit Christus ergibt sich ihre Gemeinschaft untereinander: Alle sind Reben des einen
Weinstocks, der Christus ist. Der Herr Jesus deutet uns diese brüderliche Gemeinschaft als
leuchtenden Widerschein des Lebens und der Liebe des Vaters, des Sohnes und des Heiligen
Geistes, an dem alle Getauften auf geheimnisvolle Weise teilnehmen. Um diese Gemeinschaft
betet Jesus: »Alle sollen eins sein, wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in
uns sein, damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast« (Joh 17, 21).
Diese communio ist das eigentliche Geheimnis der Kirche, wie das II. Vatikanische Konzil es uns
mit dem berühmten Wort des heiligen Zyprian in Erinnerung ruft: »So erscheint die ganze Kirche
als »das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte
Volk«.(52) An dieses Geheimnis der Kirche als communio werden wir zu Beginn einer jeden
Eucharistiefeier erinnert, wenn der Priester uns den Gruß des Apostels Paulus wiederholt: »Die
Gnade Jesu Christi, des Herrn, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei
mit euch allen« (2 Kor 13, 13).
Nachdem wir die »Gestalt« der Laien in ihrer Würde gezeichnet haben, müssen wir uns nun ihrer
Sendung und Verantwortung in der Kirche und in der Welt zuwenden. Diese können aber nur im
lebendigen Kontext der Kirche als communio in der rechten Weise verstanden werden.
Das Konzil und die communio-Ekklesiologie
19. Das ist die Grundvorstellung von sich selbst, die die Kirche im II. Vatikanischen Konzil zum
Ausdruck gebracht, und die die Außerordentliche Synode von 1985 uns zwanzig Jahre nach dem
Ereignis des Konzils in Erinnerung gerufen hat: »Die communio-Ekklesiologie ist der zentrale und
grundlegende Gedanke der Konzilsdokumente. Die koinonia-communio, die in der Heiligen Schrift
begründet ist, nimmt in der alten Kirche und in den östlichen Kirchen bis in unsere Tage hinein
eine Vorrangstellung ein. Darum ist seit dem II. Vatikanischen Konzil viel getan worden, um das
Verständnis der Kirche als communio zu fördern und konkreter in das Leben umzusetzen. Was
bedeutet das vielschichtige Wort "communio"? Es geht im Letzten um die Gemeinschaft mit Gott
durch Jesus Christus im Heiligen Geist. Diese communio ist im Wort Gottes und in den
Sakramenten gegeben. Die Taufe ist der Zugang zur communio der Kirche und ihr Fundament.

3 Pages 21-30

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3.1 Page 21

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21
Die Eucharistie ist Quelle und Höhepunkt des christlichen Lebens (vgl. LG, 11). Die Kommunion
des eucharistischen Leibes Christi bedeutet und erwirkt, das heißt, sie baut die tiefe communio
aller Gläubigen im Leib Christi, der die Kirche ist, auf (1 Kor 10, 16 f)«.(53)
Am Tag nach dem Konzil sprach Paul VI. zu den Gläubigen: »Die Kirche ist eine communio. Was
bedeutet in diesem Fall communio? Wir weisen hin auf das Kapitel des Katechismus, das von der
sanctorum communionem, von der Gemeinschaft der Heiligen handelt. Und Gemeinschaft der
Heiligen bedeutet eine zweifache lebensmäßige Teilhabe: die Eingliederung der Christen in das
Leben Christi und das kreisförmige Weiterströmen dieser Liebe unter allen Gläubigen in dieser
und in der anderen Welt. Einheit mit Christus und in Christus; und Einheit unter den Christen in
der Kirche«.(54)
Die biblischen Bilder, mit denen das Konzil uns in die Betrachtung des Geheimnisses der Kirche
einführen wollte, werfen Licht auf die Realität der Kirche als communio in ihren unzertrennbaren
Dimensionen der Gemeinschaft der Christen mit Christus und der Gemeinschaft der Christen
untereinander. Diese Bilder handeln vom Schafstall, von der Herde, vom Weinstock, vom
geistigen Haus, von der heiligen Stadt.(55)
Im Vordergrund steht vor allem das Bild des Leibes, das uns vom heiligen Paulus gegeben wurde,
und dessen Lehre uns an vielen Stellen der Konzilstexte in ihrer ganzen Ursprünglichkeit und
Anziehungskraft entgegenkommt.(56) Das Konzil wiederum schöpft aus der gesamten
Heilsgeschichte und stellt uns das Bild der Kirche als Volk Gottes erneut dar: »Gott hat es aber
gefallen, die Menschen nicht einzeln unabhängig von aller wechselseitigen Verbindung zu heiligen
und zu retten, sondern sie zu einem Volke zu machen, das ihn in Wahrheit anerkennen und ihm in
Heiligkeit dienen soll«.(57) Schon in ihren ersten Zeilen faßt die Konstitution Lumen Gentium
diese Lehre zutreffend zusammen, wenn sie schreibt: »Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das
Sakrament, das heißt, Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die
Einheit der ganzen Menschheit«.(58)
Die Realität der Kirche als communio ist wesentlicher Bestandteil, ja sie stellt den zentralen Inhalt
des »Mysteriums«, das heißt, des göttlichen Heilsratschlusses für die Menschen dar. Darum kann
die communio der Kirche nicht verstanden werden, wenn man sie lediglich als soziologische oder
psychologische Gegebenheit betrachtet. Die Kirche als communio ist das »neue« Volk, das
»messianische« Volk, das »zum Haupte Christus« hat, »dem die Würde und die Freiheit der
Kinder Gottes« zu eigen ist, dessen »Gesetz ... das neue Gebot ..., zu lieben wie Christus uns
geliebt hat« und dessen »Bestimmung endlich ... das Reich Gottes« ist, das »von Christus als
Gemeinschaft des Lebens, der Liebe und der Wahrheit gestiftet« worden ist.(59) Die Bande, die
die Glieder des Volkes Gottes untereinander - und vor allem mit Christus - verbinden, sind nicht
die des »Fleisches« und des »Blutes«, sondern die des Geistes, genauer noch, die des Heiligen
Geistes, den alle Getauften empfangen (vgl. Joel 3, 1).

3.2 Page 22

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22
Derselbe Geist, der von Ewigkeit die einzige und ungeteilte Dreifaltigkeit vereinigt, der Geist, der
»als die Zeit erfüllt war« (Gal 4, 4), das menschliche Fleisch unzertrennlich mit dem Sohn Gottes
vereinigt, derselbe und dergleiche Geist ist im Lauf der christlichen Generationen die
unversiegbare und unerschöpfliche Quelle der communio der Kirche und in der Kirche.
Organische communio: Verschiedenheit und Komplementarität
20. Genauer betrachtet stellt die communio der Kirche sich als »organische communio« dar,
ähnlich der eines lebendigen und wirkenden Leibes: Sie ist gekennzeichnet von der Koexistenz
der Verschiedenheit und der Komplementarität der Berufungen, Lebenssituationen, Diensten,
Charismen und Verantwortungen. Dank dieser Verschiedenheit und Komplementarität steht jeder
Laie in Beziehung zum gesamten Leib und bringt seinen Beitrag in ihn ein. Der heilige Paulus
betont auf ganz besondere Weise die organische communio des mystischen Leibes Christi. Wir
finden seine reiche Lehre in der Synthese, die das Konzil uns geboten hat: Jesus Christus - so
lesen wir in der Konstitution Lumen Gentium - hat, »indem er nämlich seinen Geist mitteilte, ...
seine Brüder, die er aus allen Völkern zusammenrief, in geheimnisvoller Weise gleichsam zu
seinem Leib gemacht. In jenem Leibe strömt Christi Leben auf die Gläubigen über ... Wie aber alle
Glieder des menschlichen Leibes, obschon sie viele sind, dennoch den einen Leib ausmachen, so
auch die Gläubigen in Christus (vgl. 1 Kor 12, 12). Auch bei der Auferbauung des Leibes Christi
waltet die Verschiedenheit der Glieder und der Aufgaben. Der eine Geist ist es, der seine
vielfältigen Gaben gemäß seinem Reichtum und den Erfordernissen der Dienste zum Nutzen in
der Kirche austeilt (vgl. 1 Kor 12, 1-11). Unter diesen Gaben ragt die Gnade der Apostel heraus,
deren Autorität der Geist selbst auch die Charismatiker unterstellt (vgl. 1 Kor 14). Derselbe Geist
eint durch sie und durch seine Kraft, wie durch die innere Verbindung der Glieder den Leib; er
bringt die Liebe der Gläubigen untereinander hervor und treibt sie an. Folglich leiden, wenn ein
Glied leidet, alle Glieder mit, und wenn ein Glied Ehre empfängt, freuen sich alle Glieder mit (vgl. 1
Kor 12, 26)«.(60)
Das dynamische Prinzip der Verschiedenheit und der Einheit der Kirche und in der Kirche ist
immer derselbe Geist. Wir lesen ferner in der Konstitution Lumen gentium: »Damit wir aber in ihm
unablässig erneuert werden (vgl. Eph 4, 23), gab er uns von seinem Geist, der als der eine und
gleiche im Haupt und in den Gliedern wohnt und den ganzen Leib so lebendig macht, eint und
bewegt, daß die heiligen Väter sein Wirken vergleichen konnten mit der Aufgabe, die das
Lebensprinzip - die Seele - im menschlichen Leibe erfüllt«.(61) In einem anderen Passus, dessen
Dichte und Fülle die »Organizität« der communio der Kirche auch unter dem Gesichtspunkt ihres
dauernden Wachstums auf die vollkommene communio hin aufschließt, schreibt das Konzil: »Der
Geist wohnt in der Kirche und in den Herzen der Gläubigen wie in einem Tempel (vgl. 1 Kor 3, 16;
6, 19), in ihnen betet er und bezeugt ihre Annahme an Sohnes Statt (vgl. Gal 4, 6; Röm 8, 15-16.
26). Er führt die Kirche in alle Wahrheit ein (vgl. Joh 16, 13), eint sie in Gemeinschaft und
Dienstleistung, bereitet und lenkt sie durch die verschiedenen hierarchischen und charismatischen
Gaben und schmückt sie mit seinen Früchten (vgl. Eph 4, 11-12; 1 Kor 12, 4;Gal 5, 22). Durch die

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23
Kraft des Evangeliums läßt er die Kirche allezeit sich verjüngen, erneut sie immerfort und geleitet
sie zur vollkommenen Vereinigung mit ihrem Bräutigam. Denn der Geist und die Braut sagen zum
Herrn Jesus: "Komm" (vgl. Offb 22, 17)«.(62)
Die communio der Kirche ist also eine Gabe, eine große Gabe des Heiligen Geistes, die die Laien
dankbar annehmen und mit tiefem Verantwortungsbewußtsein leben sollen. Das geschieht
konkret durch ihre Teilnahme am Leben und an der Sendung der Kirche, in deren Dienst sie ihre
verschiedenen und komplementären Aufträge und Charismen stellen.
Der Laie »kann sich nicht in sich selbst verschließen und geistig von der Gemeinschaft trennen, er
muß in einem dauernden Austausch mit den anderen leben, aus einem lebendigen Sinn für
Brüderlichkeit, in der Freude der gleichen Würde und im Bemühen, gemeinsam den großen
Schatz, der als Erbe empfangen wurde, fruchtbar werden zu lassen. Der Geist des Herrn schenkt
ihm wie auch den anderen vielfältige Charismen, er lädt ihn zu verschiedenen Diensten und
Aufgaben ein und erinnert ihn daran, so wie er im Hinblick auf ihn andere daran erinnert, daß das,
was ihn unterscheidet, nicht ein mehr an Würde, sondern eine besondere und komplementäre
Befähigung zum Dienst ist ... So bestehen die Charismen, die Dienste, die Aufgaben des Laien in
der communio und für die communio. Sie sind komplementäre Reichtümer für den Dienst an allen
unter der weisen Führung der Hirten«.(63)
Ämter und Charismen, Gaben des Geistes an die Kirche
21. Das II. Vatikanische Konzil stellt die Ämter und Charismen als Gaben des Geistes für den
Aufbau des Leibes Christi und für seine Heilssendung in der Welt dar.(64) Die Kirche wird vom
Geist geleitet und geführt, und er gewährt den Getauften verschiedene hierarchische und
charismatische Gaben und beruft einen jeden, auf seine Weise aktiv und mitverantwortlich zu
werden.
Wir wollen nun die Ämter und Charismen in ihrer unmittelbaren Beziehung zu den Laien und zu
ihrer Teilhabe am Leben der Kirche als communio betrachten.
Ämter, Dienste und Funktionen
Wenn auch auf verschiedene Weise, sind alle Ämter, die in der Kirche gegenwärtig und wirksam
sind, Teilhabe am Amt Jesu Christi, dem guten Hirten, der sein Leben hingibt für seine Schafe
(vgl. Joh 10, 11), und dem demütigen und für das Heil aller sich gänzlich opfernden Diener (vgl.
Mk 10, 45). Paulus stellt die amtliche Struktur der Urgemeinden deutlich heraus. Im ersten Brief an
die Korinther schreibt er: »So hat Gott in der Kirche die einen als Apostel eingesetzt, die andern
als Propheten, die dritten als Lehrer ...« (1 Kor 12, 28). Im Brief an die Epheser lesen wir: »Aber
jeder von uns empfängt die Gnade in dem Maß, wie Christus sie ihm geschenkt hat ... Und er gab
den einen das Apostelamt, andere setzte er als Propheten ein, andere als Evangelisten, andere

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als Hirten und Lehrer, um die Heiligen für die Erfüllung ihres Dienstes zu rüsten für den Aufbau
des Leibes Christi. So sollen wir alle zur Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes
Gottes gelangen, damit wir zum vollkommenen Menschen werden und Christus in seiner
vollendeten Gestalt darstellen« (Eph 4, 7. 11-13; vgl. Röm 12, 4-8). Wie aus diesen und anderen
Texten des Neuen Testamentes hervorgeht, sind die Ämter sowie die Gaben und die Aufgaben in
der Kirche vielfältig und verschiedenartig.
Die vom Ordo abgeleiteten Ämter
22. In der Kirche begegnen uns zunächst die geweihten Ämter, das heißt, die Ämter, die sich aus
dem Sakrament des Ordo ableiten. Der Herr Jesus hat die Apostel erwählt und eingesetzt - als
Keime des neuen Israel und Ursprung der Hierarchie(65) - mit dem Auftrag, alle Menschen zu
seinen Jüngern zu machen (vgl. Mt 28, 19), das priesterliche Volk zu konstituieren und zu
regieren. Der Auftrag der Apostel, den der Herr Jesus weiterhin den Hirten seines Volkes
anvertraut, ist im wahren Sinn des Wortes ein Dienst, der in der Heiligen Schrift
bezeichnenderweise als »diakonia«, das heißt Dienst oder Amt, genannt wird. Die Amtsträger
empfangen durch das Sakrament des Ordo von Christus, dem Auferstandenen, in der
ununterbrochenen Apostolischen Nachfolge das Charisma des Heiligen Geistes. Sie empfangen
damit die Autorität und die heilige Vollmacht, um der Kirche zu dienen, indem sie »in persona
Christi Capitis« (in der Person des Hauptes Christus)(66) handeln und sie im Heiligen Geist durch
das Evangelium und die Sakramente zu einen.
Mehr noch als für die Menschen, die sie empfangen, sind die geweihten Ämter eine große Gnade
für die gesamte Kirche. Sie realisieren und machen eine andere Art der Teilhabe am Priestertum
Jesu Christi sichtbar, die nicht nur im Grad, sondern wesenhaft verschieden ist von der Teilhabe,
die mit Taufe und Firmung allen Gläubigen gegeben ist. Auf der anderen Seite ist das
Amtspriestertum, wie es das II. Vatikanische Konzil in Erinnerung gerufen hat, wesentlich auf das
königliche Priestertum aller Gläubigen hin und diesem zugeordnet.(67)
Aus diesem Grund und um die communio der Kirche vor allem im Bereich der verschiedenen und
komplementären Dienste zu sichern und zu vertiefen, müssen die Hirten sich bewußt sein, daß ihr
Amt grundsätzlich auf den Dienst am gesamten Volk Gottes ausgerichtet ist (vgl. Hebr 5, 1).Die
Laien ihrerseits müssen anerkennen, daß das Amtspriestertum für ihr Leben und für ihrer Teilhabe
an der Sendung unverzichtbar ist.(68)
Dienste, Aufgaben und Funktionen der Laien
23. Die Heilssendung der Kirche in der Welt wird nicht nur von den Amtsträgern aufgrund des
Sakramentes des Ordo realisiert, sondern auch von allen Laien. Als Getaufte und aufgrund ihrer
spezifischen Berufung nehmen diese in dem Maß, das einem jeden entspricht, am priesterlichen,
prophetischen und königlichen Amt Christi teil. Darum müssen die Hirten die Dienste, Aufgaben

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und Funktionen der Laien anerkennen und fördern. Diese haben ihre sakramentale Grundlage in
Taufe und Firmung und vielfach auch in der Ehe.
Wenn es zum Wohl der Kirche nützlich oder notwendig ist, können die Hirten entsprechend den
Normen des Universalrechts den Laien bestimmte Aufgaben anvertrauen, die zwar mit ihrem
eigenen Hirtenamt verbunden sind, aber den Charakter des Ordo nicht voraussetzen. Der Codex
schreibt: »Wo es ein Bedarf der Kirche nahelegt, weil für diese Dienste Beauftragte nicht zur
Verfügung stehen, können auch Laien, selbst wenn sie nicht Lektoren oder Akolythen sind, nach
Maßgabe der Rechtsvorschriften bestimmte Aufgaben erfüllen, nämlich den Dienst am Wort, die
Leitung liturgischer Gebete, die Spendung der Taufe und die Austeilung der heiligen
Kommunion«.(69) Die Erfüllung einer solchen Aufgabe macht den Laien aber nicht zum Hirten:
Nicht eine Aufgabe konstituiert das Amt, sondern das Sakrament des Ordo.
Nur das Sakrament des Ordo gewährt dem geweihten Amtsträger eine besondere Teilhabe am
Amt Christi, des Hauptes und Hirten, und an seinem ewigen Priestertum.(70) Die in Vertretung
erfüllte Aufgabe leitet ihre Legitimität formell und unmittelbar von der offiziellen Beauftragung
durch die Hirten ab. Ihre konkrete Erfüllung untersteht der Leitung der kirchlichen Autorität.(71)
Die letzte Synode hat ein breites und bedeutungsreiches Panorama der Situation von Diensten,
Aufgaben und Funktionen der Getauften in der Kirche geboten. Die Väter haben ihre volle
Anerkennung den wertvollen apostolischen Beiträgen der Laien ausgesprochen, der Männer und
Frauen, die sich für die Evangelisierung, die Heiligung und die christliche Inspirierung des
säkularen Bereiches einsetzen, sowie ihrer hochherzigen Einsatzbereitschaft als Stellvertreter in
Situationen akuter oder dauernder Not.(72)
Im Prozeß der liturgischen Erneuerung, die das Konzil gefördert hat, haben die Laien Aufgaben,
die ihnen bei liturgischen Versammlungen und bei ihrer Vorbereitung zustehen, bewußter erkannt;
sie haben sich bereitwillig zur Verfügung gestellt, um diese zu erfüllen, denn die liturgische Feier
ist eine heilige Handlung, die nicht nur vom Klerus, sondern von der gesamten Versammlung
vollzogen wird. Es ist darum selbstverständlich, daß die Aufgaben, die nicht spezifisch den
geweihten Amtsträgern zukommen, von den Laien übernommen werden.(73) Der Übergang von
der effektiven Mitwirkung der Laien ander Liturgie bis zu ihrem Mittun bei der Verkündigung des
Wortes Gottes und in der Seelsorge hat sich spontan vollzogen.(74)
Bei dieser Vollversammlung der Synode fehlten neben den positiven nicht die kritischen
Beurteilungen über den undifferenzierten Gebrauch des Terminus »Amt«, über Unklarheit und
wiederholte Nivellierungen zwischen dem gemeinsamen Priestertum und dem Amtspriestertum,
über die geringe Beachtung gewisser kirchlicher Normen und Bestimmungen, über die willkürliche
Interpretation des Begriffes der »Stellvertretung«, über die Tendenz zur »Klerikalisierung« der
Laien und über das Risiko, de facto eine kirchliche Dienststruktur zu schaffen, die parallel zu der
im Sakrament des Ordo gründenden steht.

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Um diese Gefahren zu vermeiden, haben die Synodenväter auf der Notwendigkeit bestanden,
nicht zuletzt durch den Gebrauch einer präziseren Terminologie,(75) die Einheit der einen
Sendung der Kirche, an der alle Getauften teilnehmen, aber auch den wesenhaften Unterschied
des Amtes der Hirten, der im Sakrament des Ordo gründet, gegenüber anderen Diensten,
Aufgaben und Funktionen in der Kirche, die in den Sakramenten der Taufe und Firmung
begründet sind, klar herauszustellen.
Die Hirten dürfen darum zunächst bei der Übertragung der verschiedenen Dienste, Aufgaben und
Funktionen an die Laien nicht versäumen, diese sorgfältig über die in der Taufe liegende Wurzel
dieser Dienste zu unterrichten.
Die Hirten müssen zudem darüber wachen, daß nicht leichtfertig oder gar unrechtmäßig auf
vermeintliche »Notsituationen« oder auf die Notwendigkeit einer »Stellvertretung«, wo sie in der
Tat nicht vorhanden sind oder wo man sie mit einer rationelleren pastoralen Planung vermeiden
könnte, zurückgegriffen wird.
»Das eigentliche Feld ihrer evangelisierenden Tätigkeit ist die weite und schwierige Welt der
Politik, des Sozialen und der Wirtschaft, aber auch der Kultur, der Wissenschaften und Künste,
des internationalen Lebens und der Massenmedien, ebenso gewisse Wirklichkeiten, die der
Evangelisierung offenstehen, wie Liebe, Familie, Kinder- und Jugenderziehung, Berufsarbeit,
Leiden usw. Je mehr vom Evangelium geprägte Laien da sind, die sich für diese Wirklichkeiten
verantwortlich wissen und überzeugend in ihnen sich betätigen, sie mit Fachkenntnis voranbringen
und sich bewußt bleiben, daß sie ihre gesamte kirchliche Substanz, die oft verschüttet und erstickt
erscheint, einsetzen müssen, um so mehr werden diese Wirklichkeiten, ohne etwas von ihrer
menschlichen Tragweite zu verlieren oder zu opfern, geradezu eine oft verkannte transzendente
Dimension offenbaren, in den Dienst der Erbauung des Reiches Gottes treten und damit in den
Dienst des Heiles in Jesus Christus«.(76)
Im Lauf der Synodenarbeiten haben die Väter dem Lektorat und dem Akolythat besondere
Aufmerksamkeit gewidmet. Diese bestanden in der Vergangenheit der Lateinischen Kirche nur als
geistige Etappen des Weges zum geweihten Amt. Mit dem Motu Proprio Pauls VI. Ministeria
quaedam (15. August 1972) haben sie eine eigene Autonomie und Stabilität erhalten und wurden
Laien, wenn auch nur Männern, zugänglich gemacht. Der neue Codex führt diese Linie fort.(77)
Die Väter haben jetzt den Wunsch ausgesprochen, daß »das motu proprio "Ministeria quaedam"
auf dem Hintergrund der Praxis, die sich in den Teilkirchen entwickelt hat, und vor allem im
Hinblick auf die Bestimmung von Kriterien, nach denen die Adressaten eines jeden Dienstes
ausgewählt werden sollen, überprüft werde«.(78)
So wurde eine besondere Kommission konstituiert, die nicht nur diesem Wunsch der
Synodenväter entsprechen, sondern auch die verschiedenen theologischen, liturgischen,

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27
juridischen und pastoralen Probleme vertiefen soll, die sich aus der aktuellen wachsenden Zahl
von Diensten, Aufgaben und Funktionen, die Laien anvertraut werden, ergeben. In der Erwartung,
daß die Kommission ihre Untersuchungen abschließt und damit die kirchliche Praxis der Dienste,
die Laien anvertraut werden, geordnet und fruchtbar ausgeübt wird, sollen die oben in Erinnerung
gerufenen theologiscken Prinzipien in allen Teilkirchen treu beachtet werden, vor allem im Hinblick
auf den wesentlichen Unterschied zwischen Amtspriestertum und gemeinsamem Priestertum und
somit zwischen den Ämtern, die sich vom Sakrament des Ordo ableiten, und den Diensten, die
sich vom Sakrament der Taufe und Firmung ableiten.
Die Charismen
24. Der Heilige Geist vertraut der Kirche als communio die verschiedenen Ämter an. Zugleich
bereichert er sie mit anderen besonderen Gaben und Impulsen, Charismen genannt. Sie können
als Ausdruck der vollkommenen Freiheit des Geistes, der sie schenkt, oder als Antwort auf die
vielfältigen Bedürfnisse im Lauf der Geschichte der Kirche verschiedene Formen annehmen. Die
Beschreibung und Klassifizierung dieser Gaben in den Schriften des Neuen Testamentes
beweisen ihre große Vielfalt. »Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie
anderen nützt. Dem einen wird vom Geist die Gabe geschenkt, Weisheit mitzuteilen, dem andern
durch den gleichen Geist die Gabe, Erkenntnis zu vermitteln, dem dritten im gleichen Geist
Glaubenskraft, einem andern - immer in dem einen Geist - die Gabe, Krankheiten zu heilen, einem
andern Wunderkräfte, einem andern prophetische Reden, einem andern die Fähigkeit, Geister zu
unterscheiden, wieder einem andern verschiedene Arten von Zungenreden, einem andern
schließlich die Gabe, sie zu deuten« (1 Kor 12, 7-10; vgl. 1 Kor 12, 4-6. 28-31; Röm 12, 6-8; 1 Petr
4, 10-11).
Ob sie außergewöhnlich oder bescheiden und einfach sind, stellen die Charismen Gnaden des
Heiligen Geistes dar, die unmittelbar oder mittelbar der Kirche Nutzen bringen, weil sie auf ihre
Auferbauung, auf das Wohl der Menschen und auf die Bedürfnisse der Welt hingeordnet sind.
Auch in unseren Zeiten fehlt das Aufkommen von verschiedenen Charismen unter den Laien,
Männern und Frauen, nicht. Sie werden dem einzelnen gegeben, können aber von anderen geteilt
werden, so daß sie als kostbares und lebendiges Erbe in der Zeit fortdauern und zwischen
einzelnen Menschen eine besondere geistige Verwandtschaft schaffen. Gerade im Hinblick auf
das Laienapostolat schreibt das II. Vatikanische Konzil: »Zum Vollzug dieses Apostolates schenkt
der Heilige Geist, der ja durch den Dienst des Amtes und durch die Sakramente die Heiligung des
Volkes Gottes wirkt, den Gläubigen auch noch besondere Gaben (vgl. 1 Kor 12, 7); "einem jeden
teilt er sie zu, wie er will" (1 Kor 12, 11), damit alle, "wie ein jeder die Gnadengabe empfangen hat,
mit dieser einander helfen" und so auch selbst "wie gute Verwalter der mannigfachen Gnade
Gottes" seien (1 Petr 4, 10) zum Aufbau des ganzen Leibes in der Liebe (vgl. Eph 4, 16)«.(79)
Gemäß der Logik des ursprünglichen Schenkens, aus dem sie kommen, verlangen die Gaben des

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28
Geistes, daß jene, die sie empfangen haben, sie für das Wachstum der gesamten Kirche
verwenden, so wie das Konzil es uns in Erinnerung gerufen hat.(80)
Die Charismen müssen von jenen, die sie empfangen, aber auch von der gesamten Kirche in
Dankbarkeit angenommen werden. Sie beinhalten einen besonderen Reichtum an Gnade für die
apostolische Dynamik und für die Heiligkeit des ganzen Leibes Christi, vorausgesetzt, daß es sich
um Gaben handelt, die in der Tat vom Geist kommen und in vollkommenem Einklang mit echten
Antrieben des Geistes ausgeübt werden. Darum ist eine Unterscheidung der Charismen immer
notwendig. Wie die Synodenväter ausgesagt haben, »kann das Wirken des Geistes, der weht, wo
er will, nicht immer mit Leichtigkeit erkannt und angenommen werden. Wir wissen, daß Gott in
allen Gläubigen wirkt, und wir sind uns der Wohltaten bewußt, die uns von den Charismen
kommen, sei es im Hinblick auf die einzelnen wie auf die ganze christliche Gemeinde, aber wir
wissen auch um die Macht des Bösen und um sein Bemühen, das Leben der Gläubigen und der
Gemeinde zu stören und durcheinanderzubringen«.(81)
Darum dispensiert kein Charisma von der Rückbindung an die Hirten der Kirche und von der
Unterordnung unter sie. Das Konzil schreibt mit großer Klarheit: »Das Urteil über ihre (der
Charismen) Echtheit und ihren geordneten Gebrauch steht bei jenen, die in der Kirche die Leitung
haben und denen es in besonderer Weise zukommt, den Geist nicht auszulöschen, sondern alles
zu prüfen und das Gute zu behalten (vgl. 1 Thess 5, 12 u. 19-21)«,(82) damit alle Charismen in
ihrer Verschiedenheit und Komplementarität zum Allgemeinwohl beitragen.(83)
Die Teilhabe der Laien am Leben der Kirche
25. Die Laien nehmen nicht nur durch die Ausübung ihrer Dienste und Charismen, sondern auf
viele andere Weisen am Leben der Kirche teil.
Diese Teilhabe kommt zunächst und notwendigerweise im Leben und in der Sendung der
Teilkirchen, der Diözesen zum Ausdruck, in denen »die eine, heilige, katholische und apostolische
Kirche wahrhaft wirkt und gegenwärtig ist«.(84)
Teilkirchen und Universalkirche
Um auf rechte Weise am Leben der Kirche teilzunehmen, müssen die Laien notwendig klare und
präzise Vorstellungen über die Teilkirche in ihrer ursprünglichen Beziehung zur Universalkirche
haben. Die Teilkirche entsteht nicht aus einer Art Fragmentierung der Universalkirche, und die
Universalkirche stellt sich nicht aus der einfachen Summe der Teilkirchen zusammen; sie werden
vielmehr durch ein lebendiges, wesentliches und dauerndes Band miteinander verbunden, weil die
Universalkirche in den Teilkirchen besteht und sich in ihnen ausdrückt. Darum behauptet das
Konzil, daß die Teilkirchen »nach dem Bild der Gesamtkirche gestaltet sind. In ihnen und aus
ihnen besteht die eine und einzige katholische Kirche«.(85)

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Das Konzil fordert die Laien mit Entschiedenheit auf, ihre Zugehörigkeit zur Teilkirche aktiv
mitzuvollziehen und zugleich ihren Blick immer mehr für die »Katholizität« auszuweiten.
»Stets mögen sie« - so lesen wir im Dekret über das Laienapostolat - »den Sinn für das ganze
Bistum, dessen Zelle gleichsam die Pfarrei ist, pflegen, immer bereit, auf Einladung ihres Bischofs
auch für die diözesanen Unternehmungen ihre Kräfte einzusetzen. Ja, um den Bedürfnissen von
Stadt und Land zu entsprechen, mögen sie ihre Mitarbeit nicht auf die engen Grenzen ihrer Pfarrei
oder ihres Bistums beschränken, sondern sie auf den zwischenpfarrlichen, interdiözesanen,
nationalen und internationalen Bereich auszudehnen bestrebt sein; dies um so mehr, als die von
Tag zu Tag zunehmende Wanderung der Menschen und Völker, die Zunahme der gegenseitigen
Verbundenheit und die Leichtigkeit des Nachrichtenaustausches nicht mehr zulassen, daß
irgendein Teil der Gesellschaft in sich abgeschlossen weiterlebt. So sollen sie sich um die Nöte
des über den ganzen Erdkreis verstreuten Volkes Gottes kümmern«.(86) Die letzte Synode hat in
diesem Sinn die Bitte um die Förderung der Errichtung von Diözesanpastoralräten gestellt, die
man den Verhältnissen und Bedürfnissen entsprechend einschalten soll. Auf Diözesanebene sei
diese die wichtigste Form der Mitarbeit und des Dialogs sowie der gemeinsamen Urteilsbildung.
Die Mitwirkung der Laien in diesen Räten kann die Möglichkeiten der Konsultation erweitern, so
wie das Prinzip der Mitwirkung - die in einzelnen Fällen auch Mitentscheidung ist - auf breiterer
Basis und intensiver zur Anwendung kommen lassen.(87)
Der Codex sieht die Teilnahme der Laien an Diözesansynoden und Partikularkonzilien auf
Provinz- und Dekanatsebene vor;(88) sie kann einen Beitrag für die communio und die Sendung
der Teilkirche bedeuten, sei es in ihrem eigenen Rahmen, sei es in ihrem Verhältnis zu den
anderen Teilkirchen der Kirchenprovinz oder der Bischofskonferenz.
Den Bischofskonferenzen kommt es zu, die geeigneten Mittel und Wege zu finden, um auf
National- oder Regionalebene die Konsultation und die Mitarbeit der Laien, Männer und Frauen,
weiterzuentwickeln. So kann über die gemeinsamen Probleme beraten werden und die kirchliche
communio aller zutage treten.(89)
Die Pfarrei
26. Wenn sie auch eine universale Dimension kennt, findet die communio der Kirche ihren
unmittelbaren und greifbaren Ausdruck in der Pfarrei. Diese stellt die konkrete Form der örtlichen
Realisierung der Kirche dar; in einem gewissen Sinn ist sie die Kirche, die inmitten der Häuser
ihrer Söhne und Tochter lebt.(90)
Wir alle müssen das wahre Gesicht der Pfarrei im Glauben neu entdecken, das heißt, das
»Geheimnis« der Kirche, das in ihr wirksam und gegenwärtig ist. Auch wenn sie zuweilen an
Gliedern und Gütern arm ist, wenn sie sich geographisch über weiteste Gebiete erstreckt oder
inmitten dicht bevölkerter und problemvoller moderner Stadtviertel fast unauffindbar ist, besteht

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30
die Pfarrei nicht in erster Linie aus einer Struktur, aus einem Gebiet oder aus einem Gebäude,
vielmehr ist sie »die Familie Gottes, als von einem Geist durchdrungene Gemeinde von
Brüdern«,(91) sie ist »das Haus der Pfarrfamilie, brüderlich und gastfreundlich«,(92) die
»Gemeinschaft der Gläubigen«.(93) Letztlich gründet die Pfarrei in einer theologischen
Gegebenheit, weil sie eucharistische Gemeinschaft ist.(94) Dies bedeutet, daß sie als
Gemeinschaft befähigt ist, Eucharistie zu feiern, in der sie die lebendigen Wurzeln ihres
Wachstums sowie das sakramentale Band ihrer communio mit der gesamten Kirche findet. Diese
Befähigung zur Feier der Eucharistie ist gegeben durch die Tatsache, daß die Pfarrei
Gemeinschaft des Glaubens und organische Gemeinschaft ist - das heißt, zusammengesetzt von
geweihten Amtsträgern und von anderen Christen -, in der der Pfarrer den Ortsbischof vertritt(95)
und das hierarchische Band mit der gesamten Teilkirche darstellt.
Die Aufgabe der Kirche in unseren Tagen ist mit Sicherheit immens, und die Pfarrei allein kann ihr
nicht genügen. Darum sieht der Codex Formen der Zusammenarbeit zwischen Pfarreien und auf
Dekanatsebene vor(96) und empfiehlt dem Bischof die Sorge für alle Gläubigen, auch für die, die
die ordentliche Seelsorge nicht erfaßt.(97) Viele Orte und Formen der Präsenz und Wirksamkeit
der Kirche sind notwendig, um das Wort und die Gnade des Evangeliums in die verschiedensten
Lebenssituationen der modernen Menschen hineinzutragen. Viele Arten religiöser Ausstrahlung
und gezielten Milieuapostolates auf kulturellem, sozialem, pädagogischem und beruflichem Gebiet
usw. können nicht in der Pfarrei ihren Mittel- und Ausgangspunkt haben. Dennoch erlebt diese
auch heute eine neue Hoffnung versprechende Zeit. Zu Beginn seines Pontifikates wies Paul VI.
in seiner Ansprache an den römischen Klerus auf diese Tatsache hin: »Wir sind einfach davon
überzeugt, daß diese altüberkommene und geschätzte Struktur der Pfarrei eine unverzichtbare
und höchst aktuelle Sendung hat; ihr kommt es zu, die erste Gemeinschaft des christlichen Volkes
zu bilden; sie versammelt das Volk und führt es in die liturgische Feier ein; sie beschützt und
belebt den Glauben in den Menschen unserer Zeit; sie bietet ihnen den Unterricht über die
heilbringende Lehre Christi; sie verwirklicht in der Haltung und in der Tat die demütige Liebe in
den guten und brüderlichen Werken«.(98)
Die Synodenväter haben ihrerseits die augenblickliche Situation vieler Pfarreien aufmerksam ins
Auge gefaßt und auf ihre Erneuerung gedrängt: »Viele Pfarreien in Stadtgebieten oder in
Missionsgebieten sind wegen Mangel an den notwendigen materiellen Mitteln und an geweihten
Amtsträgern oder auch aufgrund ihrer geographischen Ausbreitung und der besonderen Situation
einiger Christen (z.B. der Flüchtlinge und Auswanderer) nicht in der Lage, mit ganzer Wirksamkeit
ihre Aufgabe zu erfüllen. Damit alle diese Pfarreien lebendige, christliche Gemeinden werden,
müssen die jeweiligen örtlichen Autoritäten dafür Sorge tragen, daß: a) die Pfarrstrukturen den
Situationen mit der großen Flexibilität, die das Kirchenrecht vor allem durch die Förderung der
Teilhabe der Laien an der pastoralen Verantwortung gewährt, angepaßt werden; b) die kleinen
Basisgemeinschaften, auch lebendige Gemeinden genannt, in denen die Gläubigen einander das
Wort Gottes verkündigen und im Dienst und in der Liebe tätig werden können, wachsen. Diese
Gemeinden sind in Gemeinschaft mit ihren Hirten wahre Konkretisierungen der kirchlichen

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4.1 Page 31

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31
communio und Zentren der Evangelisierung; ...«.(99) Im Dienst der Erneuerung der Pfarreien und
um die Wirksamkeit ihrer Initiativen besser zu sichern, sollen auch institutionalisierte Formen der
Mitarbeit zwischen den verschiedenen Pfarreien eines Dekanates gefördert werden.
Apostolisches Engagement in der Pfarrei
27. Die communio und die Teilnahme der Laien am Leben der Pfarrei muß nun näher ins Auge
gefaßt werden. Dafür müssen alle Laien, Männer und Frauen, erneut auf ein wahrhaft
bedeutsames und ermunterndes Wort des Konzils aufmerksam gemacht werden: »Innerhalb der
Gemeinschaften der Kirche« - so heißt es im Dekret über das Laienapostolat - »ist ihr Tun so
notwendig, daß ohne dieses auch das Apostolat der Hirten meist nicht zu seiner vollen Wirkung
kommen kann«.(100) Diese grundsätzliche Behauptung muß selbstverständlich im Licht der
»communio-Ekklesiologie« verstanden werden:
Weil verschieden und komplementär, sind alle Dienste und Charismen, jeder seiner Art
entsprechend, für das Wachstum der Kirche notwendig.
Die Laien müssen immer mehr von der besonderen Bedeutung des apostolischen Einsatzes in
ihrer Pfarrei überzeugt werden. Das Konzil sagt dazu mit seiner ganzen Autorität: »Die Pfarrei
bietet ein augenscheinliches Beispiel für das gemeinschaftliche Apostolat; was immer sie in ihrem
Raum an menschlichen Unterschiedlichkeiten vorfindet, schließt sie zusammen und fügt es dem
Ganzen der Kirche ein. Die Laien mögen sich daran gewöhnen, aufs engste mit ihren Priestern
vereint in der Pfarrei zu arbeiten; die eigenen Probleme und die der Welt sowie die Fragen, die
das Heil der Menschen angehen, in die Gemeinschaft der Kirche einzubringen, um sie dann in
gemeinsamer Beratung zu prüfen und zu lösen; endlich jede apostolische und missionarische
Initiative der eigenen kirchlichen Familie nach Kräften zu unterstützen«.(101)
Der Hinweis des Konzils auf die Überprüfung und Lösung der pastoralen Probleme »in
gemeinsamer Beratung« muß einen adäquaten und artikulierten Niederschlag finden in einer
entschiedenen, überzeugten und breit angelegten Aufwertung der Pfarrpastoralräte, auf die die
Synodenväter berechtigterweise insistiert haben.(102)
Unter den augenblicklichen Gegebenheiten können und müssen die Laien für das Wachsen einer
wahren communio der Kirche innerhalb ihrer Pfarreien und für die Erweckung des missionarischen
Elans gegenüber Nichtglaubenden und den Glaubenden, die die religiöse Praxis teilweise oder
gänzlich aufgegeben haben, viel investieren.
Wenn die Pfarrei Kirche mitten unter den Häusern der Menschen ist, muß ihre Präsenz und
Wirksamkeit tief in der menschlichen Gesellschaft eingewurzelt und aufs engste mit ihren
Hoffnungen und Nöten solidarisch sein. Oft ist das gesellschaftliche Umfeld, vor allem in
bestimmten Ländern und Milieus, durch Auflösungstendenzen und Prozessen der

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32
Dehumanisierung gekennzeichnet: Der Mensch ist verloren und richtungslos, aber in seinem
Herzen lebt der immer größere Wunsch, geschwisterlichere und menschlichere Beziehungen zu
erleben und zu pflegen. Die Antwort darauf kann die Pfarrei geben, wenn sie aufgrund der
lebendigen Teilhabe der Laien ihrer ursprünglichen Berufung und Sendung treu bleibt: in der Welt
»Ort« der Gemeinschaft der Glaubenden und zugleich »Zeichen« und »Werkzeug« der Berufung
aller zur communio zu sein; mit einem Wort, das Haus, das für alle offen ist und im Dienst aller
steht, oder wie Papst Johannes XXIII. es gerne sagte, der Brunnen im Dorf, an dem alle ihren
Durst stillen.
Modalitäten der Teilhabe am Leben der Kirche
28. Mit den Priestern und Ordensleuten zusammen bilden die Laien das eine Volk Gottes und den
Leib Christi.
»Glied« der Kirche sein bedeutet keine Abschwächung der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit
eines jeden Christen. Es sichert und vertieft vielmehr den tiefsten Sinn seiner Einmaligkeit und
Einzigartigkeit, die Quelle der Vielfältigkeit und des Reichtums der gesamten Kirche sind. In
diesem Sinn ruft Gott in Jesus Christus jeden bei seinem eigenen und unverwechselbaren
Namen. Der Anruf des Herrn: »Geht auch ihr in meinen Weinberg!« richtet sich an jeden
persönlich und lautet: »Komm auch du in meinen Weinberg!«.
Jeder stellt sich in seiner Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit, mit seinem Sein und seinem Tun in
den Dienst des Wachstums der communio der Kirche. Zugleich nimmt er den gemeinsamen
Reichtum der gesamten Kirche auf, um ihn sich zu eigen zu machen. Diese ist die »Gemeinschaft
der Heiligen«, die wir im Credo bezeugen: das Wohl aller wird zum Wohl eines jeden, und das
Wohl eines jeden wird zum Wohl aller. »In der heiligen Kirche ist jeder Stütze der anderen, und die
anderen sind seine Stütze«, schreibt Gregor der Große.(103)
Individuelle Formen der Teilhabe
Jeder Laie muß sich immer bewußt sein, daß er »Glied der Kirche« ist, dem eine originelle,
unersetzliche und nicht übertragbare Aufgabe anvertraut wurde, die er zum Wohl aller erfüllen
muß. In dieser Perspektive gewinnt die Aussage des Konzils über die absolute Notwendigkeit des
individuellen Apostolates ihre volle Bedeutung: »Das von jedem einzelnen zu übende Apostolat,
das überreich aus einem wahrhaft christlichen Leben strömt (vgl. Joh 4, 14), ist Ursprung und
Voraussetzung jedes Apostolates der Laien, auch des gemeinschaftlichen. Es kann durch nichts
ersetzt werden. Zu diesem immer und überall fruchtbringenden, aber unter bestimmten
Umständen einzig entsprechenden und möglichen Apostolat sind alle Laien, wo immer sie stehen,
gerufen und verpflichtet, auch wenn ihnen die Gelegenheit oder Möglichkeit fehlt, in
Vereinigungen mit anderen zusammenzuarbeiten«.(104)

4.3 Page 33

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33
Das individuelle Apostolat schließt einen großen Reichtum ein, der um der Intensivierung der
missionarischen Kraft eines jeden Laien willen freigelegt werden muß. Dieses Apostolat
ermöglicht eine kapillare Ausstrahlung des Evangeliums, die bis zu den Orten und Milieus, in
denen sich das konkrete und alltägliche Leben der Laien vollzieht, durchdringt. Es gewährleistet
zudem eine dauernde Ausstrahlung, weil sie sich aus der ständigen Kohärenz des eigenen
Lebens mit dem Glauben ergibt; ferner sichert es eine besonders tief wirkende Ausstrahlung, weil
die Laien, wenn sie die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Kämpfe und Hoffnungen ihrer
Brüder und Schwestern teilen, zu den Herzen ihrer Nachbarn, Freunde und Kollegen vordringen
und ihnen den ganzen Horizont der Sinnfülle ihres Lebens erschließen können: Die Gemeinschaft
mit Gott und unter den Menschen.
Gemeinschaftliche Formen der Teilhabe
29. Die communio der Kirche, die schon im Tun der Einzelperson gegenwärtig und wirksam wird,
findet einen besonderen Ausdruck im gemeinschaftlichen Tun der Laien, das heißt in ihrem
gemeinsamen Einsatz, wenn sie mitverantwortlich am Leben und an der Sendung der Kirche
teilnehmen.
In der letzten Zeit kennzeichnen besondere Verschiedenheit, Lebendigkeit und Vielfalt das
Phänomen des gemeinschaftlichen Wirkens von Laien. Schon immer aber hat der
Zusammenschluß von Laien eine kontinuierliche Linie in der Kirchengeschichte dargestellt.
Beweis dafür ist bis heute die Existenz verschiedener Bruderschaften, der Drittorden und
zahlreicher Vereinigungen. In unseren Tagen aber fördern besondere Impulse die Entwicklung
dieses Phänomens. Die heutige Zeit kennt das Aufkommen und die Verbreitung vielfältiger
Formen von Laienzusammenschlüssen: Vereinigungen, Gruppen, Gemeinschaften, Bewegungen,
so daß heute von einer neuen Zeit der Zusammenschlüsse von Laien die Rede sein kann. In der
Tat sind »neben dem traditionellen Vereinswesen und zuweilen gleichsam aus seinen Wurzeln
neue Bewegungen und Vereinigungen entstanden, die ein spezifisches Profil und eine spezifische
Zielsetzung haben. So groß ist der Reichtum und die Vielseitigkeit der Gaben, die der Geist in der
Kirche lebendig erhält, und derart auch der Wille zur Initiative und die Hochherzigkeit unserer
Laien«.(105)
Diese Zusammenschlüsse von Laien weisen unter zahlreichen Gesichtspunkten, wie im äußeren
Erscheinungsbild, in den pädagogischen Prozessen und Methoden, in den Tätigkeitsfeldern
untereinander große Unterschiede auf. In ihren Zielsetzungen aber kommen sie weitgehend zu
einer tiefen Konvergenz. Die verantwortliche Teilhabe an der Sendung der Kirche, das
Evangelium Christi als Quelle der Hoffnung für die Menschen und der Erneuerung für die
Gesellschaft zu künden.
Der Zusammenschluß von Laien aus spirituellen und apostolischen Motiven hat verschiedene
Ursachen und will auf vielfältige Bedürfnisse antworten. Er bringt die soziale Natur des Menschen

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34
zum Ausdruck und antwortet auf die Notwendigkeit einer größeren und umfassenden gezielten
Wirksamkeit. Ein »kultureller« Einfluß, der Ursprung und Motivation, aber auch Frucht und
Zeichen anderer sozialen Veränderungen ist, kann nämlich nicht durch das Tun eines einzelnen,
sondern muß durch »ein soziales Subjekt«, das heißt durch eine Gruppe, eine Gemeinschaft, eine
Vereinigung, eine Bewegung geschehen. Dies trifft auf besondere Weise im Kontext einer
pluralistischen und zersetzten Gesellschaft - wie sie sich heute in so vielen Teilen der Welt
darstellt - und angesichts überaus komplexer und schwerer gewordener Probleme zu. Auf der
anderen Seite können vor allem in einer säkularisierten Welt die verschiedenen Formen der
Zusammenschlüsse für viele eine wertvolle Hilfe darstellen, um ein christliches und mit den
Forderungen des Evangeliums kohärentes Leben zu führen und ein missionarisches und
apostolisches Engagement einzugehen.
Darüber hinaus ist es zutiefst eine theologische Gegebenheit, die den Zusammenschluß der Laien
rechtfertigt und fordert: es handelt sich um ein ekklesiologisches Prinzip, das vom II.
Vatikanischen Konzil ausdrücklich anerkannt wurde, wenn es im gemeinschaftlichen Apostolat ein
»Zeichen der Gemeinschaft und der Einheit der Kirche in Christus« sieht.(106)
Dieses »Zeichen« muß sich sowohl innerhalb der einzelnen Formen der Zusammenschlüsse als
auch in ihren Beziehungen nach außen, also im weiteren Rahmen der christlichen Gemeinden, in
gemeinschaftlichen Beziehungen ausdrücken. Das angeführte ekklesiologische Prinzip erklärt
einerseits das »Recht« der Laien, sich zusammenzuschließen, und andererseits die
Notwendigkeit von »Kriterien« für die Unterscheidung der wahren Kirchlichkeit ihrer
Zusammenschlüsse.
Zunächst muß das freie Vereinsrecht der Laien in der Kirche anerkannt werden. Diese Freiheit ist
ein wirkliches und eigentliches Recht, das sich nicht von einer Art »Zugeständnis« der Autorität
ableitet, sondern aus der Taufe als dem Sakrament, durch das die Laien berufen werden, aktiv an
der communio und an der Sendung der Kirche mitzuwirken, erwächst. Das Konzil nimmt dazu
eindeutig Stellung: »Unter Wahrung der erforderlichen Verbundenheit mit der kirchlichen Autorität
haben die Laien das Recht, Vereinigungen zu gründen, zu leiten und den gegründeten
beizutreten«.(107)
Und der neue Codex sagt wörtlich:
»Den Gläubigen ist es unbenommen, Vereinigungen für Zwecke der Caritas oder der Frömmigkeit
oder zur Förderung der christlichen Berufung in der Welt frei zu gründen und zuleiten und
Versammlungen abzuhalten, um diese Zwecke gemeinsam zu verfolgen«.(108)
Es handelt sich um eine von der kirchlichen Autorität anerkannten und gewährleisteten Freiheit,
die immer und nur in der communio der Kirche ausgeübt werden soll. Das Recht der Laien, sich
zusammenzuschließen, ist also wesentlich mit dem Leben der communio und mit der Sendung

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35
der Kirche gegeben.
Kriterien der Kirchlichkeit für die Zusammenschlüsse von Laien
30. In dieser Perspektive der communio und der Sendung der Kirche und darum nicht im
Gegensatz zum freien Vereinsrecht, muß auch die Notwendigkeit klarer und präziser Kriterien für
die Unterscheidung und Anerkennung der Zusammenschlüsse von Laien, auch »Kriterien der
Kirchlichkeit« genannt, verstanden werden.
Folgende Kriterien können einheitlich für die Unterscheidung eines jeden Zusammenschlusses
von Laien als grundlegend gelten:
- Das Primat der Berufung eines jeden Christen zur Heiligkeit, die »in den Gnadenfrüchten, die der
Heilige Geist in den Gläubigen hervorbringt«,(109) als Wachstum in der Fülle des christlichen
Lebens und der Vollkommenheit der Liebe(110) zum Ausdruck kommt.
Alle Zusammenschlüsse von Laien und jeder einzelne von ihnen sind dazu berufen, immer
profilierter Werkzeug der Heiligkeit in der Kirche zu sein, indem sie »eine innigere Einheit
zwischen dem praktischen Leben ihrer Mitglieder und ihrem Glauben« fördern und pflegen.(111)
- Die Verantwortung für das Bekenntnis des katholischen Glaubens, welche die Wahrheit über
Christus, die Kirche und den Menschen im Gehorsam zum Lehramt, das sie authentisch
interpretiert, aufnimmt und kündet. Jeder Zusammenschluß von Laien muß Ort der Verkündigung
und der Weitergabe des Glaubens sowie einer Glaubenserziehung, die die Gesamtheit der Inhalte
des Glaubens umfaßt, sein.
- Das Zeugnis einer tiefen und überzeugten communio, in kindlicher Abhängigkeit vom Papst, dem
bleibenden und sichtbaren Prinzip der Einheit der Universalkirche,(112) und vom Bischof, dem
»sichtbaren Prinzip und Fundament der Einheit«(113) in der Teilkirche sowie in der gegenseitigen
»Hochschätzung aller Formen des Apostolates in der Kirche«.(114)
Die Gemeinschaft mit dem Papst und mit dem Bischof muß sich äußern in der aufrichtigen
Bereitschaft, ihr Lehramt und ihre pastoralen Richtlinien anzunehmen. Die Gemeinschaft mit der
Kirche erfordert die Anerkennung des legitimen Pluralismus der Laienzusammenschlüsse und
zugleich die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit allen.
- Die Übereinstimmung mit der apostolischen Zielsetzung der Kirche, an der sie teilhaben, nämlich
»die Evangelisierung und Heiligung der Menschen sowie ... die christliche Bildung ihres
Gewissens, so daß die verschiedenen Gemeinschaften und Milieus mit dem Geist des
Evangeliums« durchdrungen werden.(115)

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36
In diesem Sinn muß von allen Formen von Laienzusammenschlüssen und von jeder einzelnen der
missionarische Elan gefordert werden, der sie immer mehr zu Subjekten einer neuen
Evangelisierung macht.
- Die Verpflichtung zu einer engagierten Präsenz in der menschlichen Gesellschaft, die sich im
Licht der Soziallehre der Kirche in den Dienst des Menschen und seiner vollen Würde stellt.
Die Zusammenschlüsse der Laien müssen einen lebendigen Einsatz in der Teilnahme und
Solidarität hervorrufen, um in der Gesellschaft gerechtere und geschwisterlichere
Lebensbedingungen zu schaffen.
Die ausgeführten Grundkriterien können an den konkreten Früchten, die das Leben und Wirken
der verschiedenen Vereinigungen auf weisen, gemessen werden, wie erneute Freude am Gebet,
an der Kontemplation, am liturgischen und sakramentalen Leben; Früchte von Berufungen zu
christlichen Ehen, von Priesterberufen und Berufen für das gottgeweihte Leben; Bereitschaft, sich
in die Programme und Initiativen der Kirche auf Ortsebene, auf nationaler und internationaler
Ebene einzubringen; Einsatz in der Katechese und die pädagogische Fähigkeit, Christen zu
formen; Motivation zur christlichen Präsenz in den verschiedenen Bereichen des
gesellschaftlichen Lebens und Schaffen und Leiten von karitativen, kulturellen und geistigen
Werken; Geist der Armut im Sinn des Evangeliums, um einer hochherzigen Liebe allen gegenüber
willen; Umkehr zum christlichen Leben und Rückkehr von »Fernstehenden« zur Gemeinschaft der
Getauften.
Der Dienst der Hirten an der communio
31. Selbst angesichts möglicher und verständlicher Schwierigkeiten mit einigen Formen der
Zusammenschlüsse und des machtvollen Wachsens von neuen Formen, dürfen die Hirten in der
Kirche zum Wohl der Kirche, wie auch zum Wohl der Zusammenschlüsse von Laien, nicht auf den
Dienst ihrer Autoritätsausübung verzichten. So muß der Prozeß der Unterscheidung von Führung
und vor allem von Bestärkung beim Hineinwachsen der Zusammenschlüsse der Laien in die
communio und in die Sendung der Kirche begleitet werden.
Es ist überaus angebracht, daß einige neue Vereinigungen und Bewegungen aufgrund ihrer oft
nationalen und sogar internationalen Verbreitung eine offizielle Anerkennung, eine ausdrückliche
Approbation durch die zuständige kirchliche Autorität erhalten. In diesem Sinn hat schon das
Konzil behauptet: »Freilich läßt das Apostolat der Laien, je nach seinen verschiedenen Formen
und Inhalten, verschiedenartige Beziehungen zur Hierarchie zu ... Gewisse Formen des
Apostolates der Laien werden, wenn auch in unterschiedlicher Weise, von der Hierarchie
ausdrücklich anerkannt. Darüber hinaus kann die kirchliche Autorität mit Rücksicht auf die
Erfordernisse des kirchlichen Gemeinwohls aus den apostolischen Vereinigungen und Werken,
die unmittelbar ein geistliches Ziel anstreben, einige auswählen und in besonderer Weise fördern,

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in denen sie dann auch eine besondere Verantwortung auf sich nimmt«.(116)
Von den verschiedenen Formen des Laienapostolates, die in einer besonderen Beziehung zur
Hierarchie stehen, riefen die Synodenväter ausdrücklich verschiedene Bewegungen und
Vereinigungen der Katholischen Aktion in Erinnerung, in denen »die Laien sich auf organische und
dauerhafte Weise unter der Führung des Heiligen Geistes, in der Gemeinschaft mit dem Bischof
und mit den Priestern frei zusammenschließen, um ihrer Berufung entsprechend und aufgrund
einer spezifischen Methode, zur Festigung der gesamten christlichen Gemeinschaft beizutragen,
an den Pastoralprojekten und der Durchdringung aller Lebensbereiche mit dem Geist des
Evangeliums treu und effektiv mit zuwirken«.(117)
Der Päpstliche Rat für die Laien hat den Auftrag, ein Verzeichnis der Vereinigungen, die die
offizielle Anerkennung durch den Heiligen Stuhl erhalten, vorzubereiten und zugleich gemeinsam
mit dem Sekretariat für die Einheit der Christen die Bedingungen für die Anerkennung
ökumenischer Vereinigungen mit katholischer Mehrheit und nicht-katholischer Minderheit zu
erarbeiten, wobei festgelegt werden soll, in welchen Fällen kein positives Urteil möglich ist.(118)
Wir alle, Hirten und Gläubige, sind dazu verpflichtet, in gegenseitiger Wertschätzung, Wohlwollen
und Bereitschaft zur Mitarbeit zwischen den verschiedenen Formen der Zusammenschlüsse von
Laien dauerhafte Bande und geschwisterliche Beziehungen zu fördern und zu nähren. Nur so
kann der Reichtum der Gaben und Charismen, die der Herr uns anbietet, seinen fruchtbaren und
geordneten Beitrag zur Erbauung des gemeinsamen Hauses leisten: »Für den solidarischen
Aufbau des gemeinsamen Hauses muß auch der Geist des Antagonismus und der Zwistigkeit
abgelegt werden, und eher in der gegenseitigen Ermunterung (vgl. Röm 12, 10), im liebevollen
Entgegenkommen und im Willen zur Mitarbeit in Geduld, Langmut, Bereitschaft zum Opfer, das
zuweilen damit verbunden sein kann, gewetteifert werden«.(119)
Greifen wir noch einmal auf die Worte Jesu zurück: »Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben«
(Joh 15, 5), um Gott für die große Gabe der communio der Kirche zu danken, die in der Zeit die
ewige und unaussprechliche Liebesgemeinschaft des Einen und Dreifaltigen Gottes widerspiegelt.
Das Wissen um diese Gabe muß von einem tiefen Verantwortungsbewußsein begleitet werden:
Eine solche Gabe muß wie die Talente des Evangeliums in einem Leben immer tiefer werdender
Gemeinschaft vermehrt werden. Für die Gabe der communio Verantwortung tragen heißt
zunächst, bemüht sein, jede Versuchung der Spaltung und des Widerspruchs, die das Leben und
den apostolischen Einsatz der Laien bedrohen, zu überwinden. Der schmerzliche und erschütterte
Ausruf des Apostels Paulus als Vorwurf für die Wunden, die dem Leib Christi zugefügt werden,
erklingt immer noch: »Ich meine damit, daß jeder von euch etwas anderes sagt: Ich halte zu
Paulus - ich zu Apollos - ich zu Kephas - ich zu Christus. Ist denn Christus zerteilt?« (1 Kor 1, 12-
13). Statt dessen sollten als überzeugender Anruf die anderen Worte des Apostels neu erklingen:
»Ich ermahne euch aber, Brüder, im Namen Jesu Christi, unseres Herrn: Seid alle einmütig, und
duldet keine Spaltungen unter euch; seid ganz eines Sinnes und einer Meinung« (1 Kor 1, 10).

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So wird das Leben in der communio der Kirche der Welt zum Zeichen, zur anziehenden Kraft, die
zum Glauben an Christus führt: »Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns
sein, damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast« (Joh 17, 21). Die communio weitet sich zur
Sendung aus, ja sie wird selbst Sendung.
DRITTES KAPITEL
ICH HABE EUCH DAZU BESTIMMT, DASS IHR EUCH AUFMACHT UND FRUCHT BRINGT
Die Mitverantwortung der Laien für die Kirche in ihrer Sendung
Missionarische Communio
32. Wir greifen wieder zurück auf das biblische Bild des Weinstocks und der Reben. Es führt wie
von selbst unmittelbar zu einer Betrachtung über die Fruchtbarkeit und das Leben. Durch den
Weinstock verwurzelt und belebt, sind die Reben berufen, Frucht zu bringen: »Ich bin der
Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht«
(Joh 15, 5). Frucht bringen ist eine wesentliche Forderung des christlichen und kirchlichen Lebens.
Wer keine Frucht bringt, bleibt nicht in der communio: »Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt,
schneidet er (mein Vater) ab« (Joh 15, 2).
Die Gemeinschaft mit Jesus, von der sich die Gemeinschaft der Christen untereinander ableitet,
ist eine unverzichtbare Voraussetzung, um Frucht zu bringen: »Getrennt von mir könnt ihr nichts
vollbringen« (Joh 15, 5). Die schönste Frucht, die die Reben bringen können, ist die Gemeinschaft
mit den anderen, die Gabe Christi und seines Geistes ist.
Die communio schafft communio und stellt sich wesentlich als missionarische communio dar.
Jesus sagt zu seinen Jüngern: »Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt, und
dazu bestimmt, daß ihr euch aufmacht und Frucht bringt und daß eure Frucht bleibt« (Joh 15, 16).
Communio und Sendung sind zutiefst miteinander verbunden, sie durchdringen und bedingen
einander, so daß die communio zugleich Quelle und Frucht der Sendung ist: die communio ist
missionarisch und die Sendung gilt der communio. Es ist derselbe Geist, der die Kirche sammelt
und eint und der sie sendet, das Evangelium »bis an die Grenzen der Erde« (Apg 1, 8) zu
verkünden. Die Kirche weiß, daß die communio, die sie als Gabe empfangen hat, eine universale
Ausrichtung kennt. Sie weiß um ihre Verpflichtung, der gesamten Menschheit und jedem
Menschen die Gabe weiterzugeben, die sie vom Geist empfangen hat, der in den Herzen der
Gläubigen die Liebe Christi als dynamische Kraft der inneren Einheit und zugleich des Wachstums
in die Weite ausgegossen hat. Die Sendung der Kirche erwächst aus ihrem von Christus so
gewollten Wesen: »Sakrament und Zeichen ... für die Einheit der ganzen Menschheit«.(120) Diese
Sendung hat das Ziel, allen das Erlebnis der »neuen« Gemeinschaft zu schenken, die im Sohn
Gottes in die Weltgeschichte eingetreten ist. In diesem Sinn definiert das Zeugnis des

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Evangelisten Johannes auf nunmehr unwiderrufliche Weise das seligmachende Endziel, auf das
die Sendung der Kirche hingeordnet ist: »Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir
auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Wir aber haben Gemeinschaft mit dem
Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus« (1 Joh 1, 3).
Im Rahmen der Sendung der Kirche vertraut der Herr den Laien in Gemeinschaft mit allen
anderen Gliedern des Volkes Gottes einen großen Anteil von Verantwortung an. Die Väter des II.
Vatikanischen Konzils waren sich dieser Tatsache voll bewußt: »Die geweihten Hirten wissen sehr
gut, wieviel die Laien zum Wohl der ganzen Kirche beitragen. Sie wissen ja, daß sie von Christus
nicht bestellt sind, um die ganze Heilsmission der Kirche an der Welt auf sich zu nehmen, sondern
daß es ihre vornehmliche Aufgabe ist, die Gläubigen so als Hirten zu führen und ihre
Dienstleistungen und Charismen so zu prüfen, daß alle in ihrer Weise zum gemeinsamen Werk
einmütig zusammenarbeiten«.(121) Dieses Bewußtsein trat wieder mit neuer Klarheit und
größerer Deutlichkeit in der gesamten Arbeit der Synode zutage.
Das Evangelium verkündigen
33. Weil sie Glieder der Kirche sind, haben die Laien die Berufung und Sendung, das Evangelium
zu verkünden. Aufgrund der christlichen Initiationssakramente und der Gaben des Heiligen
Geistes sind sie dazu berufen und verpflichtet.
In einem sehr dichten und eindeutigen Text des II. Vatikanischen Konzils lesen wir: »Als
Teilnehmer am Amt Christi, des Priesters, Propheten und Königs, haben die Laien ihren aktiven
Anteil am Leben und Tun der Kirche... Durch tätige Teilnahme am liturgischen Leben ihrer
Gemeinschaft genährt, nehmen sie ja angelegentlich an deren apostolischen Werken teil;
Menschen, die vielleicht weit abseits stehen, führen sie der Kirche zu. Angestrengt arbeiten sie an
der Weitergabe des Wortes Gottes mit, vor allem durch katechetische Unterweisung. Durch ihre
Sachkenntnis machen sie die Seelsorge und die Verwaltung der kirchlichen Güter
wirksamer«.(122)
Die Sendung der Kirche kristallisiert und entfaltet sich in der Evangelisierung, deren Geschichte
mit der Gnade und dem Gebot Jesu Christi beginnt: »Geht hinaus in die ganze Welt, und
verkündet das Evangelium allen Geschöpfen« ... (Mk 16, 15). »Ich bin bei euch alle Tage bis zum
Ende der Welt« (Mt 28, 20). »Evangelisieren« - so schreibt Paul VI. - »ist in der Tat die Gnade und
eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität«.(123)
Durch die Evangelisierung baut die Kirche sich auf und festigt sie sich als Gemeinschaft des
Glaubens: präziser gesagt, als Gemeinschaft eines durch die Bejahung des Wortes Gottes
bezeugten, in den Sakramenten gefeierten und in der Liebe gelebten Glaubens, der Seele der
christlichen moralischen Existenz wird. Die »Frohe Botschaft« bewirkt im Herzen und im Leben
der Menschen Bekehrung und persönliche Entscheidung für Jesus Christus, den Herrn und

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Erlöser. Sie schließt für die Taufe und die Eucharistie auf. Sie konkretisiert sich in Annahme und
Verwirklichung des neuen Lebens nach dem Geist.
Der Imperativ Jesu: »Geht hinaus ... und verkündet das Evangelium!« behält seine Bedeutung und
seine unaufschiebbare Dringlichkeit. Nicht nur die Situation der Welt, sondern auch in vielen
Teilen der Kirche verlangen heute allerdings absolut, daß diesem Wort Christi noch unmittelbarer
und hochherziger gefolgt werde. Jeder Jünger ist unmittelbar persönlich berufen; keiner kommt
umhin, seine persönliche Antwort zu geben: »Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht
verkünde!« (1 Kor 9, 16).
Die Stunde fordert eine neue Evangelisierung
34. Ganze Länder und Nationen, in denen früher Religion und christliches Leben blühten und
lebendige, glaubende Gemeinschaften zu schaffen vermochten, machen nun harte Proben durch
und werden zuweilen durch die fortschreitende Verbreitung des Indifferentismus, Säkularismus
und Atheismus entscheidend geprägt. Es geht dabei vor allem um die Länder und Nationen der
sogenannten Ersten Welt, in der der Wohlstand und der Konsumismus, wenn auch von
Situationen furchtbarer Armut und Not begleitet, dazu inspirieren und veranlassen, so zu leben,
»als wenn es Gott nicht gäbe«. Die religiöse Indifferenz und die fast inexistente religiöse Praxis,
auch angesichts schwerer Probleme der menschlichen Existenz, sind nicht weniger
besorgniserregend und zersetzend als der ausdrückliche Atheismus. Auch wenn der christliche
Glaube in einigen seiner traditionellen und ritualistischen Ausdrucksformen noch erhalten ist, wird
er mehr und mehr aus den bedeutsamsten Momenten des Lebens wie Geburt, Leid und Tod
ausgeschlossen. Daraus ergeben sich gewaltige Rätsel und Fragestellungen, die unbeantwortet
bleiben und den modernen Menschen vor trostlose Enttäuschungen stellen oder in die
Versuchung führen, das menschliche Leben, das sie aufgibt, zu zerstören.
In anderen Gebieten und Ländern dagegen sind bis heute die traditionelle christliche
Volksfrömmigkeit und -religiosität lebendig erhalten; dieses moralische und geistliche Erbe droht
aber in der Konfrontation mit komplexen Prozessen vor allem der Säkularisierung und der
Verbreitung der Sekten verlorenzugehen. Nur eine neue Evangelisierung kann die Vertiefung
eines reinen und festen Glaubens gewährleisten, der diese Traditionen zu einer Kraft wahrer
Befreiung zu machen vermag.
Es ist mit Sicherheit notwendig, überall die christliche Substanz der menschlichen Gesellschaft zu
erneuern. Voraussetzung dafür ist aber die Erneuerung der christlichen Substanz der Gemeinden,
die in diesen Ländern und Nationen leben.
Aufgrund ihrer Teilhabe am prophetischen Amt Christi werden die Laien ganz in diese Aufgabe
der Kirche einbezogen. Ihnen kommt es in besonderer Weise zu, Zeugnis zu geben vom
christlichen Glauben als einzige und wahre Antwort - die alle mehr oder weniger bewußt erkennen

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und nennen - auf die Probleme und Hoffnungen, die das Leben heute für jeden Menschen und für
jede Gesellschaft einschließt. Dieses Zeugnis wird möglich, wenn es den Laien gelingt, den
Gegensatz zwischen dem Evangelium und dem eigenen Leben zu überwinden und in ihrem
täglichen Tun, in Familie, Arbeit und Gesellschaft eine Lebenseinheit zu erreichen, die im
Evangelium ihre Inspiration und die Kraft zur vollen Verwirklichung findet.
Ich möchte heute erneut den leidenschaftlichen Anruf, mit dem ich mein Hirtenamt begonnen
habe, allen modernen Menschen entgegenrufen: »Habt keine Angst! Öffnet, ja öffnet Christus weit
die Türen! Öffnet die Grenzen der Staaten, die Wirtschaftssysteme und die politischen Systeme,
die Bereiche der Kultur, der Zivilisation, der Entwicklung seiner heilbringenden Macht. Habt keine
Angst. Christus weiß, "was im Menschen ist". Er allein weiß es! Der Mensch weiß heute oft nicht,
was er in sich trägt im Tiefsten seiner Seele und seines Herzens. Darum fühlt er sich oft unsicher
über den Sinn seines Lebens auf dieser Erde. Er wird von Zweifel erfüllt, die zur Verzweiflung
werden. Laßt darum Christus - ich bitte und flehe euch demütig und vertrauensvoll an -, laßt ihn zu
den Menschen sprechen.
Er allein hat Worte des Lebens, ja, des ewigen Lebens«.(124)
Christus weit die Türen zu öffnen, ihn im Raum der eigenen Menschlichkeit aufzunehmen, ist für
den Menschen keine Bedrohung, sondern der einzige Weg, der zur Erkenntnis des Menschen in
seiner ganzen Wahrheit und zur Anerkennung seiner Werte führt.
Den Laien ist es aufgegeben, eine lebensmäßige Synthese zwischen dem Evangelium und den
täglichen Pflichten ihres Lebens zu schaffen. Diese wird zum leuchtendsten und überzeugendsten
Zeugnis dafür, daß nicht die Angst, sondern die Suche nach Christus und der Anschluß an ihn
entscheidend sind für das Leben und Wachsen des Menschen sowie für das Entstehen neuer
Lebensmodelle, die seiner Würde entsprechen.
Gott liebt den Menschen! Diese einfache und erschütternde Verkündigung ist die Kirche dem
Menschen schuldig. Das Wort und das Leben eines jeden Christen kann und muß diese Botschaft
zum Klingen bringen: Gott liebt dich, Christus ist für dich gekommen, Christus ist für dich »der
Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh 14, 6)!
Diese neue Evangelisierung, die sich nicht nur an die einzelnen, sondern an ganze Teile der
Bevölkerung in ihren jeweiligen Situationen, Milieus und Kulturen richtet, hat das Werden von
reifen Gemeinden zum Ziel. In ihnen kann der Glaube seine volle ursprüngliche Bedeutung als
persönliche Selbstübereignung an Christus und sein Evangelium, als sakramentale Begegnung
und Gemeinschaft mit ihm, als in der Liebe und im Dienst verwirklichte Existenz zum Ausdruck
bringen und verwirklichen.
Die Laien müssen beim Entstehen solcher Gemeinden ihren Beitrag einbringen. Sie tun es nicht

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nur durch ihre aktive und verantwortliche Teilnahme am Leben der Gemeinde und somit durch ihr
unersetzliches Zeugnis, sondern auch mit ihrem missionarischen Eifer und Engagement denen
gegenüber, die noch nicht glauben, oder die den Glauben, den sie in der Taufe empfangen haben,
nicht mehr leben.
Den jüngeren Generationen sollen die Laien eine systematische Katechese als wertvolle und
immer notwendigere Hilfe schenken. Die Synodenväter haben mit großer Dankbarkeit auf die
Arbeit der Katecheten geschaut und anerkannt, daß ihnen »eine sehr bedeutende Aufgabe bei der
Leitung der Gemeinden« zukommt.(125) Gewiß sind die christlichen Eltern, weil das
Ehesakrament sie dazu befähigt, die ersten und unersetzlichen Katecheten ihrer Kinder. Wir
müssen uns aber bewußt sein, daß jeder Getaufte das »Recht« hat, im christlichen Glauben und
im christlichen Leben unterrichtet, erzogen und geführt zu werden.
Geht hinaus in die ganze Welt
35. Die Kirche erkennt und erlebt die augenblickliche Dringlichkeit einer neuen Evangelisierung.
Sie kann sich aber nicht dem bleibenden Auftrag entziehen, das Evangelium all denen - den
Millionen von Männern und Frauen - die Christus, den Erlöser des Menschen, noch nicht kennen,
zu verkünden. Diese ausgesprochen missionarische Aufgabe hat Jesus seiner Kirche anvertraut,
und gibt er ihr täglich neu auf.
Die Mitwirkung der Laien hat auf diesem Gebiet nie gefehlt. Heute aber wird sie immer
notwendiger und wertvoller. Der Anruf des Herrn: »Geht hinaus in die ganze Welt!« trifft heute
noch viele hochherzige Laien, die bereit sind, ihr Lebensmilieu, ihre Arbeit, ihr Land oder ihre
Heimat zu verlassen, um zumindest für eine bestimmte Zeit in ein Missionsgebiet zu gehen. Auch
christliche Eheleute geben bis heute nach dem Beispiel von Aquila und Priscilla (vgl. Apg 18; Röm
16, 3 ff) durch ihre Präsenz und Wirksamkeit in Missionsgebieten ein ermutigendes Zeugnis ihrer
leidenschaftlichen Liebe zu Christus und zur Kirche. Wahre missionarische Präsenz ist auch das
Leben derer, die sich aus verschiedenen Gründen in Milieus aufhalten, in denen die Kirche noch
keine Wurzeln gefaßt hat, und dort ihren Glauben bezeugen.
Das missionarische Problem stellt sich heute in der Kirche aber in einer solch großen Breite und
Brisanz dar, daß nur eine wahrhaft solidarische Mitverantwortung aller Glieder der Kirche, der
einzelnen und der Gemeinschaften auf eine wirksamere Antwort hoffen lassen kann.
Die Aufforderung des II. Vatikanischen Konzils an die Teilkirchen behält ihre ganze Aktualität, ja
sie muß umfassender und entschiedener aufgenommen werden: »Da die Teilkirche ein getreues
Abbild der Gesamtkirche sein muß, soll sie sich auch ihrer Sendung an denjenigen, die mit ihr im
gleichem Raum leben und noch nicht an Christus glauben, wohl bewußt sein«.(126)
Die Kirche muß heute auf dem Gebiet der Evangelisierung einen großen Schritt nach vorne tun

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43
und in eine neue historische Etappe ihrer missionarischen Dynamik eintreten. In einer Welt, die
durch die Aufhebung der Entfernungen immer kleiner wird, müssen die Gemeinden untereinander
Verbindung suchen, Kräfte und Mittel austauschen und sich miteinander in der einen und
gemeinsamen Sendung, das Evangelium zu künden und zu leben, engagieren. »Die sogenannten
jungen Kirchen« - meinten die Synodenväter - »bedürfen der Kräfte der älteren Kirchen. Letztere
aber brauchen das Zeugnis und den Elan der Jüngeren, so daß die einzelnen Kirchen vom
Reichtum der anderen schöpfen«.(127)
In dieser neuen Etappe stellt die Erziehung und Ausbildung nicht nur des Ortsklerus, sondern
auch reifer und verantwortlicher Laien in den jungen Kirchen ein wesentliches und unverzichtbares
Moment der plantatio Ecclesiae dar.(128) So machen sich die evangelisierten Gemeinden selbst
in andere Teile der Welt auf, um die Sendung, das Evangelium Christi zu künden, zu realisieren.
Die Laien können durch ihr Lebensbeispiel dazu beitragen, die Qualität der Beziehungen
zwischen Menschen verschiedener Religionen zu verbessern. Die Synodenväter bemerkten dazu:
»Die Kirche lebt heute überall inmitten von Menschen verschiedener Religionen ... Alle Gläubigen
und vor allem die Laien, die, sei es in ihrer Heimat oder in Ländern, in die sie ausgewandert sind,
unter Völkern anderer Religionen leben, müssen für sie Zeichen des Herrn und seiner Kirche sein,
so wie es der Lebenssituation eines jeden Ortes entspricht. Der Dialog zwischen den Religionen
hat eine vorrangige Bedeutung, weil er zur Liebe und zur gegenseitigen Ehrfurcht hinführt, die
Vorurteile unter den Gläubigen der verschiedenen Religionen abbaut oder zumindest abschwächt
und Einheit und Freundschaft zwischen den Völkern fördert«.(129)
Für die Evangelisierung der Welt bedürfen wir vor allem der Evangelisatoren. Darum müssen wir
alle, insbesondere die christlichen Familien uns für das Erwachen und Reifen ausgesprochen
missionarischer Berufe - als Priester, Ordensleute oder im Laienstand - verantwortlich halten. Wir
müssen sie mit allen Mitteln fördern und vor allem das von Jesus bevorzugte Mittel des Gebetes
seinem Wort entsprechend nie vernachlässigen: »Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenige
Arbeiter. Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden« (Mt 9, 37-38).
Im Dienst am Menschen und an der Gesellschaft das Evangelium leben
36. Weil sie in der Kraft des Geistes das Evangelium aufnimmt und verkündet, wird die Kirche
evangelisierte und evangelisierende Gemeinschaft. Aus diesem Grund wird sie zur Dienerin der
Menschen. In ihr nehmen die Laien teil an der Sendung, den Menschen und der Gesellschaft zu
dienen. Das letzte Ziel der Kirche ist mit Sicherheit das Reich Gottes, dessen »Keim und Anfang...
auf Erden« sie darstellt.(130) Sie ist deswegen gänzlich der Verherrlichung des Vaters geweiht.
Das Reich aber ist Quelle der völligen Befreiung und des ganzen Heiles für die Menschen: Die
Kirche lebt und geht mit ihnen in tiefer und wahrer Solidarität mit der Menschheitsgeschichte.
Die Kirche hat den Auftrag, der Welt das Geheimnis Gottes, das in Christus Jesus offenbar wurde,

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zu enthüllen. Sie tut zugleich dem Menschen den Menschen kund, erschließt ihm den Sinn seiner
Existenz und öffnet ihn für die volle Wahrheit über sich selbst und sein Ziel.(131) Kraft ihrer
eigenen missionarischen Sendung ist die Kirche dazu berufen, dem Menschen zu dienen. Dieser
Dienst gründet zunächst in der unerklärlichen und erschütternden Tatsache, daß »der Sohn
Gottes ... sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt« hat.(132)
Darum ist der Mensch »der erste Weg, den die Kirche bei der Erfüllung ihres Auftrages
beschreiten muß: er ist der erste und grundlegende Weg der Kirche, ein Weg, der von Christus
selbst vorgezeichnet ist und unabänderlich durch das Geheimnis der Menschwerdung und der
Erlösung führt«.(133)
Ähnliches hat das II. Vatikanische Konzil in seinen verschiedenen Dokumenten mit großer
Bestimmtheit und Klarheit wiederholt ausgesagt. Wir lesen in einem besonders aufschlußreichen
Text aus der Konstitution Gaudium et spes: »In der Verfolgung der eigenen Heilsabsicht vermittelt
die Kirche nicht nur den Menschen das göttliche Leben, sondern läßt dessen Widerschein mehr
oder weniger auf die ganze Welt fallen, vor allem durch die Heilung und Hebung der menschlichen
Personwürde, durch die Festigung des menschlichen Gemeinschaftsgefüges, durch die Erfüllung
des alltäglichen menschlichen Schaffens mit tieferer Sinnhaftigkeit und Bedeutung. So glaubt die
Kirche, durch ihre einzelnen Glieder und als ganze viel zu einer humaneren Gestaltung der
Menschenfamilie und ihrer Geschichte beitragen zu können«.(134)
Die ganze Kirche ist für diesen Dienst an der Menschheitsfamilie verantwortlich. Aufgrund ihres
»Weltcharakters«, der sie auf eigene und unersetzliche Weise zur christlichen Inspirierung der
zeitlichen Ordnung verpflichtet, kommt den Laien in diesem Rahmen aber eine besondere
Aufgabe zu.
Die Würde des Menschen fördern
37. Die unverletzliche Würde eines jeden Menschen neu zu entdecken und entdecken zu lassen,
ist eine wesentliche Aufgabe, ja in einem gewissen Sinn die zentrale und alle anderen
einschließende Aufgabe im Kontext des Dienstes an der Menschheitsfamilie, zu dem die Kirche
und in ihr die Laien berufen sind.
Unter allen irdischen Geschöpfen ist nur der Mensch »Person«, bewußtes und freies Subjekt und
darum auch »Mitte und Spitze« alles dessen, was auf der Erde ist.(135)
Die personale Würde ist das kostbarste Gut, das der Mensch besitzt, und aufgrund dessen er die
ganze materielle Welt an Wert transzendiert.
Jesu Wort »Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein
Leben einbüßt?« (Mk 8, 36), enthält eine wegweisende und ermutigende anthropologische

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45
Aussage: Des Menschen Wert liegt nicht in dem, was er »hat« - wenn er die ganze Welt gewinnt -
sondern in dem, was er »ist«: nicht so sehr die Güter der Welt zählen, sondern das Gut des
Menschen, das Gut, das der Mensch selber ist.
Die Leuchtkraft der Würde des Menschen kommt von ihrem Ursprung und von ihrer
Zielbestimmung her voll zum Ausdruck: Von Gott nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen, vom
kostbaren Blut Christi erlöst, ist der Mensch berufen, »Kind Gottes im Sohn« und lebendiger
Tempel des Heiligen Geistes zu sein. Er ist bestimmt zum ewigen Leben in der seligmachenden
Gemeinschaft mit Gott. Darum schreit jede Verletzung der Menschenwürde vor dem Angesicht
Gottes nach Rache und ist Beleidigung des Schöpfers des Menschen.
Aufgrund seiner Personenwürde ist der Mensch in sich und für sich genommen immer ein Wert
und muß als solcher verstanden und behandelt werden. Er darf nicht als benutzbares Objekt, als
Werkzeug, als ein Ding betrachtet und behandelt werden.
Die Personenwürde ist Fundament der Gleichheit aller Menschen. Von ihr leitet sich die absolute
Unannehmbarkeit der verschiedensten Formen der Diskriminierung ab, die die Menschheitsfamilie
leider ständig spalten und demütigen: durch Rassen-, wirtschaftliche, soziale, politische,
geographische oder andere Unterschiede bedingt. Jede Diskriminierung stellt nicht so sehr wegen
der Spannungen und Konflikte, die sie in der Gesellschaft hervorrufen kann, sondern wegen der
Verletzung der Menschenwürde eine unerträgliche Ungerechtigkeit dar. Sie ist nicht nur
Verletzung der Würde des Opfers der Ungerechtigkeit, sondern mehr noch der Würde desjenigen,
der die Ungerechtigkeit begeht.
Die Personenwürde ist Fundament der Gleichheit aller Menschen und auch Fundament der
Teilnahme und der Solidarität der Menschen untereinander. Der Dialog und die Gemeinschaft sind
zutiefst verwurzelt in dem, was die Menschen »sind«. Diese Verwurzelung im Sein ist tiefer und
ursprünglicher als eine Verankerung in dem, was die Menschen »haben«.
Die Personenwürde ist unzerstörbares Eigentum eines jeden Menschen. Die ungeheure Kraft
dieser Behauptung, die auf die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit eines jeden Menschen
zurückgeht, muß erfaßt werden. Davon leitet sich ab, daß der einzelne durch alles, was ihn in der
Anonymität des Kollektivs, der Institution, der Struktur, des Systems zermalmen und vernichten
will, nicht nivelliert werden kann. Die Person ist in ihrer Einmaligkeit weder eine Nummer, noch
das Glied einer Kette, noch das Teil eines Systems. Die radikalste und erhebendste Bezeugung
des Wertes eines jeden Menschen gab der Sohn Gottes, als er im Schoß einer Frau Mensch
wurde. Davon spricht die christliche Weihnacht auch heute noch zu uns.(136)
Ehrfurcht vor dem unantastbaren Recht auf das Leben
38. Die effektive Anerkennung der Personenwürde eines jeden Menschen erfordert die

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Verteidigung und die Förderung der Menschenrechte sowie die Ehrfurcht vor ihnen. Diese sind
Naturrechte, Universalrechte, unantastbare Rechte: Niemand, nicht der einzelne, nicht die
Gruppe, nicht die Autorität und nicht der Staat kann sie verändern oder aufheben, weil sie von
Gott selbst kommen.
Die Unantastbarkeit der Person, die Widerschein der absoluten Unantastbarkeit Gottes selbst ist,
findet ihren ersten und fundamentalsten Ausdruck in der Unantastbarkeit des menschlichen
Lebens. Wenn das Recht auf das Leben nicht als erstes und fundamentales Recht mit größter
Entschiedenheit als Bedingung für alle anderen Rechte der Person verteidigt wird, bleibt auch das
berechtigte, wiederholte Hinweisen auf die Menschenrechte - auf das Recht auf Gesundheit,
Wohnung, Arbeit, Gründung einer Familie, Kultur usw. - trügerisch und illusorisch.
Angesichts aller Verletzungen, die dem jedem Menschen zustehenden Recht auf das Leben, sei
es durch einzelne oder durch die Autorität selbst zugefügt werden, hat die Kirche nie resigniert.
Jeder Mensch ist in allen Phasen seiner Entwicklung, von der Empfängnis bis zum natürlichen
Tod, Träger dieses Rechtes; er bleibt es in jeder Situation: Gesundheit oder Krankheit,
Vollkommenheit oder Behinderung, Reichtum oder Armut. Das II. Vatikanische Konzil erklärt
ausdrücklich: »Was ferner zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord,
Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der
menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der
Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie
unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei,
Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige
Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und
verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon
eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die
das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchsten Maße ein Widerspruch
gegen die Ehre des Schöpfers«.(137)
Die Sendung und Verantwortung für die Anerkennung der Personenwürde jedes Menschen und
für die Verteidigung des Rechtes auf das Leben sind jedem übergeben. Einige Laien sind aber
aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaft in besonderer Weise dazu berufen: Eltern, Erzieher, im
Gesundheitswesen Arbeitende und Träger der wirtschaftlichen und politischen Macht.
In der liebevollen und hochherzigen Annahme jeden menschlichen Lebens, vor allem des
schwachen oder kranken, erlebt die Kirche heute ein besonders entscheidendes Moment ihrer
Sendung, die um so notwendiger ist, als eine »Kultur des Todes« mehr und mehr beherrschend
wird. »Aber die Kirche ist fest überzeugt, daß das menschliche Leben, auch das schwache und
leidende, immer ein herrliches Geschenk der göttlichen Güte ist. Gegen Pessimismus und
Egoismus, die die Welt verdunkeln, steht die Kirche auf der Seite des Lebens; in jedem
menschlichen Leben weiß sie den Glanz jenes »Ja«, jenes »Amen« zu entdecken, das Christus

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47
selbst ist (vgl. 1 Kor 2, 19; Apk 3, 14). Dem »Nein«, das in die Welt einbricht und einwirkt, setzt sie
dieses lebendige »Ja« entgegen, und verteidigt so den Menschen und die Welt vor denen, die das
Leben bekämpfen und ersticken«.(138) Den Laien, die aufgrund ihrer Berufung oder ihres Berufes
unmittelbarer mit der Bejahung des Lebens konfrontiert werden, kommt es zu, das »Ja« der
Kirche zum menschlichen Leben konkret und wirksam zu machen.
Neue Möglichkeiten und Verantwortungen, die bis an die Grenzen des menschlichen Lebens
gehen, haben sich heute durch die enorme Entwicklung der biologischen und medizinischen
Wissenschaften und der überraschenden technologischen Möglichkeiten eröffnet: Der Mensch ist
heute in der Lage, das menschliche Leben in seinem Anfang und in den ersten Stadien seiner
Entwicklung nicht nur zu »beobachten«, sondern auch zu »manipulieren«.
Das moralische Gewissen der Menschheit kann weder indifferent noch unberührt bleiben von den
riesigen Schritten einer technischen Macht, die eine immer umfassendere und tiefergehende
Herrschaft über die Prozesse der Fortpflanzung und der ersten Phasen des menschlichen Lebens
gewinnt . Vielleicht erweist sich die Weisheit gerade auf diesem Gebiet mehr den je als einziger
rettender Anker, der den Menschen in der wissenschaftlichen und in der experimentellen
Forschung dazu veranlaßt, mit Intelligenz und Liebe zu handeln, das heißt in der Ehrfurcht, besser
noch in der Verehrung der unantastbaren Personenwürde eines jeden Menschen vom ersten
Augenblick seiner Existenz an. Das ist dann der Fall, wenn Wissenschaft und Technik sich mit
legitimen Mitteln für die Verteidigung des Lebens und die Heilung der Krankheit vom ersten
Augenblick an einsetzen und - aufgrund der Würde der Forschung selbst - Eingriffe verweigern,
die den genetischen Bestand des einzelnen und des menschlichen Geschlechtes verändern.(139)
Die Laien, die in verschiedenen Eigenschaften und auf verschiedenen Ebenen in der
Wissenschaft und in der Technik sowie im medizinischen, sozialen, gesetzlichen und
wirtschaftlichen Bereich arbeiten, müssen sich mutig den »Herausforderungen«, die sich aus den
neuen Problemen der Bioethik ergeben, stellen. Wie die Synodenväter sagten, »müssen die
Christen ihre Verantwortung als Herren der Wissenschaft und der Technologie und nicht als ihre
Sklaven ausüben ... In der Perspektive der moralischen »Herausforderungen«, die sich aus der
neuen und immensen technologischen Macht ergeben werden, und die nicht nur die Grundrechte
des Menschen, sondern auch die biologische Existenz des Menschengeschlechtes selbst
bedrohen, ist es überaus wichtig, daß die christlichen Laien - mit Hilfe der gesamten Kirche - sich
dafür verantwortlich halten, die Kultur zurückzuführen auf die Prinzipien eines wahren
Humanismus, damit die Förderung und die Verteidigung der Menschenrechte in ihrem eigenen
Wesen einen sicheren und dynamischen Grund finden, in dem Wesen, das die Verkündigung des
Evangeliums den Menschen geoffenbart hat«.(140)
Die Wachsamkeit aller angesichts der Zusammenballung der Macht, insbesondere der
technologischen Macht, ist heute dringend notwendig. Denn diese tendiert dazu, nicht nur die
biologische Natur, sondern auch die Inhalte des menschlichen Gewissens selbst und die

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Lebensentwürfe der Menschen zu manipulieren und so die Diskriminierung und Marginalisierung
ganzer Völker zu vergrößern.
Freiheit, den Namen Gottes anzurufen
39. Die Ehrfurcht vor der Personenwürde, die die Verteidigung und Förderung der
Menschenrechte einschließt, fordert die Anerkennung der religiösen Dimension des Menschen.
Diese ist keine lediglich »konfessionelle« Forderung, sondern eine Notwendigkeit, die in der
Realität des Menschseins selbst ihre unausrottbare Wurzel hat. Das Verhältnis zu Gott ist in der
Tat Bestandteil des »Seins« und des »Existierens« des Menschen: in Gott »leben wir, bewegen
wir uns und sind wir« (Apg 17, 28). Wenn auch nicht alle an diese Wahrheit glauben, haben die,
die von ihr überzeugt sind, das Recht auf Ehrfurcht gegenüber ihrem Glauben und ihren
Lebensentscheidungen, die sich auf individueller und gemeinschaftlicher Ebene daraus ergeben.
Dieses ist das Recht auf Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit, dessen effektive Anerkennung
zu den höchsten Gütern und den schwersten Pflichten eines jeden Volkes zählen, das in Wahrheit
das Wohl des Menschen und der Gesellschaft gewährleisten will: »Die Religionsfreiheit ist eine
unverzichtbare Forderung der Personenwürde eines jeden Menschen. Sie stellt einen Eckstein im
Gebäude der Menschenrechte dar und ist darum ein unersetzlicher Faktor des Wohles der
Menschen und der ganzen Gesellschaft, sowie der persönlichen Verwirklichung eines jeden.
Daraus ergibt sich, daß die Freiheit der einzelnen und Gemeinschaften, die eigene Religion
bezeugen und praktizieren zu dürfen, ein wesentlicher Bestandteil des friedlichen Miteinander
unter den Menschen ist. ...
Das bürgerliche und gesellschaftliche Recht auf Religionsfreiheit berührt die intimste Sphäre des
Gewissens. Es kann darum zum richtunggebenden Kriterium und in gewissem Sinn zum Maß der
anderen Grundrechte werden«.(141)
Die Synode hat die vielen Brüder und Schwestern, die sich noch nicht dieses Rechtes erfreuen,
nicht vergessen. Um des Bekenntnisses ihres Glaubens willen müssen sie Unannehmlichkeiten,
Marginalisierung, Leid, Verfolgung und zuweilen den Tod auf sich nehmen. Die Mehrheit dieser
Brüder und Schwestern sind christliche Laien. Die Verkündigung des Evangeliums und das
christliche Lebenszeugnis im Leid und im Martyrium stellen die Höchstform des Apostolates der
Jünger Christi dar, so wie die Liebe zum Herrn Jesus bis hin zur Hingabe des Lebens eine
außerordentliche Quelle der Fruchtbarkeit für den Aufbau der Kirche darstellt. Der mystische
Weinstock zeigt so seine Lebenskraft, wie der heilige Augustinus es hervorhebt: »Wie es von den
Propheten und vom Herrn selbst vorherverkündet worden war, wurde dieser Weinstock, der seine
fruchtbaren Reben in der ganzen Welt verbreitet, um so lebenskräftiger, als er mit dem vielen Blut
der Märtyrer begossen wurde«.(142)
Die gesamte Kirche ist dankbar für dieses Beispiel und für diese Gabe: In diesen ihren Söhnen
und Töchtern findet sie den Grund, um die Dynamik ihres heiligen und apostolischen Lebens zu

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49
erneuern. In diesem Sinn hielten die Synodenväter es für ihre besondere Pflicht, »jenen Laien zu
danken, die als unermüdliche Zeugen des Glaubens, trotz der Freiheitseinschränkungen und des
Verzichtes auf geweihte Amtsträger, in Treue zum Apostolischen Stuhl stehen.
Sie setzen alles, sogar das eigene Leben auf das Spiel. Die Laien geben auf diese Weise Zeugnis
von einer wesentlichen Eigenschaft der Kirche: Die Kirche Gottes wird aus der Gnade Gottes, und
diese Wahrheit kommt im Martyrium auf vorzügliche Weise zum Ausdruck«.(143)
Was wir bis jetzt über die Ehrfurcht vor der personalen Würde und die Anerkennung der
Menschenrechte gesagt, ist Verantwortung eines jeden Christen, eines jeden Menschen. Wir
müssen aber darauf hinweisen, daß dieses Problem heute eine universelle Dimension kennt: es
geht in der Tat um eine Frage, die ganze Menschengruppen, ja ganze Völker, deren Grundrechte
gewaltsam zertreten werden, betrifft. Daraus ergeben sich in der Entwicklung die Ungleichheiten
zwischen den verschiedenen Welten, die in der kürzlich erschienen Enzyklika Sollicitudo Rei
Socialis offen angeprangert worden sind.
Die Ehrfurcht vor dem Menschen geht über die Forderung einer individuellen Moral hinaus, sie
stellt sich als Grundkriterium, gleichsam als wichtigster Grundpfeiler der Struktur der Gesellschaft
selbst dar, weil diese ganz auf die Person hingeordnet ist.
So kommt zur Verantwortung, dem Menschen zu dienen, die, der Gesellschaft zu dienen; beides
als allgemeines Ziel der christlichen Inspiration des säkularen Bereiches, zu der die Laien in der
ihnen eigenen und spezifischen Modalität berufen sind.
Die Familie, erster Raum für das soziale Engagement
40. Der Mensch kennt eine eingeborene, seiner Struktur eingegebene soziale Dimension. Er ist
von innen her zur Gemeinschaft mit anderen und zur vollen Hingabe an sie berufen: »Gott, der
väterlich für alle sorgt, wollte, daß alle Menschen eine Familie bilden und einander in brüderlicher
Gesinnung begegnen«.(144) Die Gesellschaft, Frucht und Zeichen der Soziabilität des Menschen,
erreicht dann ihre volle Wahrheit, wenn sie Gemeinschaft von Personen wird.
Zwischen Mensch und Gesellschaft besteht eine Interdependenz und Reziprozität: was für die
Person getan wird, ist Dienst an der Gesellschaft, und was für die Gesellschaft getan wird, kommt
der Person zugute. Darum ist das apostolische Engagement der Laien in der zeitlichen Ordnung
immer und untrennbar zugleich Dienst am Menschen in seiner Einmaligkeit und
Unwiederholbarkeit und Dienst an allen Menschen
Die soziale Dimension des Menschen findet ihren ersten und ursprünglichen Ausdruck im Ehepaar
und in der Familie: »Gott hat den Menschen nicht allein geschaffen: denn von Anfang an hat er ihn
"als Mann und Frau" geschaffen« (Gen 1, 27); ihre Verbindung schafft die erste Form personaler

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50
Gemeinschaft.(145) Jesus wollte dem Ehepaar seine volle Würde und der Familie ihre innere
Festigkeit wieder zurückgeben (vgl. Mt 19, 3-9); der heilige Paulus hat die tiefe Beziehung
zwischen der Ehe und dem Geheimnis Christi und der Kirche aufgeschlossen (vgl. Eph 5, 22-6,
4;Kol 3, 18-21; 1 Petr 3, 1-7).
Ehepaar und Familie sind der primäre Ort des sozialen Engagements der Laien. Ihnen kann nur
von der Überzeugung ihres unersetzlichen Wertes für die Entwicklung der Gesellschaft und der
Kirche her Rechnung getragen werden.
Als Wiege des Lebens und der Liebe, in der der Mensch »geboren« wird und »wächst«, stellt die
Familie die Grundzelle der Gesellschaft dar.
Wenn Egoismus, Anti-Geburten-Propaganda, totalitäre Politiken, moralische Armut, physische und
kulturelle Not, hedonistische und konsumistische Mentalitäten die Quelle des Lebens erdrosseln
wollen, und die ideologischen Systeme sich mit dem vielfältigen Mangel an Interesse und an Liebe
verbinden, um die Erziehungsaufgabe der Familie aufzuheben, muß dieser Gemeinschaft
besondere Sorge entgegengebracht werden.
Ein umfassender, tiefgehender und systematischer Einsatz, der nicht nur durch die Kultur,
sondern auch durch materielle Mittel und durch die gesetzgebenden Organe unterstützt wird, ist
erforderlich, damit die Familie ihre Aufgabe als erster Ort der »Humanisierung« der Person und
der Gesellschaft erfüllen kann.
Das apostolische Engagement der Laien geht zunächst dahin, in der Familie das Bewußtsein ihrer
Identität als erste Zelle der Gesellschaft und ihrer ursprünglichen Aufgabe in ihr zu wecken.
Dadurch soll sie immer mehr zum aktiven und verantwortlichen Protagonisten ihres Wachstums
und ihrer Teilnahme am Leben der Gesellschaft werden. Die Familie kann und muß von allen, vor
allem von den öffentlichen Autoritäten, Ehrfurcht vor den Rechten verlangen, die die Gesellschaft
retten können, weil sie die Familie retten.
Was im Apostolischen Schreiben Familiaris Consortio über die Teilhabe an der Entwicklung der
Gesellschaft aufgeführt wird,(146) und was der Heilige Stuhl auf Bitten der Bischofssynode 1980
als »Charta der Rechte der Familie« formuliert hat, beinhaltet ein vollständiges und organisches
Programm für alle Laien, die sich in verschiedenen Eigenschaften für die Förderung der Werte
und der Rechte der Familie einsetzen. Die Verwirklichung dieses Programms muß um so
dringender und entschiedener veranlaßt werden, als die Angriffe gegen die Stabilität und die
Fruchtbarkeit der Familie, sowie die Versuche, sie an den Rand der Gesellschaft zu zwingen und
ihre soziale Relevanz zu verkürzen, tiefgreifenden und systematischen Charakter annehmen.
Die Erfahrung zeigt, daß Zivilisation und Festigkeit der Völker vor allem durch die menschliche
Qualität ihrer Familien bestimmt werden. Darum gewinnt die apostolische Tätigkeit im Dienst der

6 Pages 51-60

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Familie eine unvergleichliche soziale Bedeutung. Die Kirche ist zutiefst davon überzeugt. Sie
weiß: »Die Zukunft der Menschheit geht über die Familie«.(147)
Die Liebe, Seele und Fundament der Solidarität
41. Der Dienst an der Gesellschaft kann auf verschiedene Weise zum Ausdruck gebracht und
verwirklicht werden: Von den freien und informellen Modalitäten bis hin zu den institutionellen, von
der Hilfe für einzelne bis hin zu der, die verschiedenen Gruppen und Gemeinschaften angeboten
wird.
Die gesamte Kirche ist als solche zum Dienst der Liebe berufen: »Wie darum die heilige Kirche
schon in ihrer Frühzeit die Feier der Agape mit dem eucharistischen Mahl verband, und so als
ganze durch das Band der Liebe um Christus geeint in Erscheinung trat, wird sie zu allen Zeiten
an diesem Zeichen der Liebe erkannt. Wenn sie sich auch über alles freut, was andere in dieser
Hinsicht tun, nimmt sie doch die Werke der Liebe als ihre eigene Pflicht und ihr unveräußerliches
Recht in Anspruch. Der barmherzige Sinn für die Armen und Kranken und die sogenannten
caritativen Werke, die gegenseitige Hilfe zur Erleichterung aller menschlichen Nöte, stehen
deshalb in der Kirche besonders in Ehren«.(148)
Unmittelbarer und allgemeiner Inhalt der christlichen Inspirierung der zeitlichen Ordnung, die
spezifische Aufgabe der Laien ist, bleibt die Nächstenliebe in ihren altüberkommenen und immer
neuen Formen der leiblichen und geistigen Werke der Barmherzigkeit.
Durch die Nächstenliebe leben und bezeugen die Laien ihre Teilhabe am Königsein Christi, das
heißt ihre Teilhabe an der Macht des Menschensohnes, der »nicht gekommen (ist), um sich
dienen zu lassen, sondern um zu dienen« (Mk 10, 45). Die Laien leben und bezeugen dieses
Königsein auf die einfachste, allen jederzeit zugängliche, aber zugleich auch erhabenste Weise,
weil die Liebe die höchste Gabe ist, die der Geist für den Aufbau der Kirche (vgl. 1 Kor 13, 13) und
für das Wohl der Menschheit schenkt. Die Liebe ist es, die eine wirksame und für alle Bedürfnisse
der Menschen offene Solidarität beseelt und begründet.
Nicht nur einzelne, sondern auch Gruppen und Gemeinschaften müssen diese Liebe ausüben,
denn ihrer bedarf man, und wird man immer mehr bedürfen. Nichts und niemand kann sie
ersetzen und wird sie ersetzen können, auch nicht die vielen Institutionen und Initiativen der
öffentlichen Organe, wenn sie versuchen, den oft schweren und weit verbreiteten Bedürfnissen
eines Volkes Rechnung zu tragen. Paradoxerweise ist die Liebe um so notwendiger, als die
Institutionen in ihrer Organisation komplexer werden und jeden verfügbaren Raum verwalten
wollen. Sie werden letztlich vom unpersönlichen Funktionalismus, der übertriebenen Bürokratie,
von ungerechten Privatinteressen, vom leichtfertigen und verbreiteten Mangel an Interesse
ausgehöhlt.

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52
Gerade in diesem Kontext entstehen und wachsen vor allem in den organisierten Gesellschaften
verschiedene Formen freiwilligen Einsatzes, die sich in einer Vielfalt von Diensten und Werken
aktualisieren. Wenn es tatsächlich als selbstloser Dienst am Wohl der Menschen, vor allem der
Bedürftigsten und derer, die von den sozialen Diensten vergessen, verwirklicht wird, kann der
freiwillige Einsatz als eine bedeutende Form des Apostolates betrachtet werden, bei dem den
Laien, Männern und Frauen, eine vorrangige Aufgabe zukommt.
Alle sind Adressaten und Protagonisten der Politik
42. Die Liebe, die dem Menschen dient und ihn liebt, kann nicht von der Gerechtigkeit getrennt
werden: Die eine und die andere verlangen jede auf ihre Weise die volle Anerkennung der Rechte
der Person, auf die die Gesellschaft mit all ihren Strukturen und Institutionen hingeordnet ist.(149)
Um die zeitliche Ordnung im genannten Sinn des Dienstes am Menschen christlich zu inspirieren,
können die Laien nicht darauf verzichten, sich in die »Politik« einzuschalten, das heißt in die
vielfältigen und verschiedenen Initiativen auf wirtschaftlicher, sozialer, gesetzgebender,
verwaltungsmäßiger und kultureller Ebene, die der organischen und systematischen Förderung
des Allgemeinwohls dienen. Wie die Synodenväter wiederholt feststellten, haben alle und jeder
einzelne die Pflicht und das Recht, sich an der Politik zu beteiligen, wenn auch auf verschiedener
und komplementärer Weise und Ebene und aufgrund verschiedener und komplementärer
Aufgaben und Verantwortungen. Die Anklagen des Arrivismus, der Idolatrie der Macht, des
Egoismus und der Korruption, die nicht selten gegen Regierungsleute, Abgeordnete der
Parlamente, dominierenden Klassen und politischen Parteien erhoben werden, sowie die
verbreitete Meinung, die Politik sei ein Bereich unbedingter moralischer Gefährdung, rechtfertigen
auf keine Weise den Skeptizismus oder die Abwendung der Christen von den öffentlichen
Angelegenheiten. Vielmehr gewinnt gerade auf diesem Hintergrund das Wort des II. Vatikanischen
Konzils seine volle Bedeutung: »Die Kirche ihrerseits zollt der Arbeit jener, die sich zum Dienst an
den Menschen für das Wohl des Staates einsetzen und die Lasten eines solchen Amtes tragen,
Anerkennung und Achtung«.(150)
Eine Politik, die auf die Person und auf die Gesellschaft ausgerichtet ist, findet ihr Grundkriterium
in der Bemühung um das Allgemeinwohl als Wohl aller Menschen und des ganzen Menschen, ein
Wohl, das der freien und verantwortlichen Annahme der einzelnen und der Gruppen angeboten
wird. »Die politische Gemeinschaft - so lesen wir in der Konstitution Gaudium et spes - besteht
also um dieses Gemeinwohls willen; in ihm hat sie ihre letztgültige Rechtfertigung und ihren Sinn,
aus ihm leitet sie ihr ursprüngliches Eigenrecht ab. Das Gemeinwohl aber begreift in sich die
Summe aller jener Bedingungen gesellschaftlichen Lebens, die den Einzelnen, den Familien und
gesellschaftlichen Gruppen ihre eigene Vervollkommnung voller und ungehinderter zu erreichen
gestatten«.(151)
Eine Politik, die auf den Menschen und auf die Gesellschaft ausgerichtet ist, findet darüber hinaus

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ihre kontinuierliche Richtlinie in der Verteidigung und Förderung der Gerechtigkeit, die sie als
»Tugend«, zu der alle erzogen werden müssen, und als »moralische Kraft« versteht, die das
Bemühen um die Anerkennung der Rechte und Pflichten aller und eines jeden auf der Grundlage
der Personwürde des Menschen trägt.
Bei der Ausübung der öffentlichen Macht ist die Gesinnung des Dienstes entscheidend. Nur sie
kann neben der notwendigen Kompetenz und Fähigkeit das Wirken der Politiker »durchsichtig«
und »rein« erhalten, so wie das Volk es berechtigterweise fordert. Voraussetzung dafür ist die
Bekämpfung und die entschiedene Überwindung bestimmter Versuchungen, wie die der
Unlauterkeit und Lüge, des Vergeudens der öffentlichen Mittel zugunsten von Wenigen und mit
gewinnsüchtigen Interessen, des Gebrauchs von zweideutigen und unerlaubten Mitteln, um die
Macht auf jeden Fall zu erobern, festzuhalten und zu vermehren.
Wie die Konstitution Gaudium et spes hervorhebt, sollen die in der Politik engagierten Laien die
Autonomie der irdischen Wirklichkeiten respektieren: »Sehr wichtig ist besonders in einer
pluralistischen Gesellschaft, daß man das Verhältnis zwischen der politischen Gemeinschaft und
der Kirche richtig sieht, so daß zwischen dem, was die Christen als Einzelne oder im Verbund im
eigenen Namen als Staatsbürger, die von ihrem christlichen Gewissen geleitet werden, und dem,
was sie im Namen der Kirche zusammen mit ihren Hirten tun, klar unterschieden wird.
Die Kirche, die in keiner Weise hinsichtlich ihrer Aufgabe und Zuständigkeit mit der politischen
Gemeinschaft verwechselt werden darf, noch auch an irgendein politisches System gebunden ist,
ist zugleich Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person«.(152)
Zugleich müssen die Laien - so wird es heute als dringende Notwendigkeit und Verantwortung
empfunden - Zeugnis geben für jene menschlichen Werte des Evangeliums, die zutiefst mit der
politischen Tätigkeit verbunden sind: Freiheit und Gerechtigkeit, Solidarität, treue und selbstlose
Hingabe an das Wohl aller, einfacher Lebensstil, Vorliebe für die Armen und für die Letzten.
Voraussetzung dafür ist, daß sie von ihrer lebendigen Teilhabe am Leben der Kirche getragen und
durch ihre Soziallehre aufgeklärt sind. Dabei können die Nähe ihrer Gemeinden und ihrer Hirten
ihnen eine große Hilfe bedeuten.(153)
Stil und Mittel zur Verwirklichung einer Politik, die die wahre Entwicklung der Menschen zum Ziel
haben will, sind gegeben in der Solidarität. Sie erweckt die aktive und verantwortliche Teilnahme
aller am politischen Leben, angefangen bei den einzelnen Bürgern bis hin zu den verschiedenen
Gruppen, von den Gewerkschaften bis hin zu den Parteien: Gemeinsam und einzeln sind wir alle
Adressaten und Protagonisten der Politik. Wie ich in der Enzyklika Sollicitudo Rei Socialis
geschrieben habe, ist die Solidarität in diesem Sinn »nicht ein Gefühl vagen Mitleids oder
oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah oder fern. Im Gegenteil, sie ist
die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das "Gemeinwohl" einzusetzen, das heißt für
das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind «.(154)

6.4 Page 54

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54
Die politische Solidarität will heute in einer Spannweite, die über die einzelne Nation oder den
einzelnen Block von Nationen hinausgeht und sich als kontinental oder universal darstellt,
verwirklicht werden.
Die von allen erwünschte, aber leider noch nicht ausgereifte Frucht der solidarischen politischen
Tätigkeit ist der Friede. Angesichts aller Phänomene, die den Frieden verneinen oder bedrohen,
können die Laien nicht indifferent, distanziert oder unberührt bleiben: Gewalt und Krieg, Folter und
Terrorismus, Konzentrationslager, Militarisierung der Politik, Rüstung, Bedrohung durch die
Nuklearwaffen. Als Jünger Jesu, der der »Friedensfürst« (Jes 9, 5) und »unser Friede« (Eph 2,
14) ist, müssen die Laien durch die Bekehrung des »Herzens«, wie durch ein Engagement
zugunsten der Wahrheit, der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Liebe, die unverzichtbare
Fundamente des Friedens sind, »Frieden stiften« (Mt 5, 8).(155)
Die Laien müssen mit allen, die in Wahrheit den Frieden suchen, zusammenarbeiten und die
spezifischen nationalen und internationalen Organismen benutzen, um von der Basis her einen
Prozeß der Bewußtseinsbildung auszulösen, der die beherrschende Kultur des Egoismus, des
Hasses, der Rache und der Feindschaft überwindet und auf allen Ebenen eine Kultur der
Solidarität fördert. Sie ist »der Weg zum Frieden und zugleich zur Entwicklung«.(156) Die
Synodenväter haben die Christen aufgefordert, unannehmbare Formen der Gewalt abzulehnen,
die Dialog- und Friedensbereitschaft zu pflegen und sich einzusetzen für die Errichtung einer
gerechten sozialen und internationalen Ordnung.(157)
Den Menschen in die Mitte wirtschaftlichsozialen Lebens stellen
43. Die wirtschaftlich-soziale Frage, dessen Schlüssel in der Organisation der Arbeit gegeben ist,
stellt ein wesentliches Moment des Dienstes der Laien an der Gesellschaft dar.
Die aktuelle Brisanz dieser Fragestellung, die aus den verschiedenen Entwicklungsstufen
ersichtlich ist und auf die die Soziallehre der Kirche eine Antwort zu geben versucht, wurde
kürzlich in der Enzyklika Sollicitudo Rei Socialis in Erinnerung gerufen. Diese möchte ich darum
allen, vor allem den Laien sehr empfehlen.
Zu den Eckpfeilern der Soziallehre der Kirche zählt das Prinzip der allgemeinen Bestimmung der
Güter: Nach dem Plan Gottes stehen die Güter der Erde allen Menschen und jedem einzelnen
Menschen als Mittel für die Entwicklung einer wahrhaft menschlichen Existenz zur Verfügung. Das
Privateigentum steht im Dienst dieses Prinzips und kennt darum gerade aus diesem Grund eine
wesenhaft soziale Dimension. Die Arbeit des Mannes und der Frau ist konkret der gängigste und
unmittelbarste Weg für die Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens, Weg, der zugleich Recht und
Pflicht eines jeden Menschen ist.
Alle diese Aspekte sind in besonderer Weise in der Sendung der Laien eingeschlossen. Ziel und

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55
Kriterium ihrer Präsenz und Wirksamkeit werden vom II. Vatikanischen Konzil allgemein formuliert:
»Auch im Wirtschaftsleben sind die Würde der menschlichen Person und ihre ungeschmälerte
Berufung wie auch das Wohl der gesamten Gesellschaft zu achten und zu fördern, ist doch der
Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft«.(158)
Die erschütternden Umwälzungen in der Welt der Wirtschaft und in der Welt der Arbeit verlangen,
daß die Laien sich an vorderster Front für die Lösung dieser überaus schweren Probleme
engagieren: Bekämpfung der wachsenden Arbeitslosigkeit, Überwindung der zahlreichen
Ungerechtigkeiten wegen schlechter Organisation der Arbeit, die Förderung des Entstehens von
Persongemeinschaften am Arbeitsort, die die Subjektivität und das Recht auf Teilhabe des
Einzelnen respektieren, die Entwicklung neuer Formen der Solidarität unter denen, die an der
gemeinsamen Arbeit teilnehmen, Schaffung neuer Modalitäten des Unternehmens, Überprüfung
von Handelssystemen, Finanzwesen und technologischem Transfer.
Dazu wird von den Laien Berufstüchtigkeit, menschliche Redlichkeit und christlicher Geist bei der
Verrichtung ihrer Arbeit als Weg zur Selbstheiligung verlangt.(159) Das Konzil spricht diese
Forderung ausdrücklich aus: »Durch seine Arbeit erhält der Mensch sein und der Seinigen Leben,
tritt in tätigen Verbund mit seinen Brüdern und dient ihnen; so kann er praktische Nächstenliebe
üben und seinen Beitrag zur Vollendung des Schöpferwerkes Gott erbringen. Ja wir halten fest:
Durch seine Gott dargebrachte Arbeit verbindet sich der Mensch mit dem Erlösungswerk Jesu
Christ selbst, der, indem er in Nazareth mit eigenen Händen arbeitete, der Arbeit eine einzigartige
Würde verliehen hat«.(160)
Im Hinblick auf das wirtschaftlich-soziale Leben und auf die Arbeit wird die sogenannte
»ökologische« Frage heute immer akuter. Der Mensch hat von Gott selbst den Auftrag erhalten,
über die Dinge zu »herrschen« und den »Garten der Welt zu bestellen«; diese Aufgabe muß er in
Ehrfurcht vor der göttlichen Ebenbildlichkeit, die er empfangen hat, das heißt mit Vernunft und
Liebe erfüllen. Er muß sich verantwortlich halten für die Gaben, die Gott ihm geschenkt hat und
dauernd schenkt. Die Gabe, die er in Händen hält, muß er - wenn möglich sogar verbessert - den
künftigen Generationen weitergeben, denn auch sie sind Empfänger der Gaben des Herrn: »Die
vom Schöpfer dem Menschen anvertraute Herrschaft ist keine absolute Macht, noch kann man
von der Freiheit sprechen, sie zu "gebrauchen oder zu mißbrauchen", oder über die Dinge zu
verfügen, wie es beliebt. Die Beschränkung, die der Schöpfer selber von Anfang an auferlegt hat,
ist symbolisch in dem Verbot enthalten, "von der Frucht des Baumes zu essen" (vgl. Gen 2, 16-17
); sie zeigt mit genügender Klarheit, daß wir im Hinblick auf die sichtbare Natur nicht nur
biologischen, sondern auch moralischen Gesetzen unterworfen sind, die man nicht ungestraft
übertreten darf. Eine richtige Auffassung von Entwicklung kann nicht von solchen Überlegungen
hinsichtlich des Gebrauchs der Naturdinge, der möglichen Erneuerung der Hilfsquellen und der
Folgen einer ungeordneten Industrialisierung absehen, die unser Gewissen erneut auf die
moralische Dimension der Entwicklung hinlenken«.(161)

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56
Die Kultur und die Kulturen des Menschen evangelisieren
44. Der Dienst am Menschen und an der menschlichen Gesellschaft kommt im Schaffen und
Weitergeben von Kultur zum Ausdruck und zur Verwirklichung. Vor allem in unseren Tagen stellt
dies eine der dringendsten Aufgaben des menschlichen Miteinanders und des sozialen
Fortschrittes dar. Im Licht des Konzils verstehen wir unter »Kultur ... alles, wodurch der Mensch
seine vielfältigen geistigen und körperlichen Anlagen ausbildet und entfaltet; wodurch er sich die
ganze Welt in Erkenntnis und Arbeit zu unterwerfen sucht; wodurch er das gesellschaftliche Leben
in der Familie und in der ganzen bürgerlichen Gesellschaft im moralischen und institutionellen
Fortschritt menschlicher gestaltet: wodurch er endlich seine großen geistigen Erfahrungen und
Bestrebungen im Lauf der Zeit in seinen Werken vergegenständlicht, mitteilt und ihnen Dauer
verleiht - zum Segen vieler, ja der ganzen Menschheit«.(162) In diesem Sinn muß die Kultur als
Allgemeingut eines jeden Volkes, als Ausdruck seiner Würde, Freiheit und Kreativität, als Zeugnis
seines Weges in der Geschichte verstanden werden. Vor allem der christliche Glaube kann nur
von der Kultur her und durch sie geschichtlich und geschichtsschöpferisch werden.
Angesichts der Entwicklung einer Kultur, die nicht nur dem christlichen Glauben, sondern auch
den menschlichen Werten absagt,(163) und einer wissenschaftlich und technologisch geprägten
Kultur, die es nicht vermag, auf die brennende Suche nach der Wahrheit und nach dem Guten, die
heute im Herzen der Menschen brennt, zu antworten, weiß die Kirche um die dringende pastorale
Notwendigkeit, der Kultur besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
Sie fordert darum die Laien auf, sich mutig und kreativ an den privilegierten Orten der Kultur, wie
die Welt der Schulen und Universitäten, die Milieus wissenschaftlicher und technischer Forschung,
die Orte des künstlerischen Schaffens und humanistischen Nachdenkens eine Präsenz zu
verschaffen. Diese Präsenz soll nicht nur die Elemente der gegenwärtigen Kultur erkennen,
kritisch beurteilen und gegebenenfalls läutern, sondern sie mit Hilfe des ursprünglichen Reichtums
des Evangeliums und des christlichen Glaubens auf eine höhere Ebene erheben. Was das II.
Vatikanische Konzil über die Beziehung zwischen Evangelium und Kultur schreibt, ist bleibende
historische Gegebenheit und zugleich ein höchst aktuelles und notwendiges Ziel; dieses
anspruchsvolle Programm ist der pastoralen Verantwortung der gesamten Kirche und somit der
spezifischen Verantwortung aller Laien anvertraut: »Die gute Botschaft Christi erneuert
unausgesetzt Leben und Kultur des gefallenen Menschen und bekämpft und beseitigt Irrtümer und
Übel, die aus der stets drohenden Verführung zur Sünde hervorgehen. Unablässig reinigt und
hebt sie die Sitten der Völker.
Schon durch die Erfüllung der eigenen Aufgabe treibt die Kirche die menschliche und
mitmenschliche Kultur voran und trägt zu ihr bei; durch ihr Wirken, auch durch ihre Liturgie, erzieht
sie den Menschen zur inneren Freiheit«.(164)
Einige besonders inhaltsvolle Passagen des Apostolischen Schreibens Pauls VI. Evangelii

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57
Nuntiandi verdienen es, hier in Erinnerung gerufen zu werden: »Die Kirche evangelisiert, wenn sie
sich darum bemüht, allein durch die göttliche Kraft der Botschaft, die sie verkündet, zugleich das
persönliche und kollektive Bewußtsein der Menschen, die Tätigkeit, in der sie sich engagieren, ihr
konkretes Leben und jeweiliges Milieu umzuwandeln.
Bereiche der Menschheit, die umgewandelt werden sollen: Für die Kirche geht es nicht nur darum,
immer weitere Landstriche oder immer größere Volksgruppen durch die Predigt des Evangeliums
zu erfassen, sondern zu erreichen, daß durch die Kraft des Evangeliums die Urteilskriterien, die
bestimmenden Werte, die Interessenpunkte, die Denkgewohnheiten, die Quellen der Inspiration
und die Lebensmodelle der Menschheit, die zum Wort Gottes und zum Heilsplan im Gegensatz
stehen, umgewandelt werden.
Vielleicht können wir dies zusammenfassend auf folgende Weise ausdrücken: es gilt - und zwar
nicht nur dekorativ wie durch einen oberflächlichen Anstrich, sondern mit vitaler Kraft in der Tiefe
und bis zu ihren Wurzeln - die Kultur und die Kulturen des Menschen im vollen und umfassenden
Sinn ... zu evangelisieren ... Der Bruch zwischen Evangelium und Kultur ist ohne Zweifel das
Drama unserer Zeitepoche, wie es auch das anderer Epochen gewesen ist. Man muß somit alle
Anstrengungen machen, um die Kultur genauer die Kulturen, auf mutige Weise zu
evangelisieren«.(165)
Die Kommunikationsmittel bieten sich heute als privilegierter Weg zur Schaffung und zur
Weitergabe der Kultur an.(166) Aufgrund der raschen und umwälzenden Entwicklung und
Erneuerung und ihres weltweiten, zugleich bis zur Basis reichenden Einflußes wird auch die Welt
der Medien zu einem neuen Grenzgebiet der Sendung der Kirche. Die berufliche Verantwortung
der Laien auf diesem Gebiet, sei es der einzelnen, sei es der gemeinsamen Institutionen und
Initiativen, muß in ihrer ganzen Bedeutung anerkannt und mit mehr materiellen, intellektuellen und
pastoralen Mitteln unterstützt werden.
Gebrauch und Aufnahme der Kommunikationsmittel verlangen nach einer Erziehung zum
kritischen, von der Liebe zur Wahrheit getragenen Sinn, und einer umfassenden Verteidigung der
Freiheit, der Ehrfurcht vor der personalen Würde, der Festigung der wahren Kultur der Völker
durch die entschiedene und mutige Ablehnung jeder Form von Monopolisierung und
Manipulierung.
Die pastorale Verantwortung der Laien schränkt sich aber nicht auf diese Verteidigung ein: Das
heilbringende Evangelium muß auf allen Straßen der Welt, auch auf denen der Presse, des Kinos,
der Radiosender, des Fernsehens und des Theaters verkündigt werden.
VIERTES KAPITEL

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58
DIE ARBEITER IM WEINBERG DES HERRN
Gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes
Die Vielfalt der Berufungen
45. Nach dem Gleichnis des Evangeliums ruft der »Gutsbesitzer« die Arbeiter zu verschiedenen
Tagzeiten in seinen Weinberg: einige beim Morgengrauen, andere gegen die neunte Stunde,
andere noch gegen Mittag und um die sechste und um die elfte Stunde (vgl. Mt 20, 1 ff). Im
Kommentar zu dieser Perikope des Evangeliums interpretiert Gregor der Große die verschiedenen
Zeitpunkte der Berufung im Hinblick auf das Lebensalter: »Die Verschiedenheit der Stunde« -
schreibt er - »kann auf die verschiedenen Alter des Menschen angewandt werden. In dieser
unserer Interpretation kann der Morgen die Kindheit darstellen. Die dritte Stunde kann dann als
die frühe Jugend verstanden werden: Die Sonne steigt am Himmel auf, das heißt die Glut des
Alters wächst. Die sechste Stunde ist die Jugend: Die Sonne steht wie in der Mitte des Himmels,
das heißt, daß sich in dem Alter die Fülle der Kraft festigt. Das hohe Alter wird von der neunten
Stunde dargestellt, weil die Sonne von der Höhe heruntergeht, so wie dieses Alter die Glut der
Jugend verliert. Die elfte Stunde ist das Alter derer, die an Jahren schon weit fortgeschritten sind
... Die Arbeiter werden zu verschiedenen Stunden in den Weinberg gerufen, gleichsam um zu
bedeuten, daß der eine schon in der Kindheit zum Leben der Heiligkeit geführt wird, der andere in
der Jugend, ein anderer im Alter und noch ein anderer im hohen Alter«.(167)
Wir können den Kommentar des heilgen Gregor erweitern und auf die außerordentliche Vielfalt
der Formen einer Präsenz in der Kirche, von denen alle und eine jede gerufen ist, je nach der
Verschiedenheit der Berufungen und Situationen, der Charismen und der Dienste für die Ankunft
des Reiches Gottes zu arbeiten anwenden. Diese Verschiedenheit ist nicht nur durch das Alter,
sondern auch durch die Verschiedenheit der Geschlechter und die Vielfalt der Gaben, Berufungen
und Lebenssituationen gegeben, und sie läßt den Reichtum der Kirche konkreter und lebendiger
werden.
Jugendliche, Kinder und alte Menschen
Die Jugend, Hoffnung der Kirche
46. Die Synode hat berechtigterweise der Jugend besondere Aufmerksamkeit schenken wollen.
Denn in vielen Ländern der Welt stellen die Jugendlichen die Hälfte der gesamten Bevölkerung
und oft auch die Hälfte des Volkes Gottes selbst, das in diesen Ländern lebt. Schon unter diesem
Gesichtspunkt sind die Jugendlichen eine außerordentliche Kraft und eine große Herausforderung
für die Zukunft der Kirche. Diese liest von den Jugendlichen ihr Schreiten in die Zukunft, die sie
erwartet, ab; in ihnen findet sie das Bild und die Erinnerung an die beseligende Jugend, mit der
der Geist Christi sie immer bereichert. In diesem Sinn hat das Konzil die Jugend als die »Hoffnung
der Kirche« definiert.(168)

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In dem Brief an die Jugendlichen der Welt vom 31. März 1985 lesen wir: »Die Kirche blickt auf die
Jugendlichen; mehr noch, die Kirche erblickt sich selbst in einer besonderen Weise in den
Jugendlichen - in euch allen und in jedem einzelnen von euch. So ist es von Anfang an, seit den
Zeiten der Apostel gewesen. Die Worte im ersten Johannesbrief sind dafür ein besonderes
Zeugnis: »Ich schreibe euch, ihr jungen Männer, daß ihr den Bösen besiegt habt. Ich schreibe
euch, ihr Kinder, daß ihr den Vater erkannt habt ... ich schreibe euch, ihr jungen Männer, daß ihr
stark seid und daß das Wort Gottes in euch bleibt (1 Joh 2, 13 ff). Die Worte des Apostels
kommen zum Gespräch Christi mit dem jungen Mann im Evangelium hinzu und erschallen mit
mächtigem Echo von Generation zu Generation.
Auch in unserer Generation, am Ende des zweiten Jahrtausends nach Christus sieht die Kirche
sich selbst in den Jugendlichen«.(169)
Die Jugendlichen dürfen nicht lediglich als Gegenstand der pastoralen Sorge der Kirche
verstanden werden. Sie sind in der Tat, und müssen darin ermutigt werden, aktive Subjekte,
Protagonisten der Evangelisierung und Erbauer der sozialen Erneuerung.(170) Die Jugend ist die
Zeit einer besonders intensiven Entdeckung des eigenen »Ich« und des eigenen
»Lebensentwurfes«, die Zeit eines Wachsens, das Zunehmen in der »Weisheit« und an »Gefallen
bei Gott und den Menschen« ist (Lk 2, 52).
Die Synodenväter sagten dazu: »Die Jugendlichen sind für die Werte der Gerechtigkeit, der
Gewaltlosigkeit und des Friedens besonders sensibel. Ihr Herz ist offen für Geschwisterlichkeit,
Freundschaft und Solidarität. Sie sind aufs höchste motiviert für die Anliegen der Lebensqualität
und der Erhaltung der Natur. Aber sie sind auch erfüllt mit Fragen, Enttäuschungen, Nöten und
Ängsten vor dlor Welt sowie der für sie typischen Versuchungen«.(171)
Die Kirche muß die Vorliebe Jesu für den jungen Mann des Evangeliums neu lebendig werden
lassen: »Da sah ihn Jesus an, weil er ihn liebte« (Mk 10, 12). Darum wird sie nicht müde, Jesus
Christus zu verkünden und sein Evangelium zu predigen, als einzige und überreiche Antwort auf
die tiefsten Sehnsüchte der Jugend, als eindeutige und anziehende Aufforderung zu einer
persönlichen Nachfolge (»komm und folge mir nach« [Mk 10, 21]), die Teilhabe an der Kindesliebe
Jesu zum Vater und Teilhabe an seiner Heilssendung für die Menschheit ist.
Die Kirche hat der Jugend viel zu sagen, und die Jugend hat der Kirche viel zu sagen. Dieser
gegenseitige Dialog muß offenherzig, klar und mutig sein. Er fördert die Begegnung und den
Austausch zwischen den Generationen und wird für Kirche und Gesellschaft Quelle des
Reichtums und des Jungseins. In seiner Botschaft an die Jugend sagt das Konzil: »Die Kirche
schaut mit Vertrauen und Liebe auf euch ... Sie ist die wahre Jugend für die Welt ... Schaut auf sie
und ihr werdet in ihr das Antlitz Christi finden«.(172)
Die Kinder und das Reich Gottes

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47. Die Kinder sind mit Sicherheit Gegenstand der zarten und warmen Liebe des Herrn Jesus: Er
versichert sie seines Segens und verspricht ihnen das Himmelreich (vgl. Mt 19, 13-15; Mk 10, 14).
Jesus hebt die aktive Teilnahme der Kleinen am Gottesreich hervor. Sie sind sprechendes Symbol
und herrliches Vorbild der moralischen und geistlichen Haltung, die Voraussetzung ist, um in das
Himmelreich zu gelangen und in der Logik einer Ganzhingabe an den Herrn zu leben: »Amen, das
sage ich euch: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das
Himmelreich kommen. Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte.
Und wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf« (Mt 18, 3-5; vgl. Lk 9,
48).
Die Kinder erinnern uns ständig daran, daß die missionarische Fruchtbarkeit der Kirche nicht in
den menschlichen Mitteln und Verdiensten, sondern in der absolut freien Gabe Gottes ihre
Lebenswurzel hat. Das Leben in Unschuld und Gnade der Kinder sowie die Leiden und die
Unterdrückung, die ihnen ungerechterweise auferlegt werden, bringen aufgrund des Kreuzes
Christi ihnen selbst und der gesamten Kirche eine geistliche Bereicherung ein. Wir alle müssen
uns dieser Tatsache dankbarer bewußt werden.
Es muß auch bedacht werden, daß Kindheit und Jugend wertvolle Möglichkeiten für den Aufbau
der Kirche und für die Humanisierung der Gesellschaft bieten. Über die wohltuende und positive
Präsenz der Kinder in der »Hauskirche« der Familie sagt das Konzil: »Die Kinder als lebendige
Glieder der Familie tragen auf ihre Weise zur Heiligung der Eltern bei«.(173) Diese Wahrheit muß
in Anwendung auf die Teilkirchen und auf die Universalkirche wiederholt werden. Schon Jean
Gerson, Theologe und Erzieher aus dem XV. Jahrhundert, für den »die Kinder und Jugendlichen
gewiß kein außer acht zu lassender Teil der Kirche« darstellen, machte auf diese Tatsache
aufmerksam.(174)
Die alten Menschen und die Gabe der Weisheit
48. Die alten Menschen, die oft als nutzlos oder sogar als unerträgliche Last betrachtet werden,
möchte ich daran erinnern, daß die Kirche von ihnen erbittet und erwartet, daß sie ihre
missionarische und apostolische Sendung fortsetzen. Ihre Erfüllung ist in diesem Alter nicht nur
möglich und verpflichtend, sie erhält durch es in gewisser Weise eine spezifische und originelle
Note.
Die Bibel zeichnet den alten Menschen gerne als Symbol des von Weisheit und Gottesfurcht
erfüllten Menschen (vgl. Sir 25, 4-6). In diesem Sinn könnte die »Gabe« des alten Menschendarin
gesehen werden, in der Kirche und in der Gesellschaft Zeuge der Glaubenstradition (vgl. Ps 44, 2;
Ex 12, 26-27), Meister des Lebens (vgl. Sir 6, 34; 8, 11-12) und Träger der Liebe zu sein.
Die wachsende Zahl alter Menschen und ihr frühzeitiges Zurücktreten aus Beruf und Arbeit öffnen
ihrer apostolischen Aufgabe neue Möglichkeiten. Diese muß mit Entschiedenheit übernommen

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werden. Die Versuchung muß überwunden werden, sich sehnsüchtig in eine Vergangenheit, die
nicht wiederkehrt, zurückzuziehen, um wegen der Schwierigkeiten, die eine Welt der ständigen
Neuheiten bedeutet, vor einer Verpflichtung in der Gegenwart zurückzuweichen. Alte Menschen
müssen sich immer neu vergegenwärtigen, daß ihre Aufgabe in der Kirche und in der Gesellschaft
aufgrund des Alters keine Unterbrechungen kennt, sondern lediglich neue Ausdrucksweisen
finden muß. Der Psalmist sagt dazu: »Sie tragen Frucht noch im Alter und bleiben voll Saft und
Frische; sie verkünden: Gerecht ist der Herr (Ps 92, 15-16). Ich wiederhole hier, was ich anläßlich
der Jubiläumsfeier für alte Menschen gesagt habe: »Das Erreichen des dritten Alters muß als ein
Privileg betrachtet werden: nicht nur, weil nicht alle das Glück haben, diese Etappe zu erreichen,
sondern auch und vor allem, weil diese Zeit konkrete Möglichkeiten bietet, die Vergangenheit
besser zu überprüfen, das Ostergeheimnis tiefer zu erkennen und zu erleben, in der Kirche für das
gesamte Volk Gottes zum Vorbild zu werden... Trotz der Komplexität eurer Probleme, die noch
keine Lösung gefunden haben, des langsamen Kräftezerfalls, der mangelnden sozialen
Organisationen, der Verzögerungen in der offiziellen Gesetzgebung, des Unverständnisses einer
egoistischen Gesellschaft seid ihr nicht am Rand des Lebens der Kirche und müßt ihr nicht
meinen, passive Elemente in einer Welt, die zu viel Bewegung kennt, zu sein. Ihr seid vielmehr
aktive Subjekte einer menschlich und geistlich fruchtbaren Zeit der Existenz. Noch habt ihr eine
Aufgabe zu erfüllen und einen Beitrag zu geben. Nach dem göttlichen Plan ist jeder Mensch vom
ersten Augenblick seiner Existenz an bis zu seinem letzten Atemzug wachsendes Leben«.(175)
Frauen and Männer
49. Die Synodenväter haben der Lage und der Aufgabe der Frau in einer zweifachen Hinsicht
besondere Aufmerksamkeit gewidmet die Aufforderung an alle, den unverzichtbaren Beitrag der
Frau zum Aufbau der Kirche und zur Entwicklung der Gesellschaft anzuerkennen; den Anstoß zu
einer spezifischen Analyse der Teilhabe der Frau am Leben und an der Sendung der Kirche.
Rückblickend auf Johannes XXIII., der das Bewußtsein der Frauen von der eigenen Würde und
das Eintreten der Frauen in das öffentliche Leben als ein Zeichen unserer Zeit erkannt hat,(176)
haben die Synodenväter wiederholt und entschieden die Dringlichkeit hervorgehoben, angesichts
der verschiedenen Formen der Diskriminierung und Marginalisierung, denen die Frau wegen ihres
Frauseins ausgesetzt ist, die Personwürde der Frau und somit ihre Gleichheit mit dem Mann
herauszustellen.
Diese Aufgabe kommt in der Kirche und in der Gesellschaft allen, insbesondere aber den Frauen
zu. In vielen Teilen der Welt muß vielerorts noch eine ungerechte und schädliche Mentalität
überwunden werden, die den Menschen als ein Ding, als ein Objekt, als ein Werkzeug des
egoistischen Interesses oder der Lust versteht, das man kaufen oder verkaufen kann. Das um so
mehr, als die Frau das erste Opfer dieses Denkens ist. Die ausdrückliche Anerkennung der
personalen Würde der Frau ist der erste Schritt, um ihre volle Teilhabe am Leben der Kirche und
am öffentlichen und gesellschaftlichen Leben anzustreben. Die Aufforderung in Familiaris

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62
Consortio im Hinblick auf die vielen Diskriminierungen, denen die Frau zum Opfer fällt, muß noch
eine umfassendere und entschiedenere Antwort erhalten: »Ich bitte deshalb alle, durch einen
stärkeren und gezielteren spezifischen pastoralen Einsatz in dieser Richtung für ihre endgültige
Beseitigung zu wirken, damit das Bild Gottes, das in allen Menschen ausnahmslos widerstrahlt,
seine volle Würdigung findet«.(177) In derselben Linie haben die Synodenväter behauptet: »Als
ein Ausdruck ihrer Sendung muß die Kirche sich mit Entschiedenheit allen Formen der
Diskriminierung und des Mißbrauchs der Frau widersetzen«.(178) Und weiter: »Die Würde der
Frau, die in der öffentlichen Meinung schwer verletzt ist, muß durch die wahre Ehrfurcht vor den
Menschenrechten und durch die Anwendung der Soziallehre der Kirche wiederhergestellt
werden«.(179)
Schon das II. Vatikanische Konzil hat die aktive und verantwortliche Teilnahme der Frau an Leben
und Sendung der Kirche ausdrücklich empfohlen: »Da heute die Frauen eine immer aktivere
Funktion im ganzen Leben der Gesellschaft ausüben, ist es von großer Wichtigkeit, daß sie auch
an den verschiedenen Bereichen des Apostolates der Kirche wachsenden Anteil nehmen«.(180)
Das Bewußtsein, daß die Frau mit ihren eigenen Gaben und Aufgaben eine besondere Berufung
hat, hat sich in der nachkonziliaren Zeit vertieft und verbreitet. Es hat im Evangelium und in der
Kirchengeschichte seine ursprüngliche Inspirationsquelle gefunden. Für den Glaubenden bleibt
das Evangelium, das heißt das Wort und das Beispiel Jesu Christi notwendiges und
entscheidendes Kriterium, das auch im augenblicklichen historischen Moment fruchtbar und
erneuernd ist.
Wenn auch nicht zu dem Apostolat der Zwölf und somit zum Priesteramt berufen, begleiten viele
Frauen Jesus in seinem Dienst und stehen der Gruppe der Apostel bei (vgl. Lk 8, 2-3); unter dem
Kreuz sind sie präsent (vgl. Lk 23, 49); sie wohnen der Grablegung Jesu bei (vgl. Lk 23, 55) und
empfangen und verkündigen am Ostermorgen die Botschaft von der Auferstehung (vgl. Lk 24, 1-
10); sie beten im Coenaculum mit den Aposteln in der Pfingsterwartung (vgl. Apg 1, 14).
Auf den Spuren des Evangeliums nimmt die Urkirche Abstand von der Kultur ihrer Zeit, und sie
beruft die Frau zu bestimmten Aufgaben, die mit der Evangelisierung gegeben sind. Der Apostel
Paulus nennt in seinen Briefen auch mit Namen zahlreiche Frauen und ihre verschiedenen
Aufgaben innerhalb und im Dienst der ersten Gemeinden (vgl. Röm 16, 1-15; Phil 4, 2-3; Kol 4, 15
und 1 Kor 11, 5; 1 Tim 5, 16). »Wenn das Zeugnis der Apostel die Kirche begründet«, - sagte Paul
VI. - »trägt das der Frauen entscheidend dazu bei, den Glauben der christlichen Gemeinden zu
nähren«.(181)
Wie zu ihren Anfängen - wenn auch auf verschiedene Weise und mit anderen Akzentsetzungen -
hat die Kirche auch in ihrer späteren Entwicklung Frauen gekannt, die zuweilen eine
entscheidende Rolle gespielt und höchst bedeutende Aufgaben für sie erfüllt haben. Diese ist eine
Geschichte immensen Einsatzes, das oft im Verborgenen geschah, für das Wachstum und die

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63
Heiligkeit der Kirche deswegen aber nicht weniger entscheidend war. Diese Geschichte muß
fortgesetzt, erweitert und verdichtet werden angesichts des wachsenden und universell
verbreiteten Bewußtseins von der Personwürde der Frau und ihrer Berufung sowie der
Dringlichkeit einer neuen »Evangelisierung« und einer größeren »Humanisierung« der sozialen
Beziehungen.
Die Synodenväter haben den Auftrag des II. Vatikanischen Konzils, der die Botschaft des
Evangeliums und der Kirchengeschichte spiegelt, neu aufgenommen und unter anderem diese
ausdrückliche Empfehlung formuliert: »Die Kirche muß in ihrem Leben und in ihrer Sendung alle
Gaben der Frauen und der Männer anerkennen und sie in die Praxis umsetzen«.(182) Und weiter:
»Diese Synode verkündet, daß die Kirche um ihre Sendung besser erfüllen zu können, die
Anerkennung und den Einsatz aller dieser Gaben, Erfahrungen und Haltungen von Männern und
Frauen verlangt (vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instructio de libertate christiana et
liberatione, 72)«.(183)
Anthropologische und theologische Fundierungen
50. Voraussetzung für die Anerkennung der Präsenz der Frau in der Kirche und in der
Gesellschaft ist eine sorgsame und tiefer gehende Untersuchung der anthropologischen
Fundierung des Frauseins und des Mannseins. Dadurch muß die personale Identität der Frau in
ihrer Beziehung, Verschiedenheit und Komplementarität zum Mann präzisiert werden, und das
nicht nur im Hinblick auf die Rollen, die sie übernehmen, und die Aufgaben, die sie erfüllen soll,
sondern auch und tiefer noch im Hinblick auf ihre Struktur und auf ihre personale Bedeutung. Die
Synodenväter haben diese Notwendigkeit tief empfunden, als sie behaupteten, daß »die
theologischen und anthropologischen Fundamente für die Lösung der Probleme über die wahre
Bedeutung und die Würde beider Geschlechter vertieft werden müssen«.(184)
Die Kirche führt Überlegungen aus über die anthropologischen und theologischen
Grundgegebenheiten des Frauseins und bringt sich somit ein in den geschichtlichen Prozeß der
verschiedenen Bewegungen für die Förderung der Frau. Weil sie dabei vorstößt bis zu den
Wurzeln des Personseins der Frau, hat die Kirche einen wertvollen Beitrag zu geben. Vor allem
will sie aber Gott gehorchen, der den Menschen »nach seinem Bild« als »Mann und Frau«
geschaffen hat (Gen 1, 27). Sie will auch den Ruf Gottes aufnehmen, seinen Plan zu kennen, zu
bewundern und zu leben. Dieser Plan wurde »am Anfang« unauslöschlich in das Sein des
Menschen - Mann und Frau - und somit auch in seine bedeutsamsten Strukturen und seine tiefste
Dynamik eingeschrieben. Dieser weise Liebesplan muß mit dem vollen Reichtum seines Inhaltes
erschlossen werden: Es ist der Reichtum des »Anfanges«, der sich nach und nach in der
Heilsgeschichte geoffenbart und aktualisiert und in der »Fülle der Zeit« seinen Höhepunkt
gefunden hat, als Gott seinen Sohn sandte, »geboren von einer Frau« (Gal 4, 4).
Diese »Fülle« setzt sich in der Geschichte fort. Im Glauben der Kirche muß die Deutung von

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Gottes Plan über die Frau immer neu auch durch das Leben vieler christlicher Frauen
vorgenommen werden. Dabei darf der Beitrag, den die verschiedenen Humanwissenschaften und
Kulturen einbringen können, nicht vergessen werden. Diese vermögen durch sorgfältige
Unterscheidung dazu beizutragen, die Werte und Rechte, die zum unveränderlichen Wesen der
Frau gehören, von denen, die durch die geschichtliche Entwicklung der Kulturen gegeben sind, zu
unterscheiden. Das II. Vatikanische Konzil erinnert uns daran, daß, wie die Kirche glaubt, »allen
Wandlungen vieles Unwandelbare zugrunde liegt, was seinen letzten Grund in Christus hat, der
derselbe ist gestern, heute und in Ewigkeit (vgl. Hebr 13, 8)«.(185)
Das Apostolische Schreiben über Würde und Berufung der Frau behandelt die anthropologischen
und theologischen Grundlagen ihrer Personwürde als Frau. Das Dokument nimmt die Thematik
der »Theologie des Leibes«, die über längere Zeit in den Mittwochskatechesen behandelt wurde,
wieder auf, führt diese Überlegungen weiter und wendet sie spezifisch an. Es möchte ein
Versprechen der Enzyklika Redemptoris Mater (186) erfüllen und zugleich auf die Bitte der
Synodenväter eingehen.
Das Studium des Apostolischen Schreibens Mulieris Dignitatem kann schon allein wegen seines
Charakters als biblisch-theologische Meditation alle - Männer und Frauen, vor allem aber die
Humanwissenschaftler und Fachleute der theologischen Disziplinen - dazu motivieren, ihre
kritische Forschung fortzusetzen. Ausgehend von der Personwürde des Mannes und der Frau und
ihres gegenseitigen Verhältnisses, können sie spezifische Gaben und Werte des Frauseins und
Mannseins nicht nur im gesellschaftlichen Bereich, sondern auch im Bereich der christlichen und
sozialen Existenz besser zu erkennen versuchen.
Die Betrachtung über die anthropologischen und theologischen Grundgegebenheiten des
Frauseins will die christliche Antwort auf die wiederholte und zuweilen akute Frage nach dem
»Raum«, den die Frau in der Kirche und in der Gesellschaft einnehmen kann, beleuchten.
Aus dem Wort und Verhalten Christi, die für die Kirche Norm sind, geht eindeutig hervor, daß auf
der Ebene des Verhältnisses zu Christus keine Diskriminierung vorhanden ist. In ihm ist »nicht
Mann und Frau; denn ihr alle seid "einer" in Christus Jesus« (Gal 3, 28). Dasselbe gilt auf der
Ebene der Teilhabe am Leben und an der Heiligkeit der Kirche, wie die an Pfingsten erfüllte
Prophezeiung des Joel es auf herrliche Weise bezeugt: »Danach aber wird es geschehen, daß ich
meinen Geist ausgieße über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein« (Joel
3, 1; vgl. Apg 2, 17 ff). Im Apostolischen Schreiben über Würde und Berufung der Frau ist zu
lesen: »beide - die Frau wie der Mann - ... sind ... in gleichem Maße empfänglich für das
Geschenk der göttlichen Wahrheit und der Liebe im Heiligen Geist. Beide empfangen seine
heilbringenden und heiligmachenden "Heimsuchungen"«.(187)
Sendung in der Kirche und in der Welt

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51. Was die Teilhabe an der apostolischen Sendung der Kirche anbelangt, besteht kein Zweifel
darüber, daß die Frau - wie der Mann - aufgrund von Taufe und Firmung Anteil hat am dreifachen
Amt Christi, des Priesters, Propheten und Königs und so zum fundamentalen Apostolat der
Kirche, zur Evangelisierung befähigt und verpflichtet ist. Andererseits ist die Frau berufen, bei der
Erfüllung dieses Apostolates ihre eigenen »Gaben« einzubringen: zunächst durch das Wort und
das Zeugnis des Lebens die Gabe ihrer Personwürde und sodann die Gaben, die mit ihrer
fraulichen Berufung gegeben sind. In ihrer Teilhabe am Leben und an der Sendung der Kirche
kann die Frau das Sakrament des Ordo nicht empfangen, und somit die Funktionen, die dem
Amtspriestertum vorbehalten sind, nicht erfüllen. Diese Bestimmung hat die Kirche immer aus
dem eindeutigen, freien und souveränen Willen Jesu Christ, der nur Männer zu seinen Aposteln
berufen hat, herausgelesen,(188) eine Bestimmung, die das Verhältnis Christi, des Bräutigams, zu
seiner Kirche, seiner Braut, erhellen kann.(189) Wir befinden uns hier auf der Ebene der Funktion
und nicht auf der Ebene der Würde und der Heiligkeit.
Von der Kirche gilt: »Sie besitzt zwar eine "hierarchische" Struktur; doch diese ist ganz für die
Heiligkeit der Glieder Christi bestimmt«.(190)
Wie schon Paul VI. sagte, »können wir das Verhalten unseres Herrn und die Berufung, die er den
Frauen gegeben hat, nicht verändern. Aber wir müssen die Aufgabe der Frau in der Sendung der
Evangelisierung und im Leben der christlichen Gemeinde erkennen und fördern«.(191)
Es ist notwendig, von der theoretischen Erkenntnis einer aktiven und verantwortlichen Präsenz der
Frau in der Kirche zur praktischen Verwirklichung fortzuschreiten. Dieses Schreiben, das sich
bewußt mit der wiederholten Präzisierung »Männer und Frauen« an die Laien wendet, muß in
diesem Sinn gelesen werden. Das neue Kirchenrecht enthält verschiedene Bestimmungen über
die Teilnahme der Frau am Leben und an der Sendung der Kirche. Sie müssen allgemeiner
bekannt und unter Berücksichtigung der verschiedenen kulturellen Sensibilitäten sowie pastoralen
Opportunitäten unmittelbarer und konsequenter angewandt werden. Man denke dabei zum
Beispiel an die Teilnahme von Frauen an Diözesan- und Pfarrpastoralräten sowie an
Diözesansynoden und Teilkonzilien. In diesem Sinn haben die Synodenväter geschrieben: »Die
Frauen sollen ohne jegliche Diskriminierung auch bei Konsultationen und bei der Erarbeitung von
Entscheidungen am Leben der Kirche teilnehmen«.(192) Und weiter: »Die Frauen, denen bei der
Weitergabe des Glaubens und bei allen Arten von Diensten im Leben der Kirche eine bedeutende
Aufgabe zukommt, müssen bei der Vorbereitung von Pastoraldokumenten und von
missionarischen Initiativen herangezogen werden. Sie sollen in Familie, Beruf und in der
bürgerlichen Gemeinschaft als Mitarbeiterinnen an der Sendung der Kirche anerkannt
werden«.(193)
Auf den spezifischen Gebieten der Evangelisierung und der Katechese muß die besondere
Aufgabe der Frau bei der Weitergabe des Glaubens nicht nur in der Familie, sondern auch an den
verschiedenen Orten, an denen Erziehung geschieht, gefördert werden. Darüber hinaus muß in

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allem, was das Aufnehmen von Gottes Wort, sein Verständnis und seine Weitergabe betrifft - auch
durch Studium, Forschung und Lehren der Theologie -, der spezifische Beitrag der Frau
aufgewertet werden.
Wenn sie ihre Aufgabe in der Evangelisierung erfüllt, spürt die Frau ein größeres Bedürfnis,
evangelisiert zu werden. Mit den erleuchteten »Augen des Herzens« (vgl. Eph 1, 18) kann sie das,
was wahrhaft ihrer Personwürde und Berufung entspricht, erkennen. Sie vermag, es von all dem
zu unterscheiden, was sie - vielleicht unter dem Vorwand dieser »Würde« und im Namen der
»Freiheit« und des »Fortschrittes« - veranlaßt, sich für die moralische Degradierung der
Menschen und Gesellschaften verantwortlich zu machen, anstatt der Förderung der authentischen
Werte zu dienen. Eine solche »Unterscheidung« stellt eine unaufschiebbare historische
Notwendigkeit dar. Sie ist zugleich Chance und Forderung der Teilhabe der Frau am
prophetischen Amt Christi und seiner Kirche. Die »Unterscheidung«, von der der Apostel Paulus
oft spricht, besteht nicht nur in der Bewertung der Wirklichkeiten und der Geschehnisse im Licht
des Glaubens; sie schließt auch Entscheidung und Verpflichtung zum konkreten Engagement in
Kirche und Gesellschaft ein.
Man kann heute sagen, daß alle Probleme der modernen Welt, von denen schon im zweiten Teil
der Konzilskonstitution Gaudium et Spes die Rede ist, und die die Zeit in der Tat weder gelöst
noch verringert hat, die Präsenz und das Engagement der Frauen mit ihrem typischen und
unersetzlichen Beitrag fordern.
Vor allem zwei große, der Frau anvertraute Aufgaben verdienen die besondere Aufmerksamkeit
aller.
Zunächst die Aufgabe, dem Eheleben und der Mutterschaft die volle Würde zu verleihen. Heute
werden der Frau neue Möglichkeiten geschenkt, zu einem tieferen Verständnis und einer volleren
Realisierung der menschlichen und christlichen Werte, die das Eheleben und die Erfahrung der
Mutterschaft schenken, zu gelangen. Auch der Mann - der Ehemann und der Vater - kann von
einem weitgehenden Absentismus und einer sporadischen und unzureichenden Präsenz Abstand
nehmen. Er kann sich gerade durch das gezielte, liebevolle und entscheidende Tun der Frau in
neue und bedeutungsträchtige Beziehungen einer interpersonalen Gemeinschaft einlassen.
Ferner die Aufgabe, die moralische Dimension der Kultur zu sichern, die Dimension einer Kultur,
die des Menschen, seines persönlichen und gesellschaftlichen Lebens würdig ist. Das II.
Vatikanische Konzil scheint die moralische Dimension der Kultur mit der Teilhabe der Laien an der
königlichen Sendung Christi zu verbinden: »Außerdem sollen die Laien, auch in Zusammenarbeit,
die Einrichtungen und Verhältnisse der Welt, da wo Gewohnheiten zur Sünde aufreizen, so zu
heilen suchen, daß dies alles nach der Norm der Gerechtigkeit umgestaltet wird und der
Ausübung der Tugenden eher förderlich als schädlich ist. Auf diese Weise erfüllen sie die Kultur
und die menschlichen Leistungen mit sittlichem Wert«.(194)

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67
In dem Maß, als die Frau aktiv und verantwortlich an den Aufgaben der Institutionen teilnimmt, von
denen die Gewährleistung des Primates der menschlichen Werte im Leben der politischen
Gemeinschaften abhängt, weisen die Aussagen des Konzils auf ein bedeutsames Apostolatsfeld
der Frau. In allen Dimensionen des Lebens dieser Gemeinschaft, angefangen von der
gesellschafts-wirtschaftlichen bis hin zur soziopolitischen, müssen Personwürde der Frau und ihre
spezifische Berufung respektiert und gefördert werden: auf individueller und gemeinschaftlicher
Ebene, nicht nur in Formen, die der verantwortlichen Freiheit der einzelnen überlassen werden,
sondern auch in den gesicherten Formen gerechter bürgerlicher Gesetzgebung.
»Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht«
(Gen 2, 18). Gott, der Schöpfer, hat den Menschen der Frau anvertraut. Gewiß ist der Mensch
jedem Menschen anvertraut, aber auf besondere Weise der Frau. Denn sie scheint von der
besonderen Erfahrung der Mutterschaft her eine spezifische Sensibilität für den Menschen und für
alles, was sein wahres Wohl ausmacht, angefangen vom fundamentalen Wert des Lebens zu
besitzen.
Die Chancen und die Verantwortung der Frau auf diesem Gebiet sind groß, gerade in einer Zeit, in
der der Fortschritt von Wissenschaft und Technik nicht immer von der wahren Weisheit inspiriert
und an ihr gemessen wird. Er schließt das Risiko der »Dehumanisierung« des menschlichen
Lebens ein, vor allem dann, wenn es einer noch größeren Liebe und hochherzigeren Aufnahme
bedürfen würde.
Die Teilnahme der Frau mit ihren Gaben am Leben der Kirche und Gesellschaft ist notwendiger
Weg zu ihrer persönlichen Verwirklichung, auf die man heute mit Recht besteht. Sie ist zugleich
ihr origineller Beitrag zur Bereicherung der communio der Kirche und der apostolischen Kraft des
Volkes Gottes.
In diesem Sinn muß auch die Präsenz des Mannes an der Seite der Frau bedacht werden.
Mitwirkung und Präsenz von Männern und Frauen
52. Die Stimme derer, die fürchten, eine zu große Betonung auf Ort und Aufgabe der Frau könne
zu der unannehmbaren Tatsache führen, die Männer in Vergessenheit geraten zu lassen, hat in
der Synodenaula nicht gefehlt. In einigen bestimmten Situationen des Lebens der Kirche muß oft
die zu schwache Präsenz der Männer bedauert werden. Einige von ihnen verzichten auf die
eigene Verantwortung in der Kirche, so daß diese nur von Frauen wahrgenommen wird; so zum
Beispiel bei der Teilnahme am liturgischen Gebet in der Kirche, bei Erziehung und insbesondere
bei der Katechese der eigenen und anderer Kinder, bei der Teilnahme an religiösen und
kulturellen Veranstaltungen, bei der Mitarbeit an karitativen und missionarischen Initiativen.
Pastoral ist deswegen, auf eine gemeinsame Präsenz von Männern und Frauen hinzuarbeiten,

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68
damit die Teilnahme der Laien an der Heilssendung der Kirche voller, harmonischer und reicher
werde.
Der Hauptgrund, der die gemeinsame Präsenz und Mitarbeit von Männern und Frauen nahelegt,
ist nicht nur, wie eben hervorgehoben, die größere Überzeugungskraft und Wirksamkeit des
pastoralen Tuns der Kirche. Noch weniger ist es die soziologische Gegebenheit eines
menschlichen Miteinanders, das naturgemäß Männer und Frauen einschließt. Der Hauptgrund
liegt vielmehr im ursprünglichen Plan des Schöpfers, der von »Anfang« an den Menschen als
»Einheit der zwei« gewollt hat: Mann und Frau als erste Persongemeinschaft, die Wurzel aller
anderen Gemeinschaften und zugleich »Zeichen« jener interpersonalen Liebesgemeinschaft, die
das geheimnisvolle intime Leben des einen und Dreifaltigen Gottes ist.
Der gängige und fundamentale Weg, um die koordinierte und harmonische Präsenz von Männern
und Frauen im Leben und in der Sendung der Kirche zu sichern, ist darum die Erfüllung der
Aufgaben und Verantwortungen der christlichen Ehe und Familie. In ihr werden die
Verschiedenheit und Vielfalt der Formen des Lebens und der Liebe sichtbar und mitteilbar:
Eheliebe, Vaterliebe, Mutterliebe, Kindesliebe und geschwisterliche Liebe. Im Apostolischen
Schreiben Familiaris Consortio lesen wir: »Wenn die christliche Familie eine Gemeinschaft ist,
deren innere Bindungen von Christus durch den Glauben und die Sakramente auf eine neue
Ebene erhoben sind, muß ihre Teilnahme an der Sendung der Kirche eine gemeinschaftliche Note
tragen. Gemeinsam also, die Gatten als Ehepaar und die Eltern mit den Kindern als Familie,
müssen sie ihren Dienst für Kirche und Welt vollziehen ...
Die christliche Familie erbaut das Reich Gottes in der Geschichte ferner durch dieselben täglichen
Wirklichkeiten, die ihre besondere Lebenssituation betreffen und prägen. So ist es gerade die
Liebe in Ehe und Familie mit ihrem außerordentlichen Reichtum an Werten und Aufgaben, im
Zeichen der Ganzheit und Einmaligkeit, der Treue und der Fruchtbarkeit, durch die sich die
Teilnahme der christlichen Familie an der prophetischen, priesterlichen und königlichen Sendung
Jesu Christi und seiner Kirche ausdrückt und verwirklicht«.(195)
In dieser Perspektive haben die Synodenväter die Notwendigkeit betont, daß die volle Bedeutung
des Ehesakramentes in Kirche und Gesellschaft anerkannt werden muß, um alle Beziehungen
zwischen Mann und Frau zu erhellen und zu inspirieren. Sie meinten in diesem Sinn, es sei
dringend notwendig, »daß jeder Christ die Botschaft der Hoffnung, die in der Beziehung zwischen
Mann und Frau eingeschlossen ist, lebt und kündet. Das Ehesakrament, das diese Beziehung in
der ehelichen Form weiht und als Zeichen der Beziehung zwischen Christus und seiner Kirche
offenbart, enthält eine für das Leben der Kirche bedeutende Lehre; durch die Kirche muß diese
Lehre die Welt von heute erreichen; alle Beziehungen zwischen Mann und Frau müssen sich aus
diesem Geist inspirieren. Die Kirche muß diesen Reichtum noch tiefer ausloten«.(196) Die Väter
haben mit Recht bemerkt, daß die »Wertschätzung der Jungfräulichkeit und die Ehrfurcht vor der
Mutterschaft neu entdeckt werden müssen«; (197) und das nicht zuletzt im Hinblick auf die

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Erweckung von verschiedenen und komplementären Berufungen in der lebendigen Gemeinschaft
der Kirche und im Dienst ihres ständigen Wachstums.
Kranke und Leidende
53. Der Mensch ist zur Freude berufen, erfährt aber täglich auf vielfältige Weise Leid und
Schmerz. An alle, Männer und Frauen, die auf irgendeine Weise von Leid und Schmerz getroffen
sind, haben die Synodenväter sich in ihrer Schlußbotschaft gerichtet: »Ihr, die ihr von unserer
konsumistischen Gesellschaften verlassen und an den Rand gedrückt seid: Ihr Kranke,
Auswanderer, Behinderte, Arme, Hungernde, Randgruppen, Flüchtlinge, Gefangene, Arbeitslose,
alte Menschen, verlassene Kinder und Vereinsamte, ihr, Kriegsopfer und Opfer aller Formen von
Gewalt, die unsere permissive Gesellschaft hervorgebracht hat. Die Kirche nimmt Anteil an eurem
Leid, das euch zum Herrn führt, das euch mit seinem heilbringenden Leiden vereinigt und euch im
Licht seiner Erlösung leben läßt. Wir verlassen uns auf euch, um der Welt zu zeigen, was die
Liebe ist. Wir werden unser Möglichstes tun, damit ihr den Platz einnehmen könnt, der euch in der
Kirche und in der Gesellschaft zusteht«.(198)
Im Rahmen dieser schier grenzenlosen Welt des menschlichen Leidens wenden wir uns
besonders all denen zu, die von verschiedenen Krankheiten getroffen sind. Krankheit ist die
häufigste und weit verbreitetste Form menschlichen Leidens.
Der Ruf des Herrn trifft alle und jeden einzelnen. Auch die Kranken sind als Arbeiter in seinen
Weinberg gesandt. Die Last, die den Körper schwächt und die innere Ruhe nimmt, hindert sie
nicht daran, im Weinberg zu arbeiten. Sie fordert sie auf, ihre menschliche und christliche
Berufung zu leben und auf neue, noch wertvollere Weise am Wachstum des Reiches
teilzunehmen. Sie müssen sich die Worte des Apostels Paulus zum Programm machen, Worte,
die Licht schenken, um die gnadenhafte Bedeutung ihrer Situation zu erkennen: »Für den Leib
Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch
fehlt« (Kol 1, 24). Diese Entdeckung erfüllt den Apostel mit Freude: »Jetzt freue ich mich der
Leiden, die ich für euch ertrage« (Kol 1, 24). In ähnlicher Weise können viele Kranke »trotz großer
Bedrängnis« zu Trägern der Freude, »die der Heilige Geist gibt« (1 Thess 1, 6), und zu Zeugen
der Auferstehung Christi werden. Das hat ein Behinderter in der Synodenaula zum Ausdruck
gebracht: »Es muß hervorgehoben werden, daß die Christen, deren Leben Krankheit, Schmerz
oder hohes Alter zeichnet, von Gott nicht nur dazu aufgefordert werden, ihren Schmerz mit dem
Leiden Christi zu vereinen, sondern auch dazu berufen sind, jetzt schon die erneuernde Kraft und
die Freude des auferstandenen Christus aufzunehmen und anderen weiterzugeben (vgl. 2 Kor 4,
10-11; 1 Petr 4, 13; Röm 8, 18 ff.)«.(199)
Die Kirche ihrerseits, die - wie in dem Apostolischen Schreiben Salvifici Doloris zu lesen ist - »aus
dem Geheimnis der Erlösung im Kreuz Christi geboren wird, muß die Begegnung mit dem
Menschen vor allem auf dem Weg seines Leidens suchen. Bei dieser Begegnung wird der

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Mensch »der Weg der Kirche«; und dieser Weg gehört zu ihren bedeutendsten Wegen«.(200)
Der leidende Mensch ist der Weg der Kirche, weil er vor allem der Weg Christi selbst, des guten
Samariters ist, der nicht »weitergeht«, sondern aus Mitleid »zu ihm hinging ... seine Wunden ...
verband« und für ihn sorgte (Lk 10, 32-34).
Die christliche Gemeinschaft hat von Jahrhundert zu Jahrhundert in den großen Scharen der
Kranken und Leidenden das Gleichnis des guten Samariters aus dem Evangelium neu
geschrieben. Sie hat die heilende und tröstende Liebe Jesu geoffenbart und weitergegeben durch
das Zeugnis des gottgeweihten Lebens, das sich dem Dienst der Kranken widmet, und durch den
unermüdlichen Einsatz aller, die im Gesundheitswesen arbeiten. Heute stellen auch in den
katholischen Krankenhäusern und Kliniken die Laien, Männer und Frauen, die immer stärkere und
zuweilen einzige Präsenz dar. Gerade sie, die Ärzte, Krankenpfleger, Pflegehelfer, freiwillige
Helfer sind dazu berufen, in der Liebe zu den Kranken und Leidenden ein lebendiges Abbild
Christi und seiner Kirche zu sein.
Erneuertes pastorales Wirken
54. Dieses kostbare Erbe, das die Kirche von Christus, dem »Arzt des Leibes und des
Geistes«(201) empfangen hat, darf nie verloren gehen. Es ist durch eine Erneuerung und einen
entschiedenen Neuanfang in der Pastoral für die Kranken und Leidenden ständig aufzuwerten und
zu bereichern.
Dieser Einsatz muß den Menschen, die wegen Krankheit und Leid schwere Prüfungen ihres
Lebensmutes und selbst ihres Glaubens an Gott und seine Vaterliebe durchzustehen haben,
Aufmerksamkeit, Nähe, Präsenz, Aufgeschlossenheit, Dialog, Teilnahme und konkrete Hilfe
bringen. Dieser pastorale Neubeginn findet seinen bedeutungsträchtigsten Ausdruck in der Feier
der Sakramente mit den Kranken und für die Kranken. Sie schenkt den an Schmerz und
Schwäche Leidenden Kraft, bringt in der Verzweiflung Hoffnung und ist Ort der Begegnung und
der Freude.
Eine der wichtigsten Ziele dieses erneuten und intensiven pastoralen Einsatzes, das die
koordinierte Mitwirkung aller Glieder der Gemeinde erfordert, liegt darin, im Kranken, Behinderten
und Leidenden nicht nur den Adressaten der Liebe und des Dienstes der Kirche zu sehen,
sondern aktives und verantwortliches Subjekt des Werkes der Evangelisierung und des Heils. In
diesem Sinn hat die Kirche den Gesellschaften und Kulturen eine frohe Botschaft zu verkünden:
Diese haben den Sinn des menschlichen Leidens vergessen und unterbinden jeden Hinweis auf
diese harte Lebensrealität. Die frohe Botschaft besteht in der Verkündigung, daß das Leid für den
Menschen und die Gesellschaft auch einen positiven Sinn hat. Weil es bestimmt ist, Teilhabe am
heilbringenden Leiden Christi und an seiner Auferstehungsfreude zu werden, wird es für die
Kirche zur heiligenden Kraft, die ihrem Aufbau dient.

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8.1 Page 71

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71
Die Verkündigung dieser frohen Botschaft ist dann glaubwürdig, wenn sie nicht allein durch das
gesprochene Wort, sondern durch das Zeugnis des Lebens geschieht, das heißt all jener, die
Kranke, Behinderte und Leidende mit Liebe pflegen. Sie wird auch durch das Zeugnis Letzterer
glaubwürdig, wenn sie ihren Ort und ihre Aufgabe in der Kirche und für die Kirche entdecken.
Zum Werden der »Zivilisation der Liebe« in der immensen Welt des menschlichen Leidens kann
eine erneute Betrachtung des Apostolischen Schreibens Salvifici Doloris entscheidend beitragen.
Wir möchten hier an seinen Schlußabschnitt erinnern: »Darum sollen unter dem Kreuz auf
Kalvaria in geistiger Weise alle Leidenden zusammenkommen, die an Christus glauben, vor allem
jene, die gerade wegen ihres Glaubens an den Gekreuzigten und Auferstandenen zu leiden
haben: Das Opfer ihrer Leiden soll uns der Erfüllung der Gebete des Heilandes für die Einheit aller
näherbringen (vgl. Joh 17, 11. 12-22). Dorthin sollen alle Menschen guten Willens kommen; denn
am Kreuz hängt der "Erlöser des Menschen", der Mann der Schmerzen, der die leiblichen und
moralischen Leiden der Menschen aller Zeiten auf sich genommen hat, damit sie in der Liebe den
heilbringenden Sinn ihres Schmerzes und gültige Antworten auf alle ihre Fragen finden können.
Zusammen mit Maria, der Mutter Christi, die unter dem Kreuz stand (vgl. Joh 19, 25), halten wir an
allen Kreuzen des heutigen Menschen inne.
Und wir bitten euch alle, die ihr leidet, uns zu unterstützen. Gerade euch, die ihr schwach seid,
bitten wir, zu einer Kraftquelle für die Kirche und für die Menschheit zu werden. Möge in dem
schrecklichen Kampf zwischen den Kräften des Guten und des Bösen, der sich vor uns in der
heutigen Welt abspielt, euer Leiden in Einheit mit dem Kreuze Christi siegen«.(202)
Lebensstände und Berufungen
55. Alle Glieder des Volkes Gottes, Priester, Ordensleute und Laien, sind Arbeiter im Weinberg:
Alle sind zugleich Adressaten und Subjekte der communio der Kirche und der Teilhabe an ihrer
Heilssendung. Alle und jeder einzelne arbeiten mit verschiedenen komplementären Charismen
und Diensten in dem einen und gemeinsamen Weinberg.
Mehr noch als auf der Ebene des Wirkens sind die Christen schon auf der Ebene des Seins
Reben des einzigen fruchtbaren Weinstocks, der Christus ist. Sie sind lebendige Glieder des
einen Leibes des Herrn, der sich in der Kraft des Geistes aufbaut. Diese Seinsebene umfaßt nicht
nur das Leben der Gnade und der Heiligkeit, das erste und reichste Quelle der apostolischen und
missionarischen Fruchtbarkeit der heiligen Mutter Kirche ist. Sie umfaßt auch den Lebensstand
der Priester und der Diakone, den der Ordensleute, der Mitglieder von Säkularinstituten und der
Laien.
In der Kirche als communio sind die Lebensstände derart aufeinander bezogen, daß sie
aufeinander ausgerichtet sind.

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Der tiefste Sinn der verschiedenen Lebensstände ist nur einer und allen gemeinsam: Ihnen allen
ist aufgegeben, eine Modalität darzustellen, nach der die gleiche christliche Würde und die
Berufung zur Heiligkeit in der Vollkommenheit der Liebe gelebt werden. Diese Modalitäten sind
zugleich verschieden und komplementär. So hat jede von ihnen eigene und unverwechselbare
Züge und steht doch in Beziehung zu den anderen und in ihrem Dienst.
Der Laienstand hat im Weltcharakter seine Spezifizität. Er dient der Kirche dadurch, daß er den
Stellenwert der irdischen Wirklichkeiten im Heilsplan Gottes Priestern und Ordensleuten bezeugt
und präsent macht. Das Amtspriestertum repräsentiert die bleibende Garantie der sakramentalen
Präsenz Christi, des Erlösers, zu allen Zeiten und an allen Orten. Der Ordensstand gibt Zeugnis
vom eschatologischen Charakter der Kirche, das heißt von ihrem Ausgerichtet-Sein auf das Reich
Gottes, das durch die Gelübde der Jungfräulichkeit, der Armut und des Gehorsams in gewisser
Weise vorweggenommen und gekostet wird.
Alle Lebensstände, zusammen oder einzeln genommen und in ihrer Beziehung zueinander
betrachtet, stehen im Dienst des Wachstums der Kirche und stellen verschiedene Modalitäten dar,
die ihre Einheit zutiefst »im Geheimnis der communio« der Kirche finden. Sie müssen bei der
Erfüllung der einen Sendung harmonisch und dynamisch zusammenwirken.
In der Verschiedenheit der Lebensstände und in der Vielfalt der Berufungen enthüllt und erlebt das
einzige und bleibende Geheimnis der Kirche aufs Neue den unendlichen Reichtum des
Geheimnisses Jesu Christi. Wie die Väter es gerne wiederholen, ist die Kirche wie ein Feld, auf
dem eine faszinierende und wunderbare Vielfalt von Kräutern, Pflanzen, Blumen und Früchten
wächst. Der heilige Ambrosius schreibt: »Ein Feld kann viele Früchte geben, aber ein an Früchten
und Blumen reiches Feld ist besser. Das Feld der heiligen Kirche ist reich an den einen wie an
den anderen. Hier kannst du die Edelsteine der Jungfräulichkeit Blumen tragen sehen, dort die
Herrschaft der Witwen, streng wie die Wälder auf den Ebenen; wieder weiter die reiche Ernte der
Ehen, die die Kirche gesegnet hat, die die Kammern der Welt mit reicher Ernte füllt und die Kelter
des Herrn Jesus überfließen läßt, wie gefüllt mit Früchten des lebenskräftigen Weinstocks, mit den
Früchten, mit denen die christlichen Ehen reich gesegnet sind«.(203)
Die verschiedenen Berufungen der Laien
56. Die reiche Vielfalt der Kirche kommt innerhalb eines jeden Lebensstandes nochmals zum
Ausdruck. Der Laienstand kennt verschiedene »Berufungen«, das heißt verschiedene geistliche
und apostolische Wege, die sich den einzelnen Laien anbieten. Aus dem Strom der gemeinsamen
»Berufung« der Laien erwachsen »besondere« Berufungen von Laien. Wir können auf diesem
Gebiet die geistliche Erfahrung in Erinnerung rufen, die jüngst in der Kirche mit dem Entstehen
verschiedener Formen von Säkularinstituten herangereift ist. Laien und Priestern ist die
Möglichkeit gegeben, die evangelischen Räte der Armut, der Jungfräulichkeit und des Gehorsams
durch Gelübde oder Versprechen zu befolgen, ohne ihren Priester oder Laienstand zu

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73
verlassen.(204) Wie die Synodenväter hervorgehoben haben, »weckt der Geist andere Formen
der Selbsthingabe, die Menschen vollziehen können, ohne den Laienstand zu verlassen«.(205)
Wir können zum Abschluß dieser Überlegung eine wunderbare Passage des heiligen Franz von
Sales, der die Spiritualität der Laien so sehr gefördert hat,(206) anfügen. Im Rahmen seiner
Aussagen über die »Frömmigkeit«, das heißt der christlichen Vollkommenheit oder des »Lebens
nach dem Geist«, stellt er auf einfache und wunderbare Weise die Heiligkeit und die Art und
Weise, auf die die einzelnen Christen sie verwirklichen, dar: »Gott hat bei der Schöpfung die
Pflanzen geheißen, jede nach ihrer Art Früchte zu bringen (vgl. Gen 1, 11). Dieselbe Aufforderung
richtet er an die Christen, die lebendige Pflanzen seiner Kirche sind, damit sie Früchte der
Frömmigkeit bringen, ein jeder gemäß seinem Stand und seiner Situation. Der Edelmann muß die
Frömmigkeit anders üben als der Arbeiter, der Diener, der Prinz, die Witwe, die unverheiratete
Frau und die verheiratete Frau. Das aber ist nicht genug. Die Übung der Frömmigkeit muß auch
an die Kräfte, an die Verpflichtungen und Pflichten eines jeden angepaßt sein ... Es ist ein Fehler,
ja eine Häresie, die Frömmigkeit aus dem Milieu des Militärs, der Werkstatt, der Königshöfe, der
Familien ausschließen zu wollen. Es ist wahr, Philotea, die rein kontemplative, monastische und
religiöse Berufung kann nur in diesen jeweiligen Ständen verwirklicht werden. Aber über diese drei
Formen der Frömmigkeit hinaus bestehen viele andere, die denjenigen, die als Laien leben, zur
Vollkommenheit verhelfen können. Darum müssen und können wir, wo auch immer wir uns
befinden, nach der Vollkommenheit des Lebens streben«.(207)
Im gleichen Sinn schreibt das II. Vatikanische Konzil: »Dieses geistliche Leben der Laien muß
vom Stand der Ehe und der Familie, der Ehelosigkeit oder Witwenschaft, aus der Situation einer
Krankheit, vom beruflichen oder gesellschaftlichen Wirken her ein besonderes Gepräge
annehmen. Die Laien mögen darum nicht aufhören, jene ihnen verliehenen Eigenschaften und
Gaben mit Bedacht auszubilden, die diesen Lebenslagen entsprechen, und auch die ihnen je
eigenen Gnadengaben zu gebrauchen, die sie vom Heiligen Geist empfangen haben«.(208)
Was von den geistlichen Berufungen gilt, gilt auch und in einem gewissen Sinn auf noch zu
treffendere Weise von den endlosen und verschiedenen Modalitäten, nach denen alle und die
einzelnen Glieder der Kirche als Arbeiter im Weinberg des Herrn arbeiten und den mystischen
Leib Christi auferbauen. Jeder ist in der Tat bei seinem Namen berufen, in der Einmaligkeit und
der Unwiederholbarkeit seiner persönlichen Geschichte seinen eigenen Beitrag für das Kommen
des Reiches Gottes zu bringen. Kein Talent, auch nicht das geringste, kann verborgen und
ungebraucht bleiben (vgl. Mt 25, 24-27).
Der Apostel Petrus mahnt uns: »Dient einander als gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes,
jeder mit der Gabe, die er empfangen hat« (1 Petr 4, 10).
FÜNFTES KAPITEL

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74
DAMIT IHR MEHR FRUCHT BRINGT
Erziehung und Ausbildung der Laien
Ständiges Reifen
57. Das biblische Bild des Weinstocks und der Reben enthüllt uns einen anderen wesentlichen
Aspekt des Lebens und der Sendung der Laien: die Berufung, zu wachsen und ständig zu reifen,
immer mehr Frucht zu bringen.
Als wachsamer Winzer sorgt der Vater für seinen Weinberg. Die sorgende Gegenwart Gottes wird
von Israel innig erfleht, wenn es betet: »Gott der Heerscharen, wende dich uns wieder zu! Blicke
vom Himmel herab, und sieh auf uns! Sorge für diesen Weinstock und für den Garten, den deine
Rechte gepflanzt hat« (Ps 80, 15-16). Jesus selbst spricht vom Werk des Vaters: »Ich bin der
wahre Weinstock, und mein Vater ist der Winzer. Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt,
schneidet er ab, und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt« (Joh 15,
1-2).
Die Lebendigkeit der Reben ist gegeben mit ihrer Verwurzelung im Weinstock, der Jesus Christus
ist: »Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht, denn getrennt von mir könnt
ihr nichts vollbringen« (Joh 15, 5).
Der Mensch wird in seiner Freiheit vom Ruf Gottes getroffen, zu wachsen, zu reifen, Frucht zu
bringen. Er kommt nicht umhin, zu antworten und seine persönliche Verantwortung zu
übernehmen. Es ist eine schwere und faszinierende Verantwortung, auf die sich die ernsten Worte
Jesu beziehen: »Wer nicht in mir bleibt, wird wie die Rebe weggeworfen, und er verdorrt. Man
sammelt die Reben, wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen« (Joh 15, 6).
Aus diesem Dialog zwischen Gott, der ruft, und dem Menschen, der angerufen wird, ergibt sich die
Möglichkeit, ja die Notwendigkeit einer umfassenden, ständigen Erziehung und Ausbildung der
Laien. Sie stellte berechtigterweise einen wesentlichen Teil der Arbeit der Synodenväter dar.
Nachdem sie die christliche Erziehung und Ausbildung als »einen ständigen persönIichen Prozeß
der Ausreifung im Glauben und der Gleichförmigkeit mit Christus nach dem Willen des Vaters und
unter Führung des Heiligen Geistes« beschrieben hatten, erklärten die Synodenväter
ausdrücklich, daß »die Erziehung und Ausbildung der Laien unter den Prioritäten der Diözese und
in die Pastoralprogramme aufgenommen werden muß, so daß alle Bemühungen der Gemeinde
(der Priester, Laien und Ordensleute) auf dieses Ziel hin konvergieren«.(209)
Die eigene Berufung und Sendung entdecken und leben
58. Grundziel der Erziehung und Ausbildung der Laien ist die immer eindeutigere Entdeckung der

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eigenen Berufung, sowie die wachsende Bereitschaft, diese in der Erfüllung der eigenen Sendung
zu leben.
Gott ruft mich und sendet mich als Arbeiter in seinen Weinberg. Er ruft mich und sendet mich, für
die Ankunft seines Reiches in der Geschichte zu arbeiten. Diese persönliche Berufung und
Sendung machen die Würde und Verantwortung eines jeden Laien aus und sind
Kristallisationspunkt der gesamten Erziehung und Ausbildung. Diese wiederum sind auf die
frohmachende Erkenntnis der Würde und auf die treue hochherzige Antwort auf diese
Verantwortung hingeordnet.
Gott hat von Ewigkeit her an uns gedacht und uns als unwiederholbare, einmalige Menschen
geliebt. Er hat einen jeden von uns bei seinem Namen gerufen, wie der gute Hirt, der »die Schafe,
die ihm gehören, einzeln beim Namen« ruft (Joh 10, 3 ) . Aber der ewige Plan Gottes enthüllt sich
einem jeden von uns erst im geschichtlichen Ablauf unseres Lebens und seiner Ereignisse nur
schrittweise, in einem gewissen Sinn Tag für Tag.
Die Erkenntnis des konkreten Willens des Herrn über unser Leben erfordert aufmerksames,
gehorsames und bereites Hören auf das Wort Gottes und der Kirche, kindliches und ständiges
Beten, Rückhalt in einer weisen und liebevollen geistlichen Führung, gläubige Deutung der
empfangenen Gaben und Talente und zugleich der verschiedenen sozialen und historischen
Situationen, in denen man steht.
Im Leben eines jeden Laien gibt es besonders bedeutende und entscheidende Momente, den Ruf
Gottes zu erkennen, und die Sendung, die er anvertraut, aufzunehmen. Dazu zählen die frühe
Jugend und die Jugend. Man darf aber nicht vergessen, daß der Herr, wie der Gutsbesitzer, die
Arbeiter zu allen Stunden des Lebens ruft, das heißt, daß er seinen heiligen Willen auf konkrete
Weise punktuell kundtut. Darum muß die Wachsamkeit als entgegenkommende Aufmerksamkeit
für die Stimme Gottes immer die Grundhaltung des Jüngers prägen.
Es geht aber nicht darum, lediglich zu wissen, was Gott von uns, von jedem einzelnen in den
verschiedenen Situationen des Lebens will. Es geht darum, das, was Gott will, zu tun. Daran
erinnert uns das Wort Marias, der Mutter Jesu, an die Diener von Kana: »Was er euch sagt, das
tut« (Joh 2, 5). Wir müssen fähig und immer fähiger werden, nach dem Willen Gottes zu handeln.
Dazu ist gewiß die Hilfe der Gnade Gottes notwendig, die nie fehlt, wie Leo der Große behauptet:
»Der, der die Würde verliehen hat, wird die Kraft verleihen«.(210) Notwendig ist aber auch die
freie und verantwortliche Mitarbeit eines jeden von uns.
Diese wunderbare und zugleich anspruchsvolle Aufgabe erwartet ausnahmslos alle Laien, alle
Christen. Sie sollen die Reichtümer des Glaubens und der Taufe immer mehr erkennen und in der
wachsenden Fülle leben. Der Apostel Petrus legt es uns nahe, wenn er von der Geburt und dem
Wachstum als zwei Etappen des christlichen Lebens spricht: »Verlangt, gleichsam als

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neugeborene Kinder, nach der unverfälschten, geistigen Milch, damit ihr durch sie heranwachst
und das Heil erlangt« (1 Petr 2, 2).
Umfassende Erziehung und Ausbildung auf die Einheit des Lebens hin
59. Bei der Entdeckung und Verwirklichung der eigenen Berufung und Sendung müssen die Laien
zu jener Einheit hingeführt werden, die ihrem Sein als Glieder der Kirche und als Bürger der
menschlichen Gesellschaft entspricht.
Sie können keine Parallelexistenz führen: auf der einen Seite ein sogenanntes »spirituelles«
Leben mit seinen Werten und Forderungen und auf der anderen Seite das sogenannte
»welthafte« Leben, das heißt das Familienleben, das Leben in der Arbeit, in den sozialen
Beziehungen, im politischen Engagement und in der Kultur.
Die Rebe, die im Weinstock Christi verwurzelt ist, trägt in allen Bereichen ihres Wirkens und
Lebens Früchte. Alle verschiedenen Lebensbereiche der Laien sind im Plan Gottes inbegriffen. Er
will, daß sie der »geschichtliche Ort« der Offenbarung und Verwirklichung der Liebe Jesu Christi
zur Ehre des Vaters und im Dienst der Brüder und Schwestern werden. Jedes Tun, jede Situation,
jede konkrete Verpflichtung - wie zum Beispiel die Kompetenz und die Solidarität in dér Arbeit, die
Liebe und Hingabe in der Familie und in der Erziehung der Kinder, der soziale und politische
Dienst, das Künden der Wahrheit auf dem Gebiet der Kultur - sind privilegierte Gelegenheiten für
einen »ständigen Vollzug von Glaube, Hoffnung und Liebe«.(211)
Das II. Vatikanische Konzil hat alle Gläubigen zu dieser Einheit des Lebens aufgefordert und
entschieden die Schwere der Zäsur zwischen Glauben und Leben, zwischen Evangelium und
Kultur verurteilt: »Das Konzil fordert die Christen, die Bürger beider Gemeinwesen, auf, nach
treuer Erfüllung ihrer irdischen Pflichten zu streben und dies im Geist des Evangeliums. Die
Wahrheit verfehlen die, die im Bewußtsein, hier keine bleibende Stätte zu haben, sondern die
künftige zu suchen, darum meinen, sie könnten ihre irdischen Pflichten vernachlässigen und so
verkennen, daß sie, nach Maßgabe der jedem zuteil gewordenen Berufung, gerade durch den
Glauben selbst um so mehr zu deren Erfüllung verpflichtet sind ... Diese Spaltung bei vielen
zwischen dem Glauben, den man bekennt, und dem täglichen Leben gehört zu den schweren
Verirrungen unserer Zeit«.(212) Aus diesem Grund habe ich behauptet, daß ein Glaube, der nicht
zur Kultur wird, ein Glaube ist, der »nicht voll angenommen, nicht ganz durchdacht und nicht treu
gelebt ist«.(213)
Aspekte der Erziehung und Ausbildung
60. Die vielen und aufeinander bezogenen Aspekte einer umfassenden Erziehung und Ausbildung
der Laien sind in diese Synthese des Lebens einzuordnen.

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Zweifelsohne muß der spirituellen Erziehung im Leben eines jeden ein privilegierter Stellen wert
zukommen. Denn jeder ist berufen, ständig zu wachsen in der Intimität mit Jesus Christus, im
Einvernehmen mit dem Willen des Vaters, in der Hingabe an die Brüder in der Liebe und der
Gerechtigkeit. Das Konzil schreibt: »Dieses Leben innigster Vereinigung mit Christus in der Kirche
nähren die gleichen geistlichen Hilfen, die allen Gläubigen zu Gebote stehen, vor allem die tätige
Teilnahme an der heiligen Liturgie. Dieser Hilfen müssen sich die Laien so bedienen, daß sie bei
der rechten Erfüllung ihrer weltlichen Pflichten in den gewöhnlichen Lebensverhältnissen die
Vereinigung mit Christus nicht von ihrem Leben abspalten, vielmehr in dieser Vereinigung dadurch
noch wachsen, daß sie ihre Arbeit gemäß dem Willen Gottes leisten«.(214)
Eine theologische Schulung der Laien erweist sich heute nicht nur aufgrund der Dynamik ihrer
Glaubensvertiefung, sondern auch aufgrund der Forderung, vor der Welt und ihren schweren und
komplexen Problemen die »Hoffnung, die in ihnen ist, zu bezeugen«, als immer notwendiger. Eine
systematische, dem Alter und den verschiedenen Lebenssituationen angepaßte Katechese ist
absolut erforderlich. Ebenso dringend ist ein ausgesprochen christlicher Einfluß auf die Kultur als
Antwort auf die ewigen Fragen, die auch heute Menschen und Gesellschaften beunruhigen.
Vor allem für die Laien, die auf vielfältige Weise in der Politk und im sozialen Bereich engagiert
sind, ist eine tiefere Kenntnis der Soziallehre der Kirche unerläßlich. Die Synodenväter haben
wiederholt in ihren Interventionen diese Bitte ausgesprochen. Zur Mitwirkung der Laien an der
Politik äußerten sie: »Damit die Laien dieses edle Ziel (die Anerkennung und Wertschätzung der
menschlichen und christlichen Werte) verwirklichen können, sind Ermahnungen nicht genug.
Ihnen muß zur Bildung eines sozialen Gewissens vor allem auf dem Gebiet der Soziallehre der
Kirche verholfen werden. Diese enthält die Prinzipien für theoretische Überlegungen, die Kriterien
zur Urteilsfällung und die praktischen Richtlinien (vgl. Kongregation für die Glaubenslehre,
Instruktion über Christliche Freiheit und Befreiung)«. Sie ist in der allgemeinen katechetischen
Ausbildung, in den spezialisierten Schulungen, in Schulen und Universitäten zu lehren.
Die Soziallehre der Kirche ist dynamisch, das heißt, sie ist den jeweiligen Zeiten und Orten
angepaßt. Es ist Recht und Pflicht der Hirten, auch die moralischen Prinzipien der
Gesellschaftsordnung zu künden. Pflicht aller Christen ist es, sich in der Verteidigung der
Menschenrechte zu engagieren; die aktive Mitwirkung an politischen Parteien ist jedoch den Laien
vorbehalten«.(215)
Im Rahmen der umfassenden, einheitlichen Erziehung und Ausbildung der Laien nimmt
schließlich ihr persönliches Wachstum an menschlichen Werten eine besondere Bedeutung für ihr
missionarisches und apostolisches Tun an. In diesem Sinn hat das Konzil geschrieben:
»Hochschätzen mögen sie (die Laien) auch berufliche Sachkenntnis, familiären und
mitbürgerlichen Sinn und alle jene Tugendhaltungen, die sich auf den mitmenschlichen Umgang
beziehen, wie Rechtschaffenheit, Sinn für Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Menschlichkeit, Starkmut,
ohne die auch ein wahrhaft christliches Leben nicht bestehen kann«.(216)

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Der Heilige Geist, der Geist der Einheit und der Fülle des Lebens, wird den Laien bei der
Ausreifung einer organischen Lebenssynthese, die die Einheit ihres Seins zum Ausdruck bringt
und Bedingung für die Erfüllung ihrer Sendung ist, beistehen.
Mitarbeiter Gottes, des eigentlichen Erziehers
61. Welche sind die Orte und Mittel der Erziehung und Ausbildung der Laien? Welche sind die
Menschen und Gemeinschaften, die dazu berufen sind, die Aufgabe der umfassenden,
einheitlichen Erziehung und Ausbildung der der Laien zu übernehmen?
So wie das Werk der menschlichen Erziehung zutiefst mit der Vater- und der Mutterschaft
verbunden ist, so hat die christliche Erziehung und Ausbildung in Gott, dem Vater, der seine
Kinder liebt und erzieht, ihre Kraft und Wurzel. Gott ist der erste und große Erzieher seines
Volkes, wie diese Passage vom Moses-Lied es wunderbar zum Ausdruck bringt: »Er fand ihn in
der Steppe, in der Wüste, wo wildes Getier heult. Er hüllte ihn ein, gab auf ihn acht und hütete ihn
wie seinen Augenstern, wie der Adler, der sein Nest beschützt und über seinen Jungen schwebt,
der seine Schwingen ausbreitet, ein Junges ergreift und es flügelschlagend davonträgt. Der Herr
allein hat Jakob geleitet, kein fremder Gott stand ihm zur Seite« (Dtn 32, 10-12; vgl. 8, 5).
Gottes erzieherisches Tun findet in Jesus, dem großen Meister, seine Offenbarung und Erfüllung.
Durch die dynamische Präsenz des Geistes dringt es bis in das Innerste eines jeden
Menschenherzens. Die Mutter Kirche ist als solche sowie in ihren verschiedenen Äußerungen und
Erscheinungsformen dazu berufen, an dieser göttlichen Erziehung mitzuwirken. So werden die
Laien von der Kirche und in ihr in einer gegenseitigen Gemeinschaft und Mitarbeit aller ihrer
Glieder erzogen: Priester, Ordensleute und Laien. Die gesamte kirchliche Gemeinschaft empfängt
in ihren verschiedenen Gliedern die Fruchtbarkeit des Geistes und trägt aktiv zu ihr bei. In diesem
Sinn schrieb Methodius von Olymp: »Die Unvollkommenen ... werden wie im Schoß der Mutter
getragen und geformt von den Vollkommeneren, damit sie für die Größe und Schönheit der
Tugend gezeugt und geboren werden«.(217) So geschah es mit Paulus, der von den Präfekten (in
der Person des Ananias) in die Kirche gebracht und hineingeführt wurde, um selber vollkommen
und in so vielen Kindern fruchtbar zu werden.
Erzieherin ist vor allem die Universalkirche, in der dem Papst die erste Aufgabe als Erzieher der
Laien zukommt. Ihm, dem Nachfolger Petri, steht das Amt zu, »die Brüder im Glauben zu
stärken«, und allen Gläubigen die wesentlichen Inhalte der christlichen und kirchlichen Berufung
und Sendung zu lehren. Nicht allein sein unmittelbares Wort, sondern auch das, was in den
verschiedenen Dokumenten der Dikasterien des Heiligen Stuhles weitergegeben wird, muß
Gegenstand des bereitwilligen und liebevollen Horchens der Laien sein.
Die eine universelle Kirche ist in den verschiedenen Teilen der Welt in den Teilkirchen präsent. In
jeder von ihnen hat der Bischof eine besondere Verantwortung für die Laien. Er muß sie durch die

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Verkündigung des Wortes, durch die Feier der Eucharistie und der Sakramente, durch die
Führung und Inspirierung ihres christlichen Lebens erziehen.
Innerhalb der Teilkirche oder Diözese existiert und wirkt die Pfarrei, die für die unmittelbare
persönliche Erziehung und Ausbildung der Laien eine besondere Verantwortung trägt. Weil die
Pfarrei leichter in eine unmittelbare Beziehung zu den einzelnen und den Gruppen kommt, ist sie
berufen, ihre Glieder zum Hören auf das Wort, zum Dialog mit Gott in der Liturgie und im
persönlichen Gebet zu führen und so auf konkretere und unmittelbare Weise den Sinn der
Gemeinschaft der Kirche und ihrer missionarischen Verantwortung erfahrbar werden zu lassen.
Innerhalb der Pfarreien, besonders wenn sie ein weites und auseinander liegendes Gebiet
decken, können die kleinen kirchlichen Gemeinschaften bei der Erziehung und Ausbildung der
Christen eine bedeutende Hilfe leisten. Sie vermögen es, Bewußtsein und Erfahrung der
communio und Sendung der Kirche auf greifbare und kapillare Weise zu vermitteln. Wie die
Synodenväter es sagten, kann auch eine Katechese nach der Taufe, nach der Art eines
Katechumenats von Hilfe sein. Sie soll einige wesentliche Elemente aus dem Ritus der
christlichen Einführung für Erwachsene aufnehmen und so dazu beitragen, die immensen
außerordentlichen Reichtümer und Verantwortungen der Taufe zu verstehen und zu
verwirklichen.(218)
Im Rahmen der Erziehung und Ausbildung, die den Laien in Diözese und Pfarrei geboten wird, ist
die gegenseitige Hilfe unter den verschiedenen Gliedern der Kirche vor allen für die Erweckung
des Sinnes für die communio und die Sendung von besonderer Bedeutung. Die gegenseitige Hilfe
enthüllt und verwirklicht zugleich das Geheimnis der Kirche als Mutter und Erzieherin. Priester und
Ordensleute müssen den Laien bei ihrer Erziehung und Ausbildung helfen. In diesem Sinn haben
die Synodenväter die Priester und Priesteramtskandidaten dazu aufgefordert, »sich sorgfältig
darauf vorzubereiten, die Berufung und die Sendung der Laien zu fördern«.(219) Die Laien
müssen ihrerseits den Priestern und Ordensleuten auf ihrem geistlichen und pastoralen Weg
beistehen.
Andere Erziehungsbereiche
62. Die christliche Familie stellt als »Hauskirche« eine naturgegebene, grundlegende Schule der
Glaubenserziehung dar: Vater und Mutter erhalten im Ehesakrament Gnade und Auftrag, sich der
christlichen Erziehung ihrer Kinder zu widmen, denen sie die christlichen und menschlichen Werte
bezeugen und weitergeben. Wenn sie lernen, die ersten Worte zu sprechen, lernen die Kinder
auch, Gott zu loben, dessen Nähe als liebenden, vorsorgenden Vater sie spüren. Wenn sie die
ersten Gesten der Liebe lernen, lernen sie, sich anderen gegenüber zu öffnen und den Sinn des
menschlichen Lebens in der Hingabe ihrer selbst zu finden.
Das tägliche Leben einer wahrhaft christlichen Familie ist die erste »Erfahrung von Kirche«. Sie

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findet in der aktiven und verantwortlichen Teilnahme der Kinder an der weiteren Gemeinschaft der
Kirche und Gesellschaft eine Bestätigung und Weiterentwicklung. Je mehr Eheleute und
christliche Eltern das Bewußtsein haben, als »Hauskirche« am Leben und an der Sendung der
Universalkirche teilzunehmen, um so mehr werden die Kinder zum »sentire cum ecclesia« geführt
und das Schöne der Hingabe ihrer Kraft für den Dienst am Reich Gottes erfahren.
Die katholischen Sckulen und Universitäten sowie die Zentren geistlicher Erneuerung, die sich
heute immer mehr verbreiten, sind wichtige Orte der Erziehung und Ausbildung. Wie die
Synodenväter es betonten, genügt es im heutigen sozio-kulturellen Kontext, der von einer tiefen
kulturellen Umwälzung gezeichnet ist, nicht, daß die christlichen Eltern sich am Leben der Schule
beteiligen - was aber immer notwendig und unersetzlich ist. Laien müssen dazu vorbereitet
werden, sich dem Werk der Erziehung als einer wahren kirchlichen Sendung zu widmen.
»Erziehungsgemeinschaften« aus Eltern, Lehrern Priestern, Ordensleuten und Vertretern von
Jugendlichen müssen gebildet und gefördert werden. Damit die Schule ihre Erziehungsaufgabe in
der rechten Weise erfüllen kann, sollten die Laien sich verpflichten, auch aufgrund einer
entsprechenden bürgerlichen Gesetzgebung, Erziehungsfreiheit von allen zu verlangen und für
alle zufordern.(220)
Die Synodenväter richteten an alle Laien, Männer und Frauen, die aus einer sozialen und
christlichen Haltung heraus in der Schule und den Erziehungseinrichtungen erzieherische
Aufgaben erfüllen, Worte der Anerkennung und Ermutigung.
Sie wiesen zudem darauf hin, daß alle Laien, die in den verschiedenen katholischen oder nicht
katholischen Schulen lehren und dozieren, Zeugen des Evangeliums werden müssen: durch das
Beispiel ihres Lebens, durch ihre berufliche Kompetenz und Redlichkeit, durch die christliche
Ausrichtung ihres Unterrichtes, unbeschadet der Autonomie der verschiedenen Wissenschaften
und Disziplinen. Es ist entscheidend, daß die von Laien betriebene wissenschaftliche und
technische Forschung sich vom Kriterium des Dienstes am Menschen in der Ganzheit seiner
Werte und seiner Rechte bestimmen läßt. Diesen Laien vertraut die Kirche die Aufgabe an, allen
die tiefe Beziehung zwischen Glauben und Wissenschaft, zwischen Evangelium und menschlicher
Kultur aufzuschließen.(221)
»Diese Synode« - so lesen wir in einer Propositio - »appelliert an die prophetische Aufgabe der
katholischen Schulen und Universitäten und hebt die Hingabe der Lehrer und Professoren,
besonders der vielen Laien hervor, die sich bemühen, in den katholischen
Erziehungseinrichtungen Männer und Frauen zu formen, die das »neue Gebot« inkarnieren. Die
gemeinsame Präsenz von Priestern, Laien und Ordensleuten bietet den Schülern ein lebendiges
Bild der Kirche und die Erkenntnis ihrer Reichtümer (vgl. Kongregation für die Christliche
Erziehung, Der Laie als Erzieher, Zeuge des Glaubens in der Schule)«.(222)
Auch die Gruppen, Vereinigungen und Bewegungen haben eine Aufgabe für die Erziehung und

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Ausbildung der Laien zu erfüllen. Sie können, den jeweiligen Methoden entsprechend, ihren
Mitgliedern eine Erziehung und Bildung anbieten, die in ihrer eigenen apostolischen Erfahrung
verankert ist. Ferner ist ihnen die Chance gegeben, die Erziehung und Bildung, die ihre Mitglieder
von anderen Menschen und Gemeinschaften empfangen, zu integrieren, zu konkretisieren und
spezifisch anzuwenden.
Die Erziehung und Ausbildung, die alle einander geben und voneinander empfangen
63. Erziehung und Ausbildung sind kein Privileg einzelner, sondern Pflicht und Recht aller.
Die Synodenväter haben dazu gesagt: »Allen soll die Möglichkeit der Erziehung und Ausbildung
gegeben werden, vor allem den Armen, dieselbst für alle anderen Quelle der Erziehung und
Ausbildung werden können«. Sie fuhren fort: »Für die Erziehung und Ausbildung sollen geeignete
Mittel angewandt werden, die jedem helfen, seine volle menschliche und christliche Berufung zu
erfüllen«.(223)
Für eine wahrhaft einflußreiche und effektive Pastoral muß die Erziehung und Ausbildung der
Erzieher auch durch geeignete Kurse und Schulen weiterentwickelt werden. Solche, die ihrerseits
in der Erziehung und Ausbildung der Laien engagiert sein werden, zu formen, ist eine
grundlegende Voraussetzung, um die allgemeine, kapillare Erziehung und Ausbildung der Laien
zu gewährleisten.
Bei der Erziehung und Ausbildung ist, einer expliziten Aufforderung der Synodenväter gemäß, der
jeweiligen Kultur besondere Aufmerksamkeit zu widmen: »Erziehung und Ausbildung der Laien
müssen die menschliche Kultur des jeweiligen Ortes weitgehendst berücksichtigen. Diese trägt
nämlich zu dieser Erziehung und Ausbildung bei und bietet Hilfen an, um über die Werte der
traditionellen und der modernen Kultur zu urteilen. Auch die verschiedenen Kulturen, die im selben
Volk und in einem Land koexistieren, müssen berücksichtigt werden. Die Kirche, die Mutter und
Meisterin der Völker ist, muß sich gegebenen falls darum bemühen, die Kultur der Minderheiten,
die in großen Ländern leben, zu schützen«.(224)
Bestimmte Überzeugungen sind besonders notwendig und fruchtbar, vor allem die, daß eine
wahre, effektive Erziehung und Ausbildung nur dann vermittelt werden kann, wenn jeder selbst die
Verantwortung dafür übernimmt und vertieft. Denn Erziehung ist wesentlich »Selbst-Erziehung«.
Ferner ist die Überzeugung wichtig, daß ein jeder von uns zugleich Ziel und Anfang der Erziehung
und Ausbildung ist. Je mehr wir erzogen werden, um so mehr empfinden wir die Notwendigkeit,
diese Erziehung fortzusetzen und zu vertiefen. Und je mehr wir erzogen und geformt sind, um so
mehr werden wir fähig, andere zu formen.
Von besonderer Bedeutung ist das Bewußtsein, daß das Werk der Erziehung und Ausbildung,

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wenn es auch vernünftigerweise auf die Methoden und Mittel der Humanwissenschaften
zurückgreift, seine Wirksamkeit an ihrer Verfügbarkeit für das Wirken Gottes mißt: Nur die Rebe,
die nicht fürchtet, vom Winzer beschnitten zu werden, bringt für sich selbst und für die anderen
mehr Frucht.
Aufruf und Gebet
64. Zum Abschluß dieses postsynodalen Dokumentes erinnere ich nochmal an die Einladung des
»Gutsbesitzers«, von dem das Evangelium berichtet: Geht auch ihr in meinen Weinberg! Man
kann sagen, daß die Bedeutung der Synode über die Berufung und Sendung der Laien gerade in
diesem Anruf des Herrn Jesus an alle, insbesondere an die Laien, Männer und Frauen, liegt.
Die Arbeiten der Synode waren für alle Teilnehmer eine tiefe geistliche Erfahrung: Die Erfahrung
einer Kirche, die im Licht und in der Kraft des Geistes aufgeschlossen zu hören und zu
unterscheiden vermag. Der Kirche, die den erneuten Anruf ihres Herrn aufnimmt, um der Welt von
heute das Geheimnis der communio und dabei insbesondere den spezifischen kirchlichen Ort und
die spezifische Aufgabe der Laien erkennt. Die Frucht dieser Synode, die dieses Apostolische
Schreiben auf möglichst lebendige Weise in alle Kirchen auf der weiten Welt hervorbringen
möchte, wird bestimmt durch die effektive Aufnahme, die der Anruf des Herrn beim gesamten Volk
Gottes und in ihm bei den Laien finden wird.
Darum rufe ich innigst alle und jeden einzelnen, Hirten und Gläubige, auf, nie müde zu werden,
das Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zur Kirche wachzuhalten, ja immer tiefer in ihrem Geist, in
ihrem Herzen und in ihrem Leben zu verwurzeln. Es ist das Bewußtsein, Glieder der Kirche Jesu
Christi zu sein, teilzuhaben am Geheimnis seiner communio und an seiner apostolischen und
missionarischen Kraft.
Von überaus großer Bedeutung ist es, daß alle Christen sich der außerordentlichen Würde, die
ihnen durch die heilige Taufe gewährt wurde, bewußt sind: Durch die Gnade sind wir berufen,
geliebte Kinder des Vaters, Christus und seiner Kirche eingegliedert, lebendige und heilige
Tempel des Geistes zu werden. Hören wir erneut mit dankbarer Ergriffenheit auf die Worte des
Evangelisten Johannes: »Seht, wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: Wir heißen
Kinder Gottes, und wir sind es« (1 Joh 3, 1).
Diese »Neuheit des Christlichen«, die den Gliedern der Kirche gegeben ist, stellt für alle die
Wurzel ihrer Teilhabe am priesterlichen, prophetischen und königlichen Amt Christi sowie ihrer
Berufung zur Heiligkeit in der Liebe dar. Für die Laien kommt sie im »Weltcharakter«, der ihnen
»eigen ist«, entsprechend zum Ausdruck und zur Verwirklichung.
Das Bewußtsein der Zugehörigkeit zur Kirche schließt das Bewußtsein der gemeinsamen
christlichen Würde und das Bewußtsein der Zugehörigkeit zum Geheimnis der Kirche als

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communio ein. Dieses ist ein wesentlicher, entscheidender Aspekt für das Leben und die Sendung
der Kirche.
Das Gebet Jesu beim letzten Abendmahl gilt allen und jedem einzelnen: »Ut unum sint!«. Es muß
täglich zu einem unverzichtbaren Programm des Lebens und Handelns werden.
Der lebendige Sinn für die communio der Kirche, für die Gabe des Geistes, die unsere
gemeinsame Antwort verlangt, wird kostbare Früchte tragen in der Wertschätzung der reichen
Vielfalt der Berufungen und Lebenssituationen, der Charismen, Dienste, Aufgaben und
Verantwortungen. Es wird zudem Früchte tragen in der überzeugten und willigen Mitarbeit
zwischen Gruppen, Vereinigungen und Bewegungen von Laien, in der mitverantwortlichen
Erfüllung der gemeinsamen Heilssendung der Kirche. Diese communio als solche ist schon das
erste und große Zeichen der Präsenz Christi, des Erlösers, in der Welt: Zugleich fördert und
inspiriert sie die unmittelbare apostolische und missionarische Wirksamkeit der Kirche.
An der Schwelle zum dritten Jahrtausend sollte die gesamte Kirche, Hirten und Gläubigen ihre
Verantwortung, dem Gebot Christi zu gehorchen, tiefer spüren: »Geht hinaus in die ganze Welt
und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen« (Mk 16, 15). Die Kirche muß ihre
missionarische Kraft erneuern. Ihr ist eine anspruchsvolle und herrliche Aufgabe anvertraut,
nämlich die einer neuen Evangelisierung, derer die heutige Welt dringend bedarf. Die Laien haben
lebendigen und verantwortlichen Anteil an ihr, weil sie berufen sind, durch ihren Dienst, der den
Werten und Rechten des Menschen sowie der Gesellschaft gilt, das Evangelium zu verkünden
und zu verwirklichen.
Die Bischofssynode, die im Oktobermonat des Marianischen Jahres stattfand, hat ihre Arbeiten in
besonderer Weise der Fürbitte Marias, der Mutter des Erlösers anvertraut. Derselben Fürbitte
vertraue ich die geistliche Fruchtbarkeit der Ergebnisse der Synode an. Am Schluß dieses
postsynodalen Dokumentes rufe ich gemeinsam mit den Synodenvätern und den Laien, die an der
Synode teilgenommen haben, und allen anderen Gliedern des Volkes Gottes die Jungfrau Maria
an. Der Anruf wird Gebet.
O du allerseligste Jungfrau,
Mutter Christi und Mutter der Kirche,
mit Freude und Bewunderung
stimmen wir ein in dein Magnifikat,
in dein Lied dankbarer Liebe.
Mit dir danken wir Gott,
»dessen Erbarmen von Geschlecht
zu Geschlecht waltet«,
für die wunderbare Berufung

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und die vielfältige Sendung der Laien.
Er hat sie berufen,
in einer Gemeinschaft der Liebe
und der Heiligkeit
mit ihm zu leben,
und als Geschwister in der großen Familie
der Kinder Gottes vereint zu sein.
Sie sind gesandt,
das Licht Christi auszustrahlen,
und das Feuer des Geistes
durch ihr Leben im Geist des Evangeliums
in der ganzen Welt zu verbreiten.
Jungfrau des Magnifikat,
erfülle ihre Herzen mit Dankbarkeit
und Begeisterung
für diese Berufung und Sendung.
Die du in Demut und Hochherzigkeit
die »Dienerin des Herrn«
geworden bist,
schenke uns deine Verfügbarkeit
für den Dienst Gottes
und das Heil der Welt.
Öffne unsere Herzen
für die endlosen Weiten
des Reiches Gottes
und der Verkündigung des Evangeliums
an alle Geschöpfe.
Dein Mutterherz
weiß um die vielfältigen Gefahren
und zahlreichen Übel,
die die Männer und Frauen
unserer Zeit bedrohen.
Aber es weiß auch
um die vielen Initiativen des Guten,
um die großen Sehnsüchte nach Werten,
um den Fortschritt auf dem Weg zum Heil.
Mutige Jungfrau,

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schenke uns Seelenkraft
und Vertrauen auf Gott,
damit wir alle Hindernisse überwinden,
die sich der Erfüllung
unserer Sendung entgegenstellen.
Lehre uns, die Realitäten der Welt
mit tiefem christlichem
Verantwortungsbewußtsein
zu behandeln, in der frohen Hoffnung
auf die Ankunft des Reiches Gottes,
des neuen Himmels und der neuen Erde.
Die du betend mit den Aposteln
im Coenaculum zusammen warst,
um auf die Ankunft des Pfingstgeistes zu warten,
erflehe, daß er sich erneut
über alle Laien ausgießt,
damit sie ihrer Berufung und Sendung
als Reben des wahren Weinstocks,
die bestellt sind,
für das Leben der Welt reiche Frucht zu tragen,
voll entsprechen.
Jungfrau und Mutter,
führe uns und stütze uns,
damit wir immer als wahre Söhne
und Töchter der Kirche deines Sohnes leben
und so dazu beitragen,
auf Erden die Zivilisation der Wahrheit und Liebe
nach dem Wunsch Gottes
und zu seiner Ehre aufzubauen.
Amen.
Gegeben zu Rom, bei St. Peter, am 30. Dezember, dem Fest der Heiligen Familie im Jahr 1988,
dem elften meines Pontifikates.
© Copyright 1998 - Libreria Editrice Vaticana

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Copyright © Dicastero per la Comunicazione - Libreria Editrice Vaticana