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1.1 Page 1

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APOSTOLISCHES SCHREIBEN
EVANGELII GAUDIUM
DES HEILIGEN VATERS
PAPST FRANZISKUS
AN DIE BISCHÖFE
AN DIE PRIESTER UND DIAKONE
AN DIE PERSONEN GEWEIHTEN LEBENS
UND AN DIE CHRISTGLÄUBIGEN LAIEN
ÜBER DIE VERKÜNDIGUNG
DES EVANGELIUMS
IN DER WELT VON HEUTE

1.2 Page 2

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VATIKANISCHE DRUCKEREI

1.3 Page 3

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1.  Die Freude des Evangeliums erfüllt das
Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus
begegnen. Diejenigen, die sich von ihm ret-
ten lassen, sind befreit von der Sünde, von der
Traurigkeit, von der inneren Leere und von der
Vereinsamung. Mit Jesus Christus kommt im-
mer – und immer wieder – die Freude. In diesem
Schreiben möchte ich mich an die Christgläubi-
gen wenden, um sie zu einer neuen Etappe der
Evangelisierung einzuladen, die von dieser Freu-
de geprägt ist, und um Wege für den Lauf der
Kirche in den kommenden Jahren aufzuzeigen.
I. Freude, die sich erneuert und sich mitteilt
2.  Die große Gefahr der Welt von heute mit ih-
rem vielfältigen und erdrückenden Konsumange-
bot ist eine individualistische Traurigkeit, die aus
einem bequemen, begehrlichen Herzen hervor-
geht, aus der krankhaften Suche nach oberfläch-
lichen Vergnügungen, aus einer abgeschotteten
Geisteshaltung. Wenn das innere Leben sich in
den eigenen Interessen verschließt, gibt es keinen
Raum mehr für die anderen, finden die Armen
keinen Einlass mehr, hört man nicht mehr die
Stimme Gottes, genießt man nicht mehr die inni-
ge Freude über seine Liebe, regt sich nicht die Be-
geisterung, das Gute zu tun. Auch die Gläubigen
3

1.4 Page 4

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laufen nachweislich und fortwährend diese Ge-
fahr. Viele erliegen ihr und werden zu gereizten,
unzufriedenen, empfindungslosen Menschen.
Das ist nicht die Wahl eines würdigen und erfüll-
ten Lebens, das ist nicht Gottes Wille für uns, das
ist nicht das Leben im Geist, das aus dem Herzen
des auferstandenen Christus hervorsprudelt.
3.  Ich lade jeden Christen ein, gleich an wel-
chem Ort und in welcher Lage er sich befindet,
noch heute seine persönliche Begegnung mit
Jesus Christus zu erneuern oder zumindest den
Entschluss zu fassen, sich von ihm finden zu
lassen, ihn jeden Tag ohne Unterlass zu suchen.
Es gibt keinen Grund, weshalb jemand meinen
könnte, diese Einladung gelte nicht ihm, denn
»niemand ist von der Freude ausgeschlossen,
die der Herr uns bringt«.1 Wer etwas wagt, den
enttäuscht der Herr nicht, und wenn jemand ei-
nen kleinen Schritt auf Jesus zu macht, entdeckt
er, dass dieser bereits mit offenen Armen auf
sein Kommen wartete. Das ist der Augenblick,
um zu Jesus Christus zu sagen: „Herr, ich habe
mich täuschen lassen, auf tausenderlei Weise
bin ich vor deiner Liebe geflohen, doch hier bin
ich wieder, um meinen Bund mit dir zu erneu-
ern. Ich brauche dich. Kaufe mich wieder frei,
nimm mich noch einmal auf in deine erlösenden
Arme.“ Es tut uns so gut, zu ihm zurückzukeh-
ren, wenn wir uns verloren haben! Ich beharre
1Paul VI., Apostolisches Schreiben Gaudete in Domino (9.
Mai 1975), 22: AAS 67 (1975), 297.
4

1.5 Page 5

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noch einmal darauf: Gott wird niemals müde zu
verzeihen; wir sind es, die müde werden, um sein
Erbarmen zu bitten. Der uns aufgefordert hat,
»siebenundsiebzigmal« zu vergeben (Mt 18,22),
ist uns ein Vorbild: Er vergibt siebenundsiebzig-
mal. Ein ums andere Mal lädt er uns wieder auf
seine Schultern. Niemand kann uns die Würde
nehmen, die diese unendliche und unerschütter-
liche Liebe uns verleiht. Mit einem Feingefühl,
das uns niemals enttäuscht und uns immer die
Freude zurückgeben kann, erlaubt er uns, das
Haupt zu erheben und neu zu beginnen. Fliehen
wir nicht vor der Auferstehung Jesu, geben wir
uns niemals geschlagen, was auch immer gesche-
hen mag. Nichts soll stärker sein als sein Leben,
das uns vorantreibt!
4.  Die Bücher des Alten Testaments hatten die
Freude des Heils angekündigt, die es dann in den
messianischen Zeiten im Überfluss geben sollte.
Der Prophet Jesaja wendet sich an den erwarte-
ten Messias und begrüßt ihn voll Freude: »Du
erregst lauten Jubel und schenkst große Freu-
de. Man freut sich in deiner Nähe…« (9,2). Und
er ermuntert die Bewohner von Zion, ihn mit
Gesängen zu empfangen: »Jauchzt und jubelt!«
(12,6). Den, der ihn schon am Horizont gese-
hen hat, lädt der Prophet ein, zu einem Boten
für die anderen zu werden: »Steig auf einen ho-
hen Berg, Zion, du Botin der Freude! Erheb dei-
ne Stimme mit Macht, Jerusalem, du Botin der
Freude!« (40,9). Die ganze Schöpfung nimmt an
dieser Freude des Heils teil: »Jubelt, ihr Himmel,
5

1.6 Page 6

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jauchze, o Erde, freut euch, ihr Berge! Denn der
Herr hat sein Volk getröstet und sich seiner Ar-
men erbarmt« (49,13).
Sacharja sieht den Tag des Herrn und for-
dert dazu auf, den König hochleben zu lassen,
der »demütig« kommt und »auf einem Esel rei-
tet«: »Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter
Jerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir. Er ist
gerecht und hilft« (9,9).
Aber die am stärksten mitreißende Auffor-
derung ist wohl die des Propheten Zefanja, der
uns Gott selbst wie einen leuchtenden Mittel-
punkt des Festes und der Fröhlichkeit vor Augen
führt, der seinem Volk diese heilbringende Freu-
de vermittelt. Es ergreift mich, wenn ich diesen
Text wieder lese: »Der Herr, dein Gott, ist in dei-
ner Mitte, ein Held, der Rettung bringt. Er freut
sich und jubelt über dich, er erneuert seine Liebe
zu dir, er jubelt über dich und frohlockt« (3,17).
Es ist die Freude, die man in den kleinen
Dingen des Alltags erlebt, als Antwort auf die lie-
bevolle Einladung Gottes, unseres Vaters: »Mein
Sohn, wenn du imstande bist, pflege dich selbst
[…] Versag dir nicht das Glück des heutigen Ta-
ges« (Sir 14,11.14). Wie viel zärtliche Vaterliebe
ist in diesen Worten zu spüren!
5.  Das Evangelium, in dem das Kreuz Chris-
ti „glorreich“ erstrahlt, lädt mit Nachdruck zur
Freude ein. Nur einige Beispiele: »Chaire – freue
dich« ist der Gruß des Engels an Maria (Lk
1,28). Der Besuch Marias bei Elisabet lässt Jo-
hannes im Mutterschoß vor Freude hüpfen (vgl.
6

1.7 Page 7

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Lk 1,41). In ihrem Lobgesang bekundet Maria:
»Mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter«
(Lk 1,47). Als Jesus sein öffentliches Wirken
beginnt, ruft Johannes aus: »Nun ist diese mei-
ne Freude vollkommen« (Joh 3,29). Jesus selber
»rief […] vom Heiligen Geist erfüllt, voll Freu-
de aus…« (Lk 10,21). Seine Botschaft ist Quelle
der Freude: »Dies habe ich euch gesagt, damit
meine Freude in euch ist und damit eure Freude
vollkommen wird« (Joh 15,11). Unsere christliche
Freude entspringt der Quelle seines überfließen-
den Herzens. Er verheißt seinen Jüngern: »Ihr
werdet bekümmert sein, aber euer Kummer wird
sich in Freude verwandeln« (Joh 16,20), und be-
harrt darauf: »Ich werde euch wiedersehen; dann
wird euer Herz sich freuen, und niemand nimmt
euch eure Freude« (Joh 16,22). Als sie ihn später
als Auferstandenen sahen, »freuten« sie sich (Joh
20,20). Die Apostelgeschichte erzählt von der
ersten Gemeinde: Sie »hielten miteinander Mahl
in Freude« (2,46). Wo die Jünger vorbeikamen,
»herrschte große Freude« (8,8), und sie selber
waren mitten in der Verfolgung »voll Freude«
(13,52). Ein äthiopischer Hofbeamter zog, nach-
dem er die Taufe empfangen hatte, »voll Freude«
weiter (8,39), und der Gefängniswärter »war mit
seinem ganzen Haus voll Freude, weil er zum
Glauben an Gott gekommen war« (16,34). Wa-
rum wollen nicht auch wir in diesen Strom der
Freude eintreten?
6.  Es gibt Christen, deren Lebensart wie eine
Fastenzeit ohne Ostern erscheint. Doch ich gebe
7

1.8 Page 8

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zu, dass man die Freude nicht in allen Lebens-
abschnitten und -umständen, die manchmal sehr
hart sind, in gleicher Weise erlebt. Sie passt sich
an und verwandelt sich, und bleibt immer wenig-
stens wie ein Lichtstrahl, der aus der persönli-
chen Gewissheit hervorgeht, jenseits von allem
grenzenlos geliebt zu sein. Ich verstehe die Men-
schen, die wegen der schweren Nöte, unter de-
nen sie zu leiden haben, zur Traurigkeit neigen,
doch nach und nach muss man zulassen, dass die
Glaubensfreude zu erwachen beginnt, wie eine
geheime, aber feste Zuversicht, auch mitten in
den schlimmsten Ängsten: »Du hast mich aus
dem Frieden hinausgestoßen; ich habe verges-
sen, was Glück ist […] Das will ich mir zu Her-
zen nehmen, darauf darf ich harren: Die Huld
des Herrn ist nicht erschöpft, sein Erbarmen
ist nicht zu Ende. Neu ist es an jedem Morgen;
groß ist deine Treue […] Gut ist es, schweigend
zu harren auf die Hilfe des Herrn« (Klgl 3,17.21-
13.26).
7.  Die Versuchung erscheint häufig in Form
von Entschuldigungen und Beanstandungen, als
müssten unzählige Bedingungen erfüllt sein, da-
mit Freude möglich ist. Denn »es ist der tech-
nologischen Gesellschaft gelungen, die Vergnü-
gungsangebote zu vervielfachen, doch es fällt
ihr sehr schwer, Freude zu erzeugen«.2 Ich kann
wohl sagen, dass die schönsten und spontansten
2Ebd., 8: AAS 67 (1975), 292.
8

1.9 Page 9

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Freuden, die ich im Laufe meines Lebens gese-
hen habe, die ganz armer Leute waren, die we-
nig haben, an das sie sich klammern können. Ich
erinnere mich auch an die unverfälschte Freude
derer, die es verstanden haben, sogar inmitten
bedeutender beruflicher Verpflichtungen ein
gläubiges, großzügiges und einfaches Herz zu
bewahren. Auf verschiedene Weise schöpfen
diese Freuden aus der Quelle der stets größeren
Liebe Gottes, die sich in Jesus Christus kundge-
tan hat. Ich werde nicht müde, jene Worte Be-
nedikts XVI. zu wiederholen, die uns zum Zen-
trum des Evangeliums führen: »Am Anfang des
Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss
oder eine große Idee, sondern die Begegnung
mit einem Ereignis, mit einer Person, die unse-
rem Leben einen neuen Horizont und damit sei-
ne entscheidende Richtung gibt.«3
8.  Allein dank dieser Begegnung – oder Wie-
derbegegnung – mit der Liebe Gottes, die zu ei-
ner glücklichen Freundschaft wird, werden wir
von unserer abgeschotteten Geisteshaltung und
aus unserer Selbstbezogenheit erlöst. Unser vol-
les Menschsein erreichen wir, wenn wir mehr als
nur menschlich sind, wenn wir Gott erlauben,
uns über uns selbst hinaus zu führen, damit wir
zu unserem eigentlicheren Sein gelangen. Dort
liegt die Quelle der Evangelisierung. Wenn näm-
3  Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 1: AAS
98 (2006), 217.
9

1.10 Page 10

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lich jemand diese Liebe angenommen hat, die
ihm den Sinn des Lebens zurückgibt, wie kann er
dann den Wunsch zurückhalten, sie den anderen
mitzuteilen?
II. Die innige und tröstliche Freude der
Verkündigung des Evangeliums
9.  Das Gute neigt immer dazu, sich mitzu-
teilen. Jede echte Erfahrung von Wahrheit und
Schönheit sucht von sich aus, sich zu verbrei-
ten, und jeder Mensch, der eine tiefe Befreiung
erfährt, erwirbt eine größere Sensibilität für die
Bedürfnisse der anderen. Wenn man das Gute
mitteilt, fasst es Fuß und entwickelt sich. Darum
gibt es für jeden, der ein würdiges und erfülltes
Leben zu führen wünscht, keinen anderen Weg,
als den anderen anzuerkennen und sein Wohl zu
suchen. So dürften uns also einige Worte des hei-
ligen Paulus nicht verwundern: »Die Liebe Chris-
ti drängt uns« (2 Kor 5,14); »Weh mir, wenn ich
das Evangelium nicht verkünde!« (1 Kor 9,16).
10.  Der Vorschlag lautet, auf einer höheren
Ebene zu leben, jedoch nicht weniger intensiv:
»Das Leben wird reicher, wenn man es hingibt;
es verkümmert, wenn man sich isoliert und es
sich bequem macht. In der Tat, die größte Freude
am Leben erfahren jene, die sich nicht um jeden
Preis absichern, sondern sich vielmehr leiden-
schaftlich dazu gesandt wissen, anderen Leben
10

2 Pages 11-20

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2.1 Page 11

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zu geben.«4 Wenn die Kirche zum Einsatz in der
Verkündigung aufruft, tut sie nichts anderes, als
den Christen die wahre Dynamik der Selbstver-
wirklichung aufzuzeigen: »Hier entdecken wir
ein weiteres Grundgesetz der Wirklichkeit: Das
Leben wird reifer und reicher, je mehr man es
hingibt, um anderen Leben zu geben. Darin be-
steht letztendlich die Mission.«5 Folglich dürfte
ein Verkünder des Evangeliums nicht ständig ein
Gesicht wie bei einer Beerdigung haben. Gewin-
nen wir den Eifer zurück, mehren wir ihn und
mit ihm »die innige und tröstliche Freude der
Verkündigung des Evangeliums, selbst wenn wir
unter Tränen säen sollten […] Die Welt von heu-
te, die sowohl in Angst wie in Hoffnung auf der
Suche ist, möge die Frohbotschaft nicht aus dem
Munde trauriger und mutlos gemachter Verkün-
der hören, die keine Geduld haben und ängstlich
sind, sondern von Dienern des Evangeliums, de-
ren Leben voller Glut erstrahlt, die als erste die
Freude Christi in sich aufgenommen haben.«6
Eine ewige Neuheit
11.  Eine erneuerte Verkündigung schenkt den
Gläubigen – auch den lauen oder nicht praktizie-
renden – eine neue Freude im Glauben und eine
4V. Generalversammlung der Bischöfe von Latein-
amerika und der Karibik, Dokument von Aparecida (29. Juni
2007), 360.
5Ebd.
6Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8.
Dezember 1975), 80: AAS 68 (1976), 75.
11

2.2 Page 12

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missionarische Fruchtbarkeit. In Wirklichkeit ist
das Zentrum und das Wesen des Glaubens immer
dasselbe: der Gott, der seine unermessliche Lie-
be im gestorbenen und auferstandenen Christus
offenbart hat. Er lässt seine Gläubigen immer
neu sein, wie alt sie auch sein mögen; sie »schöp-
fen neue Kraft, sie bekommen Flügel wie Adler.
Sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und
werden nicht matt« (Jes 40,31). Christus ist das
»ewige Evangelium« (Offb 14,6), und er ist »der-
selbe gestern, heute und in Ewigkeit« (Hebr 13,8),
aber sein Reichtum und seine Schönheit sind un-
erschöpflich. Er ist immer jung und eine ständige
Quelle von Neuem. Die Kirche hört nicht auf zu
staunen über die »Tiefe des Reichtums, der Weis-
heit und der Erkenntnis Gottes« (Röm 11,33).
Der heilige Johannes vom Kreuz sagte: »Dieses
Dickicht von Gottes Weisheit und Wissen ist so
tief und unendlich, dass ein Mensch, auch wenn
er noch so viel davon weiß, immer noch tiefer
eindringen kann.«7 Oder mit den Worten des
heiligen Irenäus: »[Christus] hat jede Neuheit ge-
bracht, indem er sich selber brachte.«8 Er kann
mit seiner Neuheit immer unser Leben und un-
sere Gemeinschaft erneuern, und selbst dann,
wenn die christliche Botschaft dunkle Zeiten
und kirchliche Schwachheiten durchläuft, altert
sie nie. Jesus Christus kann auch die langweiligen
Schablonen durchbrechen, in denen wir uns an-
7Geistlicher Gesang, 36, 10.
8Adversus haereses, IV, Kap. 34, Nr. 1: PG 7, 1083: »Omnem
novitatem attulit, semetipsum afferens
12

2.3 Page 13

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maßen, ihn gefangen zu halten, und überrascht
uns mit seiner beständigen göttlichen Kreativität.
Jedes Mal, wenn wir versuchen, zur Quelle zu-
rückzukehren und die ursprüngliche Frische des
Evangeliums wiederzugewinnen, tauchen neue
Wege, kreative Methoden, andere Ausdrucksfor-
men, aussagekräftigere Zeichen und Worte reich
an neuer Bedeutung für die Welt von heute auf.
In der Tat, jedes echte missionarische Handeln
ist immer „neu“.
12.  Obwohl dieser Auftrag uns einen großher-
zigen Einsatz abverlangt, wäre es ein Irrtum, ihn
als heldenhafte persönliche Aufgabe anzusehen,
da es vor allem sein Werk ist, jenseits von dem,
was wir herausfinden und verstehen können.
Jesus ist »der allererste und größte Künder des
Evangeliums«.9 In jeglicher Form von Evangeli-
sierung liegt der Vorrang immer bei Gott, der uns
zur Mitarbeit mit ihm gerufen und uns mit der
Kraft seines Geistes angespornt hat. Die wahre
Neuheit ist die, welche Gott selber geheimnisvoll
hervorbringen will, die er eingibt, die er erweckt,
die er auf tausenderlei Weise lenkt und begleitet.
Im ganzen Leben der Kirche muss man immer
deutlich machen, dass die Initiative bei Gott liegt,
dass »er uns zuerst geliebt« hat (1 Joh 4,19) und
dass es »nur Gott [ist], der wachsen lässt« (1 Kor
3,7). Diese Überzeugung erlaubt uns, inmitten
einer so anspruchsvollen und herausfordernden
9Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8.
Dezember 1975), 7: AAS 68 (1976), 9.
13

2.4 Page 14

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Aufgabe, die unser Leben ganz und gar verein-
nahmt, die Freude zu bewahren. Sie verlangt von
uns alles, aber zugleich bietet sie uns alles.
13.  Wir dürfen die Neuheit dieses Auftrags
auch nicht wie eine Entwurzelung verstehen, wie
ein Vergessen der lebendigen Geschichte, die uns
aufnimmt und uns vorantreibt. Das Gedächtnis
ist eine Dimension unseres Glaubens, die wir
„deuteronomisch“ nennen könnten, in Analogie
zum Gedächtnis Israels. Jesus hinterlässt uns die
Eucharistie als tägliches Gedächtnis der Kirche,
das uns immer mehr in das Paschageheimnis ein-
führt (vgl. Lk 22,19). Die Freude der Verkündi-
gung erstrahlt immer auf dem Hintergrund der
dankbaren Erinnerung: Es ist eine Gnade, die wir
erbitten müssen. Die Apostel haben nie den Mo-
ment vergessen, in dem Jesus ihr Herz anrührte:
»Es war um die zehnte Stunde« (Joh 1,39). Ge-
meinsam mit Jesus vergegenwärtigt uns das Ge-
dächtnis eine wahre »Wolke von Zeugen« (Hebr
12,1). Unter ihnen heben sich einige Personen
hervor, die besonders prägend dazu beigetragen
haben, dass unsere Glaubensfreude aufkeimte:
»Denkt an eure Vorsteher, die euch das Wort
Gottes verkündet haben« (Hebr 13,7). Manchmal
handelt es sich um einfache Menschen in unserer
Nähe, die uns in das Glaubensleben eingeführt
haben: »Ich denke an deinen aufrichtigen Glau-
ben, der schon in deiner Großmutter Loïs und
in deiner Mutter Eunike lebendig war« (2 Tim
1,5). Der Gläubige ist grundsätzlich ein „Erinne-
rungsmensch“.
14

2.5 Page 15

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III. Die neue Evangelisierung für die Weiter-
gabe des Glaubens
14.  Im Hören auf den Geist, der uns hilft, ge-
meinschaftlich die Zeichen der Zeit zu erken-
nen, wurde vom 7. bis zum 28. Oktober 2012
die XIII. Ordentliche Vollversammlung der Bi-
schofssynode unter dem Thema Die neue Evan-
gelisierung für die Weitergabe des christlichen Glaubens
abgehalten. Dort wurde daran erinnert, dass die
neue Evangelisierung alle aufruft und dass sie
sich grundsätzlich in drei Bereichen abspielt.10
An erster Stelle erwähnen wir den Bereich der ge-
wöhnlichen Seelsorge, »die mehr vom Feuer des Hei-
ligen Geistes belebt sein muss, um die Herzen
der Gläubigen zu entzünden, die sich regelmä-
ßig in der Gemeinde zusammenfinden und sich
am Tag des Herrn versammeln, um sich vom
Wort Gottes und vom Brot ewigen Lebens zu
ernähren«.11 In diesen Bereich sind ebenso die
Gläubigen einzubeziehen, die einen festen und
ehrlichen katholischen Glauben bewahren und
ihn auf verschiedene Weise zum Ausdruck brin-
gen, auch wenn sie nicht häufig am Gottesdienst
teilnehmen. Diese Seelsorge ist auf das Wachs-
tum der Gläubigen ausgerichtet, damit sie immer
besser und mit ihrem ganzen Leben auf die Lie-
be Gottes antworten.
10  Vgl. Propositio 7.
11Benedikt XVI., Homilie während der Eucharistiefeier zum
Abschluss der XIII. Ordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode
(28. Oktober 2012): AAS 104 (2012), 890.
15

2.6 Page 16

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An zweiter Stelle erwähnen wir den Bereich
der »Getauften, die jedoch in ihrer Lebensweise den An-
sprüchen der Taufe nicht gerecht werden«,12 keine innere
Zugehörigkeit zur Kirche haben und nicht mehr
die Tröstung des Glaubens erfahren. Als stets
aufmerksame Mutter setzt sich die Kirche dafür
ein, dass sie eine Umkehr erleben, die ihnen die
Freude am Glauben und den Wunsch, sich mit
dem Evangelium zu beschäftigen, zurückgibt.
Schließlich unterstreichen wir, dass die
Evangelisierung wesentlich verbunden ist mit
der Verkündigung des Evangeliums an diejenigen,
die Jesus Christus nicht kennen oder ihn immer abgelehnt
haben. Viele von ihnen suchen Gott insgeheim,
bewegt von der Sehnsucht nach seinem Ange-
sicht, auch in Ländern alter christlicher Tradition.
Alle haben das Recht, das Evangelium zu emp-
fangen. Die Christen haben die Pflicht, es aus-
nahmslos allen zu verkünden, nicht wie jemand,
der eine neue Verpflichtung auferlegt, sondern
wie jemand, der eine Freude teilt, einen schönen
Horizont aufzeigt, ein erstrebenswertes Festmahl
anbietet. Die Kirche wächst nicht durch Prosyle-
tismus, sondern »durch Anziehung«.13
15.  Johannes Paul II. hat uns ans Herz gelegt
anzuerkennen, dass »die Kraft nicht verloren ge-
hen [darf] für die Verkündigung« an jene, die fern
12Ebd.
13Benedikt XVI., Homilie während der Eucharistiefeier zur
Eröffnung der V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika
und der Karibik im Heiligtum »La Aparecida« (13. Mai 2007): AAS
99 (2007), 437.
16

2.7 Page 17

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sind von Christus, denn dies ist »die erste Aufgabe
der Kirche«.14 »Die Missionstätigkeit stellt auch
heute noch die größte Herausforderung für die Kir-
che dar«15, und so »muss das missionarische Anlie-
gen das erste sein«.16 Was würde geschehen, wenn
wir diese Worte wirklich ernst nehmen würden?
Wir würden einfach erkennen, dass das missio-
narische Handeln das Paradigma für alles Wirken
der Kirche ist. Auf dieser Linie haben die latein-
amerikanischen Bischöfe bekräftigt: »Wir kön-
nen nicht passiv abwartend in unseren Kirchen-
räumen sitzen bleiben«,17 und die Notwendigkeit
betont, »von einer rein bewahrenden Pastoral
zu einer entschieden missionarischen Pastoral
überzugehen«.18 Diese Aufgabe ist weiterhin
die Quelle der größten Freuden für die Kirche:
»Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude
herrschen über einen einzigen Sünder, der um-
kehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es
nicht nötig haben umzukehren« (Lk 15,7).
Anliegen und Grenzen dieses Schreibens
16.  Ich habe die Einladung der Synodenväter,
dieses Schreiben zu verfassen, gerne angenom-
14  Enzyklika Redemptoris missio (7. Dezember 1990), 34:
AAS 83 (1991), 280.
15Ebd., 40: AAS 83 (1991), 287.
16Ebd., 86: AAS 83 (1991), 333.
17V. Generalversammlung der Bischöfe von Latein-
amerika und der Karibik, Dokument von Aparecida (29. Juni
2007), 548.
18Ebd., 370.
17

2.8 Page 18

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men.19 Indem ich es tue, ernte ich den Reichtum
der Arbeiten der Synode. Ich habe auch verschie-
dene Personen zu Rate gezogen, und ich beab-
sichtige außerdem, die Besorgnisse zum Aus-
druck zu bringen, die mich in diesem konkreten
Moment des Evangelisierungswerkes der Kirche
bewegen. Zahllos sind die mit der Evangelisie-
rung in der Welt von heute verbundenen The-
men, die man hier entwickeln könnte. Doch ich
habe darauf verzichtet, diese vielfältigen Fragen
ausführlich zu behandeln; sie müssen Gegenstand
des Studiums und der sorgsamen Vertiefung sein.
Ich glaube auch nicht, dass man vom päpstlichen
Lehramt eine endgültige oder vollständige Aus-
sage zu allen Fragen erwarten muss, welche die
Kirche und die Welt betreffen. Es ist nicht ange-
bracht, dass der Papst die örtlichen Bischöfe in
der Bewertung aller Problemkreise ersetzt, die in
ihren Gebieten auftauchen. In diesem Sinn spüre
ich die Notwendigkeit, in einer heilsamen „De-
zentralisierung“ voranzuschreiten.
17.  Hier habe ich die Wahl getroffen, einige Li-
nien vorzuschlagen, die in der gesamten Kirche
einer neuen Etappe der Evangelisierung voller
Eifer und Dynamik Mut und Orientierung ver-
leihen können. In diesem Rahmen und auf der
Basis der Lehre der dogmatischen Konstitution
Lumen gentium habe ich mich entschieden, unter
19  Vgl. Propositio 1.
18

2.9 Page 19

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den anderen Themen die folgenden Fragen aus-
führlich zu behandeln:
a) Die Reform der Kirche im missionarischen
Aufbruch
b) Die Versuchungen der in der Seelsorge Täti-
gen
c) Die Kirche, verstanden als die Gesamtheit des
evangelisierenden Gottesvolkes
d) Die Predigt und ihre Vorbereitung
e) Die soziale Eingliederung der Armen
f) Der Friede und der soziale Dialog
g) Die geistlichen Beweggründe für den missio-
narischen Einsatz
18.  Ich habe diese Themen in einer Ausführ-
lichkeit behandelt, die vielleicht übertrieben
erscheinen mag. Aber ich habe es nicht in der
Absicht getan, eine Abhandlung vorzulegen,
sondern nur, um die bedeutende praktische Aus-
wirkung dieser Argumente in der gegenwärtigen
Aufgabe der Kirche zu zeigen. Sie alle helfen
nämlich, einen bestimmten Stil der Evangeli-
sierung zu umreißen, und ich lade ein, diesen
in allem, was getan wird, zu übernehmen. Und so
können wir auf diese Weise inmitten unserer täg-
lichen Arbeit der Aufforderung des Wortes Got-
tes nachkommen: »Freut euch im Herrn zu jeder
Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch!« (Phil 4,4).
19

2.10 Page 20

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3 Pages 21-30

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3.1 Page 21

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ERSTES KAPITEL
DIE MISSIONARISCHE UMGESTAL-
TUNG DER KIRCHE
19.  Die Evangelisierung folgt dem Missions-
auftrag Jesu: »Darum geht zu allen Völkern und
macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft
sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes
und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu
befolgen, was ich euch geboten habe« (Mt 28,19-
20). In diesen Versen ist der Moment dargestellt,
in dem der Auferstandene die Seinen aussendet,
das Evangelium zu jeder Zeit und an allen Orten
zu verkünden, so dass der Glaube an ihn sich bis
an alle Enden der Erde ausbreite.
I. Eine Kirche im Aufbruch
20.  Im Wort Gottes erscheint ständig diese Dy-
namik des „Aufbruchs“, die Gott in den Gläubi-
gen auslösen will. Abraham folgte dem Aufruf,
zu einem neuen Land aufzubrechen (vgl. Gen
12,1-3). Mose gehorchte dem Ruf Gottes: »Geh!
Ich sende dich« (Ex 3,10), und führte das Volk
hinaus, dem verheißenen Land entgegen (vgl. Ex
3,17). Zu Jeremia sagte Gott: »Wohin ich dich
auch sende, dahin sollst du gehen« (Jer 1,7). Heu-
te sind in diesem „Geht“ Jesu die immer neuen
Situationen und Herausforderungen des Evan-
gelisierungsauftrags der Kirche gegenwärtig, und
wir alle sind zu diesem neuen missionarischen
21

3.2 Page 22

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„Aufbruch“ berufen. Jeder Christ und jede Ge-
meinschaft soll unterscheiden, welches der Weg
ist, den der Herr verlangt, doch alle sind wir auf-
gefordert, diesen Ruf anzunehmen: hinauszu-
gehen aus der eigenen Bequemlichkeit und den
Mut zu haben, alle Randgebiete zu erreichen, die
das Licht des Evangeliums brauchen.
21.  Die Freude aus dem Evangelium, die das
Leben der Gemeinschaft der Jünger erfüllt, ist
eine missionarische Freude. Die zweiundsiebzig
Jünger, die voll Freude von ihrer Sendung zu-
rückkehren, erfahren sie (vgl. Lk 10,17). Jesus er-
lebt sie, als er im Heiligen Geist vor Freude jubelt
und den Vater preist, weil seine Offenbarung die
Armen und die Kleinsten erreicht (vgl. Lk 10,21).
Voll Verwunderung spüren sie die Ersten, die
sich bekehren, als am Pfingsttag, in der Predigt
der Apostel, »jeder sie in seiner Sprache reden«
hört (Apg 2,6). Diese Freude ist ein Zeichen, dass
das Evangelium verkündet wurde und bereits
Frucht bringt. Aber sie hat immer die Dynamik
des Aufbruchs und der Gabe, des Herausgehens
aus sich selbst, des Unterwegsseins und des im-
mer neuen und immer weiteren Aussäens. Der
Herr sagt: »Lasst uns anderswohin gehen, in die
benachbarten Dörfer, damit ich auch dort pre-
dige; denn dazu bin ich gekommen!« (Mk 1,38).
Wenn der Same an einem Ort ausgesät ist, hält
Jesus sich dort nicht mehr auf, um etwas besser
zu erklären oder um weitere Zeichen zu wirken,
sondern der Geist führt ihn, zu anderen Dörfern
aufzubrechen.
22

3.3 Page 23

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22.  Das Wort Gottes trägt in sich Anlagen, die
wir nicht voraussehen können. Das Evangelium
spricht von einem Samen, der, wenn er einmal
ausgesät ist, von sich aus wächst, auch wenn der
Bauer schläft (vgl. Mk 4,26-29). Die Kirche muss
diese unfassbare Freiheit des Wortes akzeptie-
ren, das auf seine Weise und in sehr verschiede-
nen Formen wirksam ist, die gewöhnlich unsere
Prognosen übertreffen und unsere Schablonen
sprengen.
23.  Die innige Verbundenheit der Kirche mit
Jesus ist eine Verbundenheit auf dem Weg, und
die Gemeinschaft »stellt sich wesentlich als mis-
sionarische Communio dar«.20 In der Treue zum
Vorbild des Meisters ist es lebenswichtig, dass die
Kirche heute hinausgeht, um allen an allen Orten
und bei allen Gelegenheiten ohne Zögern, ohne
Widerstreben und ohne Angst das Evangelium
zu verkünden. Die Freude aus dem Evangelium
ist für das ganze Volk, sie darf niemanden aus-
schließen. So verkündet es der Engel den Hirten
von Bethlehem: »Fürchtet euch nicht, denn ich
verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen
Volk zuteil werden soll« (Lk 2,10). Die Offen-
barung des Johannes spricht davon, dass »den
Bewohnern der Erde ein ewiges Evangelium zu
verkünden [ist], allen Nationen, Stämmen, Sprachen
und Völkern« (Offb 14,6).
20Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 32: AAS 81
(1989), 451.
23

3.4 Page 24

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Die Initiative ergreifen, sich einbringen, begleiten, Frucht
bringen und feiern
24.  Die Kirche „im Aufbruch“ ist die Gemein-
schaft der missionarischen Jünger, die die Initia-
tive ergreifen, die sich einbringen, die begleiten,
die Frucht bringen und feiern. „Primerear – die
Initiative ergreifen“: Entschuldigt diesen Neo-
logismus! Die evangelisierende Gemeinde spürt,
dass der Herr die Initiative ergriffen hat, ihr in
der Liebe zuvorgekommen ist (vgl. 1 Joh 4,10),
und deshalb weiß sie voranzugehen, versteht sie,
furchtlos die Initiative zu ergreifen, auf die an-
deren zuzugehen, die Fernen zu suchen und zu
den Wegkreuzungen zu gelangen, um die Aus-
geschlossenen einzuladen. Sie empfindet einen
unerschöpflichen Wunsch, Barmherzigkeit anzu-
bieten – eine Frucht der eigenen Erfahrung der
unendlichen Barmherzigkeit des himmlischen
Vaters und ihrer Tragweite. Wagen wir ein we-
nig mehr, die Initiative zu ergreifen! Als Folge
weiß die Kirche sich „einzubringen“. Jesus hat
seinen Jüngern die Füße gewaschen. Der Herr
bringt sich ein und bezieht die Seinen ein, indem
er vor den anderen niederkniet, um sie zu wa-
schen. Aber dann sagt er zu den Jüngern: »Selig
seid ihr, wenn ihr das wisst und danach handelt«
(Joh 13,17). Die evangelisierende Gemeinde stellt
sich durch Werke und Gesten in das Alltagsleben
der anderen, verkürzt die Distanzen, erniedrigt
sich nötigenfalls bis zur Demütigung und nimmt
das menschliche Leben an, indem sie im Volk
mit dem leidenden Leib Christi in Berührung
24

3.5 Page 25

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kommt. So haben die Evangelisierenden den
„Geruch der Schafe“, und diese hören auf ihre
Stimme. Die evangelisierende Gemeinde stellt
sich also darauf ein, zu „begleiten“. Sie begleitet
die Menschheit in all ihren Vorgängen, so hart
und langwierig sie auch sein mögen. Sie kennt
das lange Warten und die apostolische Ausdau-
er. Die Evangelisierung hat viel Geduld und ver-
meidet, die Grenzen nicht zu berücksichtigen.
In der Treue zur Gabe des Herrn weiß sie auch
„Frucht zu bringen“. Die evangelisierende Ge-
meinde achtet immer auf die Früchte, denn der
Herr will, dass sie fruchtbar ist. Sie nimmt sich
des Weizens an und verliert aufgrund des Un-
krauts nicht ihren Frieden. Wenn der Sämann
inmitten des Weizens das Unkraut aufkeimen
sieht, reagiert er nicht mit Gejammer und Panik.
Er findet den Weg, um dafür zu sorgen, dass das
Wort Gottes in einer konkreten Situation Gestalt
annimmt und Früchte neuen Lebens trägt, auch
wenn diese scheinbar unvollkommen und unvoll-
endet sind. Der Jünger weiß sein ganzes Leben
hinzugeben und es als Zeugnis für Jesus Christus
aufs Spiel zu setzen bis hin zum Martyrium, doch
sein Traum ist nicht, Feinde gegen sich anzusam-
meln, sondern vielmehr, dass das Wort Gottes
aufgenommen werde und seine befreiende und
erneuernde Kraft offenbare. Und schließlich
versteht die fröhliche evangelisierende Gemein-
de immer zu „feiern“. Jeden kleinen Sieg, jeden
Schritt vorwärts in der Evangelisierung preist und
feiert sie. Die freudige Evangelisierung wird zur
25

3.6 Page 26

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Schönheit in der Liturgie inmitten der täglichen
Anforderung, das Gute zu fördern. Die Kirche
evangelisiert und evangelisiert sich selber mit der
Schönheit der Liturgie, die auch Feier der missio-
narischen Tätigkeit und Quelle eines erneuerten
Impulses zur Selbsthingabe ist.
II. Seelsorge in Neuausrichtung
25.  Ich weiß sehr wohl, dass heute die Doku-
mente nicht dasselbe Interesse wecken wie zu
anderen Zeiten und schnell vergessen werden.
Trotzdem betone ich, dass das, was ich hier zu
sagen beabsichtige, eine programmatische Be-
deutung hat und wichtige Konsequenzen bein-
haltet. Ich hoffe, dass alle Gemeinschaften dafür
sorgen, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um
auf dem Weg einer pastoralen und missionari-
schen Neuausrichtung voranzuschreiten, der die
Dinge nicht so belassen darf wie sie sind. Jetzt
dient uns nicht eine »reine Verwaltungsarbeit«.21
Versetzen wir uns in allen Regionen der Erde in
einen »Zustand permanenter Mission«.22
26.  Paul VI. forderte, den Aufruf zur Erneue-
rung auszuweiten, um mit Nachdruck zu sagen,
dass er sich nicht nur an Einzelpersonen wandte,
sondern an die gesamte Kirche. Wir erinnern an
21V. Generalversammlung der Bischöfe von Latein-
amerika und der Karibik, Dokument von Aparecida (29.Juni
2007), 201.
22Ebd., 551.
26

3.7 Page 27

▲back to top
diesen denkwürdigen Text, der seine interpel-
lierende Kraft nicht verloren hat: »Die Kirche
muss das Bewusstsein um sich selbst vertiefen
und über das ihr eigene Geheimnis nachsinnen
[…] Aus diesem erleuchteten und wirkenden Be-
wusstsein erwächst ein spontanes Verlangen, das
Idealbild der Kirche wie Christus sie sah, wollte
und liebte, als seine heilige und makellose Braut
(vgl. Eph 5,27), mit dem wirklichen Gesicht,
das die Kirche heute zeigt, zu vergleichen […]
Es erwächst deshalb ein großherziges und fast
ungeduldiges Bedürfnis nach Erneuerung, das
heißt nach Berichtigung der Fehler, die dieses
Bewusstsein aufzeigt und verwirft, gleichsam wie
eine innere Prüfung vor dem Spiegel des Vorbil-
des, das Christus uns von sich hinterlassen hat.«23
Das Zweite Vatikanische Konzil hat die
kirchliche Neuausrichtung dargestellt als die
Öffnung für eine ständige Reform ihrer selbst
aus Treue zu Jesus Christus: »Jede Erneuerung
der Kirche besteht wesentlich im Wachstum der
Treue gegenüber ihrer eigenen Berufung […]
Die Kirche wird auf dem Wege ihrer Pilgerschaft
von Christus zu dieser dauernden Reform geru-
fen, deren sie allzeit bedarf, soweit sie menschli-
che und irdische Einrichtung ist.«24
Es gibt kirchliche Strukturen, die eine Dyna-
mik der Evangelisierung beeinträchtigen können;
23Paul VI., Enzyklika Ecclesiam suam (6. August 1964), 3:
AAS 56 (1964), 611-612.
24Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Unitatis
redintegratio über den Ökumenismus, 6.
27

3.8 Page 28

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gleicherweise können die guten Strukturen nütz-
lich sein, wenn ein Leben da ist, das sie beseelt,
sie unterstützt und sie beurteilt. Ohne neues Le-
ben und echten, vom Evangelium inspirierten
Geist, ohne „Treue der Kirche gegenüber ihrer
eigenen Berufung“ wird jegliche neue Struktur in
kurzer Zeit verderben.
Eine unaufschiebbare kirchliche Erneuerung
27.  Ich träume von einer missionarischen Ent-
scheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, da-
mit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der
Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein
Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der
heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. Die
Reform der Strukturen, die für die pastorale Neu-
ausrichtung erforderlich ist, kann nur in diesem
Sinn verstanden werden: dafür zu sorgen, dass sie
alle missionarischer werden, dass die gewöhnliche
Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und
offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in
eine ständige Haltung des „Aufbruchs“ versetzt
und so die positive Antwort all derer begünstigt,
denen Jesus seine Freundschaft anbietet. Wie Jo-
hannes Paul II. zu den Bischöfen Ozeaniens sag-
te, muss »jede Erneuerung in der Kirche […] auf
die Mission abzielen, um nicht einer Art kirchli-
cher Introversion zu verfallen.«25
25Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Ecclesia in Oceania (22. November 2001), 19: AAS 94
(2002), 390.
28

3.9 Page 29

▲back to top
28.  Die Pfarrei ist keine hinfällige Struktur;
gerade weil sie eine große Formbarkeit besitzt,
kann sie ganz verschiedene Formen annehmen,
die die innere Beweglichkeit und die missionari-
sche Kreativität des Pfarrers und der Gemeinde
erfordern. Obwohl sie sicherlich nicht die einzige
evangelisierende Einrichtung ist, wird sie, wenn
sie fähig ist, sich ständig zu erneuern und anzu-
passen, weiterhin »die Kirche [sein], die inmitten
der Häuser ihrer Söhne und Töchter lebt«.26 Das
setzt voraus, dass sie wirklich in Kontakt mit
den Familien und dem Leben des Volkes steht
und nicht eine weitschweifige, von den Leuten
getrennte Struktur oder eine Gruppe von Aus-
erwählten wird, die sich selbst betrachten. Die
Pfarrei ist eine kirchliche Präsenz im Territori-
um, ein Bereich des Hörens des Wortes Gottes,
des Wachstums des christlichen Lebens, des Dia-
logs, der Verkündigung, der großherzigen Näch-
stenliebe, der Anbetung und der liturgischen
Feier.27 Durch all ihre Aktivitäten ermutigt und
formt die Pfarrei ihre Mitglieder, damit sie aktiv
Handelnde in der Evangelisierung sind.28 Sie ist
eine Gemeinde der Gemeinschaft, ein Heiligtum,
wo die Durstigen zum Trinken kommen, um ih-
ren Weg fortzusetzen, und ein Zentrum ständi-
ger missionarischer Aussendung. Wir müssen je-
doch zugeben, dass der Aufruf zur Überprüfung
26Ders., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christi-
fideles laici (30. Dezember 1988), 26: AAS 81 (1989), 438.
27 Vgl. Propositio 26.
28 Vgl. Propositio 44.
29

3.10 Page 30

▲back to top
und zur Erneuerung der Pfarreien noch nicht
genügend gefruchtet hat, damit sie noch näher
bei den Menschen sind, Bereiche lebendiger Ge-
meinschaft und Teilnahme bilden und sich völlig
auf die Mission ausrichten.
29.  Die anderen kirchlichen Einrichtungen,
Basisgemeinden und kleinen Gemeinschaften,
Bewegungen und andere Formen von Vereini-
gungen sind ein Reichtum der Kirche, den der
Geist erweckt, um alle Umfelder und Bereiche zu
evangelisieren. Oftmals bringen sie einen neuen
Evangelisierungs-Eifer und eine Fähigkeit zum
Dialog mit der Welt ein, die zur Erneuerung der
Kirche beitragen. Aber es ist sehr nützlich, dass
sie nicht den Kontakt mit dieser so wertvollen
Wirklichkeit der örtlichen Pfarrei verlieren und
dass sie sich gerne in die organische Seelsorge
der Teilkirche einfügen.29 Diese Integration wird
vermeiden, dass sie nur mit einem Teil des Evan-
geliums und der Kirche verbleiben oder zu No-
maden ohne Verwurzelung werden.
30.  Jede Teilkirche ist als Teil der katholischen
Kirche unter der Leitung ihres Bischofs eben-
falls zur missionarischen Neuausrichtung aufge-
rufen. Sie ist der wichtigste Träger der Evange-
lisierung30, insofern sie der konkrete Ausdruck
der einen Kirche an einem Ort der Welt ist und
in ihr »die eine, heilige, katholische und aposto-
29 Vgl. Propositio 26.
30  Vgl. Propositio 41.
30

4 Pages 31-40

▲back to top

4.1 Page 31

▲back to top
lische Kirche Christi wahrhaft wirkt und gegen-
wärtig ist«.31 Es ist die Kirche, die in einem be-
stimmten Raum Gestalt annimmt, mit allen von
Christus geschenkten Heilsmitteln versehen ist,
zugleich jedoch ein lokales Angesicht trägt. Ihre
Freude, Jesus Christus bekannt zu machen, fin-
det ihren Ausdruck sowohl in ihrer Sorge, ihn an
anderen, noch bedürftigeren Orten zu verkün-
den, als auch in einem beständigen Aufbruch zu
den Peripherien des eigenen Territoriums oder
zu den neuen soziokulturellen Umfeldern.32 Sie
setzt sich dafür ein, immer dort gegenwärtig zu
sein, wo das Licht und das Leben des Auferstan-
denen am meisten fehlen.33 Damit dieser mis-
sionarische Impuls immer stärker, großherziger
und fruchtbarer sei, fordere ich auch jede Teil-
kirche auf, in einen entschiedenen Prozess der
Unterscheidung, der Läuterung und der Reform
einzutreten.
31.  Der Bischof muss immer das missiona-
rische Miteinander in seiner Diözese fördern,
indem er das Ideal der ersten christlichen Ge-
meinden verfolgt, in denen die Gläubigen ein
Herz und eine Seele waren (vgl. Apg 4,32). Dar-
um wird er sich bisweilen an die Spitze stellen,
31Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Christus
Dominus über die Hirtenaufgabe der Bischöfe, 11.
32  Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer am
Internationalen Kongress zum 40. Jahrestag des Konzilsdekrets Ad
gentes über die Missionstätigkeit der Kirche (11. März 2006): AAS 98
(2006), 337.
33  Vgl. Propositio 42.
31

4.2 Page 32

▲back to top
um den Weg anzuzeigen und die Hoffnung des
Volkes aufrecht zu erhalten, andere Male wird er
einfach inmitten aller sein mit seiner schlichten
und barmherzigen Nähe, und bei einigen Ge-
legenheiten wird er hinter dem Volk hergehen,
um denen zu helfen, die zurückgeblieben sind,
und – vor allem – weil die Herde selbst ihren
Spürsinn besitzt, um neue Wege zu finden. In
seiner Aufgabe, ein dynamisches, offenes und
missionarisches Miteinander zu fördern, wird er
die Reifung der vom Kodex des Kanonischen Rechts34
vorgesehenen Mitspracheregelungen sowie an-
derer Formen des pastoralen Dialogs anregen
und suchen, in dem Wunsch, alle anzuhören und
nicht nur einige, die ihm Komplimente machen.
Doch das Ziel dieser Prozesse der Beteiligung
soll nicht vornehmlich die kirchliche Organisati-
on sein, sondern der missionarische Traum, alle
zu erreichen.
32.  Da ich berufen bin, selbst zu leben, was ich
von den anderen verlange, muss ich auch an eine
Neuausrichtung des Papsttums denken. Meine
Aufgabe als Bischof von Rom ist es, offen zu
bleiben für die Vorschläge, die darauf ausgerich-
tet sind, dass eine Ausübung meines Amtes der
Bedeutung, die Jesus Christus ihm geben wollte,
treuer ist und mehr den gegenwärtigen Notwen-
digkeiten der Evangelisierung entspricht. Johan-
nes Paul II. bat um Hilfe, um »eine Form der Pri-
34  Vgl. Canones 460-468; 492-502; 511-514; 536-537.
32

4.3 Page 33

▲back to top
matsausübung zu finden, die zwar keineswegs auf
das Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sich
aber einer neuen Situation öffnet«.35 In diesem
Sinn sind wir wenig vorangekommen. Auch das
Papsttum und die zentralen Strukturen der Uni-
versalkirche haben es nötig, dem Aufruf zu einer
pastoralen Neuausrichtung zu folgen. Das Zweite
Vatikanische Konzil sagte, dass in ähnlicher Wei-
se wie die alten Patriarchatskirchen »die Bischofs-
konferenzen vielfältige und fruchtbare Hilfe lei-
sten [können], um die kollegiale Gesinnung zu
konkreter Verwirklichung zu führen«.36 Aber die-
ser Wunsch hat sich nicht völlig erfüllt, denn es
ist noch nicht deutlich genug eine Satzung der
Bischofskonferenzen formuliert worden, die sie
als Subjekte mit konkreten Kompetenzbereichen
versteht, auch einschließlich einer gewissen au-
thentischen Lehrautorität.37 Eine übertriebene
Zentralisierung kompliziert das Leben der Kir-
che und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr
zu helfen.
33.  Die Seelsorge unter missionarischem Ge-
sichtspunkt verlangt, das bequeme pastorale
Kriterium des „Es wurde immer so gemacht“
aufzugeben. Ich lade alle ein, wagemutig und
kreativ zu sein in dieser Aufgabe, die Ziele, die
Strukturen, den Stil und die Evangelisierungs-
35  Enzyklika Ut unum sint (25. Mai 1995), 95: AAS 87
(1995), 977-978.
36  Dogm. Konst. Lumen gentium über die Kirche, 23.
37 Vgl. Johannes Paul II., Motu proprio Apostolos suos
(21. Mai 1998): AAS 90 (1998), 641-658.
33

4.4 Page 34

▲back to top
Methoden der eigenen Gemeinden zu über-
denken. Eine Bestimmung der Ziele ohne eine
angemessene gemeinschaftliche Suche nach den
Mitteln, um sie zu erreichen, ist dazu verurteilt,
sich als bloße Fantasie zu erweisen. Ich rufe alle
auf, großherzig und mutig die Anregungen dieses
Dokuments aufzugreifen, ohne Beschränkungen
und Ängste. Wichtig ist, Alleingänge zu vermei-
den, sich immer auf die Brüder und Schwestern
und besonders auf die Führung der Bischöfe zu
verlassen, in einer weisen und realistischen pasto-
ralen Unterscheidung.
III. Aus dem Herzen des Evangeliums
34.  Wenn wir alles unter einen missionarischen
Gesichtspunkt stellen wollen, dann gilt das auch
für die Weise, die Botschaft bekannt zu machen.
In der Welt von heute mit der Schnelligkeit der
Kommunikation und der eigennützigen Auswahl
der Inhalte durch die Medien ist die Botschaft,
die wir verkünden, mehr denn je in Gefahr, ver-
stümmelt und auf einige ihrer zweitrangigen
Aspekte reduziert zu werden. Daraus folgt, dass
einige Fragen, die zur Morallehre der Kirche ge-
hören, aus dem Zusammenhang gerissen wer-
den, der ihnen Sinn verleiht. Das größte Problem
entsteht, wenn die Botschaft, die wir verkünden,
dann mit diesen zweitrangigen Aspekten gleich-
gesetzt wird, die, obwohl sie relevant sind, für sich
allein nicht das Eigentliche der Botschaft Jesu
Christi ausdrücken. Es ist also besser, realistisch
34

4.5 Page 35

▲back to top
zu sein und nicht davon auszugehen, dass unsere
Gesprächspartner den vollkommenen Hinter-
grund dessen kennen, was wir sagen, oder dass
sie unsere Worte mit dem wesentlichen Kern des
Evangeliums verbinden können, der ihnen Sinn,
Schönheit und Anziehungskraft verleiht.
35.  Eine Seelsorge unter missionarischem Ge-
sichtspunkt steht nicht unter dem Zwang der
zusammenhanglosen Vermittlung einer Vielzahl
von Lehren, die man durch unnachgiebige Be-
harrlichkeit aufzudrängen sucht. Wenn man ein
pastorales Ziel und einen missionarischen Stil
übernimmt, der wirklich alle ohne Ausnahmen
und Ausschließung erreichen soll, konzentriert
sich die Verkündigung auf das Wesentliche, auf
das, was schöner, größer, anziehender und zu-
gleich notwendiger ist. Die Aussage vereinfacht
sich, ohne dadurch Tiefe und Wahrheit einzubü-
ßen, und wird so überzeugender und strahlender.
36.  Alle offenbarten Wahrheiten entspringen
aus derselben göttlichen Quelle und werden mit
ein und demselben Glauben geglaubt, doch eini-
ge von ihnen sind wichtiger, um unmittelbarer das
Eigentliche des Evangeliums auszudrücken. In
diesem grundlegenden Kern ist das, was leuchtet,
die Schönheit der heilbringenden Liebe Gottes, die sich im
gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus offenbart
hat. In diesem Sinn hat das Zweite Vatikanische
Konzil gesagt, »dass es eine Rangordnung oder
„Hierarchie“ der Wahrheiten innerhalb der ka-
tholischen Lehre gibt, je nach der verschiedenen
35

4.6 Page 36

▲back to top
Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament
des christlichen Glaubens«.38 Das gilt sowohl für
die Glaubensdogmen als auch für das Ganze der
Lehre der Kirche, einschließlich der Morallehre.
37.  Der heilige Thomas von Aquin lehrte, dass
es auch in der moralischen Botschaft der Kirche
eine Hierarchie gibt, in den Tugenden und in den
Taten, die aus ihnen hervorgehen.39 Hier ist das,
worauf es ankommt, vor allem »den Glauben zu
haben, der in der Liebe wirksam ist« (Gal 5,6).
Die Werke der Nächstenliebe sind der vollkom-
menste äußere Ausdruck der inneren Gnade des
Geistes: »Das Hauptelement des neuen Gesetzes
ist die Gnade des Heiligen Geistes, die deutlich
wird durch den Glauben, der durch die Liebe
handelt.«40 Darum behauptet der heilige Thomas,
dass in Bezug auf das äußere Handeln die Barm-
herzigkeit die größte aller Tugenden ist: »An sich
ist die Barmherzigkeit die größte der Tugenden.
Denn es gehört zum Erbarmen, dass es sich auf
die anderen ergießt und – was mehr ist – der
Schwäche der anderen aufhilft; und das gerade
ist Sache des Höherstehenden. Deshalb wird das
Erbarmen gerade Gott als Wesensmerkmal zuer-
kannt; und es heißt, dass darin am meisten seine
Allmacht offenbar wird.«41
38Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Unitatis
redintegratio über den Ökumenismus, 11.
39  Vgl. Summa Theologiae I-II, q. 66, a. 4-6.
40Summa Theologiae I-II, q. 108, a. 1.
41Summa Theologiae II-II, q. 30, a. 4. Vgl. ebd., q. 30, a. 4,
ad 1: »Wir ehren Gott durch die äußeren Opfer und Geschenke
36

4.7 Page 37

▲back to top
38.  Es ist wichtig, die pastoralen Konsequen-
zen aus der Konzilslehre zu ziehen, die eine
alte Überzeugung der Kirche aufnimmt. Vor al-
lem ist zu sagen, dass in der Verkündigung des
Evangeliums notwendigerweise ein rechtes Maß
herrschen muss. Das kann man an der Häufig-
keit feststellen, mit der einige Themen behan-
delt werden, und an den Akzenten, die in der
Predigt gesetzt werden. Wenn zum Beispiel ein
Pfarrer während des liturgischen Jahres zehnmal
über die Enthaltsamkeit und nur zwei- oder drei-
mal über die Liebe oder über die Gerechtigkeit
spricht, entsteht ein Missverhältnis, durch das die
Tugenden, die in den Schatten gestellt werden,
genau diejenigen sind, die in der Predigt und in
der Katechese mehr vorkommen müssten. Das
Gleiche geschieht, wenn mehr vom Gesetz als
von der Gnade, mehr von der Kirche als von Je-
sus Christus, mehr vom Papst als vom Wort Got-
tes gesprochen wird.
39.  Ebenso wie der organische Zusammen-
hang zwischen den Tugenden verhindert, irgend-
eine von ihnen aus dem christlichen Ideal auszu-
schließen, wird auch keine Wahrheit geleugnet.
Man darf die Vollständigkeit der Botschaft des
nicht seinetwegen, sondern unseretwegen und des Nächsten
wegen; denn er bedarf unserer Opfer nicht, sondern will, dass
sie ihm dargebracht werden um unserer Hingabe und um des
Nutzens des Nächsten willen. Deshalb ist das Erbarmen, durch
das wir dem Elend der anderen zu Hilfe kommen, ein Opfer,
das ihm wohlgefälliger ist, weil es dem Nutzen des Nächsten
näher kommt.«
37

4.8 Page 38

▲back to top
Evangeliums nicht verstümmeln. Außerdem ver-
steht man jede Wahrheit besser, wenn man sie
in Beziehung zu der harmonischen Ganzheit
der christlichen Botschaft setzt, und in diesem
Zusammenhang haben alle Wahrheiten ihre Be-
deutung und erhellen sich gegenseitig. Wenn die
Predigttätigkeit treu gegenüber dem Evangelium
ist, zeigt sich in aller Klarheit die Zentralität ei-
niger Wahrheiten, und es wird deutlich, dass die
christliche Morallehre keine stoische Ethik ist,
dass sie mehr ist als eine Askese, dass sie weder
eine bloße praktische Philosophie ist, noch ein
Katalog von Sünden und Fehlern. Das Evangeli-
um lädt vor allem dazu ein, dem Gott zu antwor-
ten, der uns liebt und uns rettet – ihm zu antwor-
ten, indem man ihn in den anderen erkennt und
aus sich selbst herausgeht, um das Wohl aller zu
suchen. Diese Einladung darf unter keinen Um-
ständen verdunkelt werden! Alle Tugenden ste-
hen im Dienst dieser Antwort der Liebe. Wenn
diese Einladung nicht stark und anziehend leuch-
tet, riskiert das moralische Gebäude der Kirche,
ein Kartenhaus zu werden, und das ist unsere
schlimmste Gefahr. Denn dann wird es nicht
eigentlich das Evangelium sein, was verkündet
wird, sondern einige lehrmäßige oder morali-
sche Schwerpunkte, die aus bestimmten theolo-
gischen Optionen hervorgehen. Die Botschaft
läuft Gefahr, ihre Frische zu verlieren und nicht
mehr „den Duft des Evangeliums“ zu haben.
38

4.9 Page 39

▲back to top
IV. Die Mission, die in den menschlichen Be-
grenzungen Gestalt annimmt
40.  Die Kirche, die eine missionarische Jünge-
rin ist, muss in ihrer Interpretation des offenbar-
ten Wortes und in ihrem Verständnis der Wahr-
heit wachsen. Die Aufgabe der Exegeten und der
Theologen trägt dazu bei, dass »das Urteil der
Kirche reift«.42 Auf andere Weise tun dies auch
die anderen Wissenschaften. In Bezug auf die
Sozialwissenschaften, zum Beispiel, hat Johannes
Paul II. gesagt, dass die Kirche ihren Beiträgen
Achtung schenkt, »um daraus konkrete Hinwei-
se zu gewinnen, die ihr helfen, ihre Aufgabe des
Lehramtes zu vollziehen«.43 Außerdem gibt es
innerhalb der Kirche unzählige Fragen, über die
mit großer Freiheit geforscht und nachgedacht
wird. Die verschiedenen Richtungen des philoso-
phischen, theologischen und pastoralen Denkens
können, wenn sie sich vom Geist in der gegen-
seitigen Achtung und Liebe in Einklang bringen
lassen, zur Entfaltung der Kirche beitragen, weil
sie helfen, den äußerst reichen Schatz des Wortes
besser deutlich zu machen. Denjenigen, die sich
eine monolithische, von allen ohne Nuancierun-
gen verteidigte Lehre erträumen, mag das als Un-
vollkommenheit und Zersplitterung erscheinen.
Doch in Wirklichkeit hilft diese Vielfalt, die ver-
schiedenen Aspekte des unerschöpflichen Reich-
42Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Dei
Verbum über die göttliche Offenbarung, 12.
43 Motu proprio Socialium Scientiarum (1. Januar 1994):
AAS 86 (1994), 209.
39

4.10 Page 40

▲back to top
tums des Evangeliums besser zu zeigen und zu
entwickeln.44
41.  Zugleich erfordern die enormen und
schnellen kulturellen Veränderungen, dass wir
stets unsere Aufmerksamkeit darauf richten
und versuchen, die ewigen Wahrheiten in einer
Sprache auszudrücken, die deren ständige Neu-
heit durchscheinen lässt. Denn im Glaubens-
gut der christlichen Lehre »ist das eine die Sub-
stanz […] ein anderes die Art und Weise, diese
auszudrücken«.45 Manchmal ist das, was die Gläu-
bigen beim Hören einer vollkommen musterhaf-
ten Sprache empfangen, aufgrund ihres eigenen
Sprachgebrauchs und -verständnisses etwas, was
nicht dem wahren Evangelium Jesu Christi ent-
spricht. In der heiligen Absicht, ihnen die Wahr-
heit über Gott und den Menschen zu vermitteln,
geben wir ihnen bei manchen Gelegenheiten ei-
nen falschen „Gott“ und ein menschliches Ideal,
44  Der heilige Thomas von Aquin betonte, »dass die
Unterscheidung und Vielheit der Dinge aus der Absicht des
ersten Wirkenden stammt«, dessen, der will, »dass das, was
dem einen Geschöpfe in der Darstellung der göttlichen Güte
fehlt, aus einem anderen ergänzt wird«, weil seine Güte »durch
ein einzelnes Geschöpf nicht hinreichend dargestellt werden
kann« (Summa Theologiae I, q. 47, a. 1). Deshalb müssen wir
die Vielheit der Dinge in ihren vielfachen Beziehungen (vgl.
Summa Theologiae I, q. 47, a. 2, ad 1; q. 47, a. 3) erfassen. Aus
ähnlichen Gründen haben wir es nötig, einander zu hören und
uns in unserer partiellen Wahrnehmung der Wirklichkeit und
des Evangeliums gegenseitig zu ergänzen.
45Johannes XXIII., Ansprache zur feierlichen Eröffnung des
Zweiten Vatikanischen Konzils (11. Oktober 1962): AAS 54 (1962),
792: »Est enim aliud ipsum depositum Fidei, seu veritates, quae veneranda
doctrina nostra continentur, aliud modus, quo eaedem enuntiantur«.
40

5 Pages 41-50

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5.1 Page 41

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das nicht wirklich christlich ist. Auf diese Weise
sind wir einer Formulierung treu, überbringen
aber nicht die Substanz. Das ist das größte Ri-
siko. Denken wir daran: »Die Ausdrucksform
der Wahrheit kann vielgestaltig sein. Und die Er-
neuerung der Ausdrucksformen erweist sich als
notwendig, um die Botschaft vom Evangelium in
ihrer unwandelbaren Bedeutung an den heutigen
Menschen weiterzugeben.«46
42.  Das hat eine große Relevanz in der Verkün-
digung des Evangeliums, wenn es uns wirklich
am Herzen liegt zu erreichen, dass seine Schön-
heit besser wahrgenommen und von allen an-
genommen wird. In jedem Fall können wir die
Lehren der Kirche nie zu etwas machen, das
leicht verständlich ist und die uneingeschränkte
Würdigung aller erfährt. Der Glaube behält im-
mer einen Aspekt des Kreuzes, eine gewisse Un-
verständlichkeit, die jedoch die Festigkeit der in-
neren Zustimmung nicht beeinträchtigt. Es gibt
Dinge, die man nur von dieser inneren Zustim-
mung her versteht und schätzt, die eine Schwes-
ter der Liebe ist, jenseits der Klarheit, mit der
man ihre Gründe und Argumente erfassen kann.
Darum ist daran zu erinnern, dass jede Unter-
weisung in der Lehre in einer Haltung der Evan-
gelisierung geschehen muss, die durch die Nähe,
die Liebe und das Zeugnis die Zustimmung des
Herzens weckt.
46Johannes Paul II., Enzyklika Ut unum sint (25. Mai
1995), 19: AAS 87 (1995), 933.
41

5.2 Page 42

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43.  In ihrem bewährten Unterscheidungver-
mögen kann die Kirche auch dazu gelangen, ei-
gene, nicht direkt mit dem Kern des Evangeli-
ums verbundene, zum Teil tief in der Geschichte
verwurzelte Bräuche zu erkennen, die heute nicht
mehr in derselben Weise interpretiert werden und
deren Botschaft gewöhnlich nicht entsprechend
wahrgenommen wird. Sie mögen schön sein, leis-
ten jedoch jetzt nicht denselben Dienst im Hin-
blick auf die Weitergabe des Evangeliums. Ha-
ben wir keine Angst, sie zu revidieren! In gleicher
Weise gibt es kirchliche Normen oder Vorschrif-
ten, die zu anderen Zeiten sehr wirksam gewesen
sein mögen, aber nicht mehr die gleiche erziehe-
rische Kraft als Richtlinien des Lebens besitzen.
Der heilige Thomas von Aquin betonte, dass die
Vorschriften, die dem Volk Gottes von Christus
und den Aposteln gegeben wurden, »ganz weni-
ge« sind.47 Indem er den heiligen Augustinus zi-
tierte, schrieb er, dass die von der Kirche später
hinzugefügten Vorschriften mit Maß einzufor-
dern sind, »um den Gläubigen das Leben nicht
schwer zu machen« und unsere Religion nicht
in eine Sklaverei zu verwandeln, während »die
Barmherzigkeit Gottes wollte, dass sie frei sei«.48
Diese Warnung, die vor einigen Jahrhunderten
gegeben wurde, besitzt eine erschreckende Ak-
tualität. Sie müsste eines der Kriterien sein, die in
Betracht zu ziehen sind, wenn über eine Reform
47Summa Theologiae I-II, q. 107, a. 4.
48Ebd.
42

5.3 Page 43

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der Kirche und ihrer Verkündigung nachgedacht
wird, die wirklich erlaubt, alle zu erreichen.
44.  Andererseits dürfen sowohl die Hirten als
auch alle Gläubigen, die ihre Brüder im Glauben
oder auf einem Weg der Öffnung auf Gott hin
begleiten, nicht vergessen, was der Katechismus der
Katholischen Kirche mit großer Klarheit lehrt: »Die
Anrechenbarkeit einer Tat und die Verantwor-
tung für sie können durch Unkenntnis, Unacht-
samkeit, Gewalt, Furcht, Gewohnheiten, über-
mäßige Affekte sowie weitere psychische oder
gesellschaftliche Faktoren vermindert, ja sogar
aufgehoben sein.«49
Daher muss man, ohne den Wert des vom
Evangelium vorgezeichneten Ideals zu mindern,
die möglichen Wachstumsstufen der Menschen,
die Tag für Tag aufgebaut werden, mit Barm-
herzigkeit und Geduld begleiten.50 Die Priester
erinnere ich daran, dass der Beichtstuhl keine
Folterkammer sein darf, sondern ein Ort der
Barmherzigkeit des Herrn, die uns anregt, das
mögliche Gute zu tun. Ein kleiner Schritt in-
mitten großer menschlicher begrenzungen kann
Gott wohlgefälliger sein als das äußerlich korrek-
te Leben dessen, der seine Tage verbringt, ohne
auf nennenswerte Schwierigkeiten zu stoßen.
Alle müssen von dem Trost und dem Ansporn
49  Nr. 1735.
50  Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Familiaris consortio (22. November 1981), 34: AAS 74
(1982), 123-125.
43

5.4 Page 44

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der heilbringenden Liebe Gottes erreicht wer-
den, der geheimnisvoll in jedem Menschen wirkt,
jenseits seiner Mängel und Verfehlungen.
45.  So sehen wir, dass der evangelisierende
Einsatz sich innerhalb der Grenzen der Spra-
che und der Umstände bewegt. Er versucht im-
mer, die Wahrheit des Evangeliums in einem
bestimmten Kontext bestmöglich mitzuteilen,
ohne auf die Wahrheit, das Gute und das Licht
zu verzichten, die eingebracht werden können,
wenn die Vollkommenheit nicht möglich ist. Ein
missionarisches Herz weiß um diese Grenzen
und wird »den Schwachen ein Schwacher […]
allen alles« (vgl. 1 Kor 9,22). Niemals verschließt
es sich, niemals greift es auf die eigenen Sicher-
heiten zurück, niemals entscheidet es sich für die
Starrheit der Selbstverteidigung. Es weiß, dass es
selbst wachsen muss im Verständnis des Evange-
liums und in der Unterscheidung der Wege des
Geistes, und so verzichtet es nicht auf das mög-
liche Gute, obwohl es Gefahr läuft, sich mit dem
Schlamm der Straße zu beschmutzen.
V. Eine Mutter mit offenem Herzen
46.  Eine Kirche „im Aufbruch“ ist eine Kirche
mit offenen Türen. Zu den anderen hinauszu-
gehen, um an die menschlichen Randgebiete zu
gelangen, bedeutet nicht, richtungs- und sinnlos
auf die Welt zuzulaufen. Oftmals ist es besser,
den Schritt zu verlangsamen, die Ängstlichkeit
abzulegen, um dem anderen in die Augen zu se-
44

5.5 Page 45

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hen und zuzuhören, oder auf die Dringlichkeiten
zu verzichten, um den zu begleiten, der am Stra-
ßenrand geblieben ist. Manchmal ist sie wie der
Vater des verlorenen Sohns, der die Türen offen
lässt, damit der Sohn, wenn er zurückkommt,
ohne Schwierigkeit eintreten kann.
47.  Die Kirche ist berufen, immer das offene
Haus des Vaters zu sein. Eines der konkreten Zei-
chen dieser Öffnung ist es, überall Kirchen mit
offenen Türen zu haben. So stößt einer, wenn er
einer Eingebung des Geistes folgen will und nä-
herkommt, weil er Gott sucht, nicht auf die Kälte
einer verschlossenen Tür. Doch es gibt noch an-
dere Türen, die ebenfalls nicht geschlossen wer-
den dürfen. Alle können in irgendeiner Weise am
kirchlichen Leben teilnehmen, alle können zur
Gemeinschaft gehören, und auch die Türen der
Sakramente dürften nicht aus irgendeinem belie-
bigen Grund geschlossen werden. Das gilt vor
allem, wenn es sich um jenes Sakrament handelt,
das „die Tür“ ist: die Taufe. Die Eucharistie ist,
obwohl sie die Fülle des sakramentalen Lebens
darstellt, nicht eine Belohnung für die Vollkom-
menen, sondern ein großzügiges Heilmittel und
eine Nahrung für die Schwachen.51 Diese Über-
51  Vgl. Ambrosius, De Sacramentis, IV, 6, 28: PL 16, 464:
»Ich muss ihn immer empfangen, damit er immer meine
Sünden vergibt. Wenn ich ständig sündige, muss ich immer ein
Heilmittel haben«; ebd., IV, 5, 24: PL 16, 463: »Wer das Manna
aß, starb; wer von diesem Leib isst, wird die Vergebung seiner
Sünden erhalten.« Cyrill von Alexandrien, In Joh. Evang. IV, 2:
PG 73, 584-585: »Ich habe mich geprüft und erkannt, dass ich
45

5.6 Page 46

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zeugungen haben auch pastorale Konsequenzen,
und wir sind berufen, sie mit Besonnenheit und
Wagemut in Betracht zu ziehen. Häufig verhalten
wir uns wie Kontrolleure der Gnade und nicht
wie ihre Förderer. Doch die Kirche ist keine
Zollstation, sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für
jeden mit seinem mühevollen Leben.
48.  Wenn die gesamte Kirche diese missionari-
sche Dynamik annimmt, muss sie alle erreichen,
ohne Ausnahmen. Doch wen müsste sie bevor-
zugen? Wenn einer das Evangelium liest, findet
er eine ganz klare Ausrichtung: nicht so sehr die
reichen Freunde und Nachbarn, sondern vor al-
lem die Armen und die Kranken, diejenigen, die
häufig verachtet und vergessen werden, die »es
dir nicht vergelten können« (Lk 14,14). Es dürfen
weder Zweifel bleiben, noch halten Erklärungen
stand, die diese so klare Botschaft schwächen
könnten. Heute und immer gilt: »Die Armen
sind die ersten Adressaten des Evangeliums«,52
und die unentgeltlich an sie gerichtete Evangeli-
sierung ist ein Zeichen des Reiches, das zu brin-
gen Jesus gekommen ist. Ohne Umschweife ist
zu sagen, dass – wie die Bischöfe Nordost-Indi-
unwürdig bin. Denen, die so reden, sage ich: Und wann werdet
ihr würdig sein? Wann werdet ihr also vor Christus erscheinen?
Und wenn eure Sünden euch hindern, näherzukommen, und
wenn ihr niemals aufhört zu fallen – wer bemerkt seine eigenen
Fehler, sagt der Psalm – werdet ihr schließlich nicht teilhaben an
der Heiligung, die Leben schenkt für die Ewigkeit?«
52Benedikt XVI., Ansprache anlässlich der Begegnung mit den
brasilianischen Bischöfen in der Kathedrale von São Paulo, Brasilien (11.
Mai 2007), 3: AAS 99 (2007), 428.
46

5.7 Page 47

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ens lehren – ein untrennbares Band zwischen un-
serem Glauben und den Armen besteht. Lassen
wir die Armen nie allein!
49.  Brechen wir auf, gehen wir hinaus, um al-
len das Leben Jesu Christi anzubieten! Ich wie-
derhole hier für die ganze Kirche, was ich viele
Male den Priestern und Laien von Buenos Aires
gesagt habe: Mir ist eine „verbeulte“ Kirche, die
verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Stra-
ßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche,
die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer
Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten
zu klammern, krank ist. Ich will keine Kirche, die
darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein, und
schließlich in einer Anhäufung von fixen Ideen
und Streitigkeiten verstrickt ist. Wenn uns etwas
in heilige Sorge versetzen und unser Gewissen
beunruhigen soll, dann ist es die Tatsache, dass
so viele unserer Brüder und Schwestern ohne die
Kraft, das Licht und den Trost der Freundschaft
mit Jesus Christus leben, ohne eine Glaubensge-
meinschaft, die sie aufnimmt, ohne einen Hori-
zont von Sinn und Leben. Ich hoffe, dass mehr
als die Furcht, einen Fehler zu machen, unser
Beweggrund die Furcht sei, uns einzuschließen
in die Strukturen, die uns einen falschen Schutz
geben, in die Normen, die uns in unnachsichtige
Richter verwandeln, in die Gewohnheiten, in de-
nen wir uns ruhig fühlen, während draußen eine
hungrige Menschenmenge wartet und Jesus uns
pausenlos wiederholt: »Gebt ihr ihnen zu essen!«
(Mk 6,37).
47

5.8 Page 48

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5.9 Page 49

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ZWEITES KAPITEL
IN DER KRISE DES GEMEINSCHAFTLI-
CHEN ENGAGEMENTS
50.  Bevor wir über einige grundlegende Fragen
in Bezug auf das evangelisierende Handeln spre-
chen, sollte kurz erwähnt werden, welches der
Rahmen ist, in dem wir zu leben und zu wirken ha-
ben. Heute wird gewöhnlich von einem „diagnos-
tischen Überhang“ gesprochen, der nicht immer
von wirklich anwendbaren Lösungsvorschlägen
begleitet ist. Andererseits würde uns auch eine rein
soziologische Sicht nicht nützen, die den Anspruch
erhebt, die ganze Wirklichkeit mit ihrer Methodo-
logie in einer nur hypothetisch neutralen und un-
persönlichen Weise zu umfassen. Was ich vorzule-
gen gedenke, geht vielmehr in die Richtung einer
Unterscheidung anhand des Evangeliums. Es ist die Sicht
des missionarischen Jüngers, die »lebt vom Licht
und von der Kraft des Heiligen Geistes«.53
51.  Es ist nicht Aufgabe des Papstes, eine de-
taillierte und vollkommene Analyse der gegen-
wärtigen Wirklichkeit zu bieten, aber ich fordere
alle Gemeinschaften auf, sich um »eine immer
wachsame Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu
erforschen«54 zu bemühen. Wir stehen hier vor
53Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Pastores dabo vobis (25. März 1992), 10: AAS 84 (1992),
673.
54Paul VI., Enzyklika Ecclesiam suam (6. August 1964),
19: AAS 56 (1964), 632.
49

5.10 Page 50

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einer großen Verantwortung, weil einige gegen-
wärtige Situationen, falls sie keine guten Lösun-
gen finden, Prozesse einer Entmenschlichung
auslösen können, die dann nur schwer rückgän-
gig zu machen sind. Es ist angebracht zu klären,
was eine Frucht des Gottesreiches sein kann, und
auch, was dem Plan Gottes schadet. Das schließt
nicht nur ein, die Eingebungen des guten und
des bösen Geistes zu erkennen und zu interpre-
tieren, sondern – und hier liegt das Entscheiden-
de – die des guten Geistes zu wählen und die des
bösen Geistes zurückzuweisen. Ich setze die ver-
schiedenen Analysen voraus, welche die anderen
Dokumente des universalen Lehramtes dargebo-
ten haben, wie auch die, welche die regionalen
und nationalen Bischofskonferenzen vorgestellt
haben. In diesem Schreiben will ich nur kurz
und unter pastoralem Gesichtspunkt auf einige
Aspekte der Wirklichkeit eingehen, welche die
Dynamiken der missionarischen Erneuerung der
Kirche anhalten oder schwächen können, sei es,
weil sie das Leben und die Würde des Gottes-
volkes betreffen, sei es, weil sie sich auch auf die
Personen auswirken, die unmittelbarer zu den
kirchlichen Institutionen gehören und Evangeli-
sierungsaufgaben erfüllen.
I. Einige Herausforderungen der Welt von
heute
52.  Die Menschheit erlebt im Moment eine his-
torische Wende, die wir an den Fortschritten able-
50

6 Pages 51-60

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6.1 Page 51

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sen können, die auf verschiedenen Gebieten ge-
macht werden. Lobenswert sind die Erfolge, die
zum Wohl der Menschen beitragen, zum Beispiel
auf dem Gebiet der Gesundheit, der Erziehung
und der Kommunikation. Wir dürfen jedoch
nicht vergessen, dass der größte Teil der Männer
und Frauen unserer Zeit in täglicher Unsicher-
heit lebt, mit unheilvollen Konsequenzen. Einige
Pathologien nehmen zu. Angst und Verzweiflung
ergreifen das Herz vieler Menschen, sogar in den
sogenannten reichen Ländern. Häufig erlischt
die Lebensfreude, nehmen Respektlosigkeit und
Gewalt zu, die soziale Ungleichheit tritt immer
klarer zutage. Man muss kämpfen, um zu leben
– und oft wenig würdevoll zu leben. Dieser epo-
chale Wandel ist verursacht worden durch die
enormen Sprünge, die in Bezug auf Qualität,
Quantität, Schnelligkeit und Häufung im wis-
senschaftlichen Fortschritt sowie in den tech-
nologischen Neuerungen und ihren prompten
Anwendungen in verschiedenen Bereichen der
Natur und des Lebens zu verzeichnen sind. Wir
befinden uns im Zeitalter des Wissens und der
Information, einer Quelle neuer Formen einer
sehr oft anonymen Macht.
Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung
53.  Ebenso wie das Gebot „du sollst nicht tö-
ten“ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert
des menschlichen Lebens zu sichern, müssen
wir heute ein „Nein zu einer Wirtschaft der
51

6.2 Page 52

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Ausschließung und der Disparität der Einkom-
men“ sagen. Diese Wirtschaft tötet. Es ist un-
glaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein
alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße
zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei
Punkte in der Börse Schlagzeilen macht. Das
ist Ausschließung. Es ist nicht mehr zu tolerie-
ren, dass Nahrungsmittel weggeworfen werden,
während es Menschen gibt, die Hunger leiden.
Das ist soziale Ungleichheit. Heute spielt sich al-
les nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit
und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der
Mächtigere den Schwächeren zunichte macht.
Als Folge dieser Situation sehen sich große Mas-
sen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den
Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten,
ohne Ausweg. Der Mensch an sich wird wie ein
Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und
dann wegwerfen kann. Wir haben die „Wegwerf-
kultur“ eingeführt, die sogar gefördert wird. Es
geht nicht mehr einfach um das Phänomen der
Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern
um etwas Neues: Mit der Ausschließung ist die
Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man
lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie
befindet man sich nicht in der Unterschicht, am
Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern
man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind
nicht „Ausgebeutete“, sondern Müll, „Abfall“.
54.  In diesem Zusammenhang verteidigen ei-
nige noch die „Überlauf“-Theorien (trickle-down
Theorie), die davon ausgehen, dass jedes vom
52

6.3 Page 53

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freien Markt begünstigte Wirtschaftswachstum
von sich aus eine größere Gleichheit und soziale
Einbindung in der Welt hervorzurufen vermag.
Diese Ansicht, die nie von den Fakten bestätigt
wurde, drückt ein undifferenziertes, naives Ver-
trauen auf die Güte derer aus, die die wirtschaft-
liche Macht in Händen halten, wie auch auf die
sakralisierten Mechanismen des herrschenden
Wirtschaftssystems. Inzwischen warten die Aus-
geschlossenen weiter. Um einen Lebensstil ver-
treten zu können, der die anderen ausschließt,
oder um sich für dieses egoistische Ideal begeis-
tern zu können, hat sich eine Globalisierung
der Gleichgültigkeit entwickelt. Fast ohne es zu
merken, werden wir unfähig, Mitleid zu emp-
finden gegenüber dem schmerzvollen Aufschrei
der anderen, wir weinen nicht mehr angesichts
des Dramas der anderen, noch sind wir daran
interessiert, uns um sie zu kümmern, als sei all
das eine uns fern liegende Verantwortung, die
uns nichts angeht. Die Kultur des Wohlstands
betäubt uns, und wir verlieren die Ruhe, wenn
der Markt etwas anbietet, was wir noch nicht ge-
kauft haben, während alle diese wegen fehlender
Möglichkeiten unterdrückten Leben uns wie ein
bloßes Schauspiel erscheinen, das uns in keiner
Weise erschüttert.
Nein zur neuen Vergötterung des Geldes
55.  Einer der Gründe dieser Situation liegt
in der Beziehung, die wir zum Geld hergestellt
53

6.4 Page 54

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haben, denn friedlich akzeptieren wir seine Vor-
herrschaft über uns und über unsere Gesellschaf-
ten. Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt
uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe
anthropologische Krise steht: die Leugnung des
Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Göt-
zen geschaffen. Die Anbetung des antiken gol-
denen Kalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine neue und
erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus
des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft
ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschli-
ches Ziel. Die weltweite Krise, die das Finanz-
wesen und die Wirtschaft erfasst, macht ihre Un-
ausgeglichenheiten und vor allem den schweren
Mangel an einer anthropologischen Orientierung
deutlich – ein Mangel, der den Menschen auf nur
eines seiner Bedürfnisse reduziert: auf den Kon-
sum.
56.  Während die Einkommen einiger weniger
exponentiell steigen, sind die der Mehrheit im-
mer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glück-
lichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht
auf Ideologien zurück, die die absolute Autono-
mie der Märkte und die Finanzspekulation ver-
teidigen. Darum bestreiten sie das Kontrollrecht
der Staaten, die beauftragt sind, über den Schutz
des Gemeinwohls zu wachen. Es entsteht eine
neue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei,
die einseitig und unerbittlich ihre Gesetze und
ihre Regeln aufzwingt. Außerdem entfernen die
Schulden und ihre Zinsen die Länder von den
praktikablen Möglichkeiten ihrer Wirtschaft und
54

6.5 Page 55

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die Bürger von ihrer realen Kaufkraft. Zu all dem
kommt eine verzweigte Korruption und eine ego-
istische Steuerhinterziehung hinzu, die weltwei-
te Dimensionen angenommen haben. Die Gier
nach Macht und Besitz kennt keine Grenzen. In
diesem System, das dazu neigt, alles aufzusaugen,
um den Nutzen zu steigern, ist alles Schwache
wie die Umwelt wehrlos gegenüber den Interes-
sen des vergöttlichten Marktes, die zur absoluten
Regel werden.
Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen
57.  Hinter dieser Haltung verbergen sich die
Ablehnung der Ethik und die Ablehnung Gottes.
Die Ethik wird gewöhnlich mit einer gewissen
spöttischen Verachtung betrachtet. Sie wird als
kontraproduktiv und zu menschlich angesehen,
weil sie das Geld und die Macht relativiert. Man
empfindet sie als eine Bedrohung, denn sie verur-
teilt die Manipulierung und die Degradierung der
Person. Schließlich verweist die Ethik auf einen
Gott, der eine verbindliche Antwort erwartet, die
außerhalb der Kategorien des Marktes steht. Für
diese, wenn sie absolut gesetzt werden, ist Gott
unkontrollierbar, nicht manipulierbar und sogar
gefährlich, da er den Menschen zu seiner vollen
Verwirklichung ruft und zur Unabhängigkeit von
jeder Art von Unterjochung. Die Ethik – eine
nicht ideologisierte Ethik – erlaubt, ein Gleich-
gewicht und eine menschlichere Gesellschafts-
ordnung zu schaffen. In diesem Sinn rufe ich
55

6.6 Page 56

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die Finanzexperten und die Regierenden der ver-
schiedenen Länder auf, die Worte eines Weisen
des Altertums zu bedenken: »Die eigenen Güter
nicht mit den Armen zu teilen bedeutet, diese zu
bestehlen und ihnen das Leben zu entziehen. Die
Güter, die wir besitzen, gehören nicht uns, son-
dern ihnen.«55
58.  Eine Finanzreform, welche die Ethik nicht
ignoriert, würde einen energischen Wechsel der
Grundeinstellung der politischen Führungskräf-
te erfordern, die ich aufrufe, diese Herausforde-
rung mit Entschiedenheit und Weitblick anzu-
nehmen, natürlich ohne die Besonderheit eines
jeden Kontextes zu übersehen. Das Geld muss
dienen und nicht regieren! Der Papst liebt alle,
Reiche und Arme, doch im Namen Christi hat
er die Pflicht daran zu erinnern, dass die Reichen
den Armen helfen, sie achten und fördern müs-
sen. Ich ermahne euch zur uneigennützigen So-
lidarität und zu einer Rückkehr von Wirtschaft
und Finanzleben zu einer Ethik zugunsten des
Menschen.
Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt
59.  Heute wird von vielen Seiten eine größe-
re Sicherheit gefordert. Doch solange die Aus-
schließung und die soziale Ungleichheit in der
Gesellschaft und unter den verschiedenen Völ-
55Johannes Chrysostomus, De Lazaro conciones II,6: PG
48, 992 D.
56

6.7 Page 57

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kern nicht beseitigt werden, wird es unmöglich
sein, die Gewalt auszumerzen. Die Armen und
die ärmsten Bevölkerungen werden der Gewalt
beschuldigt, aber ohne Chancengleichheit finden
die verschiedenen Formen von Aggression und
Krieg einen fruchtbaren Boden, der früher oder
später die Explosion verursacht. Wenn die lokale,
nationale oder weltweite Gesellschaft einen Teil
ihrer selbst in den Randgebieten seinem Schicksal
überlässt, wird es keine politischen Programme,
noch Ordnungskräfte oder Intelligence geben, die
unbeschränkt die Ruhe gewährleisten können.
Das geschieht nicht nur, weil die soziale Ungleich-
heit gewaltsame Reaktionen derer provoziert, die
vom System ausgeschlossen sind, sondern weil
das gesellschaftliche und wirtschaftliche System
an der Wurzel ungerecht ist. Wie das Gute dazu
neigt, sich auszubreiten, so neigt das Böse, dem
man einwilligt, das heißt die Ungerechtigkeit,
dazu, ihre schädigende Kraft auszudehnen und
im Stillen die Grundlagen jeden politischen und
sozialen Systems aus den Angeln zu heben, so
gefestigt es auch erscheinen mag. Wenn jede Tat
ihre Folgen hat, dann enthält ein in den Struk-
turen einer Gesellschaft eingenistetes Böses im-
mer ein Potenzial der Auflösung und des Todes.
Das in den ungerechten Gesellschaftsstrukturen
kristallisierte Böse ist der Grund, warum man
sich keine bessere Zukunft erwarten kann. Wir
befinden uns weit entfernt vom sogenannten
„Ende der Geschichte“, da die Bedingungen für
eine vertretbare und friedliche Entwicklung noch
57

6.8 Page 58

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nicht entsprechend in die Wege geleitet und ver-
wirklicht sind.
60.  Die Mechanismen der augenblicklichen
Wirtschaft fördern eine Anheizung des Kon-
sums, aber es stellt sich heraus, dass der zügel-
lose Konsumismus, gepaart mit der sozialen Un-
gleichheit das soziale Gefüge doppelt schädigt.
Auf diese Weise erzeugt die soziale Ungleichheit
früher oder später eine Gewalt, die der Rüstungs-
wettlauf nicht löst, noch jemals lösen wird. Er
dient nur dem Versuch, diejenigen zu täuschen,
die größere Sicherheit fordern, als wüssten wir
nicht, dass Waffen und gewaltsame Unterdrüc-
kung, anstatt Lösungen herbeizuführen, neue
und schlimmere Konflikte schaffen. Einige fin-
den schlicht Gefallen daran, die Armen und die
armen Länder mit ungebührlichen Verallgemei-
nerungen der eigenen Übel zu beschuldigen
und sich einzubilden, die Lösung in einer „Er-
ziehung“ zu finden, die sie beruhigt und in ge-
zähmte, harmlose Wesen verwandelt. Das wird
noch anstößiger, wenn die Ausgeschlossenen je-
nen gesellschaftlichen Krebs wachsen sehen, der
die in vielen Ländern – in den Regierungen, im
Unternehmertum und in den Institutionen – tief
verwurzelte Korruption ist, unabhängig von der
politischen Ideologie der Regierenden.
Einige kulturelle Herausforderungen
61.  Wir evangelisieren auch dann, wenn wir
versuchen, uns den verschiedenen Herausfor-
58

6.9 Page 59

▲back to top
derungen zu stellen, die auftauchen können.56
Manchmal zeigen sie sich in echten Angriffen
auf die Religionsfreiheit oder in neuen Situatio-
nen der Christenverfolgung, die in einigen Län-
dern allarmierende Stufen des Hasses und der
Gewalt erreicht haben. An vielen Orten handelt
es sich eher um eine verbreitete relativistische
Gleichgültigkeit, verbunden mit der Ernüchte-
rung und der Krise der Ideologien, die als Reak-
tion auf alles, was totalitär erscheint, eingetreten
ist. Das schadet nicht nur der Kirche, sondern
dem Gesellschaftsleben allgemein. Geben wir zu,
dass in einer Kultur, in der jeder Träger einer ei-
genen subjektiven Wahrheit sein will, die Bürger
schwerlich das Verlangen haben, sich an einem
gemeinsamen Projekt zu beteiligen, das die per-
sönlichen Interessen und Wünsche übersteigt.
62.  In der herrschenden Kultur ist der erste
Platz besetzt von dem, was äußerlich, unmittel-
bar, sichtbar, schnell, oberflächlich und provi-
sorisch ist. Das Wirkliche macht dem Anschein
Platz. In vielen Ländern hat die Globalisierung
mit der Invasion von Tendenzen aus anderen,
wirtschaftlich entwickelten, aber ethisch ge-
schwächten Kulturen einen beschleunigten Ver-
fall der kulturellen Wurzeln bedingt. Das haben
in mehreren Synoden die Bischöfe verschiedener
Kontinente zum Ausdruck gebracht. Die afri-
kanischen Bischöfe haben zum Beispiel in An-
56  Vgl. Propositio 13.
59

6.10 Page 60

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knüpfung an die Enzyklika Sollicitudo rei socialis
vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass man
oftmals die Länder Afrikas zu bloßen »Rädern ei-
nes Mechanismus, zu Teilen einer gewaltigen Ma-
schinerie« umfunktionieren will. »Das geschieht
oft auch auf dem Gebiet der sozialen Kommu-
nikationsmittel: Weil diese meistens von Zentren
im Norden der Welt aus geleitet werden, berück-
sichtigen sie nicht immer in gebührender Weise
die eigenen vorrangigen Anliegen und Probleme
dieser Länder, noch achten sie deren kulturelle
Eigenart.«57 In gleicher Weise haben die Bischöfe
Asiens »die von außen auf die asiatischen Kul-
turen einwirkenden Einflüsse« hervorgehoben.
»Neue Verhaltensformen kommen auf, die auf
den übertriebenen Gebrauch von Kommunika-
tionsmitteln […] zurückzuführen sind […] In
direkter Folge sind die negativen Aspekte der
Medien- und Unterhaltungsindustrie eine Gefahr
für die traditionellen Werte.«58
63.  Der katholische Glaube vieler Völker steht
heute vor der Herausforderung der Verbreitung
neuer religiöser Bewegungen, von denen einige
zum Fundamentalismus tendieren und andere
eine Spiritualität ohne Gott anzubieten scheinen.
Das ist einerseits das Ergebnis einer menschli-
57Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Ecclesia in Africa (14. September 1995), 52: AAS
88 (1996), 32-33; Ders., Enzyklika Sollicitudo rei socialis (30.
Dezember 1987), 22: AAS 80 (1988), 539.
58Ders., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia
in Asia (6. November 1999), 7: AAS 92 (2000), 458.
60

7 Pages 61-70

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7.1 Page 61

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chen Reaktion auf die materialistische, konsum-
orientierte und individualistische Gesellschaft
und andererseits eine Ausnutzung der Notsi-
tuation der Bevölkerung, die an den Peripherien
und in den verarmten Zonen lebt, die inmitten
großer menschlicher Leiden überlebt und un-
mittelbare Lösungen für die eigenen Bedürfnisse
sucht. Diese religiösen Bewegungen, die durch
ihr subtiles Eindringen gekennzeichnet sind, fül-
len innerhalb des herrschenden Individualismus
eine Leere aus, die der laizistische Rationalismus
hinterlassen hat. Außerdem müssen wir zugeben,
dass, wenn ein Teil unserer Getauften die eige-
ne Zugehörigkeit zur Kirche nicht empfindet,
das auch manchen Strukturen und einem wenig
aufnahmebereiten Klima in einigen unserer Pfar-
reien und Gemeinden zuzuschreiben ist oder ei-
nem bürokratischen Verhalten, mit dem auf die
einfachen oder auch komplexen Probleme des
Lebens unserer Völker geantwortet wird. Vieler-
orts besteht eine Vorherrschaft des administrati-
ven Aspekts vor dem seelsorglichen sowie eine
Sakramentalisierung ohne andere Formen der
Evangelisierung.
64.  Der Säkularisierungsprozess neigt dazu, den
Glauben und die Kirche auf den privaten, ganz
persönlichen Bereich zu beschränken. Außerdem
hat er mit der Leugnung jeglicher Transzendenz
eine zunehmende ethische Deformation, eine
Schwächung des Bewusstseins der persönlichen
und sozialen Sünde und eine fortschreitende Zu-
nahme des Relativismus verursacht, die Anlass
61

7.2 Page 62

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geben zu einer allgemeinen Orientierungslosig-
keit, besonders in der Phase des Heranwachsens
und der Jugend, die gegenüber Veränderungen so
anfällig ist. Während die Kirche auf der Existenz
objektiver, für alle geltender moralischer Normen
besteht, gibt es, wie die Bischöfe der Vereinigten
Staaten von Amerika zu Recht festgestellt haben,
»solche, die diese Lehre als ungerecht bzw. als mit
den menschlichen Grundrechten unvereinbar
darstellen. Diese Argumentationen entspringen
gewöhnlich aus einer Form von moralischem Re-
lativismus, der sich – nicht ohne inneren Wider-
spruch – mit einem Vertrauen auf die absoluten
Rechte des Einzelnen verbindet. In dieser Sicht-
weise nimmt man die Kirche wahr, als fördere sie
ein besonderes Vorurteil und als greife sie in die
individuelle Freiheit ein.«59 Wir leben in einer In-
formationsgesellschaft, die uns wahllos mit Da-
ten überhäuft, alle auf derselben Ebene, und uns
schließlich in eine erschreckende Oberflächlich-
keit führt, wenn es darum geht, die moralischen
Fragen anzugehen. Folglich wird eine Erziehung
notwendig, die ein kritisches Denken lehrt und ei-
nen Weg der Reifung in den Werten bietet.
65.  Trotz der ganzen laizistischen Strömung,
die die Gesellschaft überschwemmt, ist die Kir-
che in vielen Ländern – auch dort, wo das Chris-
tentum in der Minderheit ist – in der öffentlichen
59United States Conference of Catholic Bishops,
Ministry to Persons with a Homosexual Inclination: Guidelines for
Pastoral Care. (2006), 17.
62

7.3 Page 63

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Meinung eine glaubwürdige Einrichtung, zuver-
lässig in Bezug auf den Bereich der Solidarität
und der Sorge für die am meisten Bedürftigen.
Bei vielen Gelegenheiten hat sie als Mittlerin ge-
dient, um die Lösung von Problemen zu fördern,
die den Frieden, die Eintracht, die Umwelt, den
Schutz des Lebens, die Menschenrechte und die
Zivilrechte usw. betreffen. Und wie groß ist der
Beitrag der katholischen Schulen und Universitä-
ten in der ganzen Welt! Es ist sehr positiv, dass
das so ist. Doch wenn wir andere Fragen zur
Sprache bringen, die weniger öffentliche Zustim-
mung hervorrufen, fällt es uns schwer zu zeigen,
dass wir das aus Treue zu den gleichen Überzeu-
gungen bezüglich der Würde der Person und des
Gemeinwohls tun.
66.  Die Familie macht eine tiefe kulturelle Krise
durch wie alle Gemeinschaften und sozialen Bin-
dungen. Im Fall der Familie wird die Brüchigkeit
der Bindungen besonders ernst, denn es handelt
sich um die grundlegende Zelle der Gesellschaft,
um den Ort, wo man lernt, in der Verschieden-
heit zusammenzuleben und anderen zu gehören,
und wo die Eltern den Glauben an die Kinder
weitergeben. Die Ehe wird tendenziell als eine
bloße Form affektiver Befriedigung gesehen, die
in beliebiger Weise gegründet und entsprechend
der Sensibilität eines jeden verändert werden
kann. Doch der unverzichtbare Beitrag der Ehe
zur Gesellschaft geht über die Ebene der Emo-
tivität und der zufälligen Bedürfnisse des Paares
hinaus. Wie die französischen Bischöfe darlegen,
63

7.4 Page 64

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geht sie nicht hervor »aus dem Gefühl der Lie-
be, das definitionsgemäß vergänglich ist, sondern
aus der Tiefe der von den Brautleuten übernom-
men Verbindlichkeit, die zustimmen, eine umfas-
sende Lebensgemeinschaft einzugehen.«60
67.  Der postmoderne und globalisierte Indi-
vidualismus begünstigt einen Lebensstil, der die
Entwicklung und die Stabilität der Bindungen
zwischen den Menschen schwächt und die Na-
tur der Familienbande zerstört. Das seelsorgliche
Tun muss noch besser zeigen, dass die Beziehung
zu unserem himmlischen Vater eine Communio
fordert und fördert, die die zwischenmensch-
lichen Bindungen heilt, begünstigt und stärkt.
Während in der Welt, besonders in einigen Län-
dern, erneut verschiedene Formen von Kriegen
und Auseinandersetzungen aufkommen, behar-
ren wir Christen auf dem Vorschlag, den anderen
anzuerkennen, die Wunden zu heilen, Brücken
zu bauen, Beziehungen zu knüpfen und einander
zu helfen, so dass »einer des anderen Last trage«
(Gal 6,2). Andererseits entstehen heute viele For-
men von Verbänden für den Rechtsschutz und
zur Erreichung edler Ziele. Auf diese Weise zeigt
sich deutlich das Verlangen zahlreicher Bürger
nach Mitbestimmung – Bürger, die Erbauer des
sozialen und kulturellen Fortschritts sein wollen.
60Conférence des Évêques de France, Conseil Famille
et Société, Elargir le mariage aux personnes de même sexe? Ouvrons le
débat! (28. September 2012).
64

7.5 Page 65

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Herausforderungen der Inkulturation des Glaubens
68.  Die christliche Basis einiger Völker – beson-
ders in der westlichen Welt – ist eine lebendige
Wirklichkeit. Hier finden wir, vor allem unter den
am meisten Notleidenden, eine moralische Reser-
ve, die Werte eines authentischen christlichen Hu-
manismus bewahrt. Ein Blick des Glaubens auf
die Wirklichkeit kann nicht umhin, das anzuerken-
nen, was der Heilige Geist sät. Es würde bedeuten,
kein Vertrauen auf sein freies und großzügiges
Handeln zu haben, wenn man meinte, es gebe kei-
ne echten christlichen Werte dort, wo ein Großteil
der Bevölkerung die Taufe empfangen hat und
seinen Glauben und seine brüderliche Solidarität
in vielerlei Weise zum Ausdruck bringt. Hier muss
man viel mehr als „Samen des Wortes“ erkennen,
angesichts der Tatsache, dass es sich um einen
authentischen katholischen Glauben handelt mit
eigenen Modalitäten des Ausdrucks und der Zu-
gehörigkeit zur Kirche. Es ist nicht gut, die ent-
scheidende Bedeutung zu übersehen, welche eine
vom Glauben gezeichnete Kultur hat, denn diese
evangelisierte Kultur besitzt jenseits ihrer Grenzen
viel mehr Möglichkeiten als eine einfache Summe
von Gläubigen, die den Angriffen des heutigen
Säkularismus ausgesetzt ist. Eine evangelisierte
Volkskultur enthält Werte des Glaubens und der
Solidarität, die die Entwicklung einer gerechteren
und gläubigeren Gesellschaft auslösen können.
Zudem besitzt sie eine besondere Weisheit, und
man muss verstehen, diese mit einem Blick voller
Dankbarkeit zu erkennen.
65

7.6 Page 66

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69.  Es ist dringend notwendig, die Kulturen zu
evangelisieren, um das Evangelium zu inkulturie-
ren. In den Ländern katholischer Tradition wird
es sich darum handeln, den bereits bestehenden
Reichtum zu begleiten, zu pflegen und zu stär-
ken, und in den Ländern anderer religiöser Tra-
ditionen oder tiefgreifender Säkularisierung wird
es darum gehen, neue Prozesse der Evangelisie-
rung der Kultur zu fördern, auch wenn sie sehr
langfristige Planungen verlangen. Wir dürfen
jedoch nicht übersehen, dass immer ein Aufruf
zum Wachstum besteht. Jede Kultur und jede ge-
sellschaftliche Gruppe bedarf der Läuterung und
der Reifung. Im Fall von Volkskulturen katholi-
scher Bevölkerungen können wir einige Schwä-
chen erkennen, die noch vom Evangelium geheilt
werden müssen: Chauvinismus, Alkoholismus,
häusliche Gewalt, geringe Teilnahme an der Eu-
charistie, Schicksalsgläubigkeit oder Aberglaube,
die auf Zauberei und Magie zurückgreifen las-
sen, und anderes. Doch gerade die Volksfröm-
migkeit ist der beste Ausgangspunkt, um diese
Schwächen zu heilen und von ihnen zu befreien.
70.  Es stimmt auch, dass der Schwerpunkt
manchmal mehr auf äußeren Formen von Tra-
ditionen einiger Gruppen oder auf hypothe-
tischen Privatoffenbarungen liegt, die absolut
gesetzt werden. Es gibt ein gewisses, aus Fröm-
migkeitsübungen bestehendes Christentum, dem
eine individuelle und gefühlsbetonte Weise, den
Glauben zu leben, zugrunde liegt, die in Wirk-
lichkeit nicht einer echten „Volksfrömmigkeit“
66

7.7 Page 67

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entspricht. Manche fördern diese Ausdrucksfor-
men, ohne sich um die soziale Förderung und
die Bildung der Gläubigen zu kümmern, und
in gewissen Fällen tun sie es, um wirtschaftli-
che Vorteile zu erlangen oder eine Macht über
die anderen zu gewinnen. Wir dürfen auch nicht
übersehen, dass in den letzten Jahrzehnten ein
Bruch in der generationenlangen Weitergabe
des christlichen Glaubens im katholischen Volk
stattgefunden hat. Es ist unbestreitbar, dass vie-
le sich enttäuscht fühlen und aufhören, sich mit
der katholischen Tradition zu identifizieren; dass
die Zahl der Eltern steigt, die ihre Kinder nicht
taufen lassen und sie nicht beten lehren und dass
eine gewisse Auswanderung in andere Glaubens-
gemeinschaften zu verzeichnen ist. Einige Ursa-
chen dieses Bruches sind: der Mangel an Raum
für den Dialog in der Familie, der Einfluss der
Kommunikationsmittel, der relativistische Sub-
jektivismus, der ungehemmte Konsumismus,
der den Markt anregt, das Fehlen einer pastora-
len Begleitung für die Ärmsten, der Mangel an
herzlicher Aufnahme in unseren Einrichtungen
und unsere Schwierigkeit, in einer multireligiösen
Umgebung den übernatürlichen Zugang zum
Glauben neu zu schaffen.
Herausforderungen der Stadtkulturen
71.  Das neue Jerusalem, die heilige Stadt (vgl.
Offb 21,2-4) ist das Ziel, zu dem die gesam-
te Menschheit unterwegs ist. Es ist interessant,
67

7.8 Page 68

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dass die Offenbarung uns sagt, dass die Erfül-
lung der Menschheit und der Geschichte sich in
einer Stadt verwirklicht. Wir müssen die Stadt
von einer kontemplativen Sicht her, das heißt mit
einem Blick des Glaubens erkennen, der jenen
Gott entdeckt, der in ihren Häusern, auf ihren
Straßen und auf ihren Plätzen wohnt. Die Ge-
genwart Gottes begleitet die aufrichtige Suche,
die Einzelne und Gruppen vollziehen, um Halt
und Sinn für ihr Leben zu finden. Er lebt unter
den Bürgern und fördert die Solidarität, die Brü-
derlichkeit und das Verlangen nach dem Guten,
nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese Gegen-
wart muss nicht hergestellt, sondern entdeckt,
enthüllt werden. Gott verbirgt sich nicht vor de-
nen, die ihn mit ehrlichem Herzen suchen, auch
wenn sie das tastend, auf unsichere und weit-
schweifige Weise tun.
72.  In der Stadt wird der religiöse Aspekt durch
verschiedene Lebensstile und durch Gebräuche
vermittelt, die mit einem Gefühl für die Zeit,
das Territorium und die Beziehungen verbunden
sind, das sich von dem Stil der Landbevölkerun-
gen unterscheidet. Im Alltag kämpfen die Bürger
oftmals ums Überleben, und in diesem Kampf
verbirgt sich ein tiefes Empfinden für das Leben,
das gewöhnlich auch ein tiefes religiöses Empfin-
den einschließt. Das müssen wir berücksichtigen,
um einen Dialog zu erzielen wie den, welchen der
Herr mit der Samariterin am Brunnen führte, wo
sie ihren Durst zu stillen suchte (vgl. Joh 4,7-26).
68

7.9 Page 69

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73.  Es entstehen fortwährend neue Kulturen
in diesen riesigen menschlichen Geographien,
wo der Christ gewöhnlich nicht mehr derjenige
ist, der Sinn fördert oder stiftet, sondern derje-
nige, der von diesen Kulturen andere Sprachge-
bräuche, Symbole, Botschaften und Paradigmen
empfängt, die neue Lebensorientierungen bie-
ten, welche häufig im Gegensatz zum Evange-
lium Jesu stehen. Eine neue Kultur pulsiert in
der Stadt und wird in ihr konzipiert. Die Synode
hat festgestellt, dass heute die Verwandlungen
dieser großen Gebiete und die Kultur, in der sie
ihren Ausdruck finden, ein vorzüglicher Ort für
die neue Evangelisierung sind.61 Das erfordert,
neuartige Räume für Gebet und Gemeinschaft
zu erfinden, die für die Stadtbevölkerungen an-
ziehender und bedeutungsvoller sind. Aufgrund
des Einflusses der Massenkommunikationsmittel
sind die ländlichen Bereiche von diesen kulturel-
len Verwandlungen, die auch bedeutsame Verän-
derungen in ihrer Lebensweise bewirken, nicht
ausgenommen.
74.  Das macht eine Evangelisierung nötig,
welche die neuen Formen, mit Gott, mit den an-
deren und mit der Umgebung in Beziehung zu
treten, erleuchtet und die grundlegenden Werte
wachruft. Es ist notwendig, dorthin zu gelan-
gen, wo die neuen Geschichten und Paradigmen
entstehen, und mit dem Wort Jesu den innersten
61 Vgl. Propositio 25.
69

7.10 Page 70

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Kern der Seele der Städte zu erreichen. Man darf
nicht vergessen, dass die Stadt ein multikulturel-
ler Bereich ist. In den großen Städten kann man
ein „Bindegewebe“ beobachten, in dem Grup-
pen von Personen die gleichen Lebensträume
und ähnliche Vorstellungswelten miteinander
teilen und sich zu neuen menschlichen Sek-
toren, zu Kulturräumen und zu unsichtbaren
Städten zusammenschließen. Unterschiedliche
Kulturformen leben de facto zusammen, handeln
aber häufig im Sinne der Trennung und wenden
Gewalt an. Die Kirche ist berufen, sich in den
Dienst eines schwierigen Dialogs zu stellen. Es
gibt Bürger, die die angemessenen Mittel für die
Entwicklung des persönlichen und familiären
Lebens erhalten, andererseits gibt es aber sehr
viele „Nicht-Bürger“, „Halbbürger“ oder „Stadt-
streicher“. Die Stadt erzeugt eine Art ständiger
Ambivalenz. Während sie nämlich ihren Bürgern
unendlich viele Möglichkeiten bietet, erscheinen
auch zahlreiche Schwierigkeiten für die volle Le-
bensentfaltung vieler. Dieser Widerspruch ver-
ursacht erschütterndes Leiden. In vielen Teilen
der Welt sind die Städte Schauplatz von Massen-
protesten, in denen Tausende von Bewohnern
Freiheit, Beteiligung und Gerechtigkeit fordern
sowie verschiedene Ansprüche geltend machen,
die, wenn sie nicht auf ein angemessenes Ver-
ständnis stoßen, auch mit Gewalt nicht zum
Schweigen gebracht werden können.
75.  Wir dürfen nicht übersehen, dass sich in
den Städten der Drogen- und Menschenhandel,
70

8 Pages 71-80

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8.1 Page 71

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der Missbrauch und die Ausbeutung Minder-
jähriger, die Preisgabe Alter und Kranker sowie
verschiedene Formen von Korruption und Kri-
minalität leicht vermehren. Zugleich verwandelt
sich das, was ein kostbarer Raum der Begegnung
und der Solidarität sein könnte, häufig in einen
Ort der Flucht und des gegenseitigen Misstrau-
ens. Häuser und Quartiere werden mehr zur Ab-
sonderung und zum Schutz als zur Verbindung
und zur Eingliederung gebaut. Die Verkündi-
gung des Evangeliums wird eine Grundlage sein,
um in diesen Zusammenhängen die Würde des
menschlichen Lebens wiederherzustellen, denn
Jesus möchte in den Städten Leben in Fülle ver-
breiten (vgl. Joh 10,10). Der einmalige und volle
Sinn des menschlichen Lebens, den das Evange-
lium verkündet, ist das beste Heilmittel gegen die
Übel der Stadt, auch wenn wir bedenken müs-
sen, dass ein Evangelisierungsprogramm und
ein einheitlicher, starrer Evangelisierungsstil für
diese Wirklichkeit nicht angemessen sind. Doch
das Menschliche bis zum Grunde zu leben und
als ein Ferment des Zeugnisses ins Innerste der
Herausforderungen einzudringen, in jeder belie-
bigen Kultur, in jeder beliebigen Stadt, lässt den
Christen besser werden und befruchtet die Stadt.
II. Versuchungen
der in der Seelsorge Tätigen
76.  Ich bin unendlich dankbar für den Einsatz
aller, die in der Kirche arbeiten. Ich möchte mich
71

8.2 Page 72

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jetzt nicht dabei aufhalten, die Aktivitäten der ver-
schiedenen in der Seelsorge Tätigen darzustellen,
von den Bischöfen bis hin zum bescheidensten
und am meisten verborgenen der kirchlichen
Dienste. Stattdessen möchte ich gerne über die
Herausforderungen nachdenken, denen sie alle
sich im Kontext der augenblicklichen globalisier-
ten Kultur stellen müssen. Doch zuallererst und
der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass der
Beitrag der Kirche in der heutigen Welt enorm
ist. Unser Schmerz und unsere Scham wegen der
Sünden einiger Glieder der Kirche und wegen
unserer eigenen Sünden dürfen nicht vergessen
lassen, wie viele Christen ihr Leben aus Liebe
hingeben. Sie helfen vielen Menschen, sich in
unsicheren Krankenhäusern behandeln zu lassen
oder dort in Frieden zu sterben; in den ärmsten
Gegenden der Erde begleiten sie Menschen, die
Sklaven verschiedener Abhängigkeiten geworden
sind; sie opfern sich auf in der Erziehung von
Kindern und Jugendlichen; sie kümmern sich um
alte Menschen, die von allen verlassen sind; sie
versuchen, in feindlicher Umgebung Werte zu
vermitteln oder sie widmen sich auf viele ande-
re Arten, die die grenzenlose Liebe zur Mensch-
heit deutlich machen, die der Mensch geworde-
ne Gott uns eingegeben hat. Ich danke für das
schöne Beispiel, das viele Christen mir geben, die
ihr Leben und ihre Zeit freudig hingeben. Dieses
Zeugnis tut mir sehr gut und unterstützt mich
in meinem persönlichen Streben, den Egoismus
72

8.3 Page 73

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zu überwinden, um mich noch intensiver meiner
Aufgabe widmen zu können.
77.  Trotzdem sind wir als Kinder unserer Zeit
alle irgendwie unter dem Einfluss der gegen-
wärtigen globalisierten Kultur, die, obwohl sie
Werte und neue Möglichkeiten bietet, uns auch
einschränken, beeinflussen und sogar krank ma-
chen kann. Ich gebe zu, dass wir Räume schaffen
müssen, die geeignet sind, die in der Seelsorge
Tätigen zu motivieren und zu heilen, »Orte, wo
man den eigenen Glauben an den gekreuzigten
und auferstandenen Christus erneuern kann, wo
man die eigenen innersten Fragen und Alltags-
sorgen miteinander teilen kann, wo man sein Le-
ben und seine Erfahrungen einer tiefgreifenden
Überprüfung im Licht des Evangeliums unter-
ziehen kann, mit dem Ziel, die eigenen individu-
ellen und gesellschaftlichen Entscheidungen auf
das Gute und das Schöne hin auszurichten«.62
Zugleich möchte ich auf einige Versuchungen
aufmerksam machen, die besonders heute die in
der Seelsorge Tätigen befallen.
Ja zur Herausforderung einer missionarischen Spiritualität
78.  Heute kann man bei vielen in der Seelsorge
Tätigen, einschließlich der gottgeweihten Perso-
nen, eine übertriebene Sorge um die persönlichen
62Azione Cattolica Italiana, Messaggio della XIV
Assemblea Nazoinale alla Chiesa ed al Paese (8. Mai 2011).
73

8.4 Page 74

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Räume der Selbständigkeit und der Entspannung
feststellen, die dazu führt, die eigenen Aufgaben
wie ein bloßes Anhängsel des Lebens zu erle-
ben, als gehörten sie nicht zur eigenen Identität.
Zugleich wird das geistliche Leben mit einigen
religiösen Momenten verwechselt, die einen ge-
wissen Trost spenden, aber nicht die Begegnung
mit den anderen, den Einsatz in der Welt und die
Leidenschaft für die Evangelisierung nähren. So
kann man bei vielen in der Verkündigung Täti-
gen, obwohl sie beten, eine Betonung des Indivi-
dualismus, eine Identitätskrise und einen Rückgang
des Eifers feststellen. Das sind drei Übel, die sich
gegenseitig fördern.
79.  Die Medienkultur und manche intellektuel-
le Kreise vermitteln gelegentlich ein ausgeprägtes
Misstrauen gegenüber der Botschaft der Kirche
und eine gewisse Ernüchterung. Daraufhin ent-
wickeln viele in der Seelsorge Tätige, obwohl sie
beten, eine Art Minderwertigkeitskomplex, der
sie dazu führt, ihre christliche Identität und ihre
Überzeugungen zu relativieren oder zu verber-
gen. Dann entsteht ein Teufelskreis, denn so sind
sie nicht glücklich über das, was sie sind und was
sie tun, identifizieren sich nicht mit dem Verkün-
digungsauftrag, und das schwächt ihren Einsatz.
Schließlich ersticken sie die Missionsfreude in
einer Art Besessenheit, so zu sein wie alle ande-
ren und das zu haben, was alle anderen besitzen.
Auf diese Weise wird die Aufgabe der Evangeli-
sierung als Zwang empfunden, man widmet ihr
wenig Mühe und eine sehr begrenzte Zeit.
74

8.5 Page 75

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80.  Es entwickelt sich bei den in der Seelsorge
Tätigen jenseits des geistlichen Stils oder der ge-
danklichen Linie, die sie haben mögen, ein Rela-
tivismus, der noch gefährlicher ist als der, welcher
die Lehre betrifft. Es hat etwas mit den tiefsten
und aufrichtigsten Entscheidungen zu tun, die eine
Lebensform bestimmen. Dieser praktische Relati-
vismus besteht darin, so zu handeln, als gäbe es
Gott nicht, so zu entscheiden, als gäbe es die Ar-
men nicht, so zu träumen, als gäbe es die anderen
nicht, so zu arbeiten, als gäbe es die nicht, die die
Verkündigung noch nicht empfangen haben. Es
ist erwähnenswert, dass sogar, wer dem Anschein
nach solide doktrinelle und spirituelle Überzeugun-
gen hat, häufig in einen Lebensstil fällt, der dazu
führt, sich an wirtschaftliche Sicherheiten oder an
Räume der Macht und des menschlichen Ruhms
zu klammern, die man sich auf jede beliebige Wei-
se verschafft, anstatt das Leben für die anderen in
der Mission hinzugeben. Lassen wir uns die mis-
sionarische Begeisterung nicht nehmen!
Nein zur egoistischen Trägheit
81.  Wenn wir mehr missionarische Dynamik
brauchen, die der Erde Salz und Licht bringt,
fürchten viele Laien, jemand könne sie einladen,
irgendeine apostolische Aufgabe zu erfüllen, und
versuchen, jeder Verpflichtung auszuweichen,
die ihnen ihre Freizeit nehmen könnte. Heute ist
es zum Beispiel sehr schwierig geworden, quali-
fizierte Katechisten für die Pfarreien zu finden,
75

8.6 Page 76

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die in ihrer Aufgabe über mehrere Jahre hin aus-
harren. Doch etwas Ähnliches geschieht bei den
Priestern, die wie besessen um ihre persönliche
Zeit besorgt sind. Das ist oft darauf zurückzu-
führen, dass sie das dringende Bedürfnis haben,
ihre Freiräume zu bewahren, als sei ein Evangeli-
sierungsauftrag ein gefährliches Gift anstatt eine
freudige Antwort auf die Liebe Gottes, der uns
zur Mission ruft und uns erfüllt und fruchtbar
macht. Einige sträuben sich dagegen, die Freude
an der Mission bis auf den Grund zu erfahren
und bleiben in eine lähmende Trägheit eingehüllt.
82.  Das Problem ist nicht immer das Über-
maß an Aktivität, sondern es sind vor allem die
schlecht gelebten Aktivitäten, ohne die entspre-
chenden Beweggründe, ohne eine Spirituali-
tät, die die Tätigkeit prägt und wünschenswert
macht. Daher kommt es, dass die Pflichten über-
mäßig ermüdend sind und manchmal krank ma-
chen. Es handelt sich nicht um eine friedvoll-hei-
tere Anstrengung, sondern um eine angespannte,
drückende, unbefriedigende und letztlich nicht
akzeptierte Mühe. Diese pastorale Trägheit kann
verschiedene Ursachen haben. Einige verfallen
ihr, weil sie nicht realisierbaren Plänen nachge-
hen und sich nicht gerne dem widmen, was sie
mit Gelassenheit tun könnten. Andere, weil sie
die schwierige Entwicklung der Vorgänge nicht
akzeptieren und wollen, dass alles vom Himmel
fällt. Andere, weil sie sich an Projekte oder an
Erfolgsträume klammern, die von ihrer Eitel-
keit gehegt werden. Wieder andere, weil sie den
76

8.7 Page 77

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wirklichen Kontakt zu den Menschen verloren
haben, in einer Entpersönlichung der Seelsorge,
die dazu führt, mehr auf die Organisation als auf
die Menschen zu achten, so dass sie die „Marsch-
route“ mehr begeistert als die Wegstrecke selber.
Andere fallen in die Trägheit, weil sie nicht war-
ten können und den Rhythmus des Lebens be-
herrschen wollen. Das heutige Verlangen, unmit-
telbare Ergebnisse zu erzielen, bewirkt, dass die
in der Seelsorge Tätigen das Empfinden irgend-
eines Widerspruchs, ein scheinbares Scheitern,
eine Kritik, ein Kreuz nicht leicht ertragen.
83.  So nimmt die größte Bedrohung Form an,
der »graue Pragmatismus des kirchlichen Alltags,
bei dem scheinbar alles mit rechten Dingen zu-
geht, in Wirklichkeit aber der Glaube verbraucht
wird und ins Schäbige absinkt«63. Es entwickelt
sich die Grabespsychologie, die die Christen all-
mählich in Mumien für das Museum verwandelt.
Enttäuscht von der Wirklichkeit, von der Kirche
oder von sich selbst, leben sie in der ständigen
Versuchung, sich an eine hoffnungslose, süßli-
che, Traurigkeit zu klammern, die sich des Her-
zens bemächtigt wie »das kostbarste der Elixiere
63Joseph Ratzinger, Die augenblickliche Situation des
Glaubens und der Theologie. Vortrag während des Treffens
zwischen der Glaubenskongregation und den Präsidenten
der Glaubenskommissionen der Bischofskonferenzen
Lateinamerikas, Guadalajara, Mexico, 1996. Veröffentlicht in:
L’Osservatore Romano (dt.), Jg. 26 (1996), Nr. 47 (22. November
1996), S. 9; Vgl. V. Generalversammlung der Bischöfe von
Lateinamerika und der Karibik, Dokument von Aparecida (29.
Juni 2007), 12.
77

8.8 Page 78

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des Dämons«64. Berufen, um Licht und Leben zu
vermitteln, lassen sie sich schließlich von Dingen
faszinieren, die nur Dunkelheit und innere Mü-
digkeit erzeugen und die apostolische Dynamik
schwächen. Aus diesen Gründen erlaube ich mir,
darauf zu beharren: Lassen wir uns die Freude
der Evangelisierung nicht nehmen!
Nein zum sterilen Pessimismus
84.  Die Freude aus dem Evangelium kann nichts
und niemand uns je nehmen (vgl. Joh 16,22). Die
Übel unserer Welt – und die der Kirche – dürften
niemals Entschuldigungen sein, um unseren Ein-
satz und unseren Eifer zu verringern. Betrachten
wir sie als Herausforderungen, um zu wachsen.
Außerdem ist der Blick des Glaubens fähig, das
Licht zu erkennen, das der Heilige Geist immer
inmitten der Dunkelheit verbreitet. Er vergisst
nicht, dass »wo die Sünde mächtig wurde, die
Gnade übergroß geworden ist« (Röm 5,20). Unser
Glaube ist herausgefordert, den Wein zu erahnen,
in den das Wasser verwandelt werden kann, und
den Weizen zu entdecken, der inmitten des Un-
krauts wächst. Fünfzig Jahre nach dem Zweiten
Vatikanischen Konzil darf der größte Realismus
nicht weniger Vertrauen auf den Geist, noch we-
niger Großherzigkeit bedeuten, auch wenn die
Schwächen unserer Zeit uns schmerzen und wir
weit entfernt sind von naiven Optimismen. In
64Georges Bernanos, Journal d’un curé de campagne, Paris
1936, Éditions Plon 1974, S. 135.
78

8.9 Page 79

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diesem Sinn können wir die Worte des seligen Jo-
hannes XXIII. an jenem denkwürdigen Tag des
11. Oktober 1962 noch einmal hören: Es »dringen
bisweilen betrübliche Stimmen an Unser Ohr, die
zwar von großem Eifer zeugen, aber weder genü-
gend Sinn für die rechte Beurteilung der Dinge
noch ein kluges Urteil walten lassen. Sie sehen in
den modernen Zeiten nur Unrecht und Nieder-
gang. […] Doch Wir können diesen Unglückspro-
pheten nicht zustimmen, wenn sie nur unheilvolle
Ereignisse vorhersagen, so, als ob das Ende der
Welt bevorstünde. In der gegenwärtigen Weltord-
nung führt uns die göttliche Vorsehung vielmehr
zu einer neuen Ordnung der Beziehungen unter
den Menschen. Sie vollendet so durch das Werk
der Menschen selbst und weit über ihre Erwar-
tungen hinaus in immer größerem Maß ihre Plä-
ne, die höher sind als menschliche Gedanken und
sich nicht berechnen lassen – und alles, auch die
Meinungsverschiedenheiten unter den Menschen,
dienen so dem größeren Wohl der Kirche.«65
85.  Eine der ernsthaftesten Versuchungen, die
den Eifer und den Wagemut ersticken, ist das
Gefühl der Niederlage, das uns in unzufriedene
und ernüchterte Pessimisten mit düsterem Ge-
sicht verwandelt. Niemand kann einen Kampf
aufnehmen, wenn er im Voraus nicht voll auf
den Sieg vertraut. Wer ohne Zuversicht beginnt,
hat von vornherein die Schlacht zur Hälfte verlo-
65Ansprache zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils
(11. Oktober 1962), 4, 2-4: AAS 54 (1962), 789.
79

8.10 Page 80

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ren und vergräbt die eigenen Talente. Auch wenn
man sich schmerzlich der eigenen Schwäche be-
wusst ist, muss man vorangehen, ohne sich ge-
schlagen zu geben, und an das denken, was der
Herr dem heiligen Paulus sagte: »Meine Gnade
genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der
Schwachheit« (2 Kor 12,9). Der christliche Sieg ist
immer ein Kreuz, doch ein Kreuz, das zugleich
ein Siegesbanner ist, das man mit einer kämpfe-
rischen Sanftmut gegen die Angriffe des Bösen
trägt. Der böse Geist der Niederlage ist ein Bru-
der der Versuchung, den Weizen vorzeitig vom
Unkraut zu trennen, und er ist das Produkt eines
ängstlichen egozentrischen Misstrauens.
86.  Es ist offenkundig, dass an einigen Orten
eine geistliche „Wüstenbildung“ stattgefunden
hat; sie ist das Ergebnis des Planes von Gesell-
schaften, die sich ohne Gott aufbauen wollen
oder die ihre christlichen Wurzeln zerstören.
Dort »wird die christliche Welt unfruchtbar und
verbraucht wie ein völlig ausgelaugter Boden,
der zu Sand geworden ist«66. In anderen Län-
dern zwingt der gewaltsame Widerstand gegen
das Christentum die Christen, ihren Glauben
gleichsam verborgen zu leben in dem Land, das
sie lieben. Das ist eine andere, sehr schmerzli-
che Form von Wüste. Auch die eigene Familie
oder der eigene Arbeitsplatz können diese tro-
66John Henry Newman, Letter of 26 January 1833, in: The
Letters and Diaries of John Henry Newman, Bd. III, Oxford 1979,
S. 204.
80

9 Pages 81-90

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9.1 Page 81

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ckene Umgebung sein, in der man den Glauben
bewahren und versuchen muss, ihn auszustrah-
len. »Doch gerade von der Erfahrung der Wüste
her, von dieser Leere her können wir erneut die
Freude entdecken, die im Glauben liegt, seine le-
bensnotwendige Bedeutung für uns Menschen.
In der Wüste entdeckt man wieder den Wert
dessen, was zum Leben wesentlich ist; so gibt es
in der heutigen Welt unzählige, oft implizit oder
negativ zum Ausdruck gebrachte Zeichen des
Durstes nach Gott, nach dem letzten Sinn des
Lebens. Und in der Wüste braucht man vor allem
glaubende Menschen, die mit ihrem eigenen Le-
ben den Weg zum Land der Verheißung weisen
und so die Hoffnung wach halten.«67 In jedem
Fall sind wir unter diesen Umständen berufen,
wie große Amphoren zu sein, um den anderen zu
trinken zu geben. Manchmal verwandelt sich das
Amphoren-Dasein in ein schweres Kreuz, doch
gerade am Kreuz hat der Herr, durchbohrt von
der Lanze, sich uns als Quelle lebendigen Was-
sers übereignet. Lassen wir uns die Hoffnung
nicht nehmen!
Ja zu den neuen, von Jesus Christus gebildeten Beziehungen
87.  Heute, da die Netze und die Mittel mensch-
licher Kommunikation unglaubliche Entwick-
lungen erreicht haben, spüren wir die Her-
67Benedikt XVI., Homilie während der Eucharistiefeier zur
Eröffnung des Jahrs des Glaubens (11. Oktober 2012): AAS 104
(2012), 881.
81

9.2 Page 82

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ausforderung, die „Mystik“ zu entdecken und
weiterzugeben, die darin liegt, zusammen zu le-
ben, uns unter die anderen zu mischen, einander
zu begegnen, uns in den Armen zu halten, uns
anzulehnen, teilzuhaben an dieser etwas chaoti-
schen Menge, die sich in eine wahre Erfahrung
von Brüderlichkeit verwandeln kann, in eine soli-
darische Karawane, in eine heilige Wallfahrt. Auf
diese Weise werden sich die größeren Möglichkei-
ten der Kommunikation als größere Möglichkei-
ten der Begegnung und der Solidarität zwischen
allen erweisen. Wenn wir diesen Weg verfolgen
könnten, wäre das etwas sehr Gutes, sehr Heil-
sames, sehr Befreiendes, eine große Quelle der
Hoffnung! Aus sich selbst herausgehen, um sich
mit den anderen zusammenzuschließen, tut gut.
Sich in sich selbst zu verschließen bedeutet, das
bittere Gift der Immanenz zu kosten, und in je-
der egoistischen Wahl, die wir treffen, wird die
Menschlichkeit den kürzeren ziehen.
88.  Das christliche Ideal wird immer dazu auf-
fordern, den Verdacht, das ständige Misstrauen,
die Angst überschwemmt zu werden, die defen-
siven Verhaltensweisen, die die heutige Welt uns
auferlegt, zu überwinden. Viele versuchen, vor
den anderen in ein bequemes Privatleben oder
in den engen Kreis der Vertrautesten zu fliehen,
und verzichten auf den Realismus der sozialen
Dimension des Evangeliums. Ebenso wie näm-
lich einige einen rein geistlichen Christus ohne
Leib und ohne Kreuz wollen, werden zwischen-
menschliche Beziehungen angestrebt, die nur
82

9.3 Page 83

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durch hoch entwickelte Apparate vermittelt wer-
den, durch Bildschirme und Systeme, die man
auf Kommando ein- und ausschalten kann. Un-
terdessen lädt das Evangelium uns immer ein,
das Risiko der Begegnung mit dem Angesicht
des anderen einzugehen, mit seiner physischen
Gegenwart, die uns anfragt, mit seinem Schmerz
und seinen Bitten, mit seiner ansteckenden Freu-
de in einem ständigen unmittelbar physischen
Kontakt. Der echte Glaube an den Mensch ge-
wordenen Sohn Gottes ist untrennbar von der
Selbsthingabe, von der Zugehörigkeit zur Ge-
meinschaft, vom Dienst, von der Versöhnung
mit dem Leib der anderen. Der Sohn Gottes
hat uns in seiner Inkarnation zur Revolution der
zärtlichen Liebe eingeladen.
89.  Die Isolierung, die eine Version des Im-
manentismus ist, kann sich in einer falschen
Autonomie ausdrücken, die Gott ausschließt
und die doch auch im Religiösen eine Art spi-
rituellen Konsumismus finden kann, der ihrem
krankhaften Individualismus entgegenkommt.
Die Rückkehr zum Sakralen und die spirituelle
Suche, die unsere Zeit kennzeichnen, sind dop-
peldeutige Erscheinungen. Mehr als im Atheis-
mus besteht heute für uns die Herausforderung
darin, in angemessener Weise auf den Durst vie-
ler Menschen nach Gott zu antworten, damit sie
nicht versuchen, ihn mit irreführenden Antwor-
ten oder mit einem Jesus Christus ohne Leib und
ohne Einsatz für den anderen zu stillen. Wenn
sie in der Kirche nicht eine Spiritualität finden,
83

9.4 Page 84

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die sie heilt, sie befreit, sie mit Leben und Frie-
den erfüllt und die sie zugleich zum solidarischen
Miteinander und zur missionarischen Fruchtbar-
keit ruft, werden sie schließlich der Täuschung
von Angeboten erliegen, die weder die Mensch-
lichkeit fördern, noch Gott die Ehre geben.
90.  Die besonderen Formen der Volksfröm-
migkeit sind inkarniert, denn sie sind aus der
Inkarnation des christlichen Glaubens in eine
Volkskultur hervorgegangen. Eben deshalb
schließen sie eine persönliche Beziehung nicht
etwa zu harmonisierenden Energien, sondern zu
Gott, zu Jesus Christus, zu Maria oder zu einem
Heiligen ein. Sie besitzen Leiblichkeit, haben Ge-
sichter. Sie sind geeignet, Möglichkeiten der Be-
ziehung zu fördern und nicht individualistische
Flucht. In anderen Teilen unserer Gesellschaften
steigt die Wertschätzung für Formen einer „Spiri-
tualität des Wohlbefindens“ ohne Gemeinschaft,
für eine „Theologie des Wohlstands“ ohne brü-
derlichen Einsatz oder für subjektive Erfahrun-
gen ohne Gesicht, die sich auf eine immanentis-
tische innere Suche beschränken.
91.  Eine wichtige Herausforderung ist, zu zei-
gen, dass die Lösung niemals darin besteht, ei-
ner persönlichen und engagierten Beziehung zu
Gott, die sich zugleich für die anderen einsetzt,
auszuweichen. Das ist es, was heute geschieht,
wenn die Gläubigen sich so verhalten, dass sie
sich gleichsam verstecken und den anderen aus
den Augen gehen, und wenn sie spitzfindig von
84

9.5 Page 85

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einem Ort zum anderen oder von einer Aufgabe
zur anderen flüchten, ohne tiefe und feste Bin-
dungen zu schaffen: »Imaginatio locorum et mutatio
multos fefellit«68. Es ist eine falsche Abhilfe, die das
Herz und manchmal auch den Leib krank macht.
Es ist nötig, zu der Einsicht zu verhelfen, dass
der einzige Weg darin besteht zu lernen, den Mit-
menschen in der rechten Haltung zu begegnen,
indem man sie schätzt und als Weggefährten ak-
zeptiert ohne innere Widerstände. Noch besser:
Es geht darum zu lernen, Jesus im Gesicht der
anderen, in ihrer Stimme, in ihren Bitten zu er-
kennen. Und auch zu lernen, in einer Umarmung
mit dem gekreuzigten Jesus zu leiden, wenn wir
ungerechte Aggressionen oder Undankbarkeiten
hinnehmen, ohne jemals müde zu werden, die
Brüderlichkeit zu wählen.69
68Thomas von Kempen, Die Nachfolge Christi, Liber
Primus, IX, 5: »Die Einbildung, mit dem Wechsel des Ortes
würde es besser, hat schon viele getäuscht«.
69  Wertvoll ist das Zeugnis der heiligen Therese von
Lisieux in Bezug auf ihre Beziehung zu jener Mitschwester, die
ihr besonders unangenehm war, wobei eine innere Erfahrung
eine entscheidende Wirkung hatte: »Eines Abends im Winter
verrichtete ich wie gewöhnlich meinen kleinen Dienst, es war kalt, es war
dunkel… plötzlich hörte ich aus der Ferne den harmonischen Klang eines
Musikinstrumentes, das stellte ich mir einen wohlerleuchteten Salon vor,
glänzend in Goldschmuck, worin elegant gekleidete Mädchen Artigkeiten
und weltliche Höflichkeiten austauschten; dann fiel mein Blick auf die
arme Kranke, die ich stützte; statt einer Melodie vernahm ich von Zeit
zu Zeit ihr klagendes Stöhnen […] Ich vermag nicht in Worte zu fassen,
was in meiner Seele vorging; was ich weiß, ist, dass der Herr sie mit den
Strahlen der Wahrheit erleuchtete, die den trüben Glanz irdischer Feste
derart übertreffen, dass ich mein Glück nicht zu fassen vermochte«:
Manuscrit C, 29 vo - 30 ro, in: Œvres complètes,, Éditions du Cerf
et Desclée De Brouwer, Paris 1992, S. 274-275; (deutsche
85

9.6 Page 86

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92.  Dort liegt die wahre Heilung, da die wirk-
lich gesund und nicht krank machende Weise,
mit anderen in Beziehung zu treten, eine mysti-
sche, kontemplative Brüderlichkeit ist, die die hei-
lige Größe des Nächsten zu sehen weiß; die in
jedem Menschen Gott zu entdecken weiß; die
die Lästigkeiten des Zusammenlebens zu ertra-
gen weiß, indem sie sich an die Liebe Gottes
klammert; die das Herz für die göttliche Liebe
zu öffnen versteht, um das Glück der anderen zu
suchen, wie es ihr guter himmlischer Vater sucht.
Gerade in dieser Zeit und auch dort, wo sie eine
»kleine Herde« sind (Lk 12,32), sind die Jünger
des Herrn berufen, als eine Gemeinschaft zu le-
ben, die Salz der Erde und Licht der Welt ist (vgl.
Mt 5,13-16). Sie sind berufen, auf immer neue
Weise Zeugnis für eine evangelisierende Zugehö-
rigkeit zu geben.70 Lassen wir uns die Gemein-
schaft nicht nehmen!
Nein zur spirituellen Weltlichkeit
93.  Die spirituelle Weltlichkeit, die sich hin-
ter dem Anschein der Religiosität und sogar der
Liebe zur Kirche verbirgt, besteht darin, anstatt
die Ehre des Herrn die menschliche Ehre und
das persönliche Wohlergehen zu suchen. Es ist
das, was der Herr den Pharisäern vorwarf: »Wie
könnt ihr zum Glauben kommen, wenn ihr eure
Ausgabe: Selbstbiographie, Manuskript C, Johannes Verlag
Einsiedeln 131996, S. 262].
70  Vgl. Propositio 8.
86

9.7 Page 87

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Ehre voneinander empfangt, nicht aber die Ehre
sucht, die von dem einen Gott kommt?« (Joh
5,44). Es handelt sich um eine subtile Art, »den
eigenen Vorteil, nicht die Sache Jesu Christi« zu
suchen (Phil 2,21). Sie nimmt viele Formen an, je
nach dem Naturell des Menschen und der Lage,
in die sie eindringt. Da sie an die Suche des An-
scheins gebunden ist, geht sie nicht immer mit
öffentlichen Sünden einher, und äußerlich er-
scheint alles korrekt. Doch wenn diese Mentali-
tät auf die Kirche übergreifen würde, »wäre das
unendlich viel verheerender als jede andere bloß
moralische Weltlichkeit«.71
94.  Diese Weltlichkeit kann besonders aus zwei
zutiefst miteinander verbundenen Quellen ge-
speist werden. Die eine ist die Faszination des
Gnostizismus, eines im Subjektivismus einge-
schlossenen Glaubens, bei dem einzig eine be-
stimmte Erfahrung oder eine Reihe von Argu-
mentationen und Kenntnissen interessiert, von
denen man meint, sie könnten Trost und Licht
bringen, wo aber das Subjekt letztlich in der Im-
manenz seiner eigenen Vernunft oder seiner Ge-
fühle eingeschlossen bleibt. Die andere ist der
selbstbezogene und prometheische Neu-Pela-
gianismus derer, die sich letztlich einzig auf die
eigenen Kräfte verlassen und sich den anderen
überlegen fühlen, weil sie bestimmte Normen
einhalten oder weil sie einem gewissen katholi-
71Henry De Lubac, Méditation sur l’Église, Paris 1953.
Éditions Montaigne, Lyon 1968, S. 321.
87

9.8 Page 88

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schen Stil der Vergangenheit unerschütterlich
treu sind. Es ist eine vermeintliche doktrinelle
oder disziplinarische Sicherheit, die Anlass gibt
zu einem narzisstischen und autoritären Elite-
bewusstsein, wo man, anstatt die anderen zu
evangelisieren, sie analysiert und bewertet und,
anstatt den Zugang zur Gnade zu erleichtern, die
Energien im Kontrollieren verbraucht. In beiden
Fällen existiert weder für Jesus Christus noch für
die Menschen ein wirkliches Interesse. Es sind
Erscheinungen eines anthropozentrischen Im-
manentismus. Es ist nicht vorstellbar, dass aus
diesen schmälernden Formen von Christentum
eine echte Evangelisierungsdynamik hervorge-
hen könnte.
95.  Diese bedrohliche Weltlichkeit zeigt sich in
vielen Verhaltensweisen, die scheinbar einander
entgegengesetzt sind, aber denselben Anspruch
erheben, „den Raum der Kirche zu beherr-
schen“. Bei einigen ist eine ostentative Pflege
der Liturgie, der Lehre und des Ansehens der
Kirche festzustellen, doch ohne dass ihnen die
wirkliche Einsenkung des Evangeliums in das
Gottesvolk und die konkreten Erfordernisse der
Geschichte Sorgen bereiten. Auf diese Weise
verwandelt sich das Leben der Kirche in ein Mu-
seumsstück oder in ein Eigentum einiger weni-
ger. Bei anderen verbirgt sich dieselbe spirituelle
Weltlichkeit hinter dem Reiz, gesellschaftliche
oder politische Errungenschaften vorweisen zu
können, oder in einer Ruhmsucht, die mit dem
Management praktischer Angelegenheiten ver-
88

9.9 Page 89

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bunden ist, oder darin, sich durch die Dynami-
ken der Selbstachtung und der Selbstverwirkli-
chung angezogen zu fühlen. Sie kann auch ihren
Ausdruck in verschiedenen Weisen finden, sich
selbst davon zu überzeugen, dass man in ein in-
tensives Gesellschaftsleben eingespannt ist, an-
gefüllt mit Reisen, Versammlungen, Abendessen
und Empfängen. Oder sie entfaltet sich in einem
Manager-Funktionalismus, der mit Statistiken,
Planungen und Bewertungen überladen ist und
wo der hauptsächliche Nutznießer nicht das Volk
Gottes ist, sondern eher die Kirche als Organi-
sation. In allen Fällen fehlt dieser Mentalität das
Siegel des Mensch gewordenen, gekreuzigten und
auferstandenen Christus, sie schließt sich in Eli-
tegruppen ein und macht sich nicht wirklich auf
die Suche nach den Fernstehenden, noch nach
den unermesslichen, nach Christus dürstenden
Menschenmassen. Da ist kein Eifer mehr für das
Evangelium, sondern der unechte Genuss einer
egozentrischen Selbstgefälligkeit.
96.  In diesem Kontext wird die Ruhmsucht
derer gefördert, die sich damit zufrieden geben,
eine gewisse Macht zu besitzen, und lieber Ge-
neräle von geschlagenen Heeren sein wollen, als
einfache Soldaten einer Schwadron, die weiter-
kämpft. Wie oft erträumen wir peinlich genaue
und gut entworfene apostolische Expansions-
projekte, typisch für besiegte Generäle! So ver-
leugnen wir unsere Kirchengeschichte, die ruhm-
reich ist, insofern sie eine Geschichte der Opfer,
der Hoffnung, des täglichen Ringens, des im
89

9.10 Page 90

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Dienst aufgeriebenen Lebens, der Beständigkeit
in mühevoller Arbeit ist, denn jede Arbeit ge-
schieht „im Schweiß unseres Angesichts“. Statt-
dessen unterhalten wir uns eitel und sprechen
über „das, was man tun müsste“ – die Sünde des
„man müsste tun“ – wie spirituelle Lehrer und
Experten der Seelsorge, die einen Weg weisen,
ihn selber aber nicht gehen. Wir pflegen unsere
grenzenlose Fantasie und verlieren den Kontakt
zu der durchlittenen Wirklichkeit unseres gläubi-
gen Volkes.
97.  Wer in diese Weltlichkeit gefallen ist, schaut
von oben herab und aus der Ferne, weist die Pro-
phetie der Brüder ab, bringt den, der ihn in Frage
stellt, in Misskredit, hebt ständig die Fehler der
anderen hervor und ist besessen vom Anschein.
Er hat den Bezugspunkt des Herzens verkrümmt
auf den geschlossenen Horizont seiner Imma-
nenz und seiner Interessen, mit der Konsequenz,
dass er nicht aus seinen Sünden lernt, noch wirk-
lich offen ist für Vergebung. Es ist eine schreck-
liche Korruption mit dem Anschein des Guten.
Man muss sie vermeiden, indem man die Kirche
in Bewegung setzt, dass sie aus sich herausgeht,
in eine auf Jesus Christus ausgerichtete Mission,
in den Einsatz für die Armen. Gott befreie uns
von einer weltlichen Kirche unter spirituellen
oder pastoralen Drapierungen! Diese erstickende
Weltlichkeit erfährt Heilung, wenn man die reine
Luft des Heiligen Geistes kostet, der uns davon
befreit, um uns selbst zu kreisen, verborgen in
90

10 Pages 91-100

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10.1 Page 91

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einem religiösen Anschein über gottloser Leere.
Lassen wir uns das Evangelium nicht nehmen!
Nein zum Krieg unter uns
98.  Wie viele Kriege innerhalb des Gottes-
volkes und in den verschiedenen Gemeinschaf-
ten! Im Wohnviertel, am Arbeitsplatz – wie vie-
le Kriege aus Neid und Eifersucht, auch unter
Christen! Die spirituelle Weltlichkeit führt einige
Christen dazu, im Krieg mit anderen Christen zu
sein, die sich ihrem Streben nach Macht, Anse-
hen, Vergnügen oder wirtschaftlicher Sicherheit
in den Weg stellen. Außerdem hören einige auf,
sich von Herzen zur Kirche gehörig zu fühlen,
um einen Geist der Streitbarkeit zu nähren. Mehr
als zur gesamten Kirche mit ihrer reichen Viel-
falt, gehören sie zu dieser oder jener Gruppe, die
sich als etwas Anderes oder etwas Besonderes
empfindet.
99.  Die Welt wird von Kriegen und von Ge-
walt heimgesucht oder ist durch einen verbreite-
ten Individualismus verletzt, der die Menschen
trennt und sie gegeneinander stellt, indem jeder
dem eigenen Wohlstand nachjagt. In verschiede-
nen Ländern leben Konflikte und alte Spaltun-
gen wieder auf, die man teilweise für überwun-
den hielt. Die Christen aller Gemeinschaften
der Welt möchte ich besonders um ein Zeugnis
brüderlichen Miteinanders bitten, das anziehend
und erhellend wird. Damit alle bewundern kön-
nen, wie ihr euch umeinander kümmert, wie ihr
91

10.2 Page 92

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euch gegenseitig ermutigt und wie ihr einander
begleitet: »Daran werden alle erkennen, dass ihr
meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt« (Joh
13,35). Das ist es, was Jesus mit intensivem Gebet
vom Vater erbeten hat: »Alle sollen eins sein …
in uns … damit die Welt glaubt« (Joh 17,21). Ach-
ten wir auf die Versuchung des Neids! Wir sind
im selben Boot und steuern denselben Hafen an!
Erbitten wir die Gnade, uns über die Früchte der
anderen zu freuen, die allen gehören.
100.  Für diejenigen, die durch alte Spaltungen
verletzt sind, ist es schwierig zu akzeptieren, dass
wir sie zur Vergebung und zur Versöhnung auf-
rufen, weil sie meinen, dass wir ihren Schmerz
nicht beachten oder uns anmaßen, sie in den Ver-
lust ihrer Erinnerung und ihrer Ideale zu führen.
Wenn sie aber das Zeugnis von wirklich brüderli-
chen und versöhnten Gemeinschaften sehen, ist
das immer ein Licht, das anzieht. Darum tut es
mir so weh festzustellen, dass in einigen christ-
lichen Gemeinschaften und sogar unter gott-
geweihten Personen Platz ist für verschiedene
Formen von Hass, Spaltung, Verleumdung, üble
Nachrede, Rache, Eifersucht und den Wunsch,
die eigenen Vorstellungen um jeden Preis durch-
zusetzen, bis hin zu Verfolgungen, die eine un-
versöhnliche Hexenjagd zu sein scheinen. Wen
wollen wir mit diesem Verhalten evangelisieren?
101.  Bitten wir den Herrn, dass er uns das Ge-
setz der Liebe verstehen lässt. Wie gut ist es, die-
ses Gesetz zu besitzen! Wie gut tut es uns, ein-
92

10.3 Page 93

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ander zu lieben, über alles hinweg! Ja, über alles
hinweg! An jeden von uns ist die Mahnung des
heiligen Paulus gerichtet: »Lass dich nicht vom
Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch
das Gute!« (Röm 12,21). Und weiter: »Lasst uns
nicht müde werden, das Gute zu tun« (Gal 6,9).
Alle haben wir Sympathien und Antipathien,
und vielleicht sind wir gerade in diesem Moment
zornig auf jemanden. Sagen wir wenigstens zum
Herrn: „Herr, ich bin zornig auf diesen, auf jene.
Ich bitte dich für ihn und für sie.“ Für den Men-
schen, über den wir ärgerlich sind, zu beten, ist
ein schöner Schritt auf die Liebe zu, und es ist
eine Tat der Evangelisierung. Tun wir es heute!
Lassen wir uns nicht das Ideal der Bruderliebe
nehmen!
Weitere kirchliche Herausforderungen
102.  Die Laien sind schlicht die riesige Mehr-
heit des Gottesvolkes. In ihrem Dienst steht
eine Minderheit: die geweihten Amtsträger. Das
Bewusstsein der Identität und des Auftrags der
Laien in der Kirche ist gewachsen. Wir verfügen
über ein zahlenmäßig starkes, wenn auch nicht
ausreichendes Laientum mit einem verwurzelten
Gemeinschaftssinn und einer großen Treue zum
Einsatz in der Nächstenliebe, der Katechese, der
Feier des Glaubens. Doch die Bewusstwerdung
der Verantwortung der Laien, die aus der Tau-
fe und der Firmung hervorgeht, zeigt sich nicht
überall in gleicher Weise. In einigen Fällen, weil
93

10.4 Page 94

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sie nicht ausgebildet sind, um wichtige Verant-
wortungen zu übernehmen, in anderen Fällen,
weil sie in ihren Teilkirchen aufgrund eines über-
triebenen Klerikalismus, der sie nicht in die Ent-
scheidungen einbezieht, keinen Raum gefunden
haben, um sich ausdrücken und handeln zu kön-
nen. Auch wenn eine größere Teilnahme vieler
an den Laiendiensten zu beobachten ist, wirkt
sich dieser Einsatz nicht im Eindringen christ-
licher Werte in die soziale, politische und wirt-
schaftliche Welt aus. Er beschränkt sich vielmals
auf innerkirchliche Aufgaben ohne ein wirkli-
ches Engagement für die Anwendung des Evan-
geliums zur Verwandlung der Gesellschaft. Die
Bildung der Laien und die Evangelisierung der
beruflichen und intellektuellen Klassen stellen
eine bedeutende pastorale Herausforderung dar.
103.  Die Kirche erkennt den unentbehrlichen
Beitrag an, den die Frau in der Gesellschaft lei-
stet, mit einem Feingefühl, einer Intuition und
gewissen charakteristischen Fähigkeiten, die ge-
wöhnlich typischer für die Frauen sind als für die
Männer. Zum Beispiel die besondere weibliche
Aufmerksamkeit gegenüber den anderen, die
sich speziell, wenn auch nicht ausschließlich, in
der Mutterschaft ausdrückt. Ich sehe mit Freu-
de, wie viele Frauen pastorale Verantwortungen
gemeinsam mit den Priestern ausüben, ihren Bei-
trag zur Begleitung von Einzelnen, von Famili-
en oder Gruppen leisten und neue Anstöße zur
theologischen Reflexion geben. Doch müssen
die Räume für eine wirksamere weibliche Gegen-
94

10.5 Page 95

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wart in der Kirche noch erweitert werden. Denn
»das weibliche Talent ist unentbehrlich in allen
Ausdrucksformen des Gesellschaftslebens; aus
diesem Grund muss die Gegenwart der Frauen
auch im Bereich der Arbeit garantiert werden«72
und an den verschiedenen Stellen, wo die wich-
tigen Entscheidungen getroffen werden, in der
Kirche ebenso wie in den sozialen Strukturen.
104.  Die Beanspruchung der legitimen Rechte
der Frauen aufgrund der festen Überzeugung,
dass Männer und Frauen die gleiche Würde be-
sitzen, stellt die Kirche vor tiefe Fragen, die sie
herausfordern und die nicht oberflächlich um-
gangen werden können. Das den Männern vor-
behaltene Priestertum als Zeichen Christi, des
Bräutigams, der sich in der Eucharistie hingibt,
ist eine Frage, die nicht zur Diskussion steht,
kann aber Anlass zu besonderen Konflikten ge-
ben, wenn die sakramentale Vollmacht zu sehr
mit der Macht verwechselt wird. Man darf nicht
vergessen, dass wir uns, wenn wir von priesterli-
cher Vollmacht reden, »auf der Ebene der Funk-
tion und nicht auf der Ebene der Würde und der
Heiligkeit«73 befinden. Das Amtspriestertum ist
eines der Mittel, das Jesus zum Dienst an seinem
Volk einsetzt, doch die große Würde kommt von
der Taufe, die allen zugänglich ist. Die Gleichge-
72Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden,
Kompendium der Soziallehre der Kirche, 295.
73Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 51: AAS 81
(1989), 493.
95

10.6 Page 96

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staltung des Priesters mit Christus, dem Haupt
– das heißt als Hauptquelle der Gnade – schließt
nicht eine Erhebung ein, die ihn an die Spitze
alles Übrigen setzt. In der Kirche begründen die
Funktionen »keine Überlegenheit der einen über
die anderen«.74 Tatsächlich ist eine Frau, Maria,
bedeutender als die Bischöfe. Auch wenn die
Funktion des Amtspriestertums sich als „hierar-
chisch“ versteht, muss man berücksichtigen, dass
sie »ganz für die Heiligkeit der Glieder Chris-
ti bestimmt« ist.75 Ihr Dreh- und Angelpunkt ist
nicht ihre als Herrschaft verstandene Macht, son-
dern ihre Vollmacht, das Sakrament der Eucha-
ristie zu spenden; darauf beruht ihre Autorität,
die immer ein Dienst am Volk ist. Hier erscheint
eine große Herausforderung für die Hirten und
für die Theologen, die helfen könnten, besser zu
erkennen, was das dort, wo in den verschiedenen
Bereichen der Kirche wichtige Entscheidungen
getroffen werden, in Bezug auf die mögliche
Rolle der Frau mit sich bringt.
105.  Die Jugendpastoral, wie wir sie gewohn-
heitsmäßig entwickelten, ist von der Welle der
gesellschaftlichen Veränderungen getroffen wor-
74Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung
Inter Insignores zur Frage der Zulassung der Frau zum
Amtspriestertum (15. Oktober 1976), VI: AAS 69 (1977) 115.
Zitiert in: Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 51, Anm. 190:
AAS 81 (1989), 493.
75Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Mulieris
dignitatem (15. August 1988), 27: AAS 80 (1988), 1718.
96

10.7 Page 97

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den. Die Jugendlichen finden in den üblichen
Strukturen oft keine Antworten auf ihre Sorgen,
Nöte, Probleme und Verletzungen. Uns Erwach-
senen verlangt es etwas ab, ihnen geduldig zu-
zuhören, ihre Sorgen und ihre Forderungen zu
verstehen und zu lernen, mit ihnen eine Sprache
zu sprechen, die sie verstehen. Aus ebendiesem
Grund bringen die Erziehungsvorschläge nicht
die erhofften Ergebnisse. Die Vermehrung und
das Wachsen von Verbänden und Bewegungen
vornehmlich junger Menschen kann als ein Wir-
ken des Heiligen Geistes interpretiert werden,
der neue Wege öffnet, die mit ihren Erwartungen
und ihrer Suche nach einer tiefen Spiritualität und
nach dem Gefühl einer konkreteren Zugehörig-
keit im Einklang stehen. Es ist jedoch notwendig,
die Beteiligung dieser Gruppen innerhalb der
Gesamtpastoral der Kirche zu festigen.76
106.  Auch wenn es nicht immer einfach ist, die
Jugendlichen heranzuführen, sind doch in zwei
Bereichen Fortschritte erzielt worden: in dem
Bewusstsein, dass die gesamte Gemeinschaft sie
evangelisiert und erzieht, und in der Dringlich-
keit, dass sie mehr zur Geltung kommen. Man
muss anerkennen, dass es im gegenwärtigen
Kontext der Krise des Engagements und der ge-
meinschaftlichen Bindungen doch viele Jugend-
liche gibt, die angesichts der Leiden in der Welt
ihre solidarische Hilfe leisten und verschiedene
76  Vgl. Propositio 51.
97

10.8 Page 98

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Formen von Aktivität und Volontariat ergreifen.
Einige beteiligen sich am Leben der Gemeinde
und rufen in ihren Diözesen oder an anderen
Orten Dienstleistungsgruppen und verschiedene
missionarische Initiativen ins Leben. Wie schön,
wenn die Jugendlichen „Weggefährten des Glau-
bens“ sind, glücklich, Jesus auf jede Straße, auf
jeden Platz, in jeden Winkel der Erde zu bringen!
107.  Vielerorts mangelt es an Berufungen zum
Priestertum und zum geweihten Leben. Das ist
häufig auf das Fehlen eines ansteckenden apos-
tolischen Eifers in den Gemeinden zurückzufüh-
ren, so dass diese Berufungen nicht begeistern
und keine Anziehungskraft ausüben. Wo es Le-
ben, Eifer und den Willen gibt, Christus zu den
anderen zu bringen, entstehen echte Berufungen.
Sogar in Pfarreien, wo die Priester nicht sehr en-
gagiert und fröhlich sind, ist es das geschwister-
liche und eifrige Gemeinschaftsleben, das den
Wunsch erweckt, sich ganz Gott und der Evan-
gelisierung zu weihen, vor allem, wenn diese le-
bendige Gemeinde inständig um Berufungen
betet und den Mut besitzt, ihren Jugendlichen
einen Weg besonderer Weihe vorzuschlagen. An-
dererseits sind wir uns heute trotz des Mangels
an Berufungen deutlicher der Notwendigkeit ei-
ner besseren Auswahl der Priesteramtskandida-
ten bewusst. Man darf die Seminare nicht auf
der Basis jeder beliebigen Art von Motivation
füllen, erst recht nicht, wenn diese mit affektiver
Unsicherheit oder mit der Suche nach Formen
98

10.9 Page 99

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der Macht, der menschlichen Ehre oder des wirt-
schaftlichen Wohlstands verbunden ist.
108.  Wie ich schon sagte, war es nicht meine
Absicht, eine vollständige Analyse anzubieten,
sondern ich lade die Gemeinschaften ein, die-
se Ausblicke, ausgehend vom Bewusstsein der
Herausforderungen, die sie selbst und die ihnen
Nahestehenden betreffen, zu vervollständigen
und zu bereichern. Ich hoffe, dass sie bei diesem
Tun berücksichtigen, dass es jedes Mal, wenn wir
versuchen, in der jeweils gegenwärtigen Lage die
Zeichen der Zeit zu erkennen, angebracht ist, die
Jugendlichen und die Alten anzuhören. Beide
sind die Hoffnung der Völker. Die Alten bringen
das Gedächtnis und die Weisheit der Erfahrung
ein, die dazu einlädt, nicht unsinnigerweise die-
selben Fehler der Vergangenheit zu wiederholen.
Die Jugendlichen rufen uns auf, die Hoffnung
wieder zu erwecken und sie zu steigern, denn
sie tragen die neuen Tendenzen in sich und öff-
nen uns für die Zukunft, so dass wir nicht in der
Nostalgie von Strukturen und Gewohnheiten
verhaftet bleiben, die in der heutigen Welt keine
Überbringer von Leben mehr sind.
109.  Die Herausforderungen existieren, um
überwunden zu werden. Seien wir realistisch,
doch ohne die Heiterkeit, den Wagemut und die
hoffnungsvolle Hingabe zu verlieren! Lassen wir
uns die missionarische Kraft nicht nehmen!
99

10.10 Page 100

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11 Pages 101-110

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11.1 Page 101

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DRITTES KAPITEL
DIE VERKÜNDIGUNG
DES EVANGELIUMS
110.  Nachdem ich einigen Herausforderun-
gen der gegenwärtigen Situation Beachtung ge-
schenkt habe, möchte ich nun an die Aufgabe
erinnern, die uns in jeder Epoche und an jedem
Ort drängt; denn »es kann keine wahre Evange-
lisierung geben ohne eindeutige Verkündigung, dass
Jesus der Herr ist«, und ohne »den Primat der
Verkündigung Jesu Christi […] wie auch immer
die Evangelisierung geschehen mag«77. Johannes
Paul II. hat die Sorgen der asiatischen Bischöfe
aufgegriffen und bekräftigt: »Wenn die Kirche
in Asien die ihr von der Vorsehung zugedachte
Aufgabe erfüllen soll, dann muss die Evangeli-
sierung als freudige, geduldige und fortgesetzte
Verkündigung des Erlösungswerks des Todes
und der Auferstehung Jesu Christi eure absolute
Priorität sein.«78 Das gilt für alle.
I. Das ganze Volk Gottes verkündet das
Evangelium
111.  Die Evangelisierung ist Aufgabe der Kir-
che. Aber dieses Subjekt der Evangelisierung ist
77Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Ecclesia in Asia (6. November 1999), 19: AAS 92
(2000), 478.
78Ebd., 2: AAS 92 (2000), 451.
101

11.2 Page 102

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weit mehr als eine organische und hierarchische
Institution, da es vor allem ein Volk auf dem
Weg zu Gott ist. Gewiss handelt es sich um ein
Geheimnis, das in der Heiligsten Dreifaltigkeit ver-
wurzelt ist, dessen historisch konkrete Gestalt
aber ein pilgerndes und evangelisierendes Volk
ist, das immer jeden, wenn auch notwendigen
institutionellen Ausdruck übersteigt. Ich schlage
vor, dass wir ein wenig bei dieser Weise, die Kir-
che zu verstehen, verweilen, die ihr letztes Fun-
dament in der freien und ungeschuldeten Initia-
tive Gottes hat.
Ein Volk für alle
112.  Das Heil, das Gott uns anbietet, ist
ein Werk seiner Barmherzigkeit. Es gibt kein
menschliches Tun, so gut es auch sein mag, das
uns ein so großes Geschenk verdienen ließe. Aus
reiner Gnade zieht Gott uns an, um uns mit sich
zu vereinen.79 Er sendet seinen Geist in unsere
Herzen, um uns zu seinen Kindern zu machen,
um uns zu verwandeln und uns fähig zu machen,
mit unserem Leben auf seine Liebe zu antwor-
ten. Die Kirche ist von Jesus Christus gesandt
als das von Gott angebotene Sakrament des Hei-
les.80 Durch ihr evangelisierendes Tun arbeitet
sie mit als Werkzeug der göttlichen Gnade, die
unaufhörlich und jenseits jeder möglichen Kon-
79  Vgl. Propositio 4.
80  Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst.
Lumen gentium über die Kirche, 1.
102

11.3 Page 103

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trolle wirkt. Benedikt XVI. hat dies treffend zum
Ausdruck gebracht, als er die Überlegungen der
Synode eröffnete: »Daher ist es wichtig, immer
zu wissen, dass das erste Wort, die wahre Initia-
tive, das wahre Tun von Gott kommt, und nur
indem wir uns in diese göttliche Initiative einfü-
gen, nur indem wir diese göttliche Initiative er-
bitten, können auch wir – mit ihm und in ihm
– zu Evangelisierern werden.«81 Das Prinzip des
Primats der Gnade muss ein Leuchtfeuer sein, das
unsere Überlegungen zur Evangelisierung stän-
dig erhellt.
113.  Dieses Heil, das Gott verwirklicht und
das die Kirche freudig verkündet, gilt allen82, und
Gott hat einen Weg geschaffen, um sich mit je-
dem einzelnen Menschen aus allen Zeiten zu ver-
einen. Er hat die Wahl getroffen, sie als Volk und
nicht als isolierte Wesen zusammenzurufen.83
Niemand erlangt das Heil allein, das heißt weder
als isoliertes Individuum, noch aus eigener Kraft.
Gott zieht uns an, indem er den vielschichtigen
Verlauf der zwischenmenschlichen Beziehungen
berücksichtigt, den das Leben in einer menschli-
chen Gemeinschaft mit sich bringt. Dieses Volk,
das Gott sich erwählt und zusammengerufen hat,
81Meditation bei der ersten Generalkongregation der XIII.
Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode (8. Oktober
2012): AAS 104 (2012), 897.
82  Vgl. Propositio 6; Zweites Vatikanisches Konzil, Past.
Konst. Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute, 22.
83  Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst.
Lumen gentium über die Kirche, 9.
103

11.4 Page 104

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ist die Kirche. Jesus sagt den Aposteln nicht, eine
exklusive Gruppe, eine Elitetruppe zu bilden. Je-
sus sagt: »Geht zu allen Völkern und macht alle
Menschen zu meinen Jüngern« (Mt 28,19). Der
heilige Paulus bekräftigt, dass es im Volk Gottes
»nicht mehr Juden und Griechen [gibt] … denn
ihr alle seid „einer“ in Christus Jesus« (Gal 3,28).
Zu denen, die sich fern von Gott und von der
Kirche fühlen, würde ich gerne sagen: Der Herr
ruft auch dich, Teil seines Volkes zu sein, und er
tut es mit großem Respekt und großer Liebe!
114.  Kirche sein bedeutet Volk Gottes sein, in
Übereinstimmung mit dem großen Plan der Lie-
be des Vaters. Das schließt ein, das Ferment Got-
tes inmitten der Menschheit zu sein. Es bedeutet,
das Heil Gottes in dieser unserer Welt zu verkün-
den und es hineinzutragen in diese unsere Welt,
die sich oft verliert, die es nötig hat, Antworten
zu bekommen, die ermutigen, die Hoffnung ge-
ben, die auf dem Weg neue Kraft verleihen. Die
Kirche muss der Ort der ungeschuldeten Barm-
herzigkeit sein, wo alle sich aufgenommen und
geliebt fühlen können, wo sie Verzeihung er-
fahren und sich ermutigt fühlen können, gemäß
dem guten Leben des Evangeliums zu leben.
Ein Volk der vielen Gesichter
115.  Dieses Volk Gottes nimmt in den Völkern
der Erde Gestalt an, und jedes dieser Völker be-
sitzt seine eigene Kultur. Der Begriff der Kultur
ist ein wertvolles Instrument, um die verschie-
104

11.5 Page 105

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denen Ausdrucksformen des christlichen Le-
bens zu verstehen, die es im Volk Gottes gibt. Es
handelt sich um den Lebensstil einer bestimm-
ten Gesellschaft, um die charakteristische Wei-
se ihrer Glieder, miteinander, mit den anderen
Geschöpfen und mit Gott in Beziehung zu tre-
ten. So verstanden, umfasst die Kultur die Ge-
samtheit des Lebens eines Volkes.84 Jedes Volk
entwickelt in seinem geschichtlichen Werdegang
die eigene Kultur in legitimer Autonomie.85 Das
ist darauf zurückzuführen, dass die menschliche
Person »von ihrem Wesen selbst her des gesell-
schaftlichen Lebens durchaus bedarf«86 und im-
mer auf die Gesellschaft bezogen ist, wo sie eine
konkrete Weise lebt, mit der Wirklichkeit in Be-
ziehung zu treten. Der Mensch ist immer kultu-
rell beheimatet: »Natur und Kultur hängen eng-
stens zusammen.«87 Die Gnade setzt die Kultur
voraus, und die Gabe Gottes nimmt Gestalt an
in der Kultur dessen, der sie empfängt.
116.  In diesen zwei Jahrtausenden des Chri-
stentums haben unzählige Völker die Gnade des
Glaubens empfangen, haben sie in ihrem tägli-
chen Leben erblühen lassen und sie entsprechend
ihrer eigenen kulturellen Beschaffenheit weiter-
84  Vgl. III. Generalversammlung der Bischöfe von
Lateinamerika und der Karibik, Dokument von Puebla (23. März
1979), 386-387.
85Zweites Vatikanisches Konzil, Past. Konst. Gaudium
et spes der Welt von heute, 36.
86Ebd., 25.
87Ebd., 53.
105

11.6 Page 106

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gegeben. Wenn eine Gemeinschaft die Verkündi-
gung des Heils aufnimmt, befruchtet der Heilige
Geist ihre Kultur mit der verwandelnden Kraft
des Evangeliums. So verfügt das Christentum,
wie wir in der Geschichte der Kirche sehen kön-
nen, nicht über ein einziges kulturelles Modell,
sondern »es bewahrt voll seine eigene Identität
in totaler Treue zur Verkündigung des Evangeli-
ums und zur Tradition der Kirche und trägt auch
das Angesicht der vielen Kulturen und Völker, in
die es hineingegeben und verwurzelt wird«88. In
den verschiedenen Völkern, die die Gabe Got-
tes entsprechend ihrer eigenen Kultur erfahren,
drückt die Kirche ihre authentische Katholizität
aus und zeigt die »Schönheit dieses vielseitigen
Gesichtes«89. In den christlichen Ausdrucksfor-
men eines evangelisierten Volkes verschönert der
Heilige Geist die Kirche, indem er ihr neue As-
pekte der Offenbarung zeigt und ihr ein neues
Gesicht schenkt. In der Inkulturation führt die
Kirche »die Völker mit ihren Kulturen in die Ge-
meinschaft mit ihr ein«90, denn »jede Kultur bie-
tet Werte und positive Formen, welche die Wei-
se, das Evangelium zu verkünden, zu verstehen
und zu leben, bereichern können«91. Auf diese
88Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo
Millennio ineunte (6. Januar 2001), 40: AAS 93 (2001), 294-295.
89Ebd., 40: AAS 93 (2001), 295.
90Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris missio (7.
Dezember 1990), 52: AAS 83 (1991), 300; vgl. Apostolisches
Schreiben Catechesi tradendae (16. Oktober 1979), 53: AAS 71
(1979), 1321.
91Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
106

11.7 Page 107

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Weise wird die Kirche »zur sponsa ornata monilibus
suis, „Braut, die ihr Geschmeide anlegt“ (vgl. Jes
61,10)«92.
117.  Wenn sie richtig verstanden wird, be-
droht die kulturelle Verschiedenheit die Einheit
der Kirche nicht. Der vom Vater und vom Sohn
gesandte Heilige Geist ist es, der unsere Herzen
verwandelt und uns fähig macht, in die vollkom-
mene Gemeinschaft der Heiligsten Dreifaltigkeit
einzutreten, wo alles zur Einheit findet. Er schafft
die Gemeinschaft und die Harmonie des Gottes-
volkes. Der Heilige Geist ist selbst die Harmonie,
so wie er das Band der Liebe zwischen dem Vater
und dem Sohn ist.93 Er ist derjenige, der einen
vielfältigen und verschiedenartigen Reichtum
der Gaben hervorruft und zugleich eine Einheit
aufbaut, die niemals Einförmigkeit ist, sondern
vielgestaltige Harmonie, die anzieht. Die Evan-
gelisierung erkennt freudig diesen vielfältigen
Reichtum, den der Heilige Geist in der Kirche er-
zeugt. Es würde der Logik der Inkarnation nicht
gerecht, an ein monokulturelles und eintöniges
Christentum zu denken. Obwohl es zutrifft,
dass einige Kulturen eng mit der Verkündigung
Schreiben Ecclesia in Oceania (22. November 2001), 16: AAS 94
(2002), 384.
92Ders., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia
in Africa (14. September 1995), 61: AAS 88 (1996), 39.
93  Vgl. Thomas von Aquin, S. Th. I, q. 39, a. 8 cons. 2:
»Wenn man den Heiligen Geist ausschließt, der die Verbindung
zwischen dem Vater und dem Sohn ist, kann man die Einigkeit
beider nicht verstehen«; vgl. auch I, q. 37, a. 1, ad 3.
107

11.8 Page 108

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des Evangeliums und mit der Entwicklung des
christlichen Denkens verbunden waren, identi-
fiziert sich die offenbarte Botschaft mit keiner
von ihnen und besitzt einen transkulturellen In-
halt. Darum kann man bei der Evangelisierung
neuer Kulturen oder solcher, die die christliche
Verkündigung noch nicht aufgenommen haben,
darauf verzichten, zusammen mit dem Angebot
des Evangeliums eine bestimmte Kulturform
durchsetzen zu wollen, so schön und alt sie auch
sein mag. Die Botschaft, die wir verkünden, weist
immer irgendeine kulturelle Einkleidung vor,
doch manchmal verfallen wir in der Kirche der
selbstgefälligen Sakralisierung der eigenen Kul-
tur, und damit können wir mehr Fanatismus als
echten Missionseifer erkennen lassen.
118.  Die Bischöfe Ozeaniens haben gefordert,
dass die Kirche dort »ein Verständnis und eine
Darstellung der Wahrheit Christi entwickelt, wel-
che die Traditionen und Kulturen der Region
einbezieht«. Sie haben alle Missionare ermahnt,
»in Harmonie mit den einheimischen Christen
zu wirken, um sicherzustellen, dass der Glau-
be und das Leben der Kirche sich in legitimen,
jeder einzelnen Kultur angemessenen Formen
ausdrücken«.94 Wir können nicht verlangen, dass
alle Völker aller Kontinente in ihrem Ausdruck
des christlichen Glaubens die Modalitäten nach-
94Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Ecclesia in Oceania (22. November 2001), 17: AAS 94
(2002), 385.
108

11.9 Page 109

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ahmen, die die europäischen Völker zu einem
bestimmten Zeitpunkt der Geschichte angenom-
men haben, denn der Glaube kann nicht in die
Grenzen des Verständnisses und der Ausdrucks-
weise einer besonderen Kultur eingeschlossen
werden.95 Es ist unbestreitbar, dass eine einzige
Kultur das Erlösungsgeheimnis Christi nicht er-
schöpfend darstellt.
Alle sind wir missionarische Jünger
119.  In allen Getauften, vom ersten bis zum
letzten, wirkt die heiligende Kraft des Geistes,
die zur Evangelisierung drängt. Das Volk Got-
tes ist heilig in Entsprechung zu dieser Salbung,
die es „in credendounfehlbar macht. Das bedeu-
tet, dass es, wenn es glaubt, sich nicht irrt, auch
wenn es keine Worte findet, um seinen Glauben
auszudrücken. Der Geist leitet es in der Wahrheit
und führt es zum Heil.96 Als Teil seines Geheim-
nisses der Liebe zur Menschheit begabt Gott die
Gesamtheit der Gläubigen mit einem Instinkt
des Glaubens – dem sensus fidei –, der ihnen hilft,
das zu unterscheiden, was wirklich von Gott
kommt. Die Gegenwart des Geistes gewährt den
Christen eine gewisse Wesensgleichheit mit den
göttlichen Wirklichkeiten und eine Weisheit, die
95  Vgl. Ders., Nachsynodales Apostolisches Schreiben
Ecclesia in Asia (6. November 1999), 20: AAS 92 (2000), 478-
482.
96  Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst.
Lumen gentium über die Kirche, 12.
109

11.10 Page 110

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ihnen erlaubt, diese intuitiv zu erfassen, obwohl
sie nicht über die geeigneten Mittel verfügen, sie
genau auszudrücken.
120.  Kraft der empfangenen Taufe ist jedes
Mitglied des Gottesvolkes ein missionarischer
Jünger geworden (vgl. Mt 28,19). Jeder Getaufte
ist, unabhängig von seiner Funktion in der Kir-
che und dem Bildungsniveau seines Glaubens,
aktiver Träger der Evangelisierung, und es wäre
unangemessen, an einen Evangelisierungsplan
zu denken, der von qualifizierten Mitarbeitern
umgesetzt würde, wobei der Rest des gläubigen
Volkes nur Empfänger ihres Handelns wäre. Die
neue Evangelisierung muss ein neues Verständ-
nis der tragenden Rolle eines jeden Getauften
einschließen. Diese Überzeugung wird zu einem
unmittelbaren Aufruf an jeden Christen, dass
niemand von seinem Einsatz in der Evangeli-
sierung ablasse; wenn einer nämlich wirklich die
ihn rettende Liebe Gottes erfahren hat, braucht
er nicht viel Vorbereitungszeit, um sich aufzu-
machen und sie zu verkündigen; er kann nicht
darauf warten, dass ihm viele Lektionen erteilt
oder lange Anweisungen gegeben werden. Jeder
Christ ist in dem Maß Missionar, in dem er der
Liebe Gottes in Jesus Christus begegnet ist; wir
sagen nicht mehr, dass wir „Jünger“ und „Mis-
sionare“ sind, sondern immer, dass wir „missio-
narische Jünger“ sind. Wenn wir nicht überzeugt
sind, schauen wir auf die ersten Jünger, die sich
unmittelbar, nachdem sie den Blick Jesu kennen
gelernt hatten, aufmachten, um ihn voll Freude
110

12 Pages 111-120

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12.1 Page 111

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zu verkünden: »Wir haben den Messias gefun-
den« (Joh 1,41). Kaum hatte die Samariterin ihr
Gespräch mit Jesus beendet, wurde sie Missio-
narin, und viele Samariter kamen zum Glauben
an Jesus »auf das Wort der Frau hin« (Joh 4,39).
Nach seiner Begegnung mit Jesus Christus mach-
te sich auch der heilige Paulus auf, »und sogleich
verkündete er Jesus … und sagte: Er ist der Sohn
Gottes.« (Apg 9,20). Und wir, worauf warten wir?
121.  Gewiss sind wir alle gerufen, als Ver-
künder des Evangeliums zu wachsen. Zugleich
bemühen wir uns um eine bessere Ausbildung,
eine Vertiefung unserer Liebe und ein deutliche-
res Zeugnis für das Evangelium. Daher müs-
sen wir uns alle gefallen lassen, dass die ande-
ren uns ständig evangelisieren. Das bedeutet
jedoch nicht, dass wir unterdessen von unserer
Aufgabe zu evangelisieren absehen müssen, son-
dern wir sollen die Weise finden, die der Situa-
tion angemessen ist, in der wir uns befinden.
In jedem Fall sind wir alle gerufen, den anderen
ein klares Zeugnis der heilbringenden Liebe des
Herrn zu geben, der uns jenseits unserer Unvoll-
kommenheiten seine Nähe, sein Wort und seine
Kraft schenkt und unserem Leben Sinn verleiht.
Dein Herz weiß, dass das Leben ohne ihn nicht
dasselbe ist. Was du entdeckt hast, was dir zu le-
ben hilft und dir Hoffnung gibt, das sollst du den
anderen mitteilen. Unsere Unvollkommenheit
darf keine Entschuldigung sein; im Gegenteil,
die Aufgabe ist ein ständiger Anreiz, sich nicht
der Mittelmäßigkeit hinzugeben, sondern wei-
111

12.2 Page 112

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ter zu wachsen. Das Glaubenszeugnis, das jeder
Christ zu geben berufen ist, schließt ein, wie der
heilige Paulus zu bekräftigen: »Nicht dass ich es
schon erreicht hätte oder dass ich schon vollen-
det wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen
… und strecke mich nach dem aus, was vor mir
ist« (Phil 3,12-13).
Die evangelisierende Kraft der Volksfrömmigkeit
122.  In gleicher Weise können wir uns vorstel-
len, dass die verschiedenen Völker, in die das
Evangelium inkulturiert worden ist, aktive kol-
lektive Träger und Vermittler der Evangelisie-
rung sind. Das ist tatsächlich so, weil jedes Volk
der Schöpfer der eigenen Kultur und der Prot-
agonist der eigenen Geschichte ist. Die Kultur ist
etwas Dynamisches, das von einem Volk ständig
neu erschaffen wird; und jede Generation gibt an
die folgende eine Gesamtheit von auf die ver-
schiedenen Lebenssituationen bezogenen Ein-
stellungen weiter, die diese angesichts ihrer eige-
nen Herausforderungen überarbeiten muss. Der
Mensch »ist zugleich Kind und Vater der Kultur,
in der er eingebunden ist«.97 Wenn in einem Volk
das Evangelium inkulturiert worden ist, gibt es
in seinem Prozess der Übermittlung der Kultur
auch den Glauben auf immer neue Weise weiter;
daher die Wichtigkeit der als Inkulturation ver-
standenen Evangelisierung. Jeder Teil des Got-
97Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14.
September 1998), 71 : AAS 91 (1999), 60.
112

12.3 Page 113

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tesvolkes gibt, indem er die Gabe Gottes dem
eigenen Geist entsprechend in sein Leben über-
trägt, Zeugnis für den empfangenen Glauben
und bereichert ihn mit neuen, aussagekräftigen
Ausdrucksformen. Man kann sagen: »Das Volk
evangelisiert fortwährend sich selbst.«98 Hier ist
die Volksfrömmigkeit von Bedeutung, die ein au-
thentischer Ausdruck des spontanen missionari-
schen Handelns des Gottesvolkes ist. Es handelt
sich um eine in fortwährender Entwicklung be-
griffene Wirklichkeit, in der der Heilige Geist der
Protagonist ist.99
123.  In der Volksfrömmigkeit kann man die
Weise erfassen, in der der empfangene Glaube in
einer Kultur Gestalt angenommen hat und stän-
dig weitergegeben wird. Während sie zeitweise
mit Misstrauen betrachtet wurde, war sie in den
Jahrzehnten nach dem Konzil Gegenstand einer
Neubewertung. Paul VI. hat in seinem Aposto-
lischen Schreiben Evangelii nuntiandi einen ent-
scheidenden Impuls in diesem Sinn gegeben.
Dort erklärt er, dass in der Volksfrömmigkeit
»ein Hunger nach Gott zum Ausdruck [kommt],
wie ihn nur die Einfachen und Armen kennen«100,
98III. Generalversammlung der Bischöfe von
Lateinamerika und der Karibik, Dokument von Puebla (23. März
1979), 450; vgl. V. Generalversammlung der Bischöfe von
ateinamerika und der Karibik, Dokument von Aparecida (29.
Juni 2007), 264.
99  Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Ecclesia in Asia (6. November 1999), 21: AAS 92
(2000), 482-484.
100  Nr. 48: AAS 68 (1976), 38.
113

12.4 Page 114

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und fährt fort: »Sie befähigt zur Großmut und
zum Opfer, ja zum Heroismus, wenn es gilt, den
Glauben zu bekunden«101. Näher an unseren Ta-
gen hat Benedikt XVI. in Lateinamerika darauf
hingewiesen, dass sie »ein kostbarer Schatz der
katholischen Kirche« ist und dass in ihr »die Seele
der lateinamerikanischen Völker zum Vorschein
kommt«.102
124.  Im Dokument von Aparecida werden die
Reichtümer beschrieben, die der Heilige Geist
in der Volksfrömmigkeit mit seiner unentgeltli-
chen Initiative entfaltet. In jenem geliebten Kon-
tinent, wo viele Christen ihren Glauben durch
die Volksfrömmigkeit zum Ausdruck bringen,
nennen die Bischöfe sie auch »Volksspiritualität«
oder »Volksmystik«.103 Es handelt sich um eine
wahre »in der Kultur der Einfachen verkörperte
Spiritualität«104. Sie ist nicht etwa ohne Inhalte,
sondern sie entdeckt und drückt diese mehr auf
symbolischem Wege als durch den Gebrauch des
funktionellen Verstandes aus, und im Glaubens-
akt betont sie mehr das credere in Deum als das cre-
dere Deum105. Es ist »eine legitime Weise, den Glau-
101Ebd.
102Ansprache während der Eröffnungssitzung der V.
Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik
(13. Mai 2007), 1: AAS 99 (2007), 446-447.
103V. Generalversammlung der Bischöfe von Latein-
amerika und der Karibik, Dokument von Aparecida (29. Juni
2007), 262.
104Ebd., 263.
105  Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae II-II, q. 2,
a. 2.
114

12.5 Page 115

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ben zu leben, eine Weise, sich als Teil der Kirche
zu fühlen und Missionar zu sein«106; sie bringt
die Gnade des Missionsgeistes, des Aus-sich-
Herausgehens und des Pilgerseins mit sich: »Das
gemeinsame Gehen zu den Wallfahrtsorten und
die Teilnahme an anderen Ausdrucksformen der
Volksfrömmigkeit, wobei man auch die Kinder
mitnimmt oder andere Menschen dazu einlädt,
ist in sich selbst ein Akt der Evangelisierung.«107
Tun wir dieser missionarischen Kraft keinen
Zwang an und maßen wir uns nicht an, sie zu
kontrollieren!
125.  Um diese Wirklichkeit zu verstehen, muss
man sich ihr mit dem Blick des Guten Hirten
nähern, der nicht darauf aus ist, zu urteilen,
sondern zu lieben. Allein von der natürlichen
Hinneigung her, die die Liebe schenkt, können
wir das gottgefällige Leben würdigen, das in der
Frömmigkeit der christlichen Völker, besonders
bei den Armen, vorhanden ist. Ich denke an den
festen Glauben jener Mütter am Krankenbett
des Sohnes, die sich an einen Rosenkranz klam-
mern, auch wenn sie die Sätze des Credo nicht
zusammenbringen; oder an den enormen Gehalt
an Hoffnung, der sich mit einer Kerze verbreitet,
die in einer bescheidenen Wohnung angezündet
wird, um Maria um Hilfe zu bitten; oder an jene
106V. Generalversammlung der Bischöfe von Latein-
amerika und der Karibik, Dokument von Aparecida (29. Juni
2007), 264.
107Ebd.
115

12.6 Page 116

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von tiefer Liebe erfüllten Blicke auf den gekreu-
zigten Christus. Wer das heilige gläubige Volk
Gottes liebt, kann diese Handlungen nicht einzig
als eine natürliche Suche des Göttlichen anse-
hen. Sie sind der Ausdruck eines gottgefälligen
Lebens, beseelt vom Wirken des Heiligen Gei-
stes, der in unsere Herzen eingegossen ist (vgl.
Röm 5,5).
126.  Da die Volksfrömmigkeit Frucht des in-
kulturierten Evangeliums ist, ist in ihr eine aktiv
evangelisierende Kraft eingeschlossen, die wir
nicht unterschätzen dürfen; anderenfalls würden
wir die Wirkung des Heiligen Geistes verkennen.
Wir sind vielmehr aufgerufen, sie zu fördern und
zu verstärken, um den Prozess der Inkulturation
zu vertiefen, der niemals abgeschlossen ist. Die
Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit haben
vieles, das sie uns lehren können, und für den,
der imstande ist, sie zu deuten, sind sie ein theo-
logischer Ort. Diesem sollen wir Aufmerksamkeit
schenken, besonders im Hinblick auf die neue
Evangelisierung.
Von Mensch zu Mensch
127.  Nun, da die Kirche eine tiefe missionari-
sche Erneuerung vollziehen möchte, gibt es eine
Form der Verkündigung, die uns allen als tägliche
Pflicht zukommt. Es geht darum, das Evangeli-
um zu den Menschen zu bringen, mit denen jeder
zu tun hat, zu den Nächsten wie zu den Unbe-
kannten. Es ist die informelle Verkündigung, die
116

12.7 Page 117

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man in einem Gespräch verwirklichen kann, und
es ist auch die, welche ein Missionar handhabt,
wenn er ein Haus besucht. Jünger sein bedeutet,
ständig bereit zu sein, den anderen die Liebe Jesu
zu bringen, und das geschieht spontan an jedem
beliebigen Ort, am Weg, auf dem Platz, bei der
Arbeit, auf einer Straße.
128.  Der erste Schritt dieser stets respektvollen
und freundlichen Verkündigung besteht aus ei-
nem persönlichen Gespräch, in dem der andere
Mensch sich ausdrückt und seine Freuden, seine
Hoffnungen, die Sorgen um seine Lieben und
viele Dinge, von denen sein Herz voll ist, mitteilt.
Erst nach diesem Gespräch ist es möglich, das
Wort Gottes vorzustellen, sei es mit der Lesung
irgendeiner Schriftstelle oder erzählenderweise,
aber immer im Gedanken an die grundlegende
Verkündigung: die persönliche Liebe Gottes,
der Mensch geworden ist, sich für uns hinge-
geben hat und als Lebender sein Heil und seine
Freundschaft anbietet. Es ist die Verkündigung,
die man in einer demütigen, bezeugenden Hal-
tung mitteilt wie einer, der stets zu lernen weiß,
im Bewusstsein, dass die Botschaft so reich und
so tiefgründig ist, dass sie uns immer überragt.
Manchmal drückt man sie auf direktere Weise
aus, andere Male durch ein persönliches Zeug-
nis, eine Erzählung, eine Geste oder die Form,
die der Heilige Geist selbst in einem konkreten
Umstand hervorrufen kann. Wenn es vernünftig
erscheint und die entsprechenden Bedingungen
gegeben sind, ist es gut, wenn diese brüderliche
117

12.8 Page 118

▲back to top
und missionarische Begegnung mit einem kurzen
Gebet abgeschlossen wird, das die Sorgen auf-
nimmt, die der Gesprächspartner zum Ausdruck
gebracht hat. Er wird dann deutlicher spüren,
dass er angehört und verstanden wurde, dass sei-
ne Situation in Gottes Hand gelegt wurde, und
er wird erkennen, dass das Wort Gottes wirklich
sein Leben anspricht.
129.  Man darf nicht meinen, die Verkündigung
des Evangeliums müsse immer mit bestimmten
festen Formeln oder mit genauen Worten über-
mittelt werden, die einen absolut unveränderli-
chen Inhalt ausdrücken. Sie wird in so verschie-
denen Formen weitergegeben, dass es unmöglich
wäre, sie zu beschreiben oder aufzulisten; in ih-
nen ist das Volk Gottes mit seinen unzähligen
Gesten und Zeichen ein kollektives Subjekt.
Folglich wird das Evangelium, wenn es in einer
Kultur Gestalt angenommen hat, nicht mehr nur
durch die Verkündigung von Mensch zu Mensch
bekannt gemacht. Das muss uns daran denken
lassen, dass die Teilkirchen in jenen Ländern, wo
das Christentum eine Minderheit ist, nicht nur
jeden Getauften zur Verkündigung des Evange-
liums ermutigen, sondern darüber hinaus aktiv
zumindest anfängliche Formen der Inkulturation
fördern müssen. Letztlich ist eine Verkündigung
des Evangeliums anzustreben, welche eine neue
Synthese des Evangeliums mit der Kultur, in der
es mit deren Kategorien verkündet wird, hervor-
ruft. Obwohl diese Prozesse immer langwierig
sind, lähmt uns manchmal zu sehr die Angst.
118

12.9 Page 119

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Wenn wir den Zweifeln und Befürchtungen er-
lauben, jeden Wagemut zu ersticken, kann es
geschehen, dass wir, anstatt kreativ zu sein, ein-
fach in unserer Bequemlichkeit verharren, ohne
irgendeinen Fortschritt zu bewirken. Und in dem
Fall werden wir nicht mit unserer Mitarbeit an hi-
storischen Prozessen teilhaben, sondern schlicht
Beobachter einer sterilen Stagnation der Kirche
sein.
Charismen im Dienst der evangelisierenden Gemeinschaft
130.  Der Heilige Geist bereichert die ganze
evangelisierende Kirche auch mit verschiedenen
Charismen. Diese Gaben erneuern die Kirche
und bauen sie auf.108 Sie sind kein verschlossener
Schatz, der einer Gruppe anvertraut wird, damit
sie ihn hütet; es handelt sich vielmehr um Ge-
schenke des Geistes, die in den Leib der Kirche
eingegliedert und zur Mitte, die Christus ist, hin-
gezogen werden, von wo aus sie in einen Evan-
gelisierungsimpuls einfließen. Ein deutliches Zei-
chen für die Echtheit eines Charismas ist seine
Kirchlichkeit, seine Fähigkeit, sich harmonisch in
das Leben des heiligen Gottesvolkes einzufügen
zum Wohl aller. Eine authentische vom Geist er-
weckte Neuheit hat es nicht nötig, einen Schatten
auf andere Spiritualitäten und Gaben zu werfen,
um sich durchzusetzen. Je mehr ein Charisma
seinen Blick auf den Kern des Evangeliums rich-
108  Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst.
Lumen gentium über die Kirche, 12.
119

12.10 Page 120

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tet, um so kirchlicher wird seine Ausübung sein.
Auch wenn es Mühe kostet: Die Gemeinschaft
ist der Ort, wo ein Charisma sich als echt und ge-
heimnisvoll fruchtbar erweist. Wenn die Kirche
sich dieser Herausforderung stellt, kann sie ein
Vorbild für den Frieden in der Welt sein.
131.  Die Unterschiede zwischen den Men-
schen und den Gemeinschaften sind manchmal
lästig, doch der Heilige Geist, der diese Ver-
schiedenheiten hervorruft, kann aus allem et-
was Gutes ziehen und es in eine Dynamik der
Evangelisierung verwandeln, die durch Anzie-
hung wirkt. Die Verschiedenheit muss mit Hilfe
des Heiligen Geistes immer versöhnt sein; nur er
kann die Verschiedenheit, die Pluralität, die Viel-
falt hervorbringen und zugleich die Einheit ver-
wirklichen. Wenn hingegen wir es sind, die auf
der Verschiedenheit beharren, und uns in unsere
Partikularismen, in unsere Ausschließlichkeiten
zurückziehen, verursachen wir die Spaltung, und
wenn andererseits wir mit unseren menschlichen
Plänen die Einheit schaffen wollen, zwingen wir
schließlich die Eintönigkeit, die Vereinheitlichung
auf. Das hilft der Mission der Kirche nicht.
Die Welt der Kultur, des Denkens und der Erziehung
132.  Die Verkündigung an die Welt der Kul-
tur schließt auch eine Verkündigung an die be-
ruflichen, wissenschaftlichen und akademischen
Kulturen ein. Es geht um die Begegnung zwi-
schen dem Glauben, der Vernunft und den Wis-
120

13 Pages 121-130

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13.1 Page 121

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senschaften, die anstrebt, ein neues Gespräch
über die Glaubwürdigkeit zu entwickeln, eine
ursprüngliche Apologetik,109 die helfen soll, die
Voraussetzungen zu schaffen, damit das Evan-
gelium von allen gehört wird. Wenn einige Ka-
tegorien der Vernunft und der Wissenschaften
in die Verkündigung der Botschaft aufgenom-
men werden, dann werden ebendiese Kategori-
en Werkzeuge der Evangelisierung; es ist das in
Wein verwandelte Wasser. Wenn dies einmal auf-
genommen ist, wird es nicht nur erlöst, sondern
bildet ein Werkzeug des Geistes, um die Welt zu
erleuchten und zu erneuern.
133.  Da die Sorge des Evangelisierenden, je-
den Menschen zu erreichen, nicht genügt und
das Evangelium auch an die Kulturen im Gan-
zen verkündet wird, kommt der Theologie – und
nicht nur der Pastoraltheologie –, die mit anderen
Wissenschaften und menschlichen Erfahrungen
im Dialog steht, eine wichtige Bedeutung bei der
Überlegung zu, wie man das Angebot des Evan-
geliums der Vielfalt der kulturellen Kontexte und
der Empfänger nahe bringen kann.110 Die in der
Evangelisierung engagierte Kirche würdigt und
ermutigt das Charisma der Theologen und ihr
Bemühen in der theologischen Forschung, die
den Dialog mit der Welt der Kultur und der Wis-
senschaft fördert. Ich rufe die Theologen auf,
109 Vgl. Propositio 17.
110 Vgl. Propositio 30.
121

13.2 Page 122

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diesen Dienst als Teil der Heilssendung der Kir-
che zu vollbringen. Doch ist es für diese Aufgabe
nötig, dass ihnen die missionarische Bestimmung
der Kirche und der Theologie selbst am Herzen
liegt und sie sich nicht mit einer Schreibtisch-
Theologie zufrieden geben.
134.  Die Universitäten sind ein bevorzugter
Bereich, um dieses Engagement der Evangelisie-
rung auf interdisziplinäre Weise und in wechsel-
seitiger Ergänzung zu entfalten. Die katholischen
Schulen, die immer versuchen, ihre erzieherische
Aufgabe mit der ausdrücklichen Verkündigung
des Evangeliums zu verbinden, stellen einen sehr
wertvollen Beitrag zur Evangelisierung der Kul-
tur dar, auch in den Ländern und in den Städten,
wo eine ungünstige Situation uns anregt, unsere
Kreativität einzusetzen, um die geeigneten Wege
zu finden.111
II. Die Homilie
135.  Wenden wir uns jetzt der Verkündigung
innerhalb der Liturgie zu, die von den Hirten
sehr ernst genommen werden muss. Ich werde
besonders – und sogar mit einer gewissen Akri-
bie – bei der Homilie und ihrer Vorbereitung
verweilen, denn in Bezug auf diesen wichtigen
Dienst gibt es viele Beschwerden, und wir dürfen
111 Vgl. Propositio 27.
122

13.3 Page 123

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unsere Ohren nicht verschließen. Die Homilie
ist der Prüfstein, um die Nähe und die Kontakt-
fähigkeit eines Hirten zu seinem Volk zu beur-
teilen. In der Tat wissen wir, dass die Gläubigen
ihr große Bedeutung beimessen; und sie, wie die
geweihten Amtsträger selbst, leiden oft, die einen
beim Zuhören, die anderen beim Predigen. Es ist
traurig, dass das so ist. Dabei kann die Homilie
wirklich eine intensive und glückliche Erfahrung
des Heiligen Geistes sein, eine stärkende Begeg-
nung mit dem Wort Gottes, eine ständige Quelle
der Erneuerung und des Wachstums.
136.  Erneuern wir unser Vertrauen in die Ver-
kündigung, das sich auf die Überzeugung grün-
det, dass Gott es ist, der die anderen durch den
Prediger erreichen möchte, und dass er seine
Macht durch das menschliche Wort entfaltet.
Der heilige Paulus spricht mit Nachdruck über
die Notwendigkeit zu predigen, weil der Herr die
anderen auch mit unserem Wort erreichen wollte
(vgl. Röm 10,14-17). Mit dem Wort hat unser Herr
das Herz der Menschen gewonnen. Von überall-
her kamen sie, um ihn zu hören (vgl. Mk 1,45).
Sie staunten, indem sie seine Lehren gleichsam
„aufsogen“ (vgl. Mk 6,2). Sie spürten, dass er zu
ihnen sprach wie einer, der Vollmacht hat (vgl.
Mk 1,27). Mit dem Wort zogen die Apostel, die
er eingesetzt hatte, »die er bei sich haben und die
er dann aussenden wollte, damit sie predigten«
(Mk 3,14) alle Völker in den Schoß der Kirche
(vgl. Mk 16,15.20).
123

13.4 Page 124

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Der liturgische Kontext
137.  Es muss nun daran erinnert werden, dass
»die liturgische Verkündigung des Wortes Gottes,
vor allem im Rahmen der Eucharistiefeier, nicht
nur ein Augenblick der Erbauung und Katechese,
sondern das Gespräch Gottes mit seinem Volk
ist, ein Gespräch, in dem diesem die Heilswun-
der verkündet und immer wieder die Ansprüche
des Bundes vor Augen gestellt werden«112. Es gibt
eine besondere Wertschätzung für die Homilie,
die aus ihrem eucharistischen Zusammenhang
herrührt und sie jede Katechese überragen lässt,
da sie den Höhepunkt des Gesprächs zwischen
Gott und seinem Volk vor der sakramentalen
Kommunion darstellt. Die Homilie nimmt den
Dialog auf, der zwischen dem Herrn und seinem
Volk bereits eröffnet wurde. Wer predigt, muss
das Herz seiner Gemeinde kennen, um zu su-
chen, wo die Sehnsucht nach Gott lebendig und
brennend ist und auch wo dieser ursprünglich
liebevolle Dialog erstickt worden ist oder keine
Frucht bringen konnte.
138.  Die Homilie darf keine Unterhaltungs-
Show sein, sie entspricht nicht der Logik medi-
aler Möglichkeiten, muss aber dem Gottesdienst
Eifer und Sinn geben. Sie ist eine besondere Gat-
tung, da es sich um eine Verkündigung im Rah-
men einer liturgischen Feier handelt; folglich muss
112Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Dies
Domini (31. Mai 1998), 41: AAS 90 (1998), 738-739.
124

13.5 Page 125

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sie kurz sein und vermeiden, wie ein Vortrag
oder eine Vorlesung zu erscheinen. Der Prediger
mag fähig sein, das Interesse der Leute eine Stun-
de lang wach zu halten, aber auf diese Weise wird
sein Wort wichtiger als die Feier des Glaubens.
Wenn die Homilie sich zu sehr in die Länge zieht,
schadet sie zwei Merkmalen der liturgischen Fei-
er: der Harmonie zwischen ihren Teilen und ih-
rem Rhythmus. Wenn die Verkündigung im Kon-
text der Liturgie geschieht, wird sie eingefügt als
Teil der Opfergabe, die dem Vater dargebracht
wird, und als Vermittlung der Gnade, die Chri-
stus in der Feier ausgießt. Ebendieser Kontext
verlangt, dass die Verkündigung die Gemeinde
und auch den Prediger auf eine Gemeinschaft
mit Christus in der Eucharistie hin ausrichtet, die
das Leben verwandelt. Das erfordert, dass das
Wort des Predigers nicht einen übertriebenen
Raum einnimmt, damit der Herr mehr erstrahlt
als der Diener.
Das Gespräch einer Mutter
139.  Wir haben gesagt, dass das Volk Gottes
durch das ständige Wirken des Geistes in ihm
fortwährend sich selber evangelisiert. Was bringt
diese Überzeugung für den Prediger mit sich? Sie
erinnert uns daran, dass die Kirche Mutter ist und
zum Volk so predigt wie eine Mutter, die zu ih-
rem Kind spricht im Bewusstsein, dass das Kind
darauf vertraut, dass alles, was sie es lehrt, zu
seinem Besten ist, denn es weiß sich geliebt. Au-
125

13.6 Page 126

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ßerdem weiß die gute Mutter alles anzuerkennen,
was Gott in ihr Kind hineingelegt hat, hört seine
Sorgen an und lernt von ihm. Der Geist der Lie-
be, der in einer Familie herrscht, leitet die Mutter
ebenso wie das Kind in ihren Gesprächen, wo
gelehrt und gelernt wird, wo man korrigiert und
das Gute würdigt; und so geschieht es auch in
der Homilie. Der Heilige Geist, der die Evange-
lien inspiriert hat und der im Volk Gottes wirkt,
inspiriert auch die rechte Art, wie man auf den
Glauben des Volkes hören muss und wie man
in jeder Eucharistie predigen muss. Die christ-
liche Predigt findet daher im Herzen der Kultur
des Volkes eine Quelle lebendigen Wassers, sei
es, um zu wissen, was sie sagen soll, sei es, um
die angemessene Weise zu finden, es zu sagen.
Wie es uns allen gefällt, wenn man in unserer
Muttersprache mit uns spricht, so ist es auch im
Glauben: Es gefällt uns, wenn man im Schlüssel
der „mütterlichen Kultur“, im Dialekt der Mut-
ter zu uns spricht (vgl. 2 Makk 7,21.27), und das
Herz macht sich bereit, besser zuzuhören. Diese
Sprache ist eine Tonart, die Mut, Ruhe, Kraft und
Impuls vermittelt.
140.  Dieser mütterlich-kirchliche Bereich, in
dem sich der Dialog des Herrn mit seinem Volk
abspielt, muss durch die herzliche Nähe des
Predigers, die Wärme des Tons seiner Stimme,
die Milde des Stils seiner Sätze und die Freude
seiner Gesten gefördert und gepflegt werden.
Auch in den Fällen, wo die Predigt sich als et-
was langweilig herausstellt, wird sie, wenn dieser
126

13.7 Page 127

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mütterlich-kirchliche Geist gegeben ist, immer
fruchtbar sein, so wie die langweiligen Ratschlä-
ge einer Mutter mit der Zeit im Herzen der Kin-
der Frucht bringen.
141.  Voll Bewunderung steht man vor den
Möglichkeiten, die der Herr eingesetzt hat, um
mit seinem Volk ins Gespräch zu kommen, um
sein Geheimnis allen zu offenbaren, um die Leu-
te mit so erhabenen und so anspruchsvollen
Lehren zu faszinieren. Ich glaube, dass sich das
Geheimnis in jenem Blick Jesu auf das Volk ver-
birgt, der über dessen Schwächen und Sünden
hinausgeht: »Fürchte dich nicht, du kleine Herde!
Denn euer Vater hat beschlossen, euch das Reich
zu geben« (Lk 12,32); in diesem Geist predigt Je-
sus. Voller Freude im Heiligen Geist preist er den
Vater, der die Kleinen anzieht: »Ich preise dich,
Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du
all das den Weisen und Klugen verborgen, den
Unmündigen aber offenbart hast« (Lk 10,21).
Der Herr findet wirklich Gefallen daran, sich mit
seinem Volk zu unterhalten, und dem Prediger
kommt die Aufgabe zu, seine Leute diese Freude
des Herrn erfahren zu lassen.
Worte, die die Herzen entfachen
142.  Ein Dialog ist weit mehr als die Mitteilung
einer Wahrheit. Er kommt zustande aus Freude
am Reden und um des konkreten Gutes willen,
das unter denen, die einander lieben, mit Hilfe
von Worten mitgeteilt wird. Es ist ein Gut, das
127

13.8 Page 128

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nicht in Dingen besteht, sondern in den Perso-
nen selbst, die sich im Dialog einander schenken.
Eine rein moralistische oder unterweisende Ver-
kündigung und auch jene, die zu einer Exegese-
Vorlesung wird, schränkt diese Kommunikation
zwischen den Herzen ein, die in der Homilie ge-
geben ist und die einen geradezu sakramentalen
Charakter haben muss: »So gründet der Glaube
in der Botschaft, die Botschaft im Wort Chris-
ti« (Röm 10,17). In der Homilie geht die Wahr-
heit mit der Schönheit und dem Guten einher.
Es handelt sich nicht um abstrakte Wahrheiten
oder kalte Syllogismen, denn es wird auch die
Schönheit der Bilder mitgeteilt, die der Herr ge-
brauchte, um anzuregen, das Gute zu tun. Das
Gedächtnis des gläubigen Volkes muss wie das
von Maria von den wunderbaren Taten Gottes
überfließen. In der Hoffnung auf eine freudige
und mögliche Übung der ihm verkündeten Liebe
spürt sein Herz, dass jedes Wort der Schrift vor
allem Geschenk und erst in zweiter Linie An-
spruch ist.
143.  Die Herausforderung einer inkulturier-
ten Predigt besteht darin, die „Synthese“ der
Botschaft des Evangeliums und nicht zusam-
menhanglose Ideen oder Werte zu übermitteln.
Wo deine „Synthese“ liegt, da ist dein Herz. Der
Unterschied zwischen dem Erklären von Ideen
ohne inneren Zusammenhang und dem Erklären
einer „Synthese“ ist derselbe wie der zwischen
der Langeweile und dem Brennen des Herzens.
Der Prediger hat die sehr schöne und schwierige
128

13.9 Page 129

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Aufgabe, die Herzen, die sich lieben, zu verei-
nen: das des Herrn und die seines Volkes. Das
Gespräch zwischen Gott und seinem Volk stärkt
weiter den Bund zwischen ihnen und festigt das
Band der Liebe. Während der Zeit der Homilie
schweigen die Herzen der Gläubigen und lassen
ihn sprechen. Der Herr und sein Volk reden in
tausendfacher Weise direkt miteinander, ohne
Mittler. In der Homilie aber wollen sie, dass je-
mand sich zum Werkzeug macht und die Emp-
findungen zum Ausdruck bringt, so dass in der
Folge jeder entscheiden kann, wie er das Ge-
spräch fortsetzen will. Das Wort ist wesentlicher
Mittler und erfordert nicht nur die beiden Ge-
sprächspartner, sondern auch einen Prediger, der
es als solches darstellt in der Überzeugung, dass
»wir nämlich nicht uns selbst verkündigen, son-
dern Jesus Christus als den Herrn, uns aber als
eure Knechte um Jesu willen« (2 Kor 4,5).
144.  Mit Herz sprechen schließt ein, dass man
ihm nicht nur das innere Feuer bewahren muss,
sondern auch das Licht, das ihm aus der Offen-
barung in ihrer Gesamtheit zufließt und aus dem
Weg, den das Wort Gottes im Herzen der Kirche
und unseres gläubigen Volkes im Laufe der Ge-
schichte zurückgelegt hat. Die christliche Identi-
tät, die jene Umarmung in der Taufe darstellt, die
der himmlische Vater uns geschenkt hat, als wir
noch klein waren, lässt uns wie „verlorene Söh-
ne“ – die in Maria sein besonderes Wohlgefallen
genießen – sehnlich die andere Umarmung des
barmherzigen Vaters begehren, der uns in der
129

13.10 Page 130

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Herrlichkeit erwartet. Dafür zu sorgen, dass un-
ser Volk sich wie inmitten dieser beiden Umar-
mungen fühlt, ist die schwere, aber schöne Auf-
gabe dessen, der das Evangelium verkündet.
III. Die Vorbereitung auf die Predigt
145.  Die Vorbereitung auf die Predigt ist eine
so wichtige Aufgabe, dass es nötig ist, ihr eine
längere Zeit des Studiums, des Gebetes, der Re-
flexion und der pastoralen Kreativität zu wid-
men. In aller Freundlichkeit möchte ich hier nun
einen Weg der Vorbereitung auf die Homilie
vorschlagen. Es sind Hinweise, die einigen als
selbstverständlich erscheinen mögen, aber ich
halte es für angebracht, sie zu empfehlen, um
an die Notwendigkeit zu erinnern, diesem wert-
vollen Dienst eine bevorzugte Zeit zu widmen.
Manche Pfarrer pflegen dagegen einzuwenden,
das sei aufgrund der vielen Obliegenheiten, die
sie erledigen müssen, nicht möglich. Dennoch
wage ich zu bitten, dass dieser Aufgabe jede Wo-
che persönlich wie gemeinschaftlich eine aus-
reichend lange Zeit gewidmet wird, selbst wenn
dann für andere, ebenfalls wichtige Aufgaben
weniger Zeit übrig bleibt. Das Vertrauen auf den
Heiligen Geist, der in der Verkündigung wirkt,
ist nicht rein passiv, sondern aktiv und kreativ. Es
schließt ein, sich mit allen eigenen Fähigkeiten als
Werkzeug darzubieten (vgl. Röm 12,1), damit sie
von Gott genutzt werden können. Ein Prediger,
der sich nicht vorbereitet, ist nicht „geistlich“, er
130

14 Pages 131-140

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14.1 Page 131

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ist unredlich und verantwortungslos gegenüber
den Gaben, die er empfangen hat.
Der Dienst der Wahrheit
146.  Nachdem man den Heiligen Geist angeru-
fen hat, ist der erste Schritt, die ganze Aufmerk-
samkeit dem biblischen Text zu widmen, der die
Grundlage der Predigt sein muss. Wenn jemand
innehält und zu verstehen versucht, was die Bot-
schaft eines Textes ist, übt er den »Dienst der
Wahrheit«113 aus. Es ist die Demut des Herzens,
die anerkennt, dass das Wort Gottes uns immer
übersteigt, dass wir »weder ihre Besitzer noch
ihre Herren sind, sondern nur ihre Hüter, ihre
Herolde, ihre Diener«114. Diese Haltung einer de-
mütigen und staunenden Verehrung des Wortes
Gottes äußert sich darin, dabei zu verweilen, es
sehr sorgfältig zu studieren, in heiliger Furcht
davor, es zu manipulieren. Um einen biblischen
Text auslegen zu können, braucht es Geduld,
muss man alle Unruhe ablegen und Zeit, Interes-
se und unentgeltliche Hingabe einsetzen. Man muss
jegliche Besorgnis, die einen bedrängt, beiseite
schieben, um in ein anderes Umfeld gelassener
Aufmerksamkeit einzutreten. Es ist nicht der
Mühe wert, einen biblischen Text zu lesen, wenn
man schnelle, einfache oder unmittelbare Ergeb-
nisse erzielen will. Deshalb erfordert die Vorbe-
113Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi
(8. Dezember 1975), 78: AAS 68 (1976), 71.
114Ebd.
131

14.2 Page 132

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reitung auf die Predigt Liebe. Einzig den Dingen
oder Personen, die man liebt, widmet man eine
Zeit, ohne Gegenleistung zu erwarten und ohne
Eile; und hier geht es darum, Gott zu lieben, der
sprechen wollte. Von dieser Liebe her kann man
die ganze Zeit, die nötig ist, in der Haltung des
Jüngers verweilen: »Rede, Herr; denn dein Die-
ner hört« (1 Sam 3,9).
147.  Vor allem muss man sicher sein, die Be-
deutung der Worte, die wir lesen, entsprechend
zu verstehen. Ich möchte etwas betonen, das of-
fenkundig scheint, aber nicht immer berücksich-
tigt wird: Der biblische Text, den wir studieren,
ist zwei- oder dreitausend Jahre alt, seine Spra-
che ist ganz verschieden von der, die wir heu-
te benutzen. So sehr es uns auch scheinen mag,
die Worte zu verstehen, die in unsere Sprache
übersetzt sind, bedeutet das nicht, dass wir auch
richtig verstehen, was der heilige Verfasser aus-
drücken wollte. Die verschiedenen Mittel, die die
literarische Analyse bietet, sind bekannt: auf die
Worte achten, die sich wiederholen oder die her-
vorstechen, die Struktur und die eigene Dynamik
eines Textes erkennen, den Platz bedenken, den
die Personen einnehmen usw. Aber das Ziel ist
nicht, alle kleinen Details eines Textes zu ver-
stehen. Das Wichtigste ist zu entdecken, was die
Hauptbotschaft ist, die dem Text Struktur und Ein-
heit verleiht. Wenn der Prediger diese Anstren-
gung nicht unternimmt, dann ist es möglich, dass
auch seine Predigt keine Einheit und Ordnung
hat; seine Rede wird nur eine Summe verschiede-
132

14.3 Page 133

▲back to top
ner unzusammenhängender Ideen sein, die nicht
imstande sind, die anderen zu bewegen. Die zen-
trale Botschaft ist die, welche der Autor an erster
Stelle übermitteln wollte, was einschließt, nicht
nur den Gedanken zu erkennen, sondern auch
die Wirkung, die jener Autor erzielen wollte.
Wenn ein Text geschrieben wurde, um zu trös-
ten, sollte er nicht verwendet werden, um Fehler
zu korrigieren; wenn er geschrieben wurde, um
zu ermahnen, sollte er nicht verwendet werden,
um zu unterweisen; wenn er geschrieben wurde,
um etwas über Gott zu lehren, sollte er nicht ver-
wendet werden, um verschiedene theologische
Meinungen zu erklären; wenn er geschrieben
wurde, um zum Lobpreis oder zur Missionsar-
beit anzuregen, lasst ihn uns nicht verwenden,
um über die letzten Neuigkeiten zu informieren.
148.  Gewiss, um den Sinn der zentralen Bot-
schaft eines Textes entsprechend zu verstehen,
ist es notwendig, ihn mit der von der Kirche
überlieferten Lehre der gesamten Bibel in Zu-
sammenhang zu bringen. Das ist ein wichtiges
Prinzip der Bibelauslegung, das die Tatsache be-
rücksichtigt, dass der Heilige Geist nicht nur ei-
nen Teil, sondern die ganze Bibel inspiriert hat
und dass das Volk in einigen Fragen aufgrund
der gemachten Erfahrung in seinem Verständnis
des Willens Gottes gewachsen ist. Auf diese Wei-
se werden falsche oder parteiische Auslegungen
vermieden, die anderen Lehren derselben Schrift
widersprechen. Doch das bedeutet nicht, den ei-
genen und besonderen Akzent des Textes, über
133

14.4 Page 134

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den man predigen muss, abzuschwächen. Einer
der Fehler einer öden und wirkungslosen Predigt
ist genau der, nicht imstande zu sein, die eigene
Kraft des verkündeten Textes zu übermitteln.
Der persönliche Umgang mit dem Wort
149.  Der Prediger muss »zuallererst selber eine
große persönliche Vertrautheit mit dem Wort
Gottes entwickeln: Für ihn genügt es nicht, des-
sen sprachlichen oder exegetischen Aspekt zu
kennen, der sicher auch notwendig ist; er muss
sich dem Wort mit bereitem und betendem Her-
zen nähern, damit es tief in seine Gedanken und
Gefühle eindringt und in ihm eine neue Gesin-
nung erzeugt«.115 Es tut uns gut, jeden Tag, jeden
Sonntag unseren Eifer in der Vorbereitung der
Homilie zu erneuern und zu prüfen, ob in uns
die Liebe zu dem Wort, das wir predigen, wächst.
Man sollte nicht vergessen, dass »im Besonde-
ren die größere oder geringere Heiligkeit des
Dieners tatsächlich die Verkündigung des Wor-
tes beeinflusst«116. Der heilige Paulus sagt: »Wir
predigen nicht […] um den Menschen, sondern
um Gott zu gefallen, der unsere Herzen prüft«
(1 Thess 2,3-4). Wenn in uns der Wunsch leben-
dig ist, als Erste auf das Wort zu hören, das wir
predigen sollen, wird sich dieses auf die eine
115Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Pastores dabo vobis (15. März 1992), 26: AAS 84 (1992),
698.
116Ebd., 25: AAS 84 (1992), 696.
134

14.5 Page 135

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oder andere Weise auf das Volk Gottes übertra-
gen: »Wovon das Herz voll ist, davon spricht der
Mund« (Mt 12,34). Die Sonntagslesungen werden
in ihrem ganzen Glanz im Herzen des Volkes wi-
derhallen, wenn sie zuallererst so im Herzen des
Hirten erklungen sind.
150.  Jesus wurde ärgerlich angesichts dieser
vorgeblichen, den anderen gegenüber sehr an-
spruchsvollen Meister, die das Wort Gottes lehr-
ten, sich aber nicht von ihm erleuchten ließen:
»Sie schnüren schwere Lasten zusammen und le-
gen sie den Menschen auf die Schultern, wollen
selber aber keinen Finger rühren, um die Lasten
zu tragen« (Mt 23,4). Der Apostel Jakobus mahn-
te: »Nicht so viele von euch sollen Lehrer wer-
den, meine Brüder. Ihr wisst, dass wir im Gericht
strenger beurteilt werden« (Jak 3,1). Wer predi-
gen will, der muss zuerst bereit sein, sich vom
Wort ergreifen zu lassen und es in seinem kon-
kreten Leben Gestalt werden zu lassen. In dem
Fall besteht das Predigen in der so intensiven und
fruchtbaren Tätigkeit, »den anderen das mitzu-
teilen, was man selber betrachtet hat«117. Aus all
diesen Gründen muss man, bevor man konkret
vorbereitet, was man sagen wird, akzeptieren, zu-
erst von jenem Wort getroffen zu werden, das
die anderen treffen soll, denn es ist lebendig und
kraftvoll, und wie ein Schwert »dringt es durch bis
zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk
117Thomas von Aquin, Summa Theologiae II-II, q. 188, a. 6.
135

14.6 Page 136

▲back to top
und Mark; es richtet über die Regungen und Ge-
danken des Herzens« (Hebr 4,12). Das hat eine
pastorale Bedeutung. Auch in dieser Zeit ziehen
die Menschen vor, die Zeugen zu hören: Man
»verlangt geradezu nach Echtheit« und »fordert
Verkünder, die von einem Gott sprechen, den sie
selber kennen und der ihnen so vertraut ist, als
sähen sie den Unsichtbaren«118.
151.  Es wird von uns nicht verlangt, dass wir
makellos sind, sondern vielmehr, dass wir immer
im Wachsen begriffen sind, dass wir in dem tiefen
Wunsch leben, auf dem Weg des Evangeliums
voranzuschreiten, und den Mut nicht verlieren.
Unerlässlich ist für den Prediger, die Gewissheit
zu haben, dass Gott ihn liebt, dass Jesus Christus
ihn gerettet hat und dass seine Liebe immer das
letzte Wort hat. Angesichts solcher Schönheit
wird er oft spüren, dass sein Leben ihr nicht voll-
kommen die Ehre gibt, und wird sich aufrichtig
wünschen, auf eine so große Liebe besser zu
antworten. Doch wenn er nicht innehält, um das
Wort Gottes mit echter Offenheit zu hören, wenn
er nicht zulässt, dass es sein Leben anrührt, ihn
in Frage stellt, ihn ermahnt, ihn aufrüttelt, wenn
er sich nicht Zeit nimmt, um mit dem Wort Got-
tes zu beten, dann ist er tatsächlich ein falscher
Prophet, ein Betrüger oder ein eitler Scharlatan.
Auf jeden Fall kann er, wenn er seine Dürftig-
keit erkennt und den Wunsch hat, sich mehr zu
118Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi
(8. Dezember 1975), 76: AAS 68 (1976), 68.
136

14.7 Page 137

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engagieren, sich immer Jesus Christus schenken
und dabei mit Petrus sagen: »Silber und Gold be-
sitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich
dir« (Apg 3,6). Der Herr möchte uns einsetzen als
lebendige, freie und kreative Menschen, die sich
von seinem Wort durchdringen lassen, bevor sie
es weitergeben. Seine Botschaft muss wirklich
den Weg über den Prediger nehmen, aber nicht
nur über seine Vernunft, sondern indem es von
seinem ganzen Sein Besitz ergreift. Der Heilige
Geist, der das Wort der Schrift inspiriert hat, ist
derjenige, »der heute wie in den Anfängen der
Kirche in all jenen am Werk ist, die das Evange-
lium verkünden und sich von ihm ergreifen und
führen lassen; er legt ihnen Worte in den Mund,
die sie allein niemals finden könnten«119.
Die geistliche Lesung
152.  Es gibt eine konkrete Weise, das zu hören,
was der Herr uns in seinem Wort sagen will, und
uns von seinem Heiligen Geist verwandeln zu
lassen. Es ist das, was wir „lectio divina“ nennen.
Sie besteht im Lesen des Wortes Gottes inner-
halb einer Zeit des Gebetes, um ihm zu erlauben,
uns zu erleuchten und zu erneuern. Dieses be-
tende Lesen der Bibel ist nicht von dem Studium
getrennt, das der Prediger unternimmt, um die
zentrale Botschaft des Textes zu finden; im Ge-
genteil, es muss von hier ausgehen in dem Ver-
119Ebd., 75: AAS 68 (1976), 65.
137

14.8 Page 138

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such, zu entdecken, was ebendiese Botschaft seinem
Leben sagen will. Die geistliche Lesung eines
Textes muss von seiner wörtlichen Bedeutung
ausgehen. Andernfalls geschieht es leicht, dass
man den Text das sagen lässt, was angenehm ist,
was dazu dient, die eigenen Entscheidungen zu
bestätigen, was zu den eigenen geistigen Scha-
blonen passt. Das hieße letztlich, etwas Heiliges
zum eigenen Vorteil zu nutzen und diese Verwir-
rung auf das Volk Gottes zu übertragen. Man
darf nie vergessen, dass manchmal »auch der Sa-
tan sich als Engel des Lichts tarnt« (2 Kor 11,14).
153.  Es ist gut, sich in der Gegenwart Gottes
bei einer ruhigen Lektüre des Textes zum Bei-
spiel zu fragen: Herr, was sagt mir dieser Text?
Was möchtest du mit dieser Botschaft an mei-
nem Leben ändern? Was stört mich in diesem
Text? Warum interessiert mich das nicht? – oder:
Was gefällt mir, was spornt mich an in diesem
Wort? Was zieht mich an? Warum zieht es mich
an? – Wenn man versucht, auf den Herrn zu hö-
ren, ist es normal, Versuchungen zu haben. Eine
von ihnen besteht einfach darin, sich gestört oder
beklommen zu fühlen und sich zu verschließen;
eine andere sehr verbreitete Versuchung ist, dar-
an zu denken, was der Text den anderen sagt, um
zu vermeiden, ihn auf das eigene Leben anzu-
wenden. Es kommt auch vor, dass man beginnt,
Ausreden zu suchen, die einem erlauben, die spe-
zifische Botschaft eines Textes zu verwässern.
Andere Male meinen wir, Gott verlange eine zu
große Entscheidung von uns, die zu fällen wir
138

14.9 Page 139

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noch nicht in der Lage sind. Das führt bei vielen
Menschen dazu, die Freude an der Begegnung
mit dem Wort Gottes zu verlieren, doch das
würde bedeuten zu vergessen, dass niemand ge-
duldiger ist als Gottvater, dass niemand versteht
und hofft wie er. Er lädt immer ein, einen Schritt
mehr zu tun, verlangt aber nicht eine vollständige
Antwort, wenn wir noch nicht den Weg zurück-
gelegt haben, der ihn ermöglicht. Er möchte ein-
fach, dass wir ehrlich auf unser Leben schauen
und es ohne Täuschungen vor seine Augen füh-
ren; dass wir bereit sind, weiter zu wachsen, und
dass wir ihn um das bitten, was wir noch nicht zu
erlangen vermögen.
Ein Ohr beim Volk
154.  Der Prediger muss auch ein Ohr beim Volk
haben, um herauszufinden, was für die Gläubi-
gen zu hören notwendig ist. Ein Prediger ist ein
Kontemplativer, der seine Betrachtung auf das
Wort Gottes und auch auf das Volk richtet. Auf
diese Weise macht er sich vertraut, »mit den Wün-
schen, Reichtümern und Grenzen, mit der Art
zu beten, zu lieben, Leben und Welt zu betrach-
ten, wie sie für eine bestimmte Menschengrup-
pe charakteristisch sind«120, achtet dabei auf das
konkrete Volk mit seinen Zeichen und Symbolen
und antwortet auf seine besonderen Fragen. Es
geht darum, die Botschaft des biblischen Textes
120Ebd., 63: AAS 68 (1976), 53.
139

14.10 Page 140

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mit einer menschlichen Situation zu verbinden,
mit etwas aus ihrem Leben, mit einer Erfahrung,
die das Licht des Wortes Gottes braucht. Die-
se Sorge entspricht nicht einer opportunistischen
oder diplomatischen Haltung, sondern ist zutiefst
religiös und pastoral. Es ist im Grunde eine »in-
nere Wachsamkeit, um die Botschaft Gottes aus
den Ereignissen herauszulesen«121, und das ist
viel mehr, als etwas Interessantes zu finden, um
darüber zu sprechen. Das, was man zu entdecken
sucht, ist, »was der Herr uns in der jeweiligen kon-
kreten Situation zu sagen hat«122. So wird also die
Vorbereitung auf die Predigt zu einer Übung evan-
geliumsgemäßer Unterscheidung, bei der man – im Licht
des Heiligen Geistes – jenen »Anruf« zu erkennen
sucht, »den Gott gerade in dieser geschichtlichen
Situation vernehmen lässt. Auch in ihr und durch
sie ruft Gott den Glaubenden«123.
155.  Bei dieser Suche ist es möglich, einfach
auf irgendeine häufige menschliche Erfahrung
zurückzugreifen wie die Freude über ein Wie-
dersehen, die Enttäuschungen, die Angst vor der
Einsamkeit, das Mitleid mit dem Schmerz ande-
rer, die Unsicherheit angesichts der Zukunft, die
Sorge um einen lieben Menschen usw. Es ist je-
doch nötig, die Sensibilität zu steigern, um das
zu erkennen, was wirklich mit ihrem Leben zu
121Ebd., 43: AAS 68 (1976), 33.
122Ebd.
123Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Pastores dabo vobis (25. März 1992), 10: AAS 84 (1992),
672.
140

15 Pages 141-150

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15.1 Page 141

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tun hat. Erinnern wir uns daran, dass man niemals
auf Fragen antworten soll, die sich keiner stellt; und es
ist auch nicht angebracht, Berichte über aktuelle
Ereignisse zu bieten, um Interesse zu wecken –
dafür gibt es bereits die Fernsehprogramme. Auf
jeden Fall ist es möglich, von irgendeinem Ge-
schehnis auszugehen, damit das Wort Gottes in
seiner Einladung zur Umkehr, zur Anbetung, zu
konkreten Haltungen der Brüderlichkeit und des
Dienstes usw. mit Nachdruck erklingen kann.
Manche Menschen hören nämlich ab und zu ger-
ne in der Predigt Kommentare zur Wirklichkeit,
lassen sich dadurch aber nicht persönlich anspre-
chen.
Pädagogische Mittel
156.  Einige meinen, gute Prediger sein zu kön-
nen, weil sie wissen, was sie sagen müssen, ver-
nachlässigen aber das Wie, die konkrete Weise,
eine Predigt zu entwickeln. Sie klagen, wenn die
anderen ihnen nicht zuhören oder sie nicht schät-
zen, aber vielleicht haben sie sich nicht bemüht,
die geeignete Weise zu finden, die Botschaft zu
präsentieren. Erinnern wir uns daran: »Die of-
fenkundige Bedeutung des Inhalts […] darf je-
doch nicht die Bedeutung ihrer Wege und Mittel
verdecken«124. Auch die Sorge um die Art und
Weise des Predigens ist eine zutiefst geistliche
Haltung. Es bedeutet, auf die Liebe Gottes zu
124Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi
(8. Dezember 1975), 40: AAS 68 (1976), 31.
141

15.2 Page 142

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antworten, indem wir uns mit all unseren Fähig-
keiten und unserer Kreativität der Aufgabe wid-
men, die er uns anvertraut; doch es ist auch eine
hervorragende Übung der Nächstenliebe, denn
wir wollen den anderen nicht etwas Minderwer-
tiges anbieten. In der Bibel finden wir zum Bei-
spiel den Rat, die Predigt ordentlich vorzuberei-
ten, um einen geeigneten Umfang einzuhalten:
»Dräng die Worte zusammen, fasse dich kurz«
(Sir 32,8).
157.  Nur um durch Beispiele zu erläutern,
erwähnen wir einige praktische Mittel, die eine
Predigt bereichern und anziehender machen
können. Eine der nötigsten Anstrengungen ist
zu lernen, in der Predigt Bilder zu verwenden,
das heißt, in Bildern zu sprechen. Manchmal ge-
braucht man Beispiele, um etwas, das man erklä-
ren will, verständlicher zu machen, aber oft zie-
len diese Beispiele allein auf die Vernunft. Die
Bilder hingegen helfen, die Botschaft, die man
überbringen will, zu schätzen und anzunehmen.
Ein anziehendes Bild lässt die Botschaft als etwas
empfinden, das vertraut, nahe, möglich ist und
mit dem eigenen Leben in Verbindung gebracht
wird. Ein gelungenes Bild kann dazu führen, dass
die Botschaft, die man vermitteln will, ausgekos-
tet wird; es weckt einen Wunsch und motiviert
den Willen im Sinne des Evangeliums. Eine gute
Homilie muss, wie mir ein alter Lehrer sagte,
„eine Idee, ein Gefühl und ein Bild“ enthalten.
142

15.3 Page 143

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158.  Schon Paul VI. sagte: »Die versammel-
te Gemeinde der Gläubigen […] erwartet und
empfängt […] sehr viel von dieser Predigt; sie
soll einfach sein, klar, direkt, auf die Menschen
bezogen«125. Die Einfachheit hat etwas mit der
verwendeten Sprache zu tun. Um nicht Gefahr zu
laufen, umsonst zu sprechen, muss es die Sprache
sein, die die Adressaten verstehen. Es kommt oft
vor, dass die Prediger Wörter benutzen, die sie
während ihrer Studien und in bestimmten Krei-
sen gelernt haben, die aber nicht zur gewöhnli-
chen Sprache ihrer Zuhörer gehören. Es gibt
Wörter, die eigene Begriffe der Theologie oder
der Katechese sind und deren Bedeutung der
Mehrheit der Christen nicht verständlich ist. Die
größte Gefahr für einen Prediger besteht darin,
sich an die eigene Sprache zu gewöhnen und zu
meinen, dass alle anderen sie gebrauchen und von
selbst verstehen. Wenn man sich an die Sprache
der anderen anpassen will, um sie mit dem Wort
Gottes zu erreichen, muss man viel zuhören, das
Leben der Leute teilen und ihm gerne Aufmerk-
samkeit widmen. Einfachheit und Klarheit sind
zwei verschiedene Dinge. Die Sprache kann ganz
einfach sein, die Predigt jedoch wenig klar. Sie
kann sich als unverständlich erweisen wegen ih-
rer Unordnung, wegen mangelnder Logik oder
weil sie verschiedene Themen gleichzeitig behan-
delt. Daher ist eine andere notwendige Aufgabe,
dafür zu sorgen, dass die Predigt thematisch eine
125Ebd., 43: AAS 68 (1976), 33.
143

15.4 Page 144

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Einheit bildet, eine klare Ordnung und Verbin-
dung zwischen den Sätzen besitzt, so dass die
Menschen dem Prediger leicht folgen und die
Logik dessen, was er sagt, erfassen können.
159.  Ein anderes Merkmal ist die positive
Sprache. Sie sagt nicht so sehr, was man nicht
tun darf, sondern zeigt vielmehr, was wir besser
machen können. Wenn sie einmal auf etwas Ne-
gatives hinweist, dann versucht sie immer, auch
einen positiven Wert aufzuzeigen, der anzieht,
um nicht bei der Klage, beim Gejammer, bei der
Kritik oder bei Gewissensbissen stehen zu blei-
ben. Außerdem gibt eine positive Verkündigung
immer Hoffnung, orientiert auf die Zukunft hin
und lässt uns nicht eingeschlossen im Negativen
zurück. Wie gut ist es, wenn sich Priester, Diako-
ne und Laien regelmäßig treffen, um gemeinsam
Mittel und Wege zu finden, um die Verkündigung
attraktiver zu gestalten!
IV. Eine Evangelisierung zur Vertiefung des
Kerygmas
160.  Die missionarische Sendung des Herrn
schließt die Aufforderung zum Wachstum im
Glauben ein, wenn es heißt: »Und lehrt sie, al-
les zu befolgen, was ich euch geboten habe« (Mt
28, 20). Damit wird klar, dass die Erstverkündi-
gung auch einen Weg der Bildung und Reifung
in Gang setzen muss. Die Evangelisierung sucht
auch das Wachstum, und deshalb gilt es, jede
einzelne Person und den Plan, den Gott für sie
144

15.5 Page 145

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hat, sehr ernst zu nehmen. Jedes menschliche
Wesen braucht Christus mehr und mehr, und die
Evangelisierung dürfte nicht zulassen, dass sich
jemand mit Wenigem begnügt. Er sollte vielmehr
im Vollsinn sagen können: »Nicht mehr ich lebe,
sondern Christus lebt in mir« (Gal 2, 20).
161.  Es wäre nicht richtig, diesen Aufruf zum
Wachstum ausschließlich oder vorrangig als Bil-
dung in der Glaubenslehre zu verstehen. Es geht
darum, das, was der Herr uns geboten hat, als
Antwort auf seine Liebe zu „befolgen”, womit
zusammen mit allen Tugenden jenes neue Gebot
hervorgehoben wird, das das erste und größte
ist und das uns am meisten als Jünger erkennbar
macht: »Das ist mein Gebot: Liebt einander, so
wie ich euch geliebt habe« (Joh 15,12). Es ist of-
fensichtlich: Wenn die Verfasser des Neuen Te-
staments die sittliche Botschaft des Christentums
in einer letzten Synthese auf seinen Wesenskern
reduzieren wollen, dann verweisen sie uns auf
die unausweichliche Forderung der Liebe zum
Nächsten: »Wer den anderen liebt, hat das Gesetz
erfüllt [...] Also ist die Liebe die Erfüllung des
Gesetzes« (Röm 13,8.10). So sagt der heilige Pau-
lus, für den das Liebesgebot nicht nur das Gesetz
zusammenfasst, sondern auch sein Herz und sei-
ne Daseinsberechtigung ausmacht: »Denn das
ganze Gesetz ist in dem einen Wort zusammen-
gefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst!« (Gal 5,14). Und er stellt seinen Gemein-
den das Leben der Christen als einen Weg des
Wachstums in der Liebe vor: »Euch aber lasse
145

15.6 Page 146

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der Herr wachsen und reich werden in der Liebe
zueinander und zu allen, wie auch wir euch lie-
ben« (1 Thess 3,12). Auch der heilige Jakobus er-
mahnt die Christen, »nach dem Wort der Schrift:
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! das
königliche Gesetz« (2,8) zu erfüllen, um nicht in
irgendeinem der Gebote zu versagen.
162.  Diesem Weg der Antwort und des Wachs-
tums geht andererseits immer die Gabe voraus,
denn vorher ist jene andere Aufforderung des
Herrn erfolgt: »Tauft sie auf den Namen…« (Mt
28,19). Die Kindschaft, die der Vater unentgelt-
lich schenkt, und die Initiative der Gabe seiner
Gnade (vgl. Eph 2,8-9; 1 Kor 4,7) sind die Be-
dingung für die Möglichkeit dieser fortlaufenden
Heiligung, die Gott wohlgefällig ist und ihn ver-
herrlicht. Es geht darum, dass wir uns in Christus
umgestalten lassen durch ein fortschreitendes
Leben »nach dem Geist« (Röm 8,5).
Eine kerygmatische und mystagogische Katechese
163.  Die Erziehung und die Katechese stehen
im Dienst dieses Wachstums. Wir verfügen schon
über eine Reihe lehramtlicher Texte und Arbeits-
hilfen für die Katechese, die vom Heiligen Stuhl
und einigen Episkopaten angeboten werden. Ich
erinnere an das Apostolische Schreiben Cateche-
si tradendae (1979), das Allgemeine Direktorium für
die Katechese (1997) und andere Dokumente, de-
ren aktueller Inhalt hier nicht wiederholt werden
muss. Ich möchte mich nur bei einigen Erwägun-
146

15.7 Page 147

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gen aufhalten, die hervorzuheben ich für ange-
bracht halte.
164.  Wir haben von neuem entdeckt, dass
auch in der Katechese die Erstverkündigung
bzw. das „Kerygma” eine wesentliche Rolle spielt.
Es muss die Mitte der Evangelisierungstätigkeit
und jedes Bemühens um kirchliche Erneuerung
bilden. Das Kerygma hat trinitarischen Charak-
ter. Es ist das Feuer des Geistes, der sich in der
Gestalt von Zungen schenkt und uns an Chris-
tus glauben lässt, der uns durch seinen Tod und
seine Auferstehung die unendliche Barmherzig-
keit des Vaters offenbart und mitteilt. Im Mund
des Katechisten erklingt immer wieder die erste
Verkündigung: „Jesus Christus liebt dich, er hat
sein Leben hingegeben, um dich zu retten, und
jetzt ist er jeden Tag lebendig an deiner Seite, um
dich zu erleuchten, zu stärken und zu befreien”.
Wenn diese Verkündigung die „erste” genannt
wird, dann nicht, weil sie am Anfang steht und
dann vergessen oder durch andere Inhalte, die
sie übertreffen, ersetzt wird. Sie ist die „erste”
im qualitativen Sinn, denn sie ist die hauptsächliche
Verkündigung, die man immer wieder auf ver-
schiedene Weisen neu hören muss und die man
in der einen oder anderen Form im Lauf der Ka-
techese auf allen ihren Etappen und in allen ih-
ren Momenten immer wieder verkünden muss.126
Deshalb muss auch »der Priester wie die Kirche
126  Vgl. Propositio 9.
147

15.8 Page 148

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in dem Bewusstsein wachsen, dass er es nötig
hat, selbst ständig evangelisiert zu werden«.127
165.  Man darf nicht meinen, dass das Kerygma
in der Katechese später zugunsten einer angeb-
lich „solideren” Bildung aufgegeben wird. Es
gibt nichts Solideres, nichts Tieferes, nichts Si-
chereres, nichts Dichteres und nichts Weiseres
als diese Verkündigung. Die ganze christliche Bil-
dung ist in erster Linie Vertiefung des Kerygmas,
das immer mehr und besser assimiliert wird, das
nie aufhört, das katechetische Wirken zu erhel-
len, und das hilft, jedes Thema, das in der Ka-
techese entfaltet wird, angemessen zu begreifen.
Diese Verkündigung entspricht dem Verlangen
nach dem Unendlichen, das es in jedem mensch-
lichen Herzen gibt. Die zentrale Stellung des Ke-
rygmas fordert für die Verkündigung Merkmale,
die heute überall notwendig sind: Sie muss die
erlösende Liebe Gottes zum Ausdruck bringen,
die jeder moralischen und religiösen Pflicht vor-
ausgeht, sie darf die Wahrheit nicht aufzwingen
und muss an die Freiheit appellieren, sie muss
freudig, anspornend und lebendig sein und eine
harmonische Gesamtsicht bieten, in der die Pre-
digt nicht auf ein paar Lehren manchmal mehr
philosophischen als evangeliumsgemäßen Cha-
rakters verkürzt wird. Von dem, der evangelisiert,
werden demnach bestimmte Haltungen verlangt,
127Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Pastores dabo vobis (25. März 1992), 26: AAS 84 (1992),
698.
148

15.9 Page 149

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die die Annahme der Verkündigung erleichtern:
Nähe, Bereitschaft zum Dialog, Geduld, herzli-
ches Entgegenkommen, das nicht verurteilt.
166.  Ein weiteres Merkmal der Katechese, das
sich in den letzten Jahrzehnten entfaltet hat, ist
das der mystagogischen Einführung,128 was im We-
sentlichen zweierlei bedeutet: die notwendige stu-
fenweise Entwicklung des Bildungsgeschehens,
an dem die ganze Gemeinde beteiligt ist, und eine
erneuerte Wertschätzung der liturgischen Zeichen
für die christliche Initiation. Viele Handbücher
und Planungen haben die Notwendigkeit einer
solchen mystagogischen Erneuerung noch nicht
aufgegriffen, die je nach dem Urteil der einzelnen
Erziehungseinheiten sehr verschiedene Formen
annehmen könnte. Die katechetische Begegnung
ist eine Verkündigung des Wortes und demnach
auf das Wort konzentriert, braucht aber immer
eine angemessene Einbettung und attraktive Mo-
tivierung, sie braucht sprechende Symbole, muss
in einen breiten Prozess des Wachstums einge-
bunden sein und verlangt die Integration aller Di-
mensionen der Person auf einem gemeinsamen
Weg des Hörens und des Antwortens.
167.  Es ist gut, dass jede Katechese dem „Weg
der Schönheit” (via pulchritudinis) besondere Auf-
merksamkeit schenkt.129 Christus zu verkündigen,
bedeutet zu zeigen, dass an ihn glauben und ihm
128  Vgl. Propositio 38.
129  Vgl. Propositio 20.
149

15.10 Page 150

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nachfolgen nicht nur etwas Wahres und Gerech-
tes, sondern etwas Schönes ist, das sogar inmit-
ten von Prüfungen das Leben mit neuem Glanz
und tiefem Glück erfüllen kann. In diesem Sinn
können alle Ausdrucksformen wahrer Schönheit
als Weg anerkannt werden, der hilft, dem Herrn
Jesus zu begegnen. Es geht nicht darum, einen
ästhetischen Relativismus zu fördern,130 der das
unlösbare Band verdunkeln könnte, das zwischen
Wahrheit, Güte und Schönheit besteht, sondern
darum, die Wertschätzung der Schönheit wieder-
zugewinnen, um das menschliche Herz zu errei-
chen und in ihm die Wahrheit und Güte des Auf-
erstandenen erstrahlen zu lassen. Wenn wir, wie
Augustinus sagt, nur das lieben, was schön ist,131
dann ist der Mensch gewordene Sohn, die Offen-
barung der unendlichen Schönheit, in höchstem
Maß liebenswert und zieht uns mit Banden der
Liebe an sich. Dann wird es notwendig, dass die
Bildung in der via pulchritudinis sich in die Wei-
tergabe des Glaubens einfügt. Es ist wünschens-
wert, dass jede Teilkirche in ihrem Evangelisie-
rungswirken den Gebrauch der Künste fördert,
den Reichtum der Vergangenheit fortführend,
aber auch die Fülle der Ausdrucksformen der
Gegenwart aufgreifend, um den Glauben in einer
neuen „Rede in Gleichnissen”132 weiterzugeben.
130  Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Inter
mirifica über die sozialen Kommunikationsmittel, 6.
131 Vgl. De musica, VI, XIII, 38: PL 32, 1183-1184;
Confessiones, IV, XIII, 20: PL 32, 701.
132Benedikt XVI., Ansprache anlässlich der Ausstrahlung
des Dokumentarfilms Kunst und Glauben – via pulchritudinis” (25.
150

16 Pages 151-160

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16.1 Page 151

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Man muss wagen, die neuen Zeichen zu finden,
die neuen Symbole, ein neues Fleisch für die Wei-
tergabe des Wortes, die verschiedenen Formen
der Schönheit, die in den einzelnen kulturellen
Bereichen geschätzt werden, sogar jene unkon-
ventionellen Weisen der Schönheit, die für die
Evangelisierenden vielleicht wenig bedeuten, für
andere aber besonders attraktiv geworden sind.
168.  Was die Darlegung der Moral in der Ka-
techese betrifft, die zum Wachsen in der Treue
gegenüber dem Lebensstil des Evangeliums ein-
lädt, ist es angebracht, immer das erstrebenswerte
Gute aufzuzeigen, den Entwurf des Lebens, der
Reife, der Erfüllung, der Fruchtbarkeit, in dessen
Licht unsere Anklage der Übel, die ihn verdun-
keln können, nachvollzogen werden kann. Es
ist gut, dass man in uns nicht so sehr Experten
für apokalyptische Diagnosen sieht bzw. finstere
Richter, die sich damit brüsten, jede Gefahr und
jede Verirrung aufzuspüren, sondern frohe Bo-
ten, die befreiende Lösungen vorschlagen, und
Hüter des Guten und der Schönheit, die in einem
Leben, das dem Evangelium treu ist, erstrahlen.
Die persönliche Begleitung der Wachstumsprozesse
169.  In einer Zivilisation, die an der Anonymi-
tät leidet und paradoxerweise zugleich, schamlos
krank an einer ungesunden Neugier, darauf ver-
Oktober 2012): L’Osservatore Romano (27. Oktober 2012), S. 7.
151

16.2 Page 152

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sessen ist, Details aus dem Leben der anderen zu
erfahren, braucht die Kirche den Blick der Nähe,
um den anderen anzuschauen, gerührt zu werden
und vor ihm Halt zu machen, so oft es nötig ist.
In dieser Welt können die geweihten Diener und
die übrigen in der Seelsorge Tätigen den Wohl-
geruch der Nähe und Gegenwart Jesu und seines
persönlichen Blicks wahrnehmbar machen. Die
Kirche wird ihre Glieder – Priester, Ordensleu-
te und Laien – in diese „Kunst der Begleitung”
einführen müssen, damit alle stets lernen, vor
dem heiligen Boden des anderen sich die Sanda-
len von den Füßen zu streifen (vgl. Ex 3,5). Wir
müssen unserem Wandel den heilsamen Rhyth-
mus der Zuwendung geben, mit einem achtungs-
vollen Blick voll des Mitleids, der aber zugleich
heilt, befreit und zum Reifen im christlichen Le-
ben ermuntert.
170.  Auch wenn das offensichtlich scheint,
muss die geistliche Begleitung mehr und mehr
zu Gott hinführen, denn in ihm können wir die
wahre Freiheit erlangen. Einige halten sich für
frei, wenn sie abseits von Gott eigene Wege ge-
hen. Aber sie merken nicht, dass sie dabei exi-
stentiell verwaisen, dass sie ohne Schutz sind,
ohne ein Heim, in das sie immer zurückkehren
können. Sie hören auf, Pilger zu sein, und wer-
den zu Umherirrenden, die immer um sich selbst
kreisen, ohne je an ein Ziel zu gelangen. Die Be-
gleitung wäre allerdings kontraproduktiv, wenn
152

16.3 Page 153

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sie zu einer Art Therapie würde, die diese Ver-
schlossenheit der Personen in sich selbst fördert,
und aufhörte, Wanderschaft mit Christus zum
Vater zu sein.
171.  Mehr denn je brauchen wir Männer und
Frauen, die aus ihrer Erfahrung als Begleiter die
Vorgehensweise kennen, die sich durch Klugheit
auszeichnet sowie durch die Fähigkeit zum Ver-
stehen, durch die Kunst des Wartens sowie durch
die Fügsamkeit dem Geist gegenüber, damit wir
alle zusammen die Schafe, die sich uns anvertrau-
en, vor den Wölfen, die die Herde zu zerstreu-
en trachten, beschützen. Wir müssen uns in der
Kunst des Zuhörens üben, die mehr ist als Hö-
ren. In der Verständigung mit dem anderen steht
an erster Stelle die Fähigkeit des Herzens, welche
die Nähe möglich macht, ohne die es keine wahre
geistliche Begegnung geben kann. Zuhören hilft
uns, die passende Geste und das passende Wort
zu finden, die uns aus der bequemen Position des
Zuschauers herausholen. Nur auf der Grundlage
dieses achtungsvollen, mitfühlenden Zuhörens
ist es möglich, die Wege für ein echtes Wachstum
zu finden, das Verlangen nach dem christlichen
Ideal und die Sehnsucht zu wecken, voll auf die
Liebe Gottes zu antworten und das Beste, das
Gott im eigenen Leben ausgesät hat, zu entfal-
ten. Immer aber mit der Geduld dessen, der weiß,
was der heilige Thomas von Aquin gelehrt hat:
Es kann jemand die Gnade und die Liebe haben,
153

16.4 Page 154

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trotzdem aber die eine oder andere Tugend »auf-
grund einiger entgegengesetzter Neigungen«,133
die weiter bestehen, nicht gut leben. Mit ande-
ren Worten: Der organische Zusammenhang der
Tugenden besteht zwar »in habitu« immer und
notwendig, es kann aber Umstände geben, die
die Verwirklichung dieser tugendhaften Anlagen
erschweren. Deshalb bedarf es einer »Pädagogik,
welche die Personen schrittweise zur vollen An-
eignung des Mysteriums hinführt«.134 Damit eine
gewisse Reife erlangt wird, so dass die Personen
fähig werden, wirklich freie und verantwortliche
Entscheidungen zu treffen, muss man mit der
Zeit rechnen und unermessliche Geduld haben.
Der selige Petrus Faber sagte: »Die Zeit ist der
Bote Gottes«.
172.  Der Begleiter versteht es, die Situation je-
des Einzelnen vor Gott anzuerkennen. Sein Le-
ben in der Gnade ist ein Geheimnis, das niemand
von außen ganz verstehen kann. Das Evangeli-
um schlägt uns vor, einen Menschen zurecht-
zuweisen und ihm aufgrund der Kenntnis der
objektiven Bosheit seiner Handlungen wachsen
zu helfen (vgl. Mt 18,15), ohne jedoch über seine
Verantwortung und seine Schuld zu urteilen (vgl.
Mt 7,1; Lk 6,37). Ein guter Begleiter lässt frei-
lich fatalistische Haltungen und Kleinmut nicht
133Summa Theologiae I-II q. 65, a. 3, ad 2: »propter aliquas
dispositiones contrarias«.
134Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Ecclesia in Asia (6. November 1999), 20: AAS 92
(2000), 481.
154

16.5 Page 155

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zu. Immer lädt er ein, sich heilen zu lassen, sei-
ne Bahre zu nehmen (vgl. Joh 5, 8), das Kreuz zu
umarmen, alles hinter sich zu lassen, immer neu
aufzubrechen, um das Evangelium zu verkünden.
Die eigene Erfahrung, uns begleiten und heilen
zu lassen, indem es uns gelingt, unser Leben mit
vollkommener Aufrichtigkeit vor unserem Beglei-
ter auszubreiten, lehrt uns, mit den anderen Ge-
duld zu haben und verständnisvoll zu sein, und
ermöglicht uns, die Wege zu finden, um ihr Ver-
trauen zu wecken, so dass sie sich öffnen und
bereit sind zu wachsen.
173.  Die wahre geistliche Begleitung beginnt
und entfaltet sich immer im Bereich des Dienstes
am Evangelisierungsauftrag. Die Beziehung des
Paulus zu Timotheus und Titus ist ein Beispiel die-
ser Begleitung und Bildung im Zuge des aposto-
lischen Wirkens. Während er ihnen den Auftrag
erteilt, in der Stadt zu bleiben, »damit du das, was
noch zu tun ist, zu Ende führst« (Tit 1,5; vgl. 1 Tim
1,3-5), gibt er ihnen Hinweise für ihr persönliches
Leben und die pastorale Arbeit. Hier liegt ein kla-
rer Unterschied zu jeder Form von intimistischer,
auf isolierte Selbstverwirklichung bedachter Be-
gleitung. Missionarische Jünger begleiten missio-
narische Jünger.
Am Wort Gottes orientiert
174.  Nicht nur die Homilie muss aus dem Wort
Gottes ihre Nahrung schöpfen. Die gesamte
Evangelisierung beruht auf dem Wort, das ver-
155

16.6 Page 156

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nommen, betrachtet, gelebt, gefeiert und bezeugt
wird. Die Heilige Schrift ist Quelle der Evangeli-
sierung. Es ist daher notwendig, sich unentwegt
durch das Hören des Wortes zu bilden. Die Kir-
che evangelisiert nicht, wenn sie sich nicht ständig
evangelisieren lässt. Es ist unerlässlich, dass das
Wort Gottes »immer mehr zum Mittelpunkt allen
kirchlichen Handelns werde«.135 Das vernomme-
ne und – vor allem in der Eucharistie – gefeierte
Wort Gottes nährt und kräftigt die Christen in-
nerlich und befähigt sie zu einem echten Zeugnis
des Evangeliums im Alltag. Wir haben den alten
Gegensatz zwischen Wort und Sakrament bereits
überwunden. Das lebendige und wirksame ver-
kündete Wort bereitet auf den Empfang des Sa-
kramentes vor, und im Sakrament erreicht dieses
Wort seine größte Wirksamkeit.
175.  Das Studium der Heiligen Schrift muss
ein Tor sein, das allen Gläubigen offensteht.136
Es ist grundlegend, dass das geoffenbarte Wort
die Katechese und alle Bemühungen zur Weiter-
gabe des Glaubens tief greifend befruchtet.137
Die Evangelisierung braucht die Vertrautheit
mit dem Wort Gottes. Das verlangt von den
Diözesen, den Pfarreien und allen katholischen
Gruppierungen das Angebot eines ernsten und
135Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Verbum Domini (30. September 2010), 1: AAS 102
(2010), 682.
136  Vgl. Propositio 11.
137  Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst.
Dei Verbum über die göttliche Offenbarung, 21- 22.
156

16.7 Page 157

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beharrlichen Studiums der Bibel sowie die För-
derung ihrer persönlichen und gemeinschaftli-
chen Lektüre im Gebet.138 Wir tappen nicht in
der Finsternis und müssen nicht darauf warten,
dass Gott sein Wort an uns richtet, denn »Gott
hat gesprochen, er ist nicht mehr der große Un-
bekannte, sondern er hat sich gezeigt«.139 Neh-
men wir den erhabenen Schatz des geoffenbar-
ten Wortes in uns auf.
138  Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Verbum Domini (30. September 2010), 86-87: AAS
102 (2010), 757-760.
139Ders., Ansprache bei der ersten Generalkongregation der
XIII. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode (8. Oktober
2012): AAS 104 (2012), 896.
157

16.8 Page 158

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16.9 Page 159

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VIERTES KAPITEL
DIE SOZIALE DIMENSION DER EVAN-
GELISIERUNG
176.  Evangelisieren bedeutet, das Reich Gottes
in der Welt gegenwärtig machen. »Keine parti-
elle und fragmentarische Definition entspricht
jedoch der reichen, vielschichtigen und dynami-
schen Wirklichkeit, die die Evangelisierung dar-
stellt; es besteht immer die Gefahr, sie zu verar-
men und sogar zu verstümmeln.«140 Nun möchte
ich meine Besorgnisse im Zusammenhang mit
der sozialen Dimension der Evangelisierung mit-
teilen, und zwar deshalb, weil man, wenn diese
Dimension nicht gebührend deutlich dargestellt
wird, immer Gefahr läuft, die echte und vollstän-
dige Bedeutung des Evangelisierungsauftrags zu
entstellen.
I. Die gemeinschaftlichen und sozialen
Auswirkungen des Kerygmas
177.  Das Kerygma besitzt einen unausweichlich
sozialen Inhalt: Im Mittelpunkt des Evangeliums
selbst stehen das Gemeinschaftsleben und die
Verpflichtung gegenüber den anderen. Der In-
halt der Erstverkündigung hat eine unmittelbare
sittliche Auswirkung, deren Kern die Liebe ist.
140Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi
(8. Dezember 1975), 17: AAS 68 (1976), 17.
159

16.10 Page 160

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Bekenntnis des Glaubens und soziale Verpflichtung
178.  Einen himmlischen Vater zu bekennen,
der jeden einzelnen Menschen unendlich liebt,
schließt die Entdeckung ein, dass er »ihm da-
durch unendliche Würde verleiht«141. Bekennen,
dass der Sohn Gottes unser menschliches Fleisch
angenommen hat, bedeutet, dass jeder Mensch
bis zum Herzen Gottes erhöht worden ist. Be-
kennen, dass Jesus sein Blut für uns vergossen
hat, hindert uns, auch nur den kleinsten Zwei-
fel an der grenzenlosen Liebe zu bewahren, die
jeden Menschen adelt. Seine Erlösung hat eine
soziale Bedeutung, denn »Gott erlöst in Christus
nicht nur die Einzelperson, sondern auch die so-
zialen Beziehungen zwischen den Menschen«142.
Bekennen, dass der Heilige Geist in allen wirkt,
schließt die Erkenntnis ein, dass er in jede
menschliche Situation und in alle sozialen Bin-
dungen einzudringen sucht: »Der Heilige Geist
verfügt über einen für den göttlichen Geist typi-
schen unendlichen Erfindungsreichtum und fin-
det die Mittel, um die Knoten der menschlichen
Angelegenheiten zu lösen, einschließlich der
kompliziertesten und undurchdringlichsten.«143
Die Evangelisierung versucht, auch mit diesem
141Johannes Paul II., Botschaft an Menschen mit
Behinderungen, Angelus (16. November 1980): Insegnamenti 3/2
(1980), 1232.
142Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden,
Kompendium der Soziallehre der Kirche, 52.
143Johannes Paul II., Katechese (24. April 1991):
Insegnamenti 14/1 (1991), 856.
160

17 Pages 161-170

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17.1 Page 161

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befreienden Wirken des Geistes zusammen zu
arbeiten. Das Geheimnis der Trinität selbst erin-
nert uns daran, dass wir nach dem Bild der göttli-
chen Gemeinschaft erschaffen sind, weshalb wir
uns nicht selber verwirklichen, noch von uns aus
retten. Vom Kern des Evangeliums her erken-
nen wir die enge Verbindung zwischen Evange-
lisierung und menschlicher Förderung, die sich
notwendig in allem missionarischen Handeln
ausdrücken und entfalten muss. Die Annahme
der Erstverkündigung, die dazu einlädt, sich von
Gott lieben zu lassen und ihn mit der Liebe zu
lieben, die er selbst uns mitteilt, verursacht im Le-
ben des Menschen und in seinem Tun eine erste
und grundlegende Reaktion: dass er das Wohl der
anderen wünscht und anstrebt als etwas, das ihm
am Herzen liegt.
179.  Diese unlösbare Verbindung zwischen der
Aufnahme der heilbringenden Verkündigung und
einer wirklichen Bruderliebe kommt in einigen
Texten der Schrift zum Ausdruck, und es ist gut,
sie zu bedenken und aufmerksam zu verinnerli-
chen, um alle Konsequenzen daraus zu ziehen.
Es handelt sich um eine Botschaft, an die wir uns
oft gewöhnen, sie fast mechanisch wiederholen,
ohne uns jedoch klar zu machen, dass sie sich in
unserem Leben und in unseren Gemeinschaften
real auswirken muss. Wie gefährlich und schäd-
lich ist diese Gewöhnung, die uns dazu führt, das
Staunen, die Faszination und die Begeisterung
zu verlieren, das Evangelium der Brüderlichkeit
und der Gerechtigkeit zu leben! Das Wort Gottes
161

17.2 Page 162

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lehrt uns, dass sich im Mitmenschen die konti-
nuierliche Fortführung der Inkarnation für jeden
von uns findet: »Was ihr für einen meiner gering-
sten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan«
(Mt 25,40). Was wir für die anderen tun, hat eine
transzendente Dimension: »Nach dem Maß, mit
dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt
werden« (Mt 7,2), und es ist eine Antwort auf die
göttliche Barmherzigkeit uns gegenüber: »Seid
barmherzig, wie es auch euer Vater ist! Richtet
nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet wer-
den. Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht
verurteilt werden. Erlasst einander die Schuld,
dann wird auch euch die Schuld erlassen werden.
Gebt, dann wird auch euch gegeben werden […]
nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt,
wird auch euch zugeteilt werden« (Lk 6,36-38).
Was diese Texte ausdrücken, ist die absolute Vor-
rangigkeit des „Aus-sich-Herausgehens auf den
Mitmenschen zu“ als eines der beiden Hauptge-
bote, die jede sittliche Norm begründen, und als
deutlichstes Zeichen, anhand dessen man den
Weg geistlichen Wachstums als Antwort auf das
völlig ungeschuldete Geschenk Gottes überprü-
fen kann. Aus diesem Grund »ist auch der Dienst
der Liebe ein konstitutives Element der kirchli-
chen Sendung und unverzichtbarer Ausdruck ih-
res eigenen Wesens«.144 Wie die Kirche von Na-
tur aus missionarisch ist, so entspringt aus dieser
144Benedikt XVI., Motu proprio Intima Ecclesiae natura
(11. November 2012): AAS 104 (2012), 996.
162

17.3 Page 163

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Natur zwangsläufig die wirkliche Nächstenliebe,
das Mitgefühl, das versteht, beisteht und fördert.
Das Reich, das uns ruft
180.  Aus einer Lektüre der Schrift geht außer-
dem klar hervor, dass das Angebot des Evange-
liums nicht nur in einer persönlichen Beziehung
zu Gott besteht. Und unsere Antwort der Liebe
dürfte auch nicht als eine bloße Summe kleiner
persönlicher Gesten gegenüber irgendeinem
Notleidenden verstanden werden; das könnte
eine Art „Nächstenliebe à la carte“ sein, eine Rei-
he von Taten, die nur darauf ausgerichtet sind,
das eigene Gewissen zu beruhigen. Das Ange-
bot ist das Reich Gottes (vgl. Lk 4,43); es geht dar-
um, Gott zu lieben, der in der Welt herrscht. In
dem Maß, in dem er unter uns herrschen kann,
wird das Gesellschaftsleben für alle ein Raum der
Brüderlichkeit, der Gerechtigkeit, des Friedens
und der Würde sein. Sowohl die Verkündigung
als auch die christliche Erfahrung neigen dazu,
soziale Konsequenzen auszulösen. Suchen wir
sein Reich: »Euch aber muss es zuerst um sein
Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann
wird euch alles andere dazugegeben« (Mt 6,33).
Der Plan Jesu besteht darin, das Reich seines
Vaters zu errichten; er verlangt von seinen Jün-
gern: »Geht und verkündet: Das Himmelreich ist
nahe« (Mt 10,7).
181.  Das Reich, das unter uns vorweggenom-
men wird und wächst, betrifft alles und erinnert
uns an jenes Unterscheidungsprinzip, das Paul VI.
163

17.4 Page 164

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in Bezug auf die wahre Entwicklung aufstellte:
»jeden Menschen und den ganzen Menschen«145
im Auge zu haben. Wir wissen, dass »die Evan-
gelisierung nicht vollkommen [wäre], würde
sie nicht dem Umstand Rechnung tragen, dass
Evangelium und konkretes Leben des Menschen
als Einzelperson und als Mitglied einer Gemein-
schaft einander ständig beeinflussen«.146 Es han-
delt sich um das der Dynamik des Evangeliums
eigene Kriterium der Universalität, da der himm-
lische Vater will, dass alle Menschen gerettet wer-
den, und sein Heilsplan darin besteht, alles, was
im Himmel und auf Erden ist, unter einem ein-
zigen Herrn, nämlich Christus, zu vereinen (vgl.
Eph 1,10). Der Auftrag lautet: »Geht hinaus in
die ganze Welt, und verkündet das Evangelium
allen Geschöpfen!« (Mk 16,15), denn »die ganze
Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbar-
werden der Söhne Gottes« (Röm 8,19). Die gan-
ze Schöpfung – das heißt auch alle Aspekte der
menschlichen Natur: »Der Missionsauftrag, die
Gute Nachricht von Jesus Christus zu verkün-
den, bezieht sich auf die ganze Welt. Jesu Lie-
besgebot schließt alle Dimensionen des Daseins
ein, alle Menschen, alle Milieus und alle Völker.
Nichts Menschliches ist ihm fremd.«147 Die wah-
145  Enzyklika Populorum progressio (26. März 1967), 14:
AAS 59 (1967), 264.
146Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi
(8. Dezember 1975), 29: AAS 68 (1976), 25.
147V. Generalversammlung der Bischöfe von Latein-
amerika und der Karibik, Dokument von Aparecida (29. Juni
2007), 380.
164

17.5 Page 165

▲back to top
re christliche Hoffnung, die das eschatologische
Reich sucht, erzeugt immer Geschichte.
Die Lehre der Kirche zu den sozialen Fragen
182.  Die Lehren der Kirche zu den säkularen
Angelegenheiten sind größeren und neuen Ent-
wicklungen unterworfen und mögen Diskussi-
onsgegenstand sein; wir können jedoch nicht
vermeiden, konkret zu sein – ohne zu beanspru-
chen, in die Details zu gehen –, damit die großen
sozialen Grundsätze nicht bloße allgemeine Hin-
weise bleiben, die niemanden unmittelbar ange-
hen. Man muss die praktischen Konsequenzen
aus ihnen ziehen, damit sie »auch die komple-
xen aktuellen Situationen wirksam beeinflussen
können«148. Die Hirten haben unter Berücksich-
tigung der Beiträge der verschiedenen Wissen-
schaften das Recht, Meinungen über all das zu
äußern, was das Leben der Menschen betrifft,
da die Evangelisierungsaufgabe eine ganzheitli-
che Förderung jedes Menschen einschließt und
verlangt. Man kann nicht mehr behaupten, die
Religion müsse sich auf den Privatbereich be-
schränken und sie existiere nur, um die Seelen
auf den Himmel vorzubereiten. Wir wissen, dass
Gott das Glück seiner Kinder, obwohl sie zur
ewigen Fülle berufen sind, auch auf dieser Erde
wünscht, denn er hat alles erschaffen, »damit sie
sich daran freuen können« (1 Tim 6,17), damit
148Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden,
Kompendium der Soziallehre der Kirche, 9.
165

17.6 Page 166

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alle sich daran freuen können. Daraus folgt, dass
die christliche Umkehr verlangt, »besonders […]
all das zu überprüfen, was das Sozialwesen aus-
macht und zur Erlangung des Allgemeinwohls
beiträgt«.149
183.  Folglich kann niemand von uns verlangen,
dass wir die Religion in das vertrauliche Innen-
leben der Menschen verbannen, ohne jeglichen
Einfluss auf das soziale und nationale Gesche-
hen, ohne uns um das Wohl der Institutionen der
menschlichen Gemeinschaft zu kümmern, ohne
uns zu den Ereignissen zu äußern, die die Bürger
angehen. Wer würde es wagen, die Botschaft des
heiligen Franz von Assisi und der seligen Teresa
von Kalkutta in ein Gotteshaus einzuschließen
und zum Schweigen zu bringen? Sie könnten
es nicht hinnehmen. Ein authentischer Glau-
be – der niemals bequem und individualistisch
ist – schließt immer den tiefen Wunsch ein, die
Welt zu verändern, Werte zu übermitteln, nach
unserer Erdenwanderung etwas Besseres zu hin-
terlassen. Wir lieben diesen herrlichen Planeten,
auf den Gott uns gesetzt hat, und wir lieben die
Menschheit, die ihn bewohnt, mit all ihren Dra-
men und ihren Mühen, mit ihrem Streben und
ihren Hoffnungen, mit ihren Werten und ihren
Schwächen. Die Erde ist unser gemeinsames
Haus, und wir sind alle Brüder. Obwohl »die ge-
149Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Ecclesia in America (22. Januar 1999), 27: AAS 91
(1999), 762.
166

17.7 Page 167

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rechte Ordnung der Gesellschaft und des Staates
[…] zentraler Auftrag der Politik« ist, »kann und
darf [die Kirche] im Ringen um Gerechtigkeit
[…] nicht abseits bleiben«.150 Alle Christen, auch
die Hirten, sind berufen, sich um den Aufbau
einer besseren Welt zu kümmern. Darum geht
es, denn die Soziallehre der Kirche ist in erster
Linie positiv und konstruktiv, sie bietet Orien-
tierung für ein verwandelndes Handeln, und in
diesem Sinn hört sie nicht auf, ein Zeichen der
Hoffnung zu sein, das aus dem liebevollen Her-
zen Jesu Christi kommt. Zugleich vereint die Kir-
che »ihre eigenen Bemühungen insbesondere mit
dem, was die anderen Kirchen und kirchlichen
Gemeinschaften in theoretisch-reflexiver ebenso
wie in praktischer Hinsicht im sozialen Bereich
leisten«.151
184.  Es ist hier nicht der Moment, auf all die
schwerwiegenden sozialen Probleme einzuge-
hen, von denen die heutige Welt betroffen ist
– einige von ihnen habe ich im zweiten Kapi-
tel kommentiert. Dies ist kein Dokument über
soziale Fragen, und um über jene verschiedenen
Themenkreise nachzudenken, verfügen wir mit
dem Kompendium der Soziallehre der Kirche über ein
sehr geeignetes Instrument, dessen Gebrauch
und Studium ich nachdrücklich empfehle. Außer-
150Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (25.
Dezember 2005), 28: AAS 98 (2006), 239-240.
151Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden,
Kompendium der Soziallehre der Kirche, 12.
167

17.8 Page 168

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dem besitzen weder der Papst noch die Kirche
das Monopol für die Interpretation der sozialen
Wirklichkeit oder für einen Vorschlag zur Lö-
sung der gegenwärtigen Probleme. Ich kann hier
wiederholen, was Paul VI. in aller Klarheit be-
tonte: »Angesichts so verschiedener Situationen
ist es für uns schwierig, uns mit einem einzigen
Wort zu äußern bzw. eine Lösung von universa-
ler Geltung vorzuschlagen. Das ist nicht unsere
Absicht und auch nicht unsere Aufgabe. Es ob-
liegt den christlichen Gemeinden, die Situation
eines jeden Landes objektiv zu analysieren.« 152
185.  In der Folge möchte ich versuchen, mich
auf zwei große Fragen zu konzentrieren, die in
diesem Augenblick der Geschichte grundlegend
erscheinen. Ich werde sie mit einer gewissen Aus-
führlichkeit entwickeln, weil ich meine, dass sie
die Zukunft der Menschheit bestimmen werden.
Es handelt sich an erster Stelle um die gesell-
schaftliche Eingliederung der Armen und außer-
dem um den Frieden und den sozialen Dialog.
II. Die gesellschaftliche Eingliederung der
Armen
186.  Aus unserem Glauben an Christus, der
arm geworden und den Armen und Ausgeschlos-
senen immer nahe ist, ergibt sich die Sorge um
152  Apostolisches Schreiben Octogesima adveniens zum 80.
Jahrestag der Enzyklika Rerum novarum (14. Mai 1971), 4: AAS
63 (1971), 403.
168

17.9 Page 169

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die ganzheitliche Entwicklung der am stärksten
vernachlässigten Mitglieder der Gesellschaft.
Gemeinsam mit Gott hören wir einen Schrei
187.  Jeder Christ und jede Gemeinschaft ist
berufen, Werkzeug Gottes für die Befreiung
und die Förderung der Armen zu sein, so dass
sie sich vollkommen in die Gesellschaft einfügen
können; das setzt voraus, dass wir gefügig sind
und aufmerksam, um den Schrei des Armen zu
hören und ihm zu Hilfe zu kommen. Es genügt,
in der Heiligen Schrift zu blättern, um zu ent-
decken, wie der gute himmlische Vater auf den
Schrei der Armen hören möchte – »Ich habe das
Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und
ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich ge-
hört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen,
um sie zu befreien […] Und jetzt geh! Ich sende
dich« (Ex 3,7-8.10) – und wie zuvorkommend
er ihren Nöten gegenüber ist: »Als aber die Is-
raeliten zum Herrn schrien, gab ihnen der Herr
einen Retter« (Ri 3,15). Diesem Schrei gegenüber
taub zu bleiben, wenn wir doch die Werkzeuge
Gottes sind, um den Armen zu hören, entfernt
uns dem Willen des himmlischen Vaters und sei-
nem Plan, zumal dieser Arme »den Herrn gegen
dich anruft und Strafe für diese Sünde über dich
kommt« (Dtn 15,9). Und der Mangel an Solida-
rität gegenüber seinen Nöten beeinflusst unmit-
telbar unsere Beziehung zu Gott: »Verbirg dich
nicht vor dem Verzweifelten und gib ihm keinen
169

17.10 Page 170

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Anlass, dich zu verfluchen. Schreit der Betrübte
im Schmerz seiner Seele, so wird Gott, sein Fels,
auf sein Wehgeschrei hören« (Sir 4,5-6). Immer
kehrt die alte Frage wieder: »Wenn jemand Ver-
mögen hat und sein Herz vor dem Bruder ver-
schließt, den er in Not sieht, wie kann die Gottes-
liebe in ihm bleiben?« (1 Joh 3,17). Erinnern wir
uns auch, mit welcher Überzeugung der Apostel
Jakobus das Bild des Schreis der Unterdrückten
aufnahm: »Der Lohn der Arbeiter, die eure Felder
abgemäht haben, der Lohn, den ihr ihnen vorent-
halten habt, schreit zum Himmel; die Klagerufe
derer, die eure Ernte eingebracht haben, dringen
zu den Ohren des Herrn der himmlischen Heere«
(5,4).
188.  Die Kirche hat erkannt, dass die Forde-
rung, auf diesen Ruf zu hören, aus der Befrei-
ung selbst folgt, die die Gnade in jedem von uns
wirkt, und deshalb handelt es sich nicht um einen
Auftrag, der nur einigen vorbehalten ist: »Die
Kirche, die dem Evangelium von der Barmher-
zigkeit und der Liebe zum Menschen folgt, hört
den Ruf nach Gerechtigkeit und möchte mit al-
len ihren Kräften darauf antworten.«153 In die-
sem Rahmen versteht man die Aufforderung
Jesu an seine Jünger: »Gebt ihr ihnen zu essen!«
(Mk 6,37), und das beinhaltet sowohl die Mitar-
beit, um die strukturellen Ursachen der Armut
zu beheben und die ganzheitliche Entwicklung
153Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion
Libertatis nuntius (6. August 1984), XI, 1: AAS 76 (1984), 903.
170

18 Pages 171-180

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18.1 Page 171

▲back to top
der Armen zu fördern, als auch die einfachsten
und täglichen Gesten der Solidarität angesichts
des ganz konkreten Elends, dem wir begegnen.
Das Wort „Solidarität“ hat sich ein wenig abge-
nutzt und wird manchmal falsch interpretiert,
doch es bezeichnet viel mehr als einige gelegent-
liche großherzige Taten. Es erfordert, eine neue
Mentalität zu schaffen, die in den Begriffen der
Gemeinschaft und des Vorrangs des Lebens aller
gegenüber der Aneignung der Güter durch einige
wenige denkt.
189.  Die Solidarität ist eine spontane Reaktion
dessen, der die soziale Funktion des Eigentums
und die universale Bestimmung der Güter als
Wirklichkeiten erkennt, die älter sind als der Pri-
vatbesitz. Der private Besitz von Gütern recht-
fertigt sich dadurch, dass man sie so hütet und
mehrt, dass sie dem Gemeinwohl besser dienen;
deshalb muss die Solidarität als die Entscheidung
gelebt werden, dem Armen das zurückzugeben,
was ihm zusteht. Wenn diese Einsichten und eine
solidarische Gewohnheit uns in Fleisch und Blut
übergehen, öffnen sie den Weg für weitere struk-
turelle Umwandlungen und machen sie möglich.
Eine Änderung der Strukturen, die hingegen
keine neuen Einsichten und Verhaltensweisen
hervorbringt, wird dazu führen, dass ebendiese
Strukturen früher oder später korrupt, drückend
und unwirksam werden.
190.  Manchmal geht es darum, den Schrei
ganzer Völker, der ärmsten Völker der Erde zu
171

18.2 Page 172

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hören, denn »der Friede gründet sich nicht nur
auf die Achtung der Menschenrechte, sondern
auch auf die Achtung der Rechte der Völker«.154
Bedauerlicherweise können sogar die Menschen-
rechte als Rechtfertigung für eine erbitterte Ver-
teidigung der Rechte des Einzelnen oder der
Rechte der reichsten Völker genutzt werden. Bei
allem Respekt vor der Unabhängigkeit und der
Kultur jeder einzelnen Nation muss doch im-
mer daran erinnert werden, dass der Planet der
ganzen Menschheit gehört und für die ganze
Menschheit da ist und dass allein die Tatsache,
an einem Ort mit weniger Ressourcen oder einer
niedrigeren Entwicklungsstufe geboren zu sein,
nicht rechtfertigt, dass einige Menschen weniger
würdevoll leben. Es muss noch einmal gesagt
werden: »Die am meisten Begünstigten müs-
sen auf einige ihrer Rechte verzichten, um mit
größerer Freigebigkeit ihre Güter in den Dienst
der anderen zu stellen.«155 Um in angemessener
Weise von unseren Rechten zu sprechen, müssen
wir unseren Gesichtskreis erweitern und unsere
Ohren dem Schrei anderer Völker oder anderer
Regionen unseres Landes öffnen. Wir haben es
nötig, in der Solidarität zu wachsen: »Sie muss
es allen Völkern erlauben, ihr Geschick selbst in
154Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden,
Kompendium der Soziallehre der Kirche, 157.
155Paul VI., Apostolisches Schreiben Octogesima adveniens
zum 80. Jahrestag der Enzyklika Rerum novarum (14. Mai 1971),
23: AAS 63 (1971), 418.
172

18.3 Page 173

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die Hand zu nehmen«,156 so, wie »jeder Mensch
gerufen [ist], sich zu entwickeln«.157
191.  An jedem Ort und bei jeder Gelegenheit
sind die Christen, ermutigt von ihren Hirten, auf-
gerufen, den Schrei der Armen zu hören. Dies
haben die Bischöfe Brasiliens deutlich betont:
»Wir möchten jeden Tag Freude und Hoffnung,
Trauer und Angst des brasilianischen Volkes, be-
sonders der Bevölkerungen der Stadtrandgebiete
und der ländlichen Regionen auf uns nehmen,
die – ohne Land, ohne Obdach, ohne Brot, ohne
Gesundheit – in ihren Rechten verletzt sind. Da
wir ihr Elend sehen, ihr Schreien hören und ihre
Leiden kennen, empört es uns zu wissen, dass
ausreichend Nahrung für alle da ist und dass der
Hunger auf die schlechte Verteilung der Güter
und des Einkommens zurückzuführen ist. Das
Problem wird noch verstärkt durch die weit ver-
breitete Praxis der Verschwendung.«158
192.  Wir wünschen uns jedoch noch mehr.
Unser Traum hat noch höhere Ziele. Wir spre-
chen nicht nur davon, allen die Nahrung oder
eine »menschenwürdige Versorgung« zu sichern,
sondern dass sie einen »Wohlstand in seinen viel-
156Ders., Enzyklika Populorum progressio (26. März 1967),
65: AAS 59 (1967), 289.
157Ebd., 15: AAS 59 (1967), 265.
158Conferência Nacional dos Bispos do Brasil,
Dokument Exigências evangélicas e éticas de superação da miséria e da
fome (April 2002), Einführung, 2.
173

18.4 Page 174

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fältigen Aspekten« erreichen.159 Das schließt die
Erziehung, den Zugang zum Gesundheitswesen
und besonders die Arbeit ein, denn in der freien,
schöpferischen, mitverantwortlichen und soli-
darischen Arbeit drückt der Mensch die Würde
seines Lebens aus und steigert sie. Der gerech-
te Lohn ermöglicht den Zugang zu den ande-
ren Gütern, die zum allgemeinen Gebrauch be-
stimmt sind.
Treue zum Evangelium, um nicht vergeblich zu laufen
193.  Der Aufruf, auf den Schrei der Armen
zu hören, nimmt in uns menschliche Gestalt an,
wenn uns das Leiden anderer zutiefst erschüt-
tert. Lesen wir noch einmal, was das Wort Gottes
über die Barmherzigkeit sagt, damit es kraftvoll
im Leben der Kirche nachhallt. Das Evangeli-
um verkündet: »Selig die Barmherzigen, denn sie
werden Erbarmen finden« (Mt 5,7). Der Apostel
Jakobus lehrt, dass die Barmherzigkeit den an-
deren gegenüber uns erlaubt, siegreich aus dem
göttlichen Gericht hervorzugehen: »Redet und
handelt wie Menschen, die nach dem Gesetz der
Freiheit gerichtet werden. Denn das Gericht ist
erbarmungslos gegen den, der kein Erbarmen
gezeigt hat. Barmherzigkeit aber triumphiert
über das Gericht« (2,12-13). In diesem Text er-
weist Jakobus sich als Erbe des größten Reich-
tums der nachexilischen jüdischen Spiritualität,
159Johannes XXIII., Enzyklika Mater et Magistra (15. Mai
1961), 3: AAS 53 (1961), 402.
174

18.5 Page 175

▲back to top
die der Barmherzigkeit einen speziellen Heils-
wert zuschrieb: »Lösch deine Sünden aus durch
rechtes Tun, tilge deine Vergehen, indem du Er-
barmen hast mit den Armen. Dann mag dein
Glück vielleicht von Dauer sein« (Dan 4,24). Aus
derselben Perspektive spricht die Weisheitslitera-
tur vom Almosen als einer konkreten Übung der
Barmherzigkeit gegenüber den Notleidenden:
»Barmherzigkeit rettet vor dem Tod und reinigt
von jeder Sünde« (Tob 12,9). In noch plastische-
rer Weise wird das im Buch Jesus Sirach ausge-
drückt: »Wie Wasser loderndes Feuer löscht, so
sühnt Mildtätigkeit Sünde« (3,30). Zum gleichen
Schluss kommt auch das Neue Testament: »Vor
allem haltet fest an der Liebe zueinander; denn
die Liebe deckt viele Sünden zu« (1 Petr 4,8). Die-
se Wahrheit drang tief in das Denken der Kir-
chenväter ein und leistete als kulturelle Alterna-
tive einen prophetischen Widerstand gegen den
hedonistischen heidnischen Individualismus. Wir
erwähnen nur ein Beispiel: »Wie wir in der Ge-
fahr eines Brandes eilen, um Löschwasser zu su-
chen […] so ist es auch, wenn aus unserem Stroh
die Flamme der Sünde aufsteigen würde und wir
darüber verstört wären: Wird uns dann die Ge-
legenheit zu einem Werk der Barmherzigkeit ge-
geben, freuen wir uns über dieses Werk, als sei es
eine Quelle, die uns angeboten wird, damit wir
den Brand löschen können.«160
160Augustinus, De Catechizandis Rudibus, I, XIV, 22: PL
40, 327.
175

18.6 Page 176

▲back to top
194.  Das ist eine so klare, so direkte, so ein-
fache und viel sagende Botschaft, dass keine
kirchliche Hermeneutik das Recht hat, sie zu re-
lativieren. Die Reflexion der Kirche über diese
Texte dürfte deren ermahnende Bedeutung nicht
verdunkeln oder schwächen, sondern vielmehr
helfen, sie sich mutig und eifrig zu Eigen zu ma-
chen. Warum komplizieren, was so einfach ist?
Die begrifflichen Werkzeuge sind dazu da, den
Kontakt mit der Wirklichkeit, die man erklären
will, zu fördern, und nicht, um uns von ihr zu
entfernen. Das gilt vor allem für die biblischen
Ermahnungen, die mit großer Bestimmtheit zur
Bruderliebe, zum demütigen und großherzigen
Dienst, zur Gerechtigkeit und zur Barmherzig-
keit gegenüber dem Armen auffordern. Jesus hat
uns mit seinen Worten und seinen Taten diesen
Weg der Anerkennung des anderen gewiesen. Wa-
rum verdunkeln, was so klar ist? Sorgen wir uns
nicht nur darum, nicht in lehrmäßige Irrtümer
zu fallen, sondern auch darum, diesem leuchten-
den Weg des Lebens und der Weisheit treu zu
sein. Denn »den Verteidigern der „Orthodoxie“
wirft man manchmal Passivität, Nachsichtigkeit
und schuldhafte Mitwisserschaft gegenüber un-
erträglichen Situationen der Ungerechtigkeit und
gegenüber politischen Regimen, die diese beibe-
halten, vor«.161
161Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion
Libertatis nuntius (6. August 1984), XI, 18: AAS 76 (1984), 907-
908.
176

18.7 Page 177

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195.  Als der heilige Paulus sich zu den Apos-
teln nach Jerusalem begab, um zu klären, ob er
sich vergeblich mühte oder gemüht hatte (vgl.
Gal 2,2), war das entscheidende Kriterium für die
Echtheit, das sie ihm vorgaben, dass er die Ar-
men nicht vergessen sollte (vgl. Gal 2,10). Dieses
große Kriterium, dass die paulinischen Gemein-
den sich nicht vom individualistischen Lebens-
stil der Heiden mitreißen lassen sollten, besitzt
im gegenwärtigen Kontext, in dem die Tendenz
zur Entwicklung eines neuen individualistischen
Heidentums besteht, eine beachtliche Aktuali-
tät. Die eigene Schönheit des Evangeliums kann
von uns nicht immer angemessen zum Ausdruck
gebracht werden, doch es gibt ein Zeichen, das
niemals fehlen darf: die Option für die Letzten,
für die, welche die Gesellschaft aussondert und
wegwirft.
196.  Manchmal sind wir hartherzig und starr-
sinnig, vergessen, vergnügen uns und geraten in
Verzückung angesichts der unermesslichen Mög-
lichkeiten an Konsum und Zerstreuung, die die-
se Gesellschaft bietet. So entsteht eine Art von
Entfremdung, die uns alle trifft, denn »entfrem-
det wird eine Gesellschaft, die in ihren sozialen
Organisationsformen, in Produktion und Kon-
sum, die Verwirklichung dieser Hingabe und die
Bildung dieser zwischenmenschlichen Solidarität
erschwert«.162
162Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai
1991), 41: AAS 83 (1991), 844-845.
177

18.8 Page 178

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Der bevorzugte Platz der Armen im Volk Gottes
197.  Im Herzen Gottes gibt es einen so bevor-
zugten Platz für die Armen, dass er selbst »arm
wurde« (2 Kor 8,9). Der ganze Weg unserer Erlö-
sung ist von den Armen geprägt. Dieses Heil ist
zu uns gekommen durch das „Ja“ eines demü-
tigen Mädchens aus einem kleinen, abgelegenen
Dorf am Rande eines großen Imperiums. Der
Retter ist in einer Krippe geboren, inmitten von
Tieren, wie es bei den Kindern der Ärmsten ge-
schah; zu seiner Darstellung im Tempel wurden
zwei Turteltauben dargebracht, das Opfer de-
rer, die sich nicht erlauben konnten, ein Lamm
zu bezahlen (vgl. Lk 2,24; Lev 5,7); er ist in ei-
nem Haus einfacher Handwerker aufgewachsen
und hat sich sein Brot mit seiner Hände Arbeit
verdient. Als er mit der Verkündigung des Got-
tesreichs begann, folgten ihm Scharen von Ent-
rechteten, und so zeigte sich, was er selbst gesagt
hatte: »Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn
der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt,
damit ich den Armen eine gute Nachricht brin-
ge« (Lk 4,18). Denen, die unter der Last von Leid
und Armut lebten, versicherte er, dass Gott sie
im Zentrum seines Herzens trug: »Selig, ihr Ar-
men, denn euch gehört das Reich Gottes« (Lk
6,20); mit ihnen identifizierte er sich: »Ich war
hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben« und
lehrte, dass die Barmherzigkeit ihnen gegenüber
der Schlüssel zum Himmel ist (vgl. Mt 25,35f).
178

18.9 Page 179

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198.  Für die Kirche ist die Option für die Ar-
men in erster Linie eine theologische Kategorie
und erst an zweiter Stelle eine kulturelle, soziolo-
gische, politische oder philosophische Frage. Gott
gewährt ihnen »seine erste Barmherzigkeit«.163
Diese göttliche Vorliebe hat Konsequenzen im
Glaubensleben aller Christen, die ja dazu berufen
sind, so gesinnt zu sein wie Jesus (vgl. Phil 2,5).
Von ihr inspiriert, hat die Kirche eine Option für
die Armen gefällt, die zu verstehen ist als »beson-
derer Vorrang in der Weise, wie die christliche
Liebe ausgeübt wird; eine solche Option wird
von der ganzen Tradition der Kirche bezeugt«.164
Diese Option, lehrte Benedikt XVI., ist »im chris-
tologischen Glauben an jenen Gott implizit ent-
halten, der für uns arm geworden ist, um uns
durch seine Armut reich zu machen«.165 Aus die-
sem Grund wünsche ich mir eine arme Kirche
für die Armen. Sie haben uns vieles zu lehren.
Sie haben nicht nur Teil am sensus fidei, sondern
kennen außerdem dank ihrer eigenen Leiden den
leidenden Christus. Es ist nötig, dass wir alle uns
von ihnen evangelisieren lassen. Die neue Evan-
gelisierung ist eine Einladung, die heilbringende
Kraft ihrer Leben zu erkennen und sie in den
163Ders., Homilie während der Eucharistiefeier für die
Evangelisierung der Völker, in Santo Domingo (11. Oktober 1984),
5: AAS 77 (1985) 358.
164Ders., Enzyklika Sollicitudo rei socialis (30. Dezember
1987), 42: AAS 80 (1988), 572.
165Ansprache zur Eröffnung der Arbeiten der V.
Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik
(13. Mai 2007), 3: AAS 99 (2007), 450.
179

18.10 Page 180

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Mittelpunkt des Weges der Kirche zu stellen. Wir
sind aufgerufen, Christus in ihnen zu entdecken,
uns zu Wortführern ihrer Interessen zu machen,
aber auch ihre Freunde zu sein, sie anzuhören,
sie zu verstehen und die geheimnisvolle Weisheit
anzunehmen, die Gott uns durch sie mitteilen
will.
199.  Unser Einsatz besteht nicht ausschließ-
lich in Taten oder in Förderungs- und Hilfspro-
grammen; was der Heilige Geist in Gang setzt,
ist nicht ein übertriebener Aktivismus, sondern
vor allem eine aufmerksame Zuwendung zum ande-
ren, indem man ihn »als eines Wesens mit sich
selbst betrachtet«.166 Diese liebevolle Zuwen-
dung ist der Anfang einer wahren Sorge um sei-
ne Person, und von dieser Basis aus bemühe ich
mich dann wirklich um sein Wohl. Das schließt
ein, den Armen in seinem besonderen Wert zu
schätzen, mit seiner Wesensart, mit seiner Kultur
und mit seiner Art, den Glauben zu leben. Die
echte Liebe ist immer kontemplativ, sie erlaubt
uns, dem anderen nicht aus Not oder aus Eitel-
keit zu dienen, sondern weil es schön ist, jenseits
des Scheins. »Auf die Liebe, durch die einem der
andere Mensch angenehm ist, ist es zurückzufüh-
ren, dass man ihm unentgeltlich etwas gibt.«167
Der Arme wird, wenn er geliebt wird,
»hochgeschätzt«,168 und das unterscheidet die
166Thomas von Aquin, Summa Theologiae II-II, q. 27, a. 2.
167Ebd., I-II, q. 110, a. 1.
168Ebd., I-II, q. 26, a. 3.
180

19 Pages 181-190

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19.1 Page 181

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authentische Option für die Armen von jeder
Ideologie, von jeglicher Absicht, die Armen zu-
gunsten persönlicher oder politischer Interessen
zu gebrauchen. Nur das macht es möglich, »dass
sich die Armen in jeder christlichen Gemeinde
wie „zu Hause“ fühlen. Wäre dieser Stil nicht
die großartigste und wirkungsvollste Vorstellung
der Frohen Botschaft vom Reich Gottes?«.169
Ohne die Sonderoption für die Armen »läuft
die Verkündigung, die auch die erste Liebestat
ist, Gefahr, nicht verstanden zu werden oder in
jenem Meer von Worten zu ertrinken, dem die
heutige Kommunikationsgesellschaft uns täglich
aussetzt«.170
200.  Da dieses Schreiben an die Mitglieder der
katholischen Kirche gerichtet ist, möchte ich
die schmerzliche Feststellung machen, dass die
schlimmste Diskriminierung, unter der die Ar-
men leiden, der Mangel an geistlicher Zuwen-
dung ist. Die riesige Mehrheit der Armen ist
besonders offen für den Glauben; sie brauchen
Gott, und wir dürfen es nicht unterlassen, ih-
nen seine Freundschaft, seinen Segen, sein Wort,
die Feier der Sakramente anzubieten und ihnen
einen Weg des Wachstums und der Reifung im
Glauben aufzuzeigen. Die bevorzugte Option
für die Armen muss sich hauptsächlich in einer
außerordentlichen und vorrangigen religiösen
Zuwendung zeigen.
169Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo
Millennio ineunte (6. Januar 2001), 50: AAS 93 (2001), 303.
170Ebd.
181

19.2 Page 182

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201.  Niemand dürfte sagen, dass er sich von
den Armen fern hält, weil seine Lebensentschei-
dungen es mit sich bringen, anderen Aufgaben
mehr Achtung zu schenken. Das ist eine in aka-
demischen, unternehmerischen oder beruflichen
und sogar kirchlichen Kreisen häufige Entschul-
digung. Obwohl man im Allgemeinen sagen
kann, dass die Berufung und die besondere Sen-
dung der gläubigen Laien die Umwandlung der
verschiedenen weltlichen Bereiche ist, damit alles
menschliche Tun vom Evangelium verwandelt
wird,171 darf sich niemand von der Sorge um die
Armen und um die soziale Gerechtigkeit frei-
gestellt fühlen: »Von allen […] ist die geistliche
Bekehrung, die intensive Gottes- und Nächsten-
liebe, der Eifer für Gerechtigkeit und Frieden,
der evangeliumsgemäße Sinn für die Armen und
die Armut gefordert.«172 Ich fürchte, dass auch
diese Worte nur Gegenstand von Kommenta-
ren ohne praktische Auswirkungen sein werden.
Trotzdem vertraue ich auf die Offenheit und die
gute Grundeinstellung der Christen, und ich bit-
te euch, gemeinschaftlich neue Wege zu suchen,
um diesen erneuten Vorschlag anzunehmen.
Wirtschaft und Verteilung der Einkünfte
202.  Die Notwendigkeit, die strukturellen
Ursachen der Armut zu beheben, kann nicht
171  Vgl. Propositio 45.
172Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion
Libertatis nuntius (6. August 1984), XI, 18: AAS 76 (1984), 908.
182

19.3 Page 183

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warten, nicht nur wegen eines pragmatischen
Erfordernisses, Ergebnisse zu erzielen und die
Gesellschaft zu ordnen, sondern um sie von
einer Krankheit zu heilen, die sie anfällig und
unwürdig werden lässt und sie nur in neue Kri-
sen führen kann. Die Hilfsprojekte, die einigen
dringlichen Erfordernissen begegnen, sollten nur
als provisorische Maßnahmen angesehen wer-
den. Solange die Probleme der Armen nicht von
der Wurzel her gelöst werden, indem man auf
die absolute Autonomie der Märkte und der Fi-
nanzspekulation verzichtet und die strukturellen
Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte
in Angriff nimmt,173 werden sich die Probleme
der Welt nicht lösen und kann letztlich überhaupt
kein Problem gelöst werden. Die Ungleichvertei-
lung der Einkünfte ist die Wurzel der sozialen
Übel.
203.  Die Würde jedes Menschen und das Ge-
meinwohl sind Fragen, die die gesamte Wirt-
schaftspolitik strukturieren müssten, doch
manchmal scheinen sie von außen hinzugefügte
Anhänge zu sein, um eine politische Rede zu ver-
vollständigen, ohne Perspektiven oder Program-
me für eine wirklich ganzheitliche Entwicklung.
Wie viele Worte sind diesem System unbequem
geworden! Es ist lästig, wenn man von Ethik
173  Das schließt ein, »die strukturellen Ursachen der
Fehlfunktionen der Weltwirtschaft zu beseitigen«: Benedikt
XVI., Ansprache an das beim Heiligen Stuhl akkreditierte Diplomatische
Korps (8. Januar 2007): AAS 99 (2007), 73.
183

19.4 Page 184

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spricht, es ist lästig, dass man von weltweiter So-
lidarität spricht, es ist lästig, wenn man von einer
Verteilung der Güter spricht, es ist lästig, wenn
man davon spricht, die Arbeitsplätze zu verteidi-
gen, es ist lästig, wenn man von der Würde der
Schwachen spricht, es ist lästig, wenn man von
einem Gott spricht, der einen Einsatz für die
Gerechtigkeit fordert. Andere Male geschieht
es, dass diese Worte Gegenstand einer opportu-
nistischen Manipulation werden, die sie entehrt.
Die bequeme Gleichgültigkeit gegenüber diesen
Fragen entleert unser Leben und unsere Worte
jeglicher Bedeutung. Die Tätigkeit eines Unter-
nehmers ist eine edle Arbeit, vorausgesetzt, dass
er sich von einer umfassenderen Bedeutung des
Lebens hinterfragen lässt; das ermöglicht ihm,
mit seinem Bemühen, die Güter dieser Welt zu
mehren und für alle zugänglicher zu machen,
wirklich dem Gemeinwohl zu dienen.
204.  Wir dürfen nicht mehr auf die blinden
Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes
vertrauen. Das Wachstum in Gerechtigkeit er-
fordert etwas, das mehr ist als Wirtschaftswachs-
tum, auch wenn es dieses voraussetzt; es verlangt
Entscheidungen, Programme, Mechanismen
und Prozesse, die ganz spezifisch ausgerichtet
sind auf eine bessere Verteilung der Einkünfte,
auf die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten und
auf eine ganzheitliche Förderung der Armen, die
mehr ist als das bloße Sozialhilfesystem. Es liegt
mir völlig fern, einen unverantwortlichen Popu-
lismus vorzuschlagen, aber die Wirtschaft darf
184

19.5 Page 185

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nicht mehr auf „Heilmittel“ zurückgreifen, die
ein neues Gift sind, wie wenn man sich einbildet,
die Ertragsfähigkeit zu steigern, indem man den
Arbeitsmarkt einschränkt und auf diese Weise
neue Ausgeschlossene schafft.
205.  Ich bitte Gott, dass die Zahl der Politiker
zunimmt, die fähig sind, in einen echten Dialog
einzusteigen, der sich wirksam darauf ausrich-
tet, die tiefen Wurzeln und nicht den äußeren
Anschein der Übel unserer Welt zu heilen! Die
so in Misskredit gebrachte Politik ist eine sehr
hohe Berufung, ist eine der wertvollsten Formen
der Nächstenliebe, weil sie das Gemeinwohl an-
strebt.174 Wir müssen uns davon überzeugen, dass
die Liebe »das Prinzip nicht nur der Mikro-Bezie-
hungen – in Freundschaft, Familie und kleinen
Gruppen – [ist], sondern auch der Makro-Bezie-
hungen – in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen
und politischen Zusammenhängen«.175 Ich bete
zum Herrn, dass er uns mehr Politiker schenke,
denen die Gesellschaft, das Volk, das Leben der
Armen wirklich am Herzen liegt! Es ist unerläss-
lich, dass die Regierenden und die Finanzmacht
den Blick erheben und ihre Perspektiven erwei-
tern, dass sie dafür sorgen, dass es für alle Bür-
ger eine würdevolle Arbeit sowie Zugang zum
Bildungs- und zum Gesundheitswesen gibt. Und
174  Vgl. Commission sociale des Évêques de France,
Erklärung Réhbiliter la politique (17. Februar 1999); Pius XI.,
Botschaft, 18. Dezember 1927.
175Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate (29. Juni
2009), 2: AAS 101 (2009), 642.
185

19.6 Page 186

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warum sollte man sich nicht an Gott wenden, da-
mit er ihre Pläne inspiriert? Ich bin überzeugt,
dass sich von einer Öffnung für die Transzen-
denz her eine neue politische und wirtschaftliche
Mentalität bilden könnte, die helfen würde, die
absolute Dichotomie zwischen Wirtschaft und
Gemeinwohl zu überwinden.
206.  Die Wirtschaft müsste, wie das griechische
Wort oikonomía – Ökonomie – sagt, die Kunst
sein, eine angemessene Verwaltung des gemein-
samen Hauses zu erreichen, und dieses Haus ist
die ganze Welt. Jede wirtschaftliche Unterneh-
mung von einer gewissen Tragweite, die in einem
Teil des Planeten durchgeführt wird, wirkt sich
auf das Ganze aus. Darum kann keine Regierung
außerhalb einer gemeinsamen Verantwortung
handeln. Tatsächlich wird es immer schwieriger,
auf lokaler Ebene Lösungen für die enormen
globalen Widersprüche zu finden, weshalb die
örtliche Politik mit zu lösenden Problemen über-
häuft wird. Wenn wir wirklich eine gesunde Welt-
wirtschaft erreichen wollen, bedarf es in dieser
geschichtlichen Phase einer effizienteren Art der
Interaktion, die bei voller Berücksichtigung der
Souveränität der Nationen den wirtschaftlichen
Wohlstand aller und nicht nur einiger Länder si-
chert.
207.  Jede beliebige Gemeinschaft in der Kir-
che, die beansprucht, in ihrer Ruhe zu verhar-
ren, ohne sich kreativ darum zu kümmern und
wirksam daran mitzuarbeiten, dass die Armen in
186

19.7 Page 187

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Würde leben können und niemand ausgeschlos-
sen wird, läuft die Gefahr der Auflösung, auch
wenn sie über soziale Themen spricht und die
Regierungen kritisiert. Sie wird schließlich leicht
in einer mit religiösen Übungen, unfruchtbaren
Versammlungen und leeren Reden heuchlerisch
verborgenen spirituellen Weltlichkeit untergehen.
208.  Falls jemand sich durch meine Worte be-
leidigt fühlt, versichere ich ihm, dass ich sie mit
Liebe und in bester Absicht sage, weit entfernt
von jedem persönlichen Interesse oder einer po-
litischen Ideologie. Mein Wort ist nicht das eines
Feindes, noch das eines Gegners. Es geht mir
einzig darum, dafür zu sorgen, dass diejenigen,
die Sklaven einer individualistischen, gleichgül-
tigen und egoistischen Mentalität sind, sich von
jenen unwürdigen Fesseln befreien und eine Art
zu leben und zu denken erreichen können, die
menschlicher, edler und fruchtbarer ist und ihrer
Erdenwanderung Würde verleiht.
Sich der Schwachen annehmen
209.  Jesus, der Evangelisierende schlechthin
und das Evangelium in Person, identifiziert sich
speziell mit den Geringsten (vgl. Mt 25,40). Das
erinnert uns daran, dass wir Christen alle beru-
fen sind, uns um die Schwächsten der Erde zu
kümmern. Doch in dem geltenden „privatrecht-
lichen“ Erfolgsmodell scheint es wenig sinnvoll,
zu investieren, damit diejenigen, die auf der
Strecke geblieben sind, die Schwachen oder die
187

19.8 Page 188

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weniger Begabten es im Leben zu etwas bringen
können.
210.  Es ist unerlässlich, neuen Formen von
Armut und Hinfälligkeit – den Obdachlosen,
den Drogenabhängigen, den Flüchtlingen, den
eingeborenen Bevölkerungen, den immer mehr
vereinsamten und verlassenen alten Menschen
usw. – unsere Aufmerksamkeit zu widmen. Wir
sind berufen, in ihnen den leidenden Christus zu
erkennen und ihm nahe zu sein, auch wenn uns
das augenscheinlich keine greifbaren und unmit-
telbaren Vorteile bringt. Die Migranten stellen
für mich eine besondere Herausforderung dar,
weil ich Hirte einer Kirche ohne Grenzen bin,
die sich als Mutter aller fühlt. Darum rufe ich die
Länder zu einer großherzigen Öffnung auf, die,
anstatt die Zerstörung der eigenen Identität zu
befürchten, fähig ist, neue kulturelle Synthesen
zu schaffen. Wie schön sind die Städte, die das
krankhafte Misstrauen überwinden, die anderen
mit ihrer Verschiedenheit eingliedern und aus
dieser Integration einen Entwicklungsfaktor ma-
chen! Wie schön sind die Städte, die auch in ihrer
architektonischen Planung reich sind an Räu-
men, die verbinden, in Beziehung setzen und die
Anerkennung des anderen begünstigen!
211.  Immer hat mich die Situation derer mit
Schmerz erfüllt, die Opfer der verschiedenen
Formen von Menschenhandel sind. Ich würde
mir wünschen, dass man den Ruf Gottes hörte,
der uns alle fragt: »Wo ist dein Bruder?« (Gen 4,9).
188

19.9 Page 189

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Wo ist dein Bruder, der Sklave? Wo ist der, den
du jeden Tag umbringst in der kleinen illegalen
Fabrik, im Netz der Prostitution, in den Kindern,
die du zum Betteln gebrauchst, in dem, der heim-
lich arbeiten muss, weil er nicht legalisiert ist?
Tun wir nicht, als sei alles in Ordnung! Es gibt
viele Arten von Mittäterschaft. Die Frage geht
alle an! Dieses mafiöse und perverse Verbrechen
hat sich in unseren Städten eingenistet, und die
Hände vieler triefen von Blut aufgrund einer be-
quemen, schweigenden Komplizenschaft.
212.  Doppelt arm sind die Frauen, die Situa-
tionen der Ausschließung, der Misshandlung und
der Gewalt erleiden, denn oft haben sie geringere
Möglichkeiten, ihre Rechte zu verteidigen. Und
doch finden wir auch unter ihnen fortwährend
die bewundernswertesten Gesten eines täglichen
Heroismus im Schutz und in der Fürsorge für die
Gebrechlichkeit in ihren Familien.
213.  Unter diesen Schwachen, deren sich die
Kirche mit Vorliebe annehmen will, sind auch
die ungeborenen Kinder. Sie sind die Schutzlo-
sesten und Unschuldigsten von allen, denen man
heute die Menschenwürde absprechen will, um
mit ihnen machen zu können, was man will, in-
dem man ihnen das Leben nimmt und Gesetzge-
bungen fördert, die erreichen, dass niemand das
verbieten kann. Um die Verteidigung des Lebens
der Ungeborenen, die die Kirche unternimmt,
leichthin ins Lächerliche zu ziehen, stellt man ihre
Position häufig als etwas Ideologisches, Rück-
189

19.10 Page 190

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schrittliches, Konservatives dar. Und doch ist
diese Verteidigung des ungeborenen Lebens eng
mit der Verteidigung jedes beliebigen Menschen-
rechtes verbunden. Sie setzt die Überzeugung
voraus, dass ein menschliches Wesen immer etwas
Heiliges und Unantastbares ist, in jeder Situation
und jeder Phase seiner Entwicklung. Es trägt sei-
ne Daseinsberechtigung in sich selbst und ist nie
ein Mittel, um andere Schwierigkeiten zu lösen.
Wenn diese Überzeugung hinfällig wird, bleiben
keine festen und dauerhaften Grundlagen für die
Verteidigung der Menschenrechte; diese wären
dann immer den zufälligen Nützlichkeiten der je-
weiligen Machthaber unterworfen. Dieser Grund
allein genügt, um den unantastbaren Wert eines
jeden Menschenlebens anzuerkennen. Wenn wir
es aber auch vom Glauben her betrachten, dann
»schreit jede Verletzung der Menschenwürde vor
dem Angesicht Gottes nach Rache und ist Belei-
digung des Schöpfers des Menschen«.176
214.  Gerade weil es eine Frage ist, die mit der
inneren Kohärenz unserer Botschaft vom Wert
der menschlichen Person zu tun hat, darf man
nicht erwarten, dass die Kirche ihre Position zu
dieser Frage ändert. Ich möchte diesbezüglich
ganz ehrlich sein. Dies ist kein Argument, das
mutmaßlichen Reformen oder „Modernisierun-
gen“ unterworfen ist. Es ist nicht fortschrittlich,
176Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 37: AAS 81
(1989), 461.
190

20 Pages 191-200

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20.1 Page 191

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sich einzubilden, die Probleme zu lösen, indem
man ein menschliches Leben vernichtet. Doch es
trifft auch zu, dass wir wenig getan haben, um
die Frauen angemessen zu begleiten, die sich
in sehr schweren Situationen befinden, wo der
Schwangerschaftsabbruch ihnen als eine schnelle
Lösung ihrer tiefen Ängste erscheint, besonders,
wenn das Leben, das in ihnen wächst, als Folge
einer Gewalt oder im Kontext extremer Armut
entstanden ist. Wer hätte kein Verständnis für
diese so schmerzlichen Situationen?
215.  Es gibt noch andere schwache und schutz-
lose Wesen, die wirtschaftlichen Interessen oder
einer wahllosen Ausnutzung auf Gedeih und
Verderb ausgeliefert sind. Ich beziehe mich auf
die Gesamtheit der Schöpfung. Wir sind als Men-
schen nicht bloß Nutznießer, sondern Hüter der
anderen Geschöpfe. Durch unsere Leiblichkeit
hat Gott uns so eng mit der Welt, die uns umgibt,
verbunden, dass die Desertifikation des Bodens
so etwas wie eine Krankheit für jeden Einzelnen
ist, und wir können das Aussterben einer Art be-
klagen, als wäre es eine Verstümmelung. Lassen
wir nicht zu, dass an unserem Weg Zeichen der
Zerstörung und des Todes zurückbleiben, die
unserem Leben und dem der kommenden Gene-
rationen schaden.177 In diesem Sinne mache ich
mir die schöne und prophetische Klage zu Eigen,
die vor einigen Jahren die Bischöfe der Philippi-
177  Vgl. Propositio 56.
191

20.2 Page 192

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nen geäußert haben: »Eine unglaubliche Vielfalt
von Insekten lebte im Wald, und sie waren mit
jeder Art von eigenen Aufgaben betraut […] Die
Vögel flogen in der Luft, ihre glänzenden Federn
und ihre verschiedenen Gesänge ergänzten das
Grün der Wälder mit Farbe und Melodien […]
Gott wollte diese Erde für uns, seine besonderen
Geschöpfe, aber nicht, damit wir sie zerstören
und in eine Wüstenlandschaft verwandeln könn-
ten […] Nach einer einzigen Regennacht schau
auf die schokoladen-braunen Flüsse in deiner
Umgebung und erinnere dich, dass sie das leben-
dige Blut der Erde zum Meer tragen […] Wie
können die Fische in Abwasserkanälen wie dem
Pasig und vielen anderen Flüssen schwimmen,
die wir verseucht haben? Wer hat die wunderba-
re Meereswelt in leb- und farblose Unterwasser-
Friedhöfe verwandelt?«178
216.  Klein aber stark in der Liebe Gottes wie
der heilige Franziskus, sind wir als Christen alle
berufen, uns der Schwäche des Volkes und der
Welt, in der wir leben, anzunehmen.
III. Das Gemeingut und der soziale Frieden
217.  Wir haben ausgiebig über die Freude und
über die Liebe gesprochen; das Wort Gottes er-
178Catholic Bishops’ Conference of the Philippines,
Pastoralbrief What is Happening to our Beuatiful Land? (29. Januar
1988).
192

20.3 Page 193

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wähnt aber ebenso die Frucht des Friedens (vgl.
Gal 5, 22).
218.  Der soziale Frieden kann nicht als Irenis-
mus oder als eine bloße Abwesenheit von Gewalt
verstanden werden, die durch die Herrschaft eines
Teils der Gesellschaft über die anderen erreicht
wird. Auch wäre es ein falscher Friede, wenn
er als Vorwand diente, um eine Gesellschafts-
struktur zu rechtfertigen, welche die Armen zum
Schweigen bringt oder ruhig stellt. Dann könn-
ten die Wohlhabenden ihren Lebensstil seelen-
ruhig weiter führen, während die anderen sich
durchschlagen müssten, so gut wie es eben geht.
Die sozialen Forderungen, die mit der Verteilung
der Einkommen, der sozialen Einbeziehung der
Armen und den Menschenrechten zusammen-
hängen, dürfen nicht unter dem Vorwand zum
Schweigen gebracht werden, einen Konsens auf
dem Papier zu haben oder einen oberflächlichen
Frieden für eine glückliche Minderheit zu schaf-
fen. Die Würde des Menschen und das Gemein-
gut gelten mehr als das Wohlbefinden einiger,
die nicht auf ihre Privilegien verzichten wollen.
Wenn jene Werte bedroht sind, muss eine pro-
phetische Stimme erhoben werden.
219.  Ebenso besteht der Friede »nicht einfach
im Schweigen der Waffen, nicht einfach im im-
mer schwankenden Gleichgewicht der Kräfte. Er
muss Tag für Tag aufgebaut werden mit dem Ziel
einer von Gott gewollten Ordnung, die eine voll-
kommenere Gerechtigkeit unter den Menschen
193

20.4 Page 194

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herbeiführt«.179 Letztendlich hat ein Friede, der
nicht Frucht der Entwicklung der gesamten Ge-
sellschaft ist, nur wenig Zukunft. Immer werden
neue Konflikte und verschiedene Formen der
Gewalt gesät werden.
220.  In jeder Nation entfalten die Einwohner
die soziale Komponente ihres Lebens, indem sie
sich als verantwortliche Bürger im Schoß eines
Volkes verhalten und nicht als Masse, die sich
von herrschenden Kräften treiben lässt. Denken
wir daran, dass »die verantwortliche Wahrneh-
mung der Bürgerpflicht eine Tugend ist und die
Teilnahme am politischen Leben eine moralische
Verpflichtung bedeutet«.180 Um ein Volk zu wer-
den braucht es allerdings etwas mehr. Es ist ein
fortschreitender Prozess, an dem sich jede neue
Generation beteiligen muss. Es ist eine langsa-
me und anstrengende Aufgabe, die verlangt, dass
wir uns integrieren und bereit sind, geradezu eine
Kultur der Begegnung in einer vielgestaltigen
Harmonie zu entfalten lernen.
221.  Um mit dem Aufbau eines Volkes in
Frieden, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit fort-
zuschreiten, gibt es vier Prinzipien, die mit den
bipolaren Spannungen zusammenhängen, die
in jeder gesellschaftlichen Wirklichkeit vorkom-
179Paul VI., Enzykliky Populorum Progressio (26. März
1967), 76: AAS 59 (1967), 294-295.
180United States Conference of Catholic Bishops,
Pastoralbrief Forming Consciences for Faithful Citizenship (2007), 13.
194

20.5 Page 195

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men. Diese leiten sich von den Grundpfeilern
der kirchlichen Soziallehre (Menschenwürde,
Gemeinwohl, Subsidiarität, Solidarität) her, die
als »das erste und grundlegende Bezugssystem
für die Interpretation und Bewertung der gesell-
schaftlichen Entscheidungen«181 dienen. Im Licht
dessen möchte ich jetzt diese vier spezifischen
Prinzipien vorstellen, welche die Entwicklung
des sozialen Zusammenlebens und den Aufbau
eines Volkes leiten, wo die Verschiedenheiten
sich in einem gemeinsamen Vorhaben harmoni-
sieren. Ich bin davon überzeugt, dass die Anwen-
dung dieser Prinzipien in jeder Nation und auf
der ganzen Welt ein echter Weg zum Frieden hin
sein kann.
Die Zeit ist mehr wert als der Raum
222.  Es gibt eine bipolare Spannung zwischen
der Fülle und der Beschränkung. Die Fülle weckt
den Willen, sie ganz zu besitzen, während die
Beschränkung uns wie eine vor uns aufgerichtete
Wand erscheint. Die „Zeit”, im weiteren Sinne,
steht in Beziehung zur Fülle, und zwar als Aus-
druck für den Horizont, der sich vor uns auftut.
Zugleich ist der aktuelle Augenblick ein Aus-
druck für die Beschränkung, die man in einem
begrenzten Raum lebt. Die Bürger leben in der
Spannung zwischen dem Auf und Ab des Au-
genblicks und dem Licht der Zeit, dem größeren
181Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden,
Kompendium der Soziallehre der Kirche, 161.
195

20.6 Page 196

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Horizont, der Utopie, die uns für die Zukunft
öffnet, die uns als letzter Grund an sich zieht.
Daraus ergibt sich ein erstes Prinzip, um beim
Aufbau eines Volkes voranzuschreiten: Die Zeit
ist mehr wert als der Raum.
223.  Dieses Prinzip erlaubt uns, langfristig zu
arbeiten, ohne davon besessen zu sein, sofortige
Ergebnisse zu erzielen. Es hilft uns, schwierige
und widrige Situationen mit Geduld zu ertragen
oder Änderungen bei unseren Vorhaben hinzu-
nehmen, die uns die Dynamik der Wirklichkeit
auferlegt. Es lädt uns ein, die Spannung zwischen
Fülle und Beschränkung anzunehmen, indem wir
der Zeit die Priorität einräumen. Eine der Sün-
den, die wir gelegentlich in der sozialpolitischen
Tätigkeit beobachten, besteht darin, dem Raum
gegenüber der Zeit und den Abläufen Vorrang
zu geben. Dem Raum Vorrang geben bedeutet
sich vormachen, alles in der Gegenwart gelöst
zu haben und alle Räume der Macht und der
Selbstbestätigung in Besitz nehmen zu wollen.
Damit werden die Prozesse eingefroren. Man
beansprucht, sie aufzuhalten. Der Zeit Vorrang
zu geben bedeutet sich damit zu befassen, Pro-
zesse in Gang zu setzen anstatt Räume zu besitzen. Die
Zeit bestimmt die Räume, macht sie hell und ver-
wandelt sie in Glieder einer sich stetig ausdeh-
nenden Kette, ohne Rückschritt. Es geht darum,
Handlungen zu fördern, die eine neue Dynamik
in der Gesellschaft erzeugen und Menschen so-
wie Gruppen einbeziehen, welche diese voran-
treiben, auf dass sie bei wichtigen historischen
196

20.7 Page 197

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Ereignissen Frucht bringt. Dies geschehe ohne
Ängstlichkeit, sondern mit klaren Überzeugun-
gen und mit Entschlossenheit.
224.  Bisweilen frage ich mich, wer diese sind,
die sich in der heutigen Welt wirklich dafür ein-
setzen, Prozesse in Gang zu bringen, die ein Volk
aufbauen; nicht, um unmittelbare Ergebnisse zu
erhalten, die einen leichten politischen Ertrag
schnell und kurzlebig erbringen, aber nicht die
menschliche Fülle aufbauen. Die Geschichte
wird die letzteren vielleicht nach jenem Kriteri-
um beurteilen, das Romano Guardini dargelegt
hat: »Der Maßstab, an welchem eine Zeit allein
gerecht gemessen werden kann, ist die Frage, wie
weit in ihr, nach ihrer Eigenart und Möglichkeit,
die Fülle der menschlichen Existenz sich entfaltet und
zu echter Sinngebung gelangt«.182
225.  Dieses Kriterium lässt sich auch gut auf
die Evangelisierung anwenden, die uns dazu
aufruft, den größeren Horizont im Auge zu be-
halten und die geeigneten Prozesse mit langem
Atem anzugehen. Der Herr selbst hat in seinem
Leben auf dieser Erde seine Jünger oft darauf
aufmerksam gemacht, dass es Ereignisse geben
werde, die sie noch nicht verstehen könnten, dass
sie aber auf den Heiligen Geist warten sollten
(vgl. Joh 16, 12-13). Das Gleichnis vom Unkraut
im Weizen (vgl. Mt 13, 24-30) veranschaulicht
einen wichtigen Aspekt der Evangelisierung. Es
182Das Ende der Neuzeit, Würzburg 91965, S. 30-31.
197

20.8 Page 198

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zeigt uns, wie der Feind den Raum des Gottes-
reiches besetzen kann und Schaden mit dem Un-
kraut anrichtet. Er wird aber durch die Güte des
Weizens besiegt, was mit der Zeit offenbar wird.
Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt
226.  Der Konflikt darf nicht ignoriert oder
beschönigt werden. Man muss sich ihm stellen.
Aber wenn wir uns in ihn verstricken, verlieren
wir die Perspektive, unsere Horizonte werden
kleiner, und die Wirklichkeit selbst zerbröckelt.
Wenn wir im Auf und Ab der Konflikte verhar-
ren, verlieren wir den Sinn für die tiefe Einheit
der Wirklichkeit.
227.  Wenn ein Konflikt entsteht, schauen eini-
ge nur zu und gehen ihre Wege, als ob nichts pas-
siert wäre. Andere gehen in einer Weise darauf
ein, dass sie zu seinen Gefangenen werden, ih-
ren Horizont einbüßen und auf die Institutionen
ihre eigene Konfusion und Unzufriedenheit pro-
jezieren. Damit wird die Einheit unmöglich. Es
gibt jedoch eine dritte Möglichkeit, und dies ist
der beste Weg, dem Konflikt zu begegnen. Es ist
die Bereitschaft, den Konflikt zu erleiden, ihn zu
lösen und ihn zum Ausgangspunkt eines neuen
Prozesses zu machen. »Selig, die Frieden stiften«
(Mt 5, 9).
228.  Auf diese Weise wird es möglich sein,
dass sich aus dem Streit eine Gemeinschaft ent-
wickelt. Das kann aber nur durch die großen Per-
198

20.9 Page 199

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sönlichkeiten geschehen, die sich aufschwingen,
über die Ebene des Konflikts hinauszugehen und
den anderen in seiner tiefgründigsten Würde zu
sehen. Dazu ist es notwendig, sich auf ein Prin-
zip zu berufen, das zum Aufbau einer sozialen
Freundschaft unabdingbar ist, und dieses lautet:
Die Einheit steht über dem Konflikt. Die Solida-
rität, verstanden in ihrem tiefsten und am meis-
ten herausfordernden Sinn, wird zu einer Wei-
se, Geschichte in einem lebendigen Umfeld zu
schreiben, wo die Konflikte, die Spannungen und
die Gegensätze zu einer vielgestaltigen Einheit
führen können, die neues Leben hervorbringt.
Es geht nicht darum, für einen Synkretismus ein-
zutreten, und auch nicht darum, den einen im
anderen zu absorbieren, sondern es geht um eine
Lösung auf einer höheren Ebene, welche die
wertvollen innewohnenden Möglichkeiten und
die Polaritäten im Streit beibehält.
229.  Dieses Kriterium aus dem Evangelium er-
innert uns daran, dass Jesus alles in sich vereint
hat, Himmel und Erde, Gott und Mensch, Zeit
und Ewigkeit, Fleisch und Geist, Person und
Gesellschaft. Das Merkmal dieser Einheit und
Versöhnung aller Dinge in ihm ist der Friede.
Christus »ist unser Friede« (Eph 2,14). Die Bot-
schaft des Evangeliums beginnt immer mit dem
Friedensgruß, und der Friede krönt und festigt
in jedem Augenblick die Beziehungen zwischen
den Jüngern. Der Friede ist möglich, weil der
Herr die Welt und ihre beständige Konfliktgela-
denheit überwunden hat. Der Herr ist es ja, »der
199

20.10 Page 200

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Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut«
(Kol 1,20). Wenn wir uns diese biblischen Texte
aber genau anschauen, werden wir eines feststel-
len müssen: Der erste Bereich, wo wir aufgerufen
werden, diese Befriedung in der Verschiedenheit
zu vollziehen, ist unsere eigene Innerlichkeit, un-
ser eigenes Leben, das immer von einer dialekti-
schen Zersplitterung bedroht ist.183 Mit Herzen,
die in tausend Stücke zerbrochen sind, wird es
schwer sein, einen authentischen sozialen Frie-
den aufzubauen.
230.  Die Botschaft des Friedens ist nicht die ei-
nes ausgehandelten Friedens, sondern erwächst
aus der Überzeugung, dass die Einheit, die vom
Heiligen Geist kommt, alle Unterschiede in
Einklang bringen kann. Sie überwindet jeden
Konflikt in einer neuen und verheißungsvollen
Synthese. Die Verschiedenheit ist schön, wenn
sie es annimmt, beständig in einen Prozess der
Versöhnung einzutreten, und sogar eine Art Kul-
turvertrag zu schließen, der zu einer »versöhn-
ten Verschiedenheit« führt, wie es die Bischöfe
des Kongo formuliert haben: »Die Vielfalt der
Ethnien ist unser Reichtum [...] Nur in Einheit,
durch die Umkehr der Herzen und durch die
Versöhnung, können wir dazu beitragen, dass
unser Land weiterkommt«.184
183  Vgl. I. Quiles, S.I., Filosofía de la educación personalista,
Buenos Aires, 1981, 46-53.
184Comité permanent de la Conférence Episcopale
Nationale du Congo, Message sur la situation sécuritaire dans le
pays (5. Dezember 2012), 11.
200

21 Pages 201-210

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21.1 Page 201

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Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee
231.  Es gibt auch eine bipolare Spannung zwi-
schen der Idee und der Wirklichkeit. Die Wirk-
lichkeit ist etwas, das einfach existiert, die Idee
wird erarbeitet. Zwischen den beiden muss ein
ständiger Dialog hergestellt und so vermieden
werden, dass die Idee sich schließlich von der
Wirklichkeit löst. Es ist gefährlich, im Reich allein
des Wortes, des Bildes, des Sophismus zu leben.
Daraus folgt, dass ein drittes Prinzip postuliert
werden muss: Die Wirklichkeit steht über der
Idee. Das schließt ein, verschiedene Formen der
Verschleierung der Wirklichkeit zu vermeiden:
die engelhaften Purismen, die Totalitarismen des
Relativen, die in Erklärungen ausgedrückten No-
minalismen, die mehr formalen als realen Pro-
jekte, die geschichtswidrigen Fundamentalismen,
die Ethizismen ohne Güte, die Intellektualismen
ohne Weisheit.
232.  Die Idee – die begriffliche Ausarbeitung
– dient dazu, die Wirklichkeit zu erfassen, zu ver-
stehen und zu lenken. Die von der Wirklichkeit
losgelöste Idee ruft wirkungslose Idealismen und
Nominalismen hervor, die höchstens klassifizie-
ren oder definieren, aber kein persönliches En-
gagement hervorrufen. Was ein solches Enga-
gement auslöst, ist die durch die Argumentation
erhellte Wirklichkeit. Man muss vom formalen
Nominalismus zur harmonischen Objektivität
übergehen. Andernfalls wird die Wahrheit mani-
puliert, so wie man die Körperpflege durch Kos-
201

21.2 Page 202

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metik ersetzt.185 Es gibt Politiker – und auch re-
ligiöse Führungskräfte –, die sich fragen, warum
das Volk sie nicht versteht und ihnen nicht folgt,
wenn doch ihre Vorschläge so logisch und klar
sind. Wahrscheinlich ist das so, weil sie sich im
Reich der reinen Ideen aufhalten und die Politik
oder den Glauben auf die Rhetorik beschränkt
haben. Andere haben die Einfachheit vergessen
und von außen eine Rationalität importiert, die
den Leuten fremd ist.
233.  Die Wirklichkeit steht über der Idee. Die-
ses Kriterium ist verbunden mit der Inkarnation
des Wortes und seiner Umsetzung in die Pra-
xis: »Daran erkennt ihr den Geist Gottes: Jeder
Geist, der bekennt, Jesus Christus sei im Fleisch
gekommen, ist aus Gott« (1 Joh 4,2). Das Krite-
rium der Wirklichkeit – eines Wortes, das bereits
Fleisch angenommen hat und stets versucht, sich
zu „inkarnieren“ – ist wesentlich für die Evange-
lisierung. Es bringt uns einerseits dazu, die Ge-
schichte der Kirche als Heilsgeschichte zur Gel-
tung zu bringen, unserer Heiligen zu gedenken,
die das Evangelium im Leben unserer Völker
inkulturiert haben, die reiche zweitausendjährige
Tradition der Kirche aufzunehmen, ohne uns an-
zumaßen, eine von diesem Schatz getrennte Leh-
re zu entwickeln, als wollten wir das Evangelium
erfinden. Andererseits drängt uns dieses Kriteri-
um, das Wort in die Tat umzusetzen, Werke der
185  Vgl. Platon, Gorgias, 465.
202

21.3 Page 203

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Gerechtigkeit und Liebe zu vollbringen, in denen
dieses Wort fruchtbar ist. Das Wort nicht in die
Praxis umzusetzen, es nicht in die Wirklichkeit
zu führen bedeutet, auf Sand zu bauen, in der
reinen Idee verhaftet zu bleiben und in Formen
von Innerlichkeitskult und Gnostizismus zu ver-
fallen, die keine Frucht bringen und die Dynamik
des Wortes zur Sterilität verurteilen.
Das Ganze ist dem Teil übergeordnet
234.  Auch zwischen der Globalisierung und
der Lokalisierung entsteht eine Spannung. Man
muss auf die globale Dimension achten, um nicht
in die alltägliche Kleinlichkeit zu fallen. Zugleich
ist es nicht angebracht, das, was ortsgebunden ist
und uns mit beiden Beinen auf dem Boden der
Realität bleiben lässt, aus dem Auge zu verlieren.
Wenn die Pole miteinander vereint sind, verhin-
dern sie, in eines der beiden Extreme zu fallen:
das eine, dass die Bürger in einem abstrakten und
globalisierenden Universalismus leben, als an-
gepasste Passagiere im letzten Waggon, die mit
offenem Mund und programmiertem Applaus
das Feuerwerk der Welt bewundern, das anderen
gehört; das andere, dass sie ein folkloristisches
Museum ortsbezogener Eremiten werden, die
dazu verurteilt sind, immer dieselben Dinge zu
wiederholen, unfähig, sich von dem, was anders
ist, hinterfragen zu lassen und die Schönheit zu
bewundern, die Gott außerhalb ihrer Grenzen
verbreitet.
203

21.4 Page 204

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235.  Das Ganze ist mehr als der Teil, und es ist
auch mehr als ihre einfache Summe. Man darf
sich also nicht zu sehr in Fragen verbeißen, die
begrenzte Sondersituationen betreffen, sondern
muss immer den Blick ausweiten, um ein grö-
ßeres Gut zu erkennen, das uns allen Nutzen
bringt. Das darf allerdings nicht den Charakter
einer Flucht oder einer Entwurzelung haben. Es
ist notwendig, die Wurzeln in den fruchtbaren
Boden zu senken und in die Geschichte des ei-
genen Ortes, die ein Geschenk Gottes ist. Man
arbeitet im Kleinen, mit dem, was in der Nähe
ist, jedoch mit einer weiteren Perspektive. Eben-
so geschieht es mit einem Menschen, der seine
persönliche Eigenheit bewahrt und seine Iden-
tität nicht verbirgt, wenn er sich von Herzen in
eine Gemeinschaft einfügt: Er gibt sich nicht auf,
sondern empfängt immer neue Anregungen für
seine eigene Entwicklung. Es ist weder die glo-
bale Sphäre, die vernichtet, noch die isolierte Be-
sonderheit, die unfruchtbar macht.
236.  Das Modell ist nicht die Kugel, die den
Teilen nicht übergeordnet ist, wo jeder Punkt
gleich weit vom Zentrum entfernt ist und es kei-
ne Unterschiede zwischen dem einen und dem
anderen Punkt gibt. Das Modell ist das Polyeder,
welches das Zusammentreffen aller Teile wieder-
gibt, die in ihm ihre Eigenart bewahren. Sowohl
das pastorale als auch das politische Handeln
sucht in diesem Polyeder das Beste jedes Einzel-
nen zu sammeln. Dort sind die Armen mit ihrer
Kultur, ihren Plänen und ihren eigenen Möglich-
204

21.5 Page 205

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keiten eingegliedert. Sogar die Menschen, die we-
gen ihrer Fehler kritisiert werden können, haben
etwas beizutragen, das nicht verloren gehen darf.
Es ist der Zusammenschluss der Völker, die in
der Weltordnung ihre Besonderheit bewahren; es
ist die Gesamtheit der Menschen in einer Gesell-
schaft, die ein Gemeinwohl sucht, das wirklich
alle einschließt.
237.  Uns Christen sagt dieses Prinzip auch et-
was über das Ganze oder die Vollständigkeit des
Evangeliums, das die Kirche uns übermittelt und
das zu predigen sie uns sendet. Sein vollkomme-
ner Reichtum schließt alle ein: Akademiker und
Arbeiter, Unternehmer und Künstler, alle. Die
„Volksmystik“ nimmt auf ihre Weise das ganze
Evangelium auf und lässt es Gestalt annehmen,
indem sie ihm in Formen des Gebetes, der Brü-
derlichkeit, der Gerechtigkeit, des Kampfes und
des Festes Ausdruck verleiht. Die Frohe Bot-
schaft ist die Freude eines Vaters, der nicht will,
dass auch nur einer seiner Kleinen verloren geht.
So bricht die Freude im Guten Hirten auf, der
dem verlorenen Schaf begegnet und es in den
Schafstall zurückbringt. Das Evangelium ist ein
Sauerteig, der die gesamte Masse fermentiert,
und eine Stadt, die hoch auf dem Berg erstrahlt
und allen Völkern Licht bringt. Das Evangelium
besitzt ein ihm innewohnendes Kriterium der
Vollständigkeit: Es hört nicht auf, Frohe Bot-
schaft zu sein, solange es nicht allen verkündet
ist, solange es nicht alle Dimensionen des Men-
schen befruchtet und heilt und solange es nicht
205

21.6 Page 206

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alle Menschen beim Mahl des Gottesreiches ver-
eint. Das Ganze ist dem Teil übergeordnet.
IV. Der soziale Dialog
als Beitrag zum Frieden
238.  Die Evangelisierung schließt auch einen
Weg des Dialogs ein. Für die Kirche gibt es in
dieser Zeit besonders drei Bereiche des Dialogs,
in denen sie präsent sein muss, um einen Dienst
zugunsten der vollkommenen Entwicklung des
Menschen zu leisten und das Gemeinwohl zu ver-
folgen: im Dialog mit den Staaten, im Dialog mit
der Gesellschaft – der den Dialog mit den Kul-
turen und den Wissenschaften einschließt – und
im Dialog mit anderen Glaubenden, die nicht zur
katholischen Kirche gehören. In allen diesen Fäl-
len »spricht die Kirche von dem Licht her, das ihr
der Glaube schenkt«,186 bringt ihre Erfahrung aus
zwei Jahrtausenden ein und bewahrt immer das
Leben und Leiden der Menschen im Gedächt-
nis. Das geht über den menschlichen Verstand
hinaus, hat aber auch eine Bedeutung, die jene
bereichern kann, die nicht glauben, und die die
Vernunft einlädt, ihre Perspektiven zu erweitern.
239.  Die Kirche verkündet »das Evangelium
vom Frieden« (Eph 6,15) und ist für die Zusam-
menarbeit mit allen nationalen und internatio-
nalen Autoritäten offen, um für dieses so große
186Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Kurie (21.
Dezember 2012): AAS 105 (2013), 51.
206

21.7 Page 207

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universale Gut Sorge zu tragen. Mit der Verkün-
digung Jesu Christi, der der Friede selbst ist (vgl.
Eph 2,14), spornt die neue Evangelisierung jeden
Getauften an, ein Werkzeug der Befriedung und
ein glaubwürdiges Zeugnis eines versöhnten Le-
bens zu sein.187 Es ist Zeit, in Erfahrung zu brin-
gen, wie man in einer Kultur, die den Dialog als
Form der Begegnung bevorzugt, die Suche nach
Einvernehmen und Übereinkünften planen kann,
ohne sie jedoch von der Sorge um eine gerechte
Gesellschaft zu trennen, die erinnerungsfähig ist
und niemanden ausschließt. Der hauptsächliche
Urheber und der historische Träger dieses Pro-
zesses sind die Menschen und ihre Kultur, nicht
eine Klasse, eine Fraktion, eine Gruppe, eine Eli-
te. Wir brauchen keinen Plan einiger weniger für
einige wenige, oder einer erleuchteten bzw. stell-
vertretenden Minderheit, die sich ein Kollektiv-
empfinden aneignet. Es geht um ein Abkommen
für das Zusammenleben, um eine gesellschaftli-
che und kulturelle Übereinkunft.
240.  Dem Staat obliegt die Pflege und die För-
derung des Gemeinwohls der Gesellschaft.188
Auf der Grundlage der Prinzipien der Subsidia-
rität und der Solidarität sowie mit einem beacht-
lichen Engagement im politischen Dialog und in
der Konsensbildung spielt er eine fundamentale
187 Vgl. Propositio 14.
188  Vgl. Katechismus der katholischen Kirche, 1910. Päpstlicher
Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre
der Kirche, 168.
207

21.8 Page 208

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und nicht übertragbare Rolle in der Verfolgung
der ganzheitlichen Entwicklung aller. Diese Rol-
le erfordert unter den aktuellen Gegebenheiten
eine tiefe soziale Demut.
241.  Im Dialog mit dem Staat und der Gesell-
schaft verfügt die Kirche nicht über Lösungen
für alle Detailfragen. Dennoch begleitet sie ge-
meinsam mit den verschiedenen gesellschaftli-
chen Kräften die Vorschläge, die der Würde der
Person und dem Gemeinwohl am besten ent-
sprechen können. Dabei weist sie stets mit aller
Klarheit auf die Grundwerte des menschlichen
Lebens hin, um Überzeugungen zu vermitteln,
die dann in politisches Handeln umgesetzt wer-
den können.
Der Dialog zwischen Glaube, Vernunft und den Wissen-
schaften
242.  Auch der Dialog zwischen Wissenschaft
und Glaube ist Teil des evangelisierenden Han-
delns, das den Frieden fördert.189 Der Szientis-
mus und der Positivismus weigern sich, »neben
den Erkenntnisformen der positiven Wissen-
schaften andere Weisen der Erkenntnis als gültig
zuzulassen«.190 Die Kirche schlägt einen anderen
Weg vor, der eine Synthese verlangt zwischen
einem verantwortlichen Gebrauch der besonde-
189  Vgl. Propositio 54.
190Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14.
September 1998), 88: AAS 91 (1999), 74.
208

21.9 Page 209

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ren Methoden der empirischen Wissenschaften
und den anderen Lehren wie der Philosophie,
der Theologie und dem Glauben selbst, der den
Menschen bis zum Mysterium erhebt, das die
Natur und die menschliche Intelligenz übersteigt.
Der Glaube hat keine Angst vor der Vernunft;
im Gegenteil, er sucht sie und vertraut ihr, denn
»das Licht der Vernunft und das des Glaubens
kommen beide von Gott«191 und können daher
einander nicht widersprechen. Die Evangeli-
sierung achtet auf die wissenschaftlichen Fort-
schritte, um sie mit dem Licht des Glaubens und
des Naturrechts zu erleuchten, damit sie immer
die Zentralität und den höchsten Wert des Men-
schen in allen Phasen seines Lebens respektieren.
Die gesamte Gesellschaft kann bereichert wer-
den dank diesem Dialog, der dem Denken neue
Horizonte öffnet und die Möglichkeiten der Ver-
nunft erweitert. Auch das ist ein Weg der Har-
monie und der Befriedung.
243.  Die Kirche verlangt nicht, den bewun-
dernswerten Fortschritt der Wissenschaften an-
zuhalten. Im Gegenteil, sie freut sich und findet
sogar Gefallen daran, da sie die enorme Leis-
tungsfähigkeit erkennt, die Gott dem menschli-
chen Geist verliehen hat. Wenn die Wissenschaf-
ten in akademischer Ernsthaftigkeit im Bereich
191Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, I, VII; vgl.
Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14. September 1998),
43: AAS 91 (1999), 39.
209

21.10 Page 210

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ihres spezifischen Gegenstands verbleiben und
so im Zuge ihres Fortschritts eine bestimmte
Schlussfolgerung deutlich machen, die von der
Vernunft nicht verneint werden kann, wider-
spricht der Glaube diesem Ergebnis nicht. Die
Glaubenden können ebenso wenig beanspru-
chen, dass eine ihnen angenehme wissenschaft-
liche Meinung, die nicht einmal ausreichend be-
wiesen ist, das Gewicht eines Glaubensdogmas
gewinnt. Bei manchen Gelegenheiten gehen
aber einige Wissenschaftler über den formalen
Gegenstand ihrer Disziplin hinaus und über-
nehmen sich mit Behauptungen oder Schlussfol-
gerungen, die den eigentlich wissenschaftlichen
Bereich überschreiten. In einem solchen Fall ist
es nicht die Vernunft, die da vorgeschlagen wird,
sondern eine bestimmte Ideologie, die einem
echten, friedlichen und fruchtbaren Dialog den
Weg versperrt.
Der ökumenische Dialog
244.  Das ökumenische Engagement entspricht
dem Gebet Jesu, des Herrn, der darum bittet, dass
»Alle eins sein« sollen (Joh 17,21). Die Glaubwür-
digkeit der christlichen Verkündigung wäre sehr
viel größer, wenn die Christen ihre Spaltungen
überwinden würden und die Kirche erreichen
könnte, »dass sie die ihr eigene Fülle der Katho-
lizität in jenen Söhnen wirksam werden lässt, die
ihr zwar durch die Taufe zugehören, aber von
210

22 Pages 211-220

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22.1 Page 211

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ihrer völligen Gemeinschaft getrennt sind«.192
Wir müssen uns immer daran erinnern, dass wir
Pilger sind und dass wir gemeinsam pilgern. Da-
für soll man das Herz ohne Ängstlichkeit dem
Weggefährten anvertrauen, ohne Misstrauen,
und vor allem auf das schauen, was wir suchen:
den Frieden im Angesicht des einen Gottes. Sich
dem anderen anvertrauen ist etwas „Selbstge-
machtes“. Der Friede ist selbstgemacht. Jesus hat
uns gesagt: »Selig, die Frieden herstellen« (vgl. Mt
5,9). In diesem Einsatz erfüllt sich auch unter uns
die alte Weissagung: »Dann schmieden sie Pflug-
scharen aus ihren Schwertern« (Jes 2,4).
245.  In diesem Licht ist die Ökumene ein Bei-
trag zur Einheit der Menschheitsfamilie. Die
Anwesenheit Seiner Heiligkeit Bartholomäus I.,
des Patriarchen von Konstantinopel, und Sei-
ner Gnaden Rowan Douglas Williams, des Erz-
bischofs von Canterbury in der Synode193 war
ein echtes Geschenk Gottes und ein wertvolles
christliches Zeugnis.
246.  Angesichts der Gewichtigkeit, die das Ne-
gativ-Zeugnis der Spaltung unter den Christen
besonders in Asien und Afrika hat, wird die Su-
che nach Wegen zur Einheit dringend. Die Mis-
sionare in jenen Kontinenten sprechen immer
wieder von den Kritiken, Klagen und dem Spott,
192Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Unitatis
redintegratio über den Ökumenismus, 4.
193  Vgl. Propositio 52.
211

22.2 Page 212

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der ihnen aufgrund des Skandals der Spaltungen
unter den Christen begegnet. Wenn wir uns auf
die Überzeugungen konzentrieren, die uns ver-
binden, und uns an das Prinzip der Hierarchie
der Wahrheiten erinnern, werden wir rasch auf
gemeinsame Formen der Verkündigung, des
Dienstes und des Zeugnisses zugehen können.
Die riesige Menge derer, die die Verkündigung
Jesu Christi nicht angenommen haben, kann uns
nicht gleichgültig lassen. Daher ist der Einsatz
für eine Einheit, die die Annahme Jesu Christi
erleichtert, nicht länger bloße Diplomatie oder
eine erzwungene Pflichterfüllung und verwandelt
sich in einen unumgänglichen Weg der Evangeli-
sierung. Die Zeichen der Spaltung unter Christen
in Ländern, die bereits von der Gewalt zerrissen
sind, fügen weiteren Konfliktstoff von Seiten de-
rer hinzu, die ein aktives Ferment des Friedens
sein müssten. So zahlreich und so kostbar sind
die Dinge, die uns verbinden! Und wenn wir
wirklich an das freie und großherzige Handeln
des Geistes glauben, wie viele Dinge können wir
voneinander lernen! Es handelt sich nicht nur
darum, Informationen über die anderen zu er-
halten, um sie besser kennen zu lernen, sondern
darum, das, was der Geist bei ihnen gesät hat,
als ein Geschenk aufzunehmen, das auch für uns
bestimmt ist. Um nur ein Beispiel zu geben: Im
Dialog mit den orthodoxen Brüdern haben wir
Katholiken die Möglichkeit, etwas mehr über die
Bedeutung der bischöflichen Kollegialität und
über ihre Erfahrung der Synodalität zu lernen.
212

22.3 Page 213

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Durch einen Austausch der Gaben kann der
Geist uns immer mehr zur Wahrheit und zum
Guten führen.
Die Beziehungen zum Judentum
247.  Ein ganz besonderer Blick ist auf das jü-
dische Volk gerichtet, dessen Bund mit Gott nie-
mals aufgehoben wurde, denn »unwiderruflich
sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt«
(Röm 11,29). Die Kirche, die mit dem Judentum
einen wichtigen Teil der Heiligen Schrift gemein-
sam hat, betrachtet das Volk des Bundes und sei-
nen Glauben als eine heilige Wurzel der eigenen
christlichen Identität (vgl. Röm 11,16-18). Als
Christen können wir das Judentum nicht als eine
fremde Religion ansehen, noch rechnen wir die
Juden zu denen, die berufen sind, sich von den
Götzen abzuwenden und sich zum wahren Gott
zu bekehren (vgl. 1 Thess 1,9). Wir glauben ge-
meinsam mit ihnen an den einen Gott, der in der
Geschichte handelt, und nehmen mit ihnen das
gemeinsame offenbarte Wort an.
248.  Der Dialog und die Freundschaft mit den
Kindern Israels gehören zum Leben der Jünger
Jesu. Die Zuneigung, die sich entwickelt hat, lässt
uns die schrecklichen Verfolgungen, denen die
Juden ausgesetzt waren und sind, aufrichtig und
bitter bedauern, besonders, wenn Christen darin
verwickelt waren und sind.
213

22.4 Page 214

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249.  Gott wirkt weiterhin im Volk des Alten
Bundes und lässt einen Weisheitsschatz entste-
hen, der aus der Begegnung mit dem göttlichen
Wort entspringt. Darum ist es auch für die Kir-
che eine Bereicherung, wenn sie die Werte des
Judentums aufnimmt. Obwohl einige christliche
Überzeugungen für das Judentum unannehm-
bar sind und die Kirche nicht darauf verzichten
kann, Jesus als den Herrn und Messias zu ver-
künden, besteht eine reiche Komplementarität,
die uns erlaubt, die Texte der hebräischen Bi-
bel gemeinsam zu lesen und uns gegenseitig zu
helfen, die Reichtümer des Wortes Gottes zu
ergründen sowie viele ethische Überzeugungen
und die gemeinsame Sorge um die Gerechtigkeit
und die Entwicklung der Völker miteinander zu
teilen.
Der interreligiöse Dialog
250.  Eine Haltung der Offenheit in der Wahr-
heit und in der Liebe muss den interreligiösen
Dialog mit den Angehörigen der nicht christli-
chen Religionen kennzeichnen, trotz der ver-
schiedenen Hindernisse und Schwierigkeiten,
besonders der Fundamentalismen auf beiden
Seiten. Dieser interreligiöse Dialog ist eine not-
wendige Bedingung für den Frieden in der Welt
und darum eine Pflicht für die Christen wie auch
für die anderen Religionsgemeinschaften. Dieser
Dialog ist zuallererst ein Dialog des Lebens bzw.
bedeutet einfach, wie es die Bischöfe Indiens
214

22.5 Page 215

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vorschlagen, »ihnen gegenüber offen zu sein und
dabei ihre Freuden und Leiden zu teilen«.194 So
lernen wir auch, die anderen in ihrem Anders-
sein, Andersdenken und in ihrer anderen Art,
sich auszudrücken, anzunehmen. Von hier aus
können wir gemeinsam die Verpflichtung über-
nehmen, der Gerechtigkeit und dem Frieden zu
dienen, was zu einem grundlegenden Maßstab
eines jeden Austauschs werden muss. Ein Dia-
log, in dem es um den sozialen Frieden und die
Gerechtigkeit geht, wird über das bloß Pragma-
tische hinaus von sich aus zu einem ethischen
Einsatz, der neue soziale Bedingungen schafft.
Das Mühen um ein bestimmtes Thema kann zu
einem Prozess werden, in dem durch das Hören
auf den anderen beide Seiten Reinigung und Be-
reicherung empfangen. Daher kann dieses Mü-
hen auch die Liebe zur Wahrheit bedeuten.
251.  Bei diesem Dialog, der stets freundlich
und herzlich ist, darf niemals die wesentliche
Bindung zwischen Dialog und Verkündigung
vernachlässigt werden, die die Kirche dazu bringt,
die Beziehungen zu den Nicht-Christen aufrecht
zu erhalten und zu intensivieren.195 Ein versöhn-
licher Synkretismus wäre im Grunde ein Totali-
tarismus derer, die sich anmaßen, Versöhnung zu
bringen, indem sie von den Werten absehen, die
194Catholic Bishops’ Conference of India, Abschlus-
serklärung der XXX. Generalversammlung: The Church’s Role for
a Better India (8. März 2012), 8.9.
195  Vgl. Propositio 53.
215

22.6 Page 216

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sie übersteigen und deren Eigentümer sie nicht
sind. Die wahre Offenheit schließt ein, mit einer
klaren und frohen Identität in den eigenen tiefs-
ten Überzeugungen fest zu stehen, aber »offen
[zu] sein, um die des anderen zu verstehen«, »im
Wissen darum, dass der Dialog jeden bereichern
kann«.196 Eine diplomatische Offenheit, die zu
allem Ja sagt, um Probleme zu vermeiden, nützt
uns nicht, da dies eine Art und Weise wäre, den
anderen zu täuschen und ihm das Gut vorzuent-
halten, das man als Gabe empfangen hat, um es
großzügig zu teilen. Die Evangelisierung und der
interreligiöse Dialog sind weit davon entfernt,
einander entgegengesetzt zu sein, vielmehr un-
terstützen und nähren sie einander.197
252.  In dieser Zeit gewinnt die Beziehung zu
den Angehörigen des Islam große Bedeutung,
die heute in vielen Ländern christlicher Tradition
besonders gegenwärtig sind und dort ihren Kult
frei ausüben und in die Gesellschaft integriert
leben können. Nie darf vergessen werden, dass
sie »sich zum Glauben Abrahams bekennen und
mit uns den einen Gott anbeten, den barmherzi-
gen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten
wird«.198 Die heiligen Schriften des Islam bewah-
196Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris Missio (7.
Dezember 1990), 56: AAS 83 (1991), 304.
197  Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Kurie (21.
Dezember 2012): AAS 105 (2013), 51; Zweites Vatikanisches
Konzil, Dekret Ad gentes über die Missionstätigkeit der Kirche,
9; Katechismus der Katholischen Kirche, 856.
198Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen
gentium über die Kirche, 16.
216

22.7 Page 217

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ren Teile der christlichen Lehre; Jesus Christus
und Maria sind Gegenstand tiefer Verehrung, und
es ist bewundernswert zu sehen, wie junge und
alte Menschen, Frauen und Männer des Islams
fähig sind, täglich dem Gebet Zeit zu widmen
und an ihren religiösen Riten treu teilzunehmen.
Zugleich sind viele von ihnen tief davon über-
zeugt, dass das eigene Leben in seiner Gesamt-
heit von Gott kommt und für Gott ist. Ebenso
sehen sie die Notwendigkeit, ihm mit ethischem
Einsatz und mit Barmherzigkeit gegenüber den
Ärmsten zu antworten.
253.  Um den Dialog mit dem Islam zu führen,
ist eine entsprechende Bildung der Gesprächs-
partner unerlässlich, nicht nur damit sie fest und
froh in ihrer eigenen Identität verwurzelt sind,
sondern auch um fähig zu sein, die Werte der
anderen anzuerkennen, die Sorgen zu verstehen,
die ihren Forderungen zugrunde liegen, und
die gemeinsamen Überzeugungen ans Licht zu
bringen. Wir Christen müssten die islamischen
Einwanderer, die in unsere Länder kommen, mit
Zuneigung und Achtung aufnehmen, so wie wir
hoffen und bitten, in den Ländern islamischer
Tradition aufgenommen und geachtet zu werden.
Bitte! Ich ersuche diese Länder demütig darum, in
Anbetracht der Freiheit, welche die Angehörigen
des Islam in den westlichen Ländern genießen,
den Christen Freiheit zu gewährleisten, damit
sie ihren Gottesdienst feiern und ihren Glauben
leben können. Angesichts der Zwischenfälle ei-
nes gewalttätigen Fundamentalismus muss die
217

22.8 Page 218

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Zuneigung zu den authentischen Anhängern des
Islam uns dazu führen, gehässige Verallgemeine-
rungen zu vermeiden, denn der wahre Islam und
eine angemessene Interpretation des Korans ste-
hen jeder Gewalt entgegen.
254.  Die Nichtchristen können, dank der un-
geschuldeten göttlichen Initiative und wenn sie
treu zu ihrem Gewissen stehen, »durch Gottes
Gnade gerechtfertigt«199 und auf diese Weise »mit
dem österlichen Geheimnis Christi verbunden
werden«.200 Aber aufgrund der sakramentalen
Dimension der heiligmachenden Gnade neigt das
göttliche Handeln in ihnen dazu, Zeichen, Riten
und sakrale Ausdrucksformen hervorzurufen,
die ihrerseits andere in eine gemeinschaftliche
Erfahrung eines Weges zu Gott einbeziehen.201
Sie haben nicht die Bedeutung und die Wirksam-
keit der von Christus eingesetzten Sakramente,
können aber Kanäle sein, die der Geist selber
schafft, um die Nichtchristen vom atheistischen
Immanentismus oder von rein individuellen reli-
giösen Erfahrungen zu befreien. Derselbe Geist
erweckt überall Formen praktischer Weisheit, die
helfen, die Unbilden des Lebens zu ertragen und
friedvoller und harmonischer zu leben. Auch wir
Christen können aus diesem durch die Jahrhun-
derte hindurch gefestigten Reichtum Nutzen zie-
199Internationale Theologenkommission, Das Christen-
tum und die Religionen (1996), 72: Ench. Vat. 15, Nr. 1061.
200Ebd.
201  Vgl. ebd., 81-87: Ench. Vat. 15, Nr. 1070-1076.
218

22.9 Page 219

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hen, der uns hilfreich sein kann, unsere besonde-
ren Überzeugungen besser zu leben.
Der soziale Dialog in einem Kontext religiöser Freiheit
255.  Die Synodenväter haben an die Bedeutung
der Achtung der Religionsfreiheit erinnert, die
als ein fundamentales Menschenrecht betrachtet
wird.202 »Sie schließt die Freiheit ein, die Religion
zu wählen, die man für die wahre hält, und den
eigenen Glauben öffentlich zu bekunden.«203 Ein
gesunder Pluralismus, der die anderen und die
Werte als solche wirklich respektiert, beinhaltet
keine Privatisierung der Religionen mit der Zu-
mutung, sie zum Schweigen zu bringen und auf
die Verborgenheit des Gewissens jedes Einzel-
nen zu beschränken oder sie ins Randdasein des
geschlossenen, eingefriedeten Raums der Kir-
chen, Synagogen oder Moscheen zu verbannen.
Das wäre dann letztlich eine neue Form von Dis-
kriminierung und Autoritarismus. Der Respekt,
der den Minderheiten von Agnostikern oder
Nichtglaubenden gebührt, darf nicht auf eine
willkürliche Weise durchgesetzt werden, die die
Überzeugungen der gläubigen Mehrheiten zum
Schweigen bringt oder die Reichtümer der reli-
giösen Traditionen unbeachtet lässt. Das würde
202  Vgl. Propositio 16.
203Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches
Schreiben Ecclesia in Medio Oriente (14. September 2012), 26:
AAS 104 (2012), 762.
219

22.10 Page 220

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auf lange Sicht mehr den Groll schüren als die
Toleranz und den Frieden fördern.
256.  Wenn man sich nach der öffentlichen
Auswirkung der Religion fragt, muss man ver-
schiedene Weisen, sie zu leben, unterscheiden.
Sowohl Intellektuelle als auch journalistische
Kommentare fallen häufig in grobe und wenig
akademische Verallgemeinerungen, wenn sie von
den Fehlern der Religionen sprechen, und oft
sind sie nicht imstande zu unterscheiden, dass
nicht alle Glaubenden – noch alle religiösen Füh-
rungskräfte – gleich sind. Einige Politiker nutzen
diese Verwirrung, um diskriminierende Aktionen
zu rechtfertigen. Andere Male werden Schriften
verachtet, die im Bereich einer Glaubensüber-
zeugung entstanden sind, und man vergisst da-
bei, dass die klassischen religiösen Texte für alle
Zeiten von Bedeutung sein können und eine
motivierende Kraft besitzen, die immer neue
Horizonte öffnet, das Denken anregt, den Geist
weitet und das Feingefühl erhöht. Sie werden ver-
achtet wegen ihres Mangels an rationalistischer
Sichtweise. Ist es vernünftig und intelligent, sie in
die Verborgenheit zu verbannen, nur weil sie im
Kontext einer religiösen Überzeugung entstan-
den sind? Sie tragen zutiefst humanistische Prin-
zipien in sich, die einen rationalen Wert besitzen,
obwohl sie von Symbolen und religiösen Lehren
durchdrungen sind.
257.  Als Glaubende fühlen wir uns auch de-
nen nahe, die sich nicht als Angehörige einer
220

23 Pages 221-230

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23.1 Page 221

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religiösen Tradition bekennen, aber aufrichtig
nach der Wahrheit, der Güte und der Schönheit
suchen, die für uns ihren maximalen Ausdruck
und ihre Quelle in Gott finden. Wir empfinden
sie als wertvolle Verbündete im Einsatz zur Ver-
teidigung der Menschenwürde, im Aufbau eines
friedlichen Zusammenlebens der Völker und in
der Bewahrung der Schöpfung. Ein besonderer
Raum ist jener der sogenannten neuen Areopage
wie der „Vorhof der Heiden“, wo »Glaubende
und Nichtglaubende über die grundlegenden
Themen der Ethik, der Kunst und der Wissen-
schaft sowie über die Suche nach dem Trans-
zendenten miteinander ins Gespräch kommen
können«.204 Auch das ist ein Weg des Friedens
für unsere verwundete Welt.
258.  Ausgehend von einigen sozialen Themen,
die im Hinblick auf die Zukunft der Menschheit
wichtig sind, habe ich noch einmal versucht, die
unausweichliche soziale Dimension der Verkün-
digung des Evangeliums deutlich darzulegen, um
alle Christen zu ermutigen, sie in ihren Worten,
Verhaltensweisen und Taten immer zum Aus-
druck zu bringen.
204Propositio 55.
221

23.2 Page 222

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23.3 Page 223

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FÜNFTES KAPITEL
EVANGELISIERENDE MIT GEIST
259.  Evangelisierende mit Geist sind Verkün-
der des Evangeliums, die sich ohne Furcht dem
Handeln des Heiligen Geistes öffnen. Zu Pfings-
ten ließ der Heilige Geist die Apostel aus sich
selbst herausgehen und verwandelte sie in Ver-
künder der Großtaten Gottes, die ein jeder in
seiner Sprache zu verstehen begann. Der Heilige
Geist verleiht außerdem die Kraft, die Neuheit
des Evangeliums mit Freimut (parrhesía) zu ver-
künden, mit lauter Stimme, zu allen Zeiten und
an allen Orten, auch gegen den Strom. Rufen wir
ihn heute an, fest verankert im Gebet, ohne das
alles Tun ins Leere zu laufen droht und die Ver-
kündigung letztlich keine Seele hat. Jesus sucht
Verkünder des Evangeliums, welche die Frohe
Botschaft nicht nur mit Worten verkünden, son-
dern vor allem mit einem Leben, das in der Ge-
genwart Gottes verwandelt wurde.
260.  In diesem letzten Kapitel werde ich keine
Zusammenfassung der christlichen Spiritualität
bieten, noch große Themen wie das Gebet, die
eucharistische Anbetung oder die Feier des Glau-
bens entfalten, über die wir bereits wertvolle Tex-
te des Lehramtes und berühmte Schriften großer
Autoren haben. Ich beanspruche nicht, solchen
Reichtum zu ersetzen oder zu übertreffen. Ich
möchte einfach einige Überlegungen zum Geist
der neuen Evangelisierung darlegen.
223

23.4 Page 224

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261.  Wenn man sagt, etwas »hat Geist«, meint
man damit für gewöhnlich innere Beweggründe,
die das persönliche und gemeinschaftliche Han-
deln anspornen, motivieren, ermutigen und ihm
Sinn verleihen. Eine Evangelisierung mit Geist
unterscheidet sich sehr von einer Ansammlung
von Aufgaben, die als eine drückende Verpflich-
tung erlebt werden, die man bloß toleriert oder auf
sich nimmt als etwas, das den eigenen Neigungen
und Wünschen widerspricht. Wie wünschte ich
die richtigen Worte zu finden, um zu einer Etappe
der Evangelisierung zu ermutigen, die mehr Eifer,
Freude, Großzügigkeit, Kühnheit aufweist, die
ganz von Liebe erfüllt ist und von einem Leben,
das ansteckend wirkt! Aber ich weiß, dass keine
Motivation ausreichen wird, wenn in den Herzen
nicht das Feuer des Heiligen Geistes brennt. Eine
Evangelisierung mit Geist ist letztlich eine Evan-
gelisierung mit dem Heiligen Geist, denn er ist
die Seele der missionarischen Kirche. Bevor ich
einige Motivationen und spirituelle Anregungen
gebe, rufe ich einmal mehr den Heiligen Geist an;
ich bitte ihn, zu kommen und die Kirche zu er-
neuern, aufzurütteln, anzutreiben, dass sie kühn
aus sich herausgeht, um allen Völkern das Evan-
gelium zu verkünden.
I. Motivationen für einen neuen missionari-
schen Schwung
262.  Evangelisierende mit Geist sind Verkün-
der des Evangeliums, die beten und arbeiten.
224

23.5 Page 225

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Vom Gesichtspunkt der Evangelisierung aus
nützen weder mystische Angebote ohne ein star-
kes soziales und missionarisches Engagement
noch soziales oder pastorales Reden und Han-
deln ohne eine Spiritualität, die das Herz verwan-
delt. Diese aufspaltenden Teilangebote erreichen
nur kleine Gruppen und haben keine weitrei-
chende Durchschlagskraft, da sie das Evangeli-
um verstümmeln. Immer ist es notwendig, einen
inneren Raum zu pflegen, der dem Engagement
und der Tätigkeit einen christlichen Sinn ver-
leiht.205 Ohne längere Zeiten der Anbetung, der
betenden Begegnung mit dem Wort Gottes, des
aufrichtigen Gesprächs mit dem Herrn verlieren
die Aufgaben leicht ihren Sinn, werden wir vor
Müdigkeit und Schwierigkeiten schwächer und
erlischt der Eifer. Die Kirche braucht dringend
die Lunge des Gebets, und ich freue mich sehr,
dass in allen kirchlichen Einrichtungen die Ge-
betsgruppen, die Gruppen des Fürbittgebets
und der betenden Schriftlesung sowie die ewige
eucharistische Anbetung mehr werden. Zugleich
»gilt [es], die Versuchung einer intimistischen und
individualistischen Spiritualität zurückzuweisen,
die sich nicht nur mit den Forderungen der Lie-
be, sondern auch mit der Logik der Inkarnation
[…] schwer in Einklang bringe ließe.«206 Es be-
steht die Gefahr, dass einige Zeiten des Gebets
zur Ausrede werden, sein Leben nicht der Mis-
205  Vgl. Propositio, 36.
206Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo
Millennio ineunte (6. Januar 2011), 52: AAS 93 (2001), 304.
225

23.6 Page 226

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sion zu widmen, denn die Privatisierung des Le-
bensstils kann die Christen dazu führen, zu einer
falschen Spiritualität Zuflucht zu nehmen.
263.  Es ist förderlich, sich an die ersten Chris-
ten und die vielen Brüder und Schwestern im
Laufe der Geschichte zu erinnern, die von Freu-
de erfüllt und voller Mut waren, unermüdlich in
der Verkündigung und fähig zu großer tätiger
Ausdauer. Es gibt welche, die sich damit trösten
zu sagen, dass es heute schwieriger ist; allerdings
müssen wir zugeben, dass im Römischen Reich
die Lage weder für die Verkündigung des Evan-
geliums noch für den Kampf für die Gerechtig-
keit oder die Verteidigung der Menschenwürde
günstig war. Zu allen Zeiten der Geschichte gibt
es die menschliche Schwachheit, die krankhafte
Suche nach sich selbst, den bequemen Egois-
mus und schließlich die Begierde, die uns allen
auflauert. Diese gibt es immer, in der einen oder
anderen Form; sie rührt mehr von den mensch-
lichen Grenzen als von den Umständen her.
Sagen wir also nicht, dass es heute schwieriger
ist; es ist anders. Lernen wir indessen von den
Heiligen, die uns vorangegangen sind und die die
jeweiligen Schwierigkeiten ihrer Zeit angepackt
haben. Deswegen schlage ich euch vor, dass wir
einen Moment innehalten, um einige Motivatio-
nen wiederzugewinnen, die uns helfen, sie heute
nachzuahmen.207
207 Vgl. V. M. Fernández, Espiritualidad para la esperanza
activa. Acto de apertura del I Congreso Nacional de Doctrina
226

23.7 Page 227

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Die persönliche Begegnung mit der rettenden Liebe Jesu
264.  Der erste Beweggrund, das Evangelium zu
verkünden, ist die Liebe Jesu, die wir empfangen
haben; die Erfahrung, dass wir von ihm gerettet
sind, der uns dazu bewegt, ihn immer mehr zu
lieben. Aber was für eine Liebe ist das, die nicht
die Notwendigkeit verspürt, darüber zu sprechen,
geliebt zu sein, und dies zu zeigen und bekannt
zu machen? Wenn wir nicht den innigen Wunsch
verspüren, diese Liebe mitzuteilen, müssen wir
im Gebet verweilen und ihn bitten, dass er uns
wieder eine innere Ergriffenheit empfinden lässt.
Wir müssen ihn jeden Tag anflehen, seine Gnade
erbitten, dass er unser kaltes Herz aufbreche und
unser laues und oberflächliches Leben aufrüttle.
Wenn wir mit offenem Herzen vor ihm stehen
und zulassen, dass er uns anschaut, erkennen wir
diesen Blick der Liebe, den Natanael an dem Tag
entdeckte, als Jesus ihm begegnete und sagte:
»Ich habe dich unter dem Feigenbaum gesehen«
(Joh 1,48). Wie schön ist es, vor einem Kreuz zu
stehen oder vor dem Allerheiligsten zu knien und
einfach vor seinen Augen da zu sein! Wie gut tut
es uns, zuzulassen, dass er unser Leben wieder
anrührt und uns antreibt, sein neues Leben mit-
zuteilen! Was also geschieht, ist letztlich, dass wir
das, »was wir gesehen und gehört haben, […]
verkünden« (1 Joh 1,3). Die beste Motivation, sich
zu entschließen, das Evangelium mitzuteilen, be-
social de la Iglésia, Rosario (Argentinien) 2011, in: UCActualidad
142, (2011), 16.
227

23.8 Page 228

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steht darin, es voll Liebe zu betrachten, auf sei-
nen Seiten zu verweilen und es mit dem Herzen
zu lesen. Wenn wir es auf diese Weise angehen,
wird uns seine Schönheit in Staunen versetzen,
uns wieder und wieder faszinieren. Dazu ist es
notwendig, einen kontemplativen Geist wiederzu-
erlangen, der uns jeden Tag neu entdecken lässt,
dass wir Träger eines Gutes sind, das menschli-
cher macht und hilft, ein neues Leben zu führen.
Es gibt nichts Besseres, das man an die anderen
weitergeben kann.
265.  Das ganze Leben Jesu, seine Art, mit den
Armen umzugehen, seine Gesten, seine Kohä-
renz, seine tägliche und schlichte Großherzig-
keit und schließlich seine Ganzhingabe – alles ist
wertvoll und spricht zum eigenen Leben. Sooft
einer dies wieder entdeckt, ist er davon über-
zeugt, dass es genau das ist, was die anderen
brauchen, auch wenn sie es nicht erkennen: »Was
ihr verehrt, ohne es zu kennen, verkünde ich
euch« (Apg 17,23). Mitunter verlieren wir die Be-
geisterung für die Mission, wenn wir vergessen,
dass das Evangelium auf die tiefsten Bedürfnisse der
Menschen antwortet. Denn wir alle wurden für das
erschaffen, was das Evangelium uns anbietet: die
Freundschaft mit Jesus und die brüderliche Lie-
be. Wenn es gelingt, den wesentlichen Inhalt des
Evangeliums angemessen und schön zum Aus-
druck zu bringen, wird diese Botschaft sicher zu
den tiefsten Sehnsüchten der Herzen sprechen:
»Der Missionar geht […] von der Überzeugung
aus, dass sowohl bei den Einzelnen als auch bei
228

23.9 Page 229

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den Völkern durch das Wirken des Geistes schon
eine – wenn auch unbewusste – Erwartung da
ist, die Wahrheit über Gott, über den Menschen,
über den Weg zur Befreiung von Sünde und Tod
zu erfahren. Die Begeisterung bei der Verkündi-
gung Christi kommt von der Überzeugung, auf
diese Erwartung antworten zu können.«208
Die Begeisterung für die Evangelisierung
gründet in dieser Überzeugung. Wir haben ei-
nen Schatz an Leben und Liebe, der nicht trü-
gen kann, eine Botschaft, die nicht manipulieren
noch enttäuschen kann. Es ist eine Antwort, die
tief ins Innerste des Menschen hinab fällt und
ihn stützen und erheben kann. Es ist die Wahr-
heit, die nicht aus der Mode kommt, denn sie ist
in der Lage, dort einzudringen, wohin nichts an-
deres gelangen kann. Unsere unendliche Traurig-
keit kann nur durch eine unendliche Liebe geheilt
werden.
266.  Diese Überzeugung aber wird von der
eigenen, stets neuen Erfahrung getragen, seine
Freundschaft und seine Botschaft zu genießen.
Man kann eine hingebungsvolle Evangelisierung
nicht mit Ausdauer betreiben, wenn man nicht
aus eigener Erfahrung davon überzeugt ist, dass
es nicht das Gleiche ist, Jesus kennen gelernt zu
haben oder ihn nicht zu kennen, dass es nicht das
Gleiche ist, mit ihm zu gehen oder im Dunkeln
zu tappen, dass es nicht das Gleiche ist, auf ihn
208Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris missio (7.
Dezember 1990), 45: AAS 83 (1991), 292.
229

23.10 Page 230

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hören zu können oder sein Wort nicht zu ken-
nen, dass es nicht das Gleiche ist, ihn betrachten,
anbeten und in ihm ruhen zu können oder es
nicht tun zu können. Es ist nicht das Gleiche, zu
versuchen, die Welt mit seinem Evangelium auf-
zubauen oder es nur mit dem eigenen Verstand
zu tun. Wir wissen sehr wohl, dass das Leben mit
ihm viel erfüllter wird und dass es mit ihm leich-
ter ist, in allem einen Sinn zu finden. Deswegen
verkünden wir das Evangelium. Der wahre Mis-
sionar, der niemals aufhört, Jünger zu sein, weiß,
dass Jesus mit ihm geht, mit ihm spricht, mit ihm
atmet, mit ihm arbeitet. Er spürt, dass der leben-
dige Jesus inmitten der missionarischen Arbeit
bei ihm ist. Wenn einer Jesu Gegenwart nicht
im Herzen des missionarischen Einsatzes selbst
entdeckt, verliert er schnell die Begeisterung und
hört auf, dessen sicher zu sein, was er weitergibt;
es fehlt ihm an Kraft und Leidenschaft. Und ein
Mensch, der nicht überzeugt, begeistert, sicher,
verliebt ist, überzeugt niemanden.
267.  Mit Jesus vereint, suchen wir, was er sucht,
lieben wir, was er liebt. Letztlich suchen wir die
Ehre des Vaters und leben und handeln „zum
Lob seiner herrlichen Gnade (Eph 1,6). Wenn
wir uns rückhaltlos und beständig hingeben wol-
len, müssen wir über jede andere Motivation hin-
ausgehen. Dies ist das endgültige, tiefste, größte
Motiv, der letzte Grund und Sinn von allem an-
deren: Es geht um die Herrlichkeit des Vaters,
die Jesus während seines ganzen Lebens suchte.
Er ist der Sohn, der ewig glücklich mit seinem
230

24 Pages 231-240

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24.1 Page 231

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ganzen Sein »am Herzen des Vaters ruht« (Joh
1,18). Wenn wir Missionare sind, dann vor allem
deswegen, weil Jesus uns gesagt hat: »Mein Vater
wird dadurch verherrlich, dass ihr reiche Frucht
bringt« (Joh 15,8). Über all das hinaus, was uns
liegt oder nicht, was uns interessiert oder nicht,
uns nützlich ist oder nicht, über die engen Gren-
zen unserer Wünsche, unseres Verstehens und
unserer Beweggründe hinaus verkünden wir das
Evangelium zur größeren Ehre des Vaters, der
uns liebt.
Das geistliche Wohlgefallen, Volk zu sein
268.  Das Wort Gottes lädt uns auch ein zu er-
kennen, dass wir ein Volk sind: »Einst wart ihr
nicht sein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk«
(1 Petr 2,10). Um aus tiefster Seele Verkünder
des Evangeliums zu sein, ist es auch nötig, ein
geistliches Wohlgefallen daran zu finden, nahe
am Leben der Menschen zu sein, bis zu dem
Punkt, dass man entdeckt, dass dies eine Quelle
höherer Freude ist. Die Mission ist eine Leiden-
schaft für Jesus, zugleich aber eine Leidenschaft
für sein Volk. Wenn wir vor dem gekreuzigten
Jesus verweilen, erkennen wir all seine Liebe, die
uns Würde verleiht und uns trägt; wenn wir aber
nicht blind sind, beginnen wir zugleich wahrzu-
nehmen, dass dieser Blick Jesu sich weitet und
sich voller Liebe und innerer Glut auf sein gan-
zes Volk richtet. So entdecken wir wieder neu,
dass er uns als Werkzeug nehmen will, um sei-
231

24.2 Page 232

▲back to top
nem geliebten Volk immer näher zu kommen. Er
nimmt uns aus der Mitte des Volkes und sendet
uns zum Volk, sodass unsere Identität nicht ohne
diese Zugehörigkeit verstanden werden kann.
269.  Jesus selbst ist das Vorbild dieser Ent-
scheidung zur Verkündigung des Evangeliums,
die uns in das Herz des Volkes hineinführt. Wie
gut tut es uns, zu sehen, wie er allen so nahe ist!
Wenn Jesus mit jemandem sprach, sah er ihn in
tiefer liebevoller Zuneigung an: »Jesus sah ihn an
und liebte ihn« (Mk 10,21). Wir sehen ihn zu-
gänglich, als er sich dem Blinden auf dem Weg
nähert (vgl. Mk 10.46-52) und als er mit den
Sündern isst und trinkt (vgl. Mk 2,16), ohne sich
darum zu kümmern, dass einige ihn als Fresser
und Säufer betrachten (vgl. Mt 11,19). Wir sehen
ihn verfügbar, als er zulässt, dass eine Dirne seine
Füße salbt (vgl. Lk 7,36-50), oder als er Nikode-
mus des Nachts empfängt (vgl. Joh 3,1-15). Die
Hingabe Jesu am Kreuz ist nichts anderes als der
Höhepunkt dieses Stils, der sein ganzes Leben
prägte. Von seinem Vorbild fasziniert, möchten
wir uns vollständig in die Gesellschaft einglie-
dern, teilen wir das Leben mit allen, hören ihre
Sorgen, arbeiten materiell und spirituell mit ih-
nen in ihren Bedürfnissen, freuen uns mit denen,
die fröhlich sind, weinen mit denen, die weinen,
und setzen uns Seite an Seite mit den anderen
für den Aufbau einer neuen Welt ein. Aber wir
tun dies nicht aus Pflicht, nicht wie eine Last, die
uns aufreibt, sondern in einer persönlichen Ent-
232

24.3 Page 233

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scheidung, die uns mit Freude erfüllt und eine
Identität gibt.
270.  Zuweilen verspüren wir die Versuchung,
Christen zu sein, die einen sicheren Abstand zu
den Wundmalen des Herrn halten. Jesus aber
will, dass wir mit dem menschlichen Elend in
Berührung kommen, dass wir mit dem leiden-
den Leib der anderen in Berührung kommen.
Er hofft, dass wir darauf verzichten, unsere per-
sönlichen oder gemeinschaftlichen Zuflüchte zu
suchen, die uns erlauben, gegenüber dem Kern
des menschlichen Leids auf Distanz zu bleiben,
damit wir dann akzeptieren, mit dem konkreten
Leben der anderen ernsthaft in Berührung zu
kommen und die Kraft der Zartheit kennen ler-
nen. Wenn wir das tun, wird das Leben für uns
wunderbar komplex, und wir machen die tiefe
Erfahrung, Volk zu sein, die Erfahrung, zu ei-
nem Volk zu gehören.
271.  Es ist wahr, dass wir in unserer Bezie-
hung mit der Welt aufgefordert sind, Rede und
Antwort zu stehen für unsere Hoffnung, aber
nicht als Feinde, die anzeigen und verurteilen.
Sehr klar werden wir ermahnt: »Aber antwortet
bescheiden und ehrfürchtig« (1 Petr 3,16), und:
»Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Men-
schen Frieden!« (Röm 12,18). Ebenso werden wir
aufgefordert zu versuchen, »das Böse durch das
Gute« zu besiegen (Röm 12,21), ohne müde zu
werden, »das Gute zu tun« (Gal 6,9), und ohne
höher erscheinen zu wollen, »sondern in Demut
233

24.4 Page 234

▲back to top
schätze der eine den andern höher ein als sich
selbst« (Phil 2,3). Tatsächlich waren die Apostel
des Herrn »beim ganzen Volk beliebt« (Apg 2,47;
vgl. 4,21.33; 5,13). Es ist klar, dass Jesus Chris-
tus uns nicht als Fürsten will, die abfällig her-
abschauen, sondern als Männer und Frauen des
Volkes. Das ist nicht die Meinung eines Papstes,
noch eine pastorale Option unter möglichen an-
deren. Es sind so klare, direkte und überzeugen-
de Weisungen des Wortes Gottes, dass sie kei-
ner Interpretation bedürfen, die ihnen nur ihre
mahnende Kraft nehmen würden. Leben wir sie
»sine glossa« – ohne Kommentare. Auf diese Wei-
se erfahren wir die missionarische Freude, das
Leben mit dem Volk zu teilen, das Gott treu ist,
und versuchen zugleich, das Feuer im Herzen der
Welt zu entzünden.
272.  Die Liebe zu den Menschen ist eine geist-
liche Kraft, welche die volle Begegnung mit Gott
erleichtert, denn wer den Bruder nicht liebt, »geht
in der Finsternis« (1 Joh 2,11), »bleibt im Tod«
(1 Joh 3,14) und »hat Gott nicht erkannt« (1 Joh
4,8). Benedikt XVI. sagte, »dass die Abwendung
vom Nächsten auch für Gott blind macht«209 und
dass die Liebe letztlich das einzige Licht ist, »das
eine dunkle Welt immer wieder erhellt und uns
den Mut zum Leben und zum Handeln gibt.«210
Wenn wir daher die „Mystik“ leben, auf die an-
209Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (25.
Dezember 2005), 16: AAS 98 (2006), 230.
210Ibid., 39: AAS 98 (2006), 250.
234

24.5 Page 235

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deren zuzugehen und ihr Wohl zu suchen, weiten
wir unser Inneres, um die schönsten Geschenke
des Herrn zu empfangen. Jedes Mal wenn wir ei-
nem Menschen in Liebe begegnen, werden wir
fähig, etwas Neues von Gott zu entdecken. Je-
des Mal wenn wir unsere Augen öffnen, um den
anderen zu erkennen, wird unser Glaube weiter
erleuchtet, um Gott zu erkennen. Infolgedes-
sen können wir, wenn wir im geistlichen Leben
wachsen wollen, nicht darauf verzichten, missio-
narisch zu sein. Die Aufgabe der Evangelisierung
bereichert Herz und Sinn, eröffnet uns geistliche
Horizonte, macht uns empfänglicher, um das
Wirken des Heiligen Geistes zu erkennen, und
führt uns aus unseren engen geistlichen Schablo-
nen heraus. Gleichzeitig erfährt ein engagierter
Missionar die Freude, eine Quelle zu sein, die
überfließt und die anderen erfrischt. Missionar
kann nur sein, wer sich wohl fühlt, wenn er das
Wohl des anderen sucht, das Glück der anderen
will. Diese Öffnung des Herzens ist ein Quell
des Glücks, denn »geben ist seliger als nehmen«
(Apg 20,35). Keiner hat ein besseres Leben, wenn
er die anderen flieht, sich versteckt, sich weigert
teilzunehmen, widersteht zu geben, sich in sei-
ne Bequemlichkeit einschließt. Dies kommt viel-
mehr einem langsamen Selbstmord gleich.
273.  Die Mission im Herzen des Volkes ist
nicht ein Teil meines Lebens oder ein Schmuck,
den ich auch wegnehmen kann; sie ist kein An-
hang oder ein zusätzlicher Belang des Lebens. Sie
235

24.6 Page 236

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ist etwas, das ich nicht aus meinem Sein ausrei-
ßen kann, außer ich will mich zerstören. Ich bin
eine Mission auf dieser Erde, und ihretwegen bin
ich auf dieser Welt. Man muss erkennen, dass
man selber „gebrandmarkt” ist für diese Missi-
on, Licht zu bringen, zu segnen, zu beleben, auf-
zurichten, zu heilen, zu befreien. Da zeigt sich,
wer aus ganzer Seele Krankenschwester, aus gan-
zer Seele Lehrer, aus ganzer Seele Politiker ist
– diejenigen, die sich zutiefst dafür entschieden
haben, bei den anderen und für die anderen da
zu sein. Wenn hingegen einer die Pflicht auf der
einen Seite und die Privatsphäre auf der anderen
Seite voneinander trennt, dann wird alles grau,
und er wird ständig Anerkennung suchen oder
seine eigenen Bedürfnisse verteidigen. So wird er
aufhören, „Volk“ zu sein.
274.  Um das Leben mit den Menschen zu teilen
und uns ihnen großherzig zu widmen, müssen
wir auch anerkennen, dass jeder Mensch unserer
Hingabe würdig ist. Nicht wegen seiner körperli-
chen Gestalt, seiner Fähigkeiten, seiner Sprache,
seines Denkens oder der Befriedigung, die wir
erhalten, sondern weil er Werk Gottes, sein Ge-
schöpf ist. Dieser hat ihn als sein Abbild erschaf-
fen, und er spiegelt etwas von Gottes Herrlichkeit
wider. Jeder Mensch ist Objekt der unendlichen
zarten Liebe des Herrn, und er selbst wohnt in
seinem Leben. Jesus Christus hat sein kostbares
Blut am Kreuz für diesen Menschen vergossen.
Jenseits aller äußeren Erscheinung ist jeder unend-
236

24.7 Page 237

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lich heilig und verdient unsere Liebe und unsere Hingabe.
Deswegen, wenn ich es schaffe, nur einem Men-
schen zu helfen, ein besseres Leben zu haben,
rechtfertigt dies schon den Einsatz meines Le-
bens. Es ist schön, gläubiges Volk Gottes zu sein.
Und die Fülle erreichen wir, wenn wir die Wände
einreißen und sich unser Herz mit Gesichtern
und Namen füllt!
Das geheimnisvolle Wirken des Auferstandenen und sei-
nes Geistes
275.  Im zweiten Kapitel haben wir über den
Mangel an tiefer Spiritualität nachgedacht, der im
Pessimismus, Fatalismus und Misstrauen seinen
Niederschlag findet. Manche Menschen setzen
sich nicht für die Mission ein, da sie meinen, dass
nichts verändert werden kann, und es ihnen dann
sinnlos erscheint, sich anzustrengen. Sie denken
so: „Warum soll ich auf meine Annehmlichkei-
ten und Vergnügen verzichten, wenn ich kein be-
deutendes Ergebnis sehen werde?“ Mit solcher
Haltung wird es unmöglich, Missionar zu sein.
Diese Haltung ist gerade eine üble Ausrede, um
in der Bequemlichkeit, in der Faulheit, in der un-
befriedigten Traurigkeit und der selbstsüchtigen
Leere eingeschlossen zu bleiben. Es handelt sich
um eine selbstzerstörerische Haltung, denn »der
Mensch kann nicht ohne Hoffnung leben; sein
Leben wäre zur Bedeutungslosigkeit verurteilt
237

24.8 Page 238

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und würde unerträglich.«211 Wenn wir denken,
die Dinge werden sich nicht ändern, dann erin-
nern wir uns daran, dass Jesus Christus die Sünde
und den Tod besiegt hat und voller Macht ist.
Jesus Christus lebt wirklich. Anders hieße das:
»Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann
ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube
sinnlos« (1 Kor 15,14). Das Evangelium berichtet
uns, was geschah, als die ersten Jünger auszogen
und predigten: »Der Herr stand ihnen bei und
bekräftigte die Verkündigung (Mk 16,20). Das
geschieht auch heute. Wir sind eingeladen, es zu
entdecken, es zu leben. Der auferstandene und
verherrlichte Christus ist die tiefe Quelle unse-
rer Hoffnung, und wir werden nicht ohne seine
Hilfe sein, um die Mission zu erfüllen die er uns
anvertraut.
276.  Seine Auferstehung gehört nicht der Ver-
gangenheit an; sie beinhaltet eine Lebenskraft,
die die Welt durchdrungen hat. Wo alles tot zu
sein scheint, sprießen wieder überall Anzeichen
der Auferstehung hervor. Es ist eine unvergleich-
liche Kraft. Es ist wahr, dass es oft so scheint,
als existiere Gott nicht: Wir sehen Ungerechtig-
keit, Bosheit, Gleichgültigkeit und Grausamkeit,
die nicht aufhören. Es ist aber auch gewiss, dass
mitten in der Dunkelheit immer etwas Neues
aufkeimt, das früher oder später Frucht bringt.
Auf einem eingeebneten Feld erscheint wieder
211II. Sonderversammlung der Bischofssynode für
Europa, Schlussbotschaft, 1: L’Osservatore Romano (dt.), Jg. 29, Nr.
46 (12. November 1999), S. 10.
238

24.9 Page 239

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das Leben, hartnäckig und unbesiegbar. Es mag
viel Dunkles geben, doch das Gute neigt dazu,
immer wiederzukommen, aufzukeimen und sich
auszubreiten. Jeden Tag wird in der Welt die
Schönheit neu geboren, die durch die Stürme
der Geschichte verwandelt wieder aufersteht.
Die Werte tendieren dazu, immer wieder auf
neue Weise zu erscheinen, und tatsächlich ist der
Mensch oft aus dem, was unumkehrbar schien,
zu neuem Leben erstanden. Das ist die Kraft der
Auferstehung, und jeder Verkünder des Evange-
liums ist ein Werkzeug dieser Dynamik.
277.  Ebenso treten ständig neue Schwierig-
keiten auf, die Erfahrung des Misserfolgs, die
menschlichen Kleinlichkeiten, die sehr wehtun.
Wir alle wissen aus Erfahrung, dass manchmal
eine Aufgabe nicht die Befriedigung bietet, die
wir wünschten, die Ergebnisse gering sind und
die Veränderungen langsam; man ist versucht,
überdrüssig zu werden. Jedoch ist es nicht das
Gleiche, wenn einer aus Überdruss die Arme
vorübergehend hängen lässt oder wenn er sie
für immer hängen lässt, weil er von einer chro-
nischen Unzufriedenheit beherrscht wird, von
einer Trägheit, welche seine Seele austrocknet.
Es kann vorkommen, dass das Herz des Ringens
überdrüssig wird, weil es im Grunde sich selbst
sucht in einem Karrierestreben, das nach An-
erkennung, Beifall, Auszeichnungen und Rang
dürstet. Dann lässt einer nicht die Arme hängen,
sondern hat kein Charisma mehr, es fehlt ihm
die Auferstehung. So bleibt das Evangelium, die
239

24.10 Page 240

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schönste Botschaft, die diese Welt hat, unter vie-
len Ausreden begraben.
278.  Glaube bedeutet auch, Gott zu glauben,
zu glauben, dass es wahr ist, dass er uns liebt,
dass er lebt, dass er fähig ist, auf geheimnisvol-
le Weise einzugreifen, dass er uns nicht verlässt,
dass er in seiner Macht und seiner unendlichen
Kreativität Gutes aus dem Bösen hervorgehen
lässt. Es bedeutet zu glauben, dass er siegreich in
der Geschichte fortschreitet zusammen mit den
»Berufenen, Auserwählten und Treuen« (Offb
17,14). Glauben wir dem Evangelium, das sagt,
dass das Reich Gottes schon in der Welt da ist,
hier und dort auf verschiedene Art und Weise
wächst – wie das kleine Samenkorn, das zu einem
großen Baum werden kann (vgl. Mt 13,31-32),
wie die Hand voll Sauerteig, der eine große Mas-
se durchsäuert (vgl. Mt 13,33), und wie der gute
Samen, der mitten unter dem Unkraut wächst
(vgl. Mt 13,24-30) – und uns immer angenehm
überraschen kann. Es ist da, es kommt wieder, es
kämpft, um von neuem zu blühen. Die Auferste-
hung Christi bringt überall Keime dieser neuen
Welt hervor; und selbst wenn sie abgeschnitten
werden, treiben sie wieder aus, denn die Auf-
erstehung des Herrn hat schon das verborgene
Treiben dieser Geschichte durchdrungen, denn
Jesus ist nicht umsonst auferstanden. Bleiben wir
in diesem Lauf der lebendigen Hoffnung keine
Randfiguren!
240

25 Pages 241-250

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25.1 Page 241

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279.  Da wir nicht immer diese aufkeimenden
Sprossen sehen, brauchen wir eine innere Gewiss-
heit und die Überzeugung, dass Gott in jeder Si-
tuation handeln kann, auch inmitten scheinbarer
Misserfolge, denn »diesen Schatz tragen wir in
zerbrechlichen Gefäßen« (2 Kor 4,7). Diese Ge-
wissheit ist das, was »Sinn für das Mysterium«
genannt wird. Es bedeutet, mit Bestimmtheit zu
wissen, dass sicher Frucht bringen wird (vgl. Joh
15,5), wer sich Gott aus Liebe darbringt und sich
ihm hingibt. Diese Fruchtbarkeit ist oft nicht
sichtbar, nicht greifbar und kann nicht gemessen
werden. Man weiß wohl, dass das eigene Leben
Frucht bringen wird, beansprucht aber nicht zu
wissen wie, wo oder wann. Man hat die Sicher-
heit, dass keine der Arbeiten, die man mit Liebe
verrichtet hat, verloren geht, dass keine der ehrli-
chen Sorgen um den Nächsten, keine Tat der Lie-
be zu Gott, keine großherzige Mühe, keine leid-
volle Geduld verloren ist. All das kreist um die
Welt als eine lebendige Kraft. Manchmal kommt
es uns vor, als habe unsere Arbeit kein Ergebnis
gebracht, aber die Mission ist weder ein Geschäft
noch ein unternehmerisches Projekt, sie ist keine
humanitäre Organisation, keine Veranstaltung,
um zu zählen, wie viele dank unserer Propaganda
daran teilgenommen haben; es ist etwas viel Tie-
feres, das sich jeder Messung entzieht. Vielleicht
verwendet der Herr unsere Hingabe, um Segen
zu spenden an einem anderen Ort der Welt, wo
wir niemals hinkommen werden. Der Heilige
241

25.2 Page 242

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Geist handelt wie er will, wann er will und wo
er will; wir aber setzen uns ohne den Anspruch
ein, auffällige Ergebnisse zu sehen. Wir wissen
nur, dass unsere Hingabe notwendig ist. Lernen
wir, in den zärtlichen Armen des Vaters zu ru-
hen, inmitten unserer kreativen und großherzi-
gen Hingabe. Machen wir weiter, geben wir ihm
alles, aber lassen wir zu, dass er es ist, der unsere
Mühen fruchtbar macht, wie es ihm gefällt.
280.  Um den missionarischen Eifer lebendig
zu halten, ist ein entschiedenes Vertrauen auf
den Heiligen Geist vonnöten, denn er »nimmt
sich unserer Schwachheit an« (Röm 8,26). Aber
dieses großherzige Vertrauen muss genährt wer-
den, und dafür müssen wir den Heiligen Geist
beständig anrufen. Er kann alles heilen, was
uns im missionarischen Bemühen schwächt.
Es ist wahr, dass dieses Vertrauen auf den Un-
sichtbaren in uns ein gewisses Schwindelgefühl
hervorrufen kann: Es ist wie ein Eintauchen in
ein Meer, wo wir nicht wissen, was auf uns zu
kommen wird. Ich selbst habe das viele Male er-
lebt. Es gibt aber keine größere Freiheit, als sich
vom Heiligen Geist tragen zu lassen, darauf zu
verzichten, alles berechnen und kontrollieren zu
wollen, und zu erlauben, dass er uns erleuchtet,
uns führt, uns Orientierung gibt und uns treibt,
wohin er will. Er weiß gut, was zu jeder Zeit und
in jedem Moment notwendig ist. Das heißt, in
geheimnisvoller Weise fruchtbar sein!
242

25.3 Page 243

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Die missionarische Kraft des Fürbittgebets
281.  Es gibt eine Gebetsform, die uns beson-
ders anspornt, uns der Evangelisierung zu wid-
men, und uns motiviert, das Wohl der anderen zu
suchen: das Fürbittgebet. Schauen wir für einen
Augenblick in das Innere eines großen Evangeli-
sierers wie des heiligen Paulus, um zu verstehen,
wie sein Gebet war. Dieses Gebet war angefüllt
mit Menschen: »Immer, wenn ich für euch alle
bete, tue ich es mit Freude […] weil ich euch ins
Herz geschlossen habe« (Phil 1,4.7). So entde-
cken wir, dass uns das Fürbittgebet nicht von der
echten Betrachtung abbringt, denn die Betrach-
tung, welche die anderen draußen lässt, ist eine
Täuschung.
282.  Diese Haltung wird auch zu einem Dank
an Gott für die anderen: »Zunächst danke ich
meinem Gott durch Jesus Christus für euch alle«
(Röm 1,8). Es ist ein beständiges Danken: »Ich
danke Gott jederzeit euretwegen für die Gna-
de Gottes, die euch in Christus Jesus geschenkt
wurde« (1 Kor 1,4). »Ich danke meinem Gott jedes
Mal, wenn ich an euch denke« (Phil 1,3). Es ist
kein ungläubiger, negativer und hoffnungsloser
Blick, sondern ein geistlicher Blick aus tiefem
Glauben, der anerkennt, was Gott selbst in ihnen
wirkt. Zugleich ist es die Dankbarkeit, die einem
Herzen entspringt, das wirklich aufmerksam ist
gegenüber den anderen. Auf diese Weise ist das
Herz des Evangelisierenden, wenn er sich vom
Gebet erhebt, großzügiger geworden, befreit von
243

25.4 Page 244

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einer abgeschotteten Geisteshaltung und begie-
rig, das Gute zu tun und das Leben mit den an-
deren zu teilen.
283.  Die großen Männer und Frauen Gottes
waren große Fürbitter. Das Fürbittgebet ist wie
ein „Sauerteig“ im Schoß der Dreifaltigkeit. Es
ist ein Eingehen in den Vater und ein Entde-
cken neuer Dimensionen, welche die konkreten
Situationen erhellen und verändern. Wir können
sagen, dass das Herz Gottes durch unser Fürbitt-
gebet gerührt wird, aber in Wirklichkeit kommt
er uns immer zuvor, und was wir mit unserem
Fürbittgebet ermöglichen, ist, dass seine Macht,
seine Liebe und seine Treue sich mit größerer
Klarheit unter dem Volk zeigen.
II. Maria, die Mutter der Evangelisierung
284.  Zusammen mit dem Heiligen Geist ist
mitten im Volk immer Maria. Sie versammelt die
Jünger, um ihn anzurufen (Apg 1,14), und so hat
sie die missionarische Explosion zu Pfingsten
möglich gemacht. Maria ist die Mutter der mis-
sionarischen Kirche, und ohne sie können wir
den Geist der neuen Evangelisierung nie ganz
verstehen.
Ein Geschenk Jesu an sein Volk
285.  Am Kreuz, als Jesus in seinem Fleisch die
dramatische Begegnung zwischen der Sünde der
Welt und dem Erbarmen Gottes erlitt, konnte er
244

25.5 Page 245

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zu seinen Füßen die tröstliche Gegenwart seiner
Mutter und seines Freundes sehen. In diesem
entscheidenden Augenblick, ehe er das Werk
vollbrachte, das der Vater ihm aufgetragen hatte,
sagte Jesus zu Maria: »Frau, siehe, dein Sohn!«
Dann sagte er zum geliebten Freund: »Siehe, dei-
ne Mutter!« (Joh 19,26.27). Diese Worte Jesu an
der Schwelle des Todes drücken in erster Linie
nicht eine fromme Sorge um seine Mutter aus,
sondern sind vielmehr eine Aussage der Offen-
barung, die das Geheimnis einer besonderen
Heilssendung zum Ausdruck bringt. Jesus hin-
terließ uns seine Mutter als unsere Mutter. Erst
nachdem er das getan hatte, konnte Jesus spüren,
dass »alles vollbracht war« (Joh 19,28). Zu Füssen
des Kreuzes, in der höchsten Stunde der neuen
Schöpfung führt uns Christus zu Maria. Er führt
uns zu ihr, da er nicht will, dass wir ohne eine
Mutter gehen, und das Volk liest in diesem müt-
terlichen Bild alle Geheimnisse des Evangeliums.
Dem Herrn gefällt es nicht, dass seiner Kirche
das weibliche Bild fehlt. Maria, die ihn in gro-
ßem Glauben zur Welt brachte, begleitet auch
»ihre übrigen Nachkommen, die den Geboten
Gottes gehorchen und an dem Zeugnis für Jesus
festhalten« (Offb 12,17). Die innere Verbindung
zwischen Maria, der Kirche und jedem Gläubi-
gen, insofern sie auf verschiedene Art und Weise
Christus hervorbringen, wurde vom seligen Isaak
von Stella sehr schön zum Ausdruck gebracht:
»Was daher in den von Gott inspirierten Schrif-
ten von der jungfräulichen Mutter Kirche in
245

25.6 Page 246

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umfassendem Sinn gesagt wird, das gilt von der
Jungfrau Maria im Einzelnen. […] Leicht erkennt
der Verstand in beiden auch die glaubende Seele,
die Braut des Wortes Gottes, die Mutter Christi,
Tochter und Schwester, Jungfrau und fruchtba-
re Mutter. […] Im Mutterschoß Marias als sei-
nem Zelt weilte Christus neun Monate; im Zelt
der glaubenden Kirche bis ans Ende der Welt; in
der Erkenntnis und Liebe der glaubenden Seele
bleibt er auf ewig.«212
286.  Maria versteht es, mit ein paar ärmlichen
Windeln und einer Fülle zärtlicher Liebe einen
Tierstall in das Haus Jesu zu verwandeln. Sie ist
die Magd des Vaters, die in Lobpreis ausbricht.
Sie ist die Freundin, die stets aufmerksam ist,
dass der Wein in unserem Leben nicht fehlt. Sie,
deren Herz von einem Schwert durchdrungen
wurde, versteht alle Nöte. Als Mutter von allen
ist sie Zeichen der Hoffnung für die Völker, die
Geburtswehen leiden, bis die Gerechtigkeit her-
vorbricht. Sie ist die Missionarin, die uns nahe
kommt, um uns im Leben zu begleiten, und da-
bei in mütterlicher Liebe die Herzen dem Glau-
ben öffnet. Als wahre Mutter geht sie mit uns,
streitet für uns und verbreitet unermüdlich die
Nähe der Liebe Gottes. Durch die verschiede-
nen marianischen Anrufungen, die gewöhnlich
mit den Heiligtümern verbunden sind, teilt sie
die Geschichte jedes Volkes, das das Evangelium
angenommen hat, und wird zu einem Teil seiner
212Isaak von Stella, Sermo 51: PL 194,1863.1856.
246

25.7 Page 247

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geschichtlichen Identität. Viele christliche Väter
bitten darum, dass ihre Kinder in einem Marien-
heiligtum getauft werden, und zeigen damit ihren
Glauben an das mütterliche Wirken Marias, die
für Gott neue Kinder hervorbringt. Dort in den
Heiligtümern kann man beobachten, wie Maria
ihre Kinder um sich versammelt, die unter großer
Anstrengung als Pilger kommen, um sie zu se-
hen und von ihr gesehen zu werden. Hier finden
sie die Kraft Gottes, um die Leiden und Mühen
des Lebens zu ertragen. Wie dem heiligen Juan
Diego gibt sie ihnen mit zärtlicher Liebe ihren
mütterlichen Trost und flüstert ihnen zu: »Dein
Herz beunruhige sich nicht [...] Bin denn ich, die
ich doch deine Mutter bin, etwa nicht hier?«213
Der Stern der neuen Evangelisierung
287.  Die Mutter des lebendigen Evangeliums
bitten wir um ihre Fürsprache, dass diese Einla-
dung zu einer neuen Phase der Verkündigung des
Evangeliums von der ganzen Gemeinschaft der
Kirche angenommen werde. Sie ist die Frau des
Glaubens, die im Glauben lebt und unterwegs
ist,214 und »ihr außergewöhnlicher Pilgerweg des
Glaubens stellt so einen bleibenden Bezugspunkt
dar für die Kirche«.215 Sie ließ sich vom Heiligen
213Nican Mopohua, 118-119.
214  Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst.
Lumen gentium über die Kirche, 52-69.
215Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris Mater (25.
März 1987), 6: AAS 79 (1987), 366.
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25.8 Page 248

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Geist auf einem Weg des Glaubens zu einer Be-
stimmung des Dienstes und der Fruchtbarkeit
führen. Heute richten wir unseren Blick auf sie,
dass sie uns helfe, allen die Botschaft des Heils
zu verkünden, und dass alle neuen Jünger zu Ver-
kündern des Evangeliums werden.216 Auf diesem
Pilgerweg der Evangelisierung fehlen nicht die
Phasen der Trockenheit, des Dunkels bis hin zu
mancher Mühsal, wie sie Maria während der Jah-
re in Nazaret erlebt hat, als Jesus heranwuchs:
»Dieser ist der Anfang des Evangeliums, der gu-
ten, frohen Botschaft. Es ist aber nicht schwer,
in jenem Anfang auch eine besondere Mühe des
Herzens zu erkennen, die mit einer gewissen
„Nacht des Glaubens“ verbunden ist – um ein
Wort des heiligen Johannes vom Kreuz zu ge-
brauchen –, gleichsam ein „Schleier“, durch den
hindurch man sich dem Unsichtbaren nahen und
mit dem Geheimnis in Vertrautheit leben muss.
Auf diese Weise lebte Maria viele Jahre in Ver-
trautheit mit dem Geheimnis ihres Sohnes und
schritt voran auf ihrem Glaubensweg.«217
288.  Es gibt einen marianischen Stil bei der
missionarischen Tätigkeit der Kirche. Denn je-
des Mal, wenn wir auf Maria schauen, glauben
wir wieder an das Revolutionäre der Zärtlichkeit
und der Liebe. An ihr sehen wir, dass die Demut
und die Zärtlichkeit nicht Tugenden der Schwa-
216  Vgl. Propositio 58.
217Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris Mater (25.
März 1987), 17: AAS 79 (1987), 381.
248

25.9 Page 249

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chen, sondern der Starken sind, die nicht andere
schlecht zu behandeln brauchen, um sich wichtig
zu fühlen. Wenn wir auf Maria schauen, sehen
wir, dass diejenige, die Gott lobte, weil er »die
Mächtigen vom Thron stürzt« und »die Reichen
leer ausgehen lässt« (vgl. Lk 1,52.53), in unsere
Suche nach Gerechtigkeit Geborgenheit bringt.
Auch bewahrt sie sorgfältig »alles in ihrem Her-
zen und denkt darüber nach« (vgl. Lk 2,19). Ma-
ria weiß, die Spuren des Geistes Gottes in den
großen Geschehnissen zu erkennen und auch
in denen, die nicht wahrnehmbar scheinen. Sie
betrachtet das Geheimnis Gottes in der Welt,
in der Geschichte und im täglichen Leben von
jedem und allen Menschen. Sie ist die betende
und arbeitende Frau in Nazaret, und sie ist auch
unsere Frau von der unverzüglichen Bereitschaft,
die aus ihrem Dorf aufbricht, um den anderen
»eilends« (vgl. Lk 1,39) zu helfen. Diese Dyna-
mik der Gerechtigkeit und der Zärtlichkeit, des
Betrachtens und des Hingehens zu den anderen
macht Maria zu einem kirchlichen Vorbild für
die Evangelisierung. Wir bitten sie, dass sie uns
mit ihrem mütterlichen Gebet helfe, damit die
Kirche ein Haus für viele werde, eine Mutter für
alle Völker, und dass die Entstehung einer neuen
Welt möglich werde. Der Auferstandene sagt uns
mit einer Macht, die uns mit großer Zuversicht
und fester Hoffnung erfüllt: »Seht, ich mache al-
les neu« (Offb 21,5). Mit Maria gehen wir vertrau-
ensvoll diesem Versprechen entgegen und sagen
zu ihr:
249

25.10 Page 250

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Jungfrau und Mutter Maria,
vom Heiligen Geist geführt
nahmst du das Wort des Lebens auf,
in der Tiefe deines demütigen Glaubens
ganz dem ewigen Gott hingegeben.
Hilf uns, unser »Ja« zu sagen
angesichts der Notwendigkeit, die dringlicher ist denn je,
die Frohe Botschaft Jesu erklingen zu lassen.
Du, von der Gegenwart Christi erfüllt,
brachtest die Freude zu Johannes dem Täufer
und ließest ihn im Schoß seiner Mutter frohlocken.
Du hast, bebend vor Freude,
den Lobpreis der Wundertaten Gottes gesungen.
Du verharrtest standhaft unter dem Kreuz
in unerschütterlichem Glauben
und empfingst den freudigen Trost der Auferstehung,
du versammeltest die Jünger
in der Erwartung des Heiligen Geistes,
damit die missionarische Kirche entstehen konnte.
Erwirke uns nun einen neuen Eifer als Auferstandene,
um allen das Evangelium des Lebens zu bringen,
das den Tod besiegt.
Gib uns den heiligen Wagemut, neue Wege zu suchen,
damit das Geschenk der Schönheit, die nie erlischt,
zu allen gelange.
Du, Jungfrau des hörenden Herzens und des Betrachtens,
Mutter der Liebe, Braut der ewigen Hochzeit,
tritt für die Kirche ein, deren reinstes Urbild du bist,
damit sie sich niemals verschließt oder still steht
in ihrer Leidenschaft, das Reich Gottes aufzubauen.
250

26 Pages 251-260

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26.1 Page 251

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Stern der neuen Evangelisierung,
hilf uns, dass wir leuchten
im Zeugnis der Gemeinschaft,
des Dienstes, des brennenden und hochherzigen Glaubens,
der Gerechtigkeit und der Liebe zu den Armen,
damit die Freude aus dem Evangelium
bis an die Grenzen der Erde gelange
und keiner Peripherie sein Licht vorenthalten werde.
Mutter des lebendigen Evangeliums,
Quelle der Freude für die Kleinen,
bitte für uns.
Amen. Halleluja!
Gegeben zu Rom, bei Sankt Peter, zum Ab-
schluss des Jahres des Glaubens, am 24. November
– Hochfest unseres Herrn Jesus Christus, König
des Weltalls – im Jahr 2013, dem ersten meines
Pontifikats.
251

26.2 Page 252

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26.3 Page 253

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INHALT
Die Freude des Evangeliums [1] . . . .
3
I. Freude, die sich erneuert und sich mitteilt
[2-8] . . . . . . . . . . . . . . 3
II. Die innige und tröstliche Freude der Ver-
kündigung des Evangeliums [9-10] . .
10
Eine ewige Neuheit [11-13] . . . . . . 11
III. Die neue Evangelisierung für die Weiter-
gabe des Glaubens [14-15] . . . . .
15
Anliegen und Grenzen dieses Schreibens [16-18] 17
ERSTES KAPITEL
DIE MISSIONARISCHE UMGESTALTUNG
DER KIRCHE [19]
I. Eine Kirche „im Aufbruch“ [20-23] . . 21
Die Initiative ergreifen, sich einbringen, beglei-
ten, Frucht bringen und feiern [24] . . .
24
II. Seelsorge in Neuausrichtung [25-26] . . 26
Eine unaufschiebbare kirchliche Erneuerung
[27-33] . . . . . . . . . . . . . 28
III. Aus dem Herzen des Evangeliums [34-39] 34
IV. Die Mission, die in den menschlichen Be-
grenzungen Gestalt annimmt [40-45] .
39
V. Eine Mutter mit offenem Herzen [46-49] 44
ZWEITES KAPITEL
IN DER KRISE DES GEMEINSCHAFT-
LICHEN ENGAGEMENTS [50-51]
I. Einige Herausforderungen der Welt von
heute [52] . . . . . . . . . . . . 50
Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung
[53-54] . . . . . . . . . . . . . 51
253

26.4 Page 254

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Nein zur neuen Vergötterung des Geldes [55-56] 53
Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu die-
nen [57-58] . . . . . . . . . . . 55
Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt
hervorbringt [59-60] . . . . . . . . 56
Einige kulturelle Herausforderungen [61-66] 58
Herausforderungen der Inkulturation des
Glaubens [67-70] . . . . . . . . . 65
Herausforderungen der Stadtkulturen [71-75] 67
II. Versuchungen der in der Seelsorge Täti-
gen [76-77] . . . . . . . . . . . . 71
Ja zur Herausforderung einer missionarischen
Spiritualität [78-80] . . . . . . . . 73
Nein zur egoistischen Trägheit [81-83] . . 75
Nein zum sterilen Pessimismus [84-86] . . 78
Ja zu den neuen, von Jesus Christus gebildeten
Beziehungen [87-92] . . . . . . . . 81
Nein zur spirituellen Weltlichkeit [93-97] . 86
Nein zum Krieg unter uns [98-101] . . . 91
Weitere kirchliche Herausforderungen [102-109] 93
DRITTES KAPITEL
DIE VERKÜNDIGUNG
DES EVANGELIUMS [110]
I. Das ganze Volk Gottes verkündet das
Evangelium [111] . . . . . . . . . 101
Ein Volk für alle [112-114] . . . . . 102
Ein Volk der vielen Gesichter [115-118] . 104
Alle sind wir missionarische Jünger [119-121] 109
Die evangelisierende Kraft der Volksfrömmig-
keit [122-126] . . . . . . . . . . 112
Von Mensch zu Mensch [127-129] . . . 116
Charismen im Dienst der evangelisierenden
Gemeinschaft [130-131] . . . . . . . 119
Die Welt der Kultur, des Denkens und der
Erziehung [123-134] . . . . . . . . 120
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II. Die Homilie [135-136] . . . . . . . 122
Der liturgische Kontext [137-138] . . . 124
Das Gespräch einer Mutter [139-141] . . 125
Worte, die die Herzen entfachen [142-144] 127
III. Die Vorbereitung auf die Predigt [145] . 130
Der Dienst der Wahrheit [146-148] . . . 131
Der persönliche Umgang mit dem Wort [149-151] 134
Die geistliche Lesung [152-153] . . . . 137
Ein Ohr beim Volk [154-155] . . . . 139
Pädagogische Mittel [156-159] . . . . . 141
IV. Eine Evangelisierung zur Vertiefung des
Kerygmas [160-162] . . . . . . . . . 144
Eine kerygmatische und mystagogische Kate-
chese [163-168] . . . . . . . . . . 146
Die persönliche Begleitung der Wachstumspro-
zesse [169-173] . . . . . . . . . . 151
Am Wort Gottes orientiert [174-175] . . 155
VIERTES KAPITEL
DIE SOZIALE DIMENSION
DER EVANGELISIERUNG [176]
I. Die gemeinschaftlichen und sozialen
Auswirkungen des Kerygmas [177] . . . 159
Bekenntnis des Glaubens und soziale Ver-
pflichtung [178-179] . . . . . . . . 160
Das Reich, das uns ruft [180-181] . . . 163
Die Lehre der Kirche zu den sozialen Fragen
[182-185] . . . . . . . . . . . . 165
II. Die gesellschaftliche Eingliederung der
Armen [186] . . . . . . . . . . . 168
Gemeinsam mit Gott hören wir einen Schrei
[187-193] . . . . . . . . . . . . 169
Treue zum Evangelium, um nicht vergeblich
zu laufen [194-196] . . . . . . . . 174
Der bevorzugte Platz der Armen im Volk
Gottes [107-201] . . . . . . . . . 178
255

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Wirtschaft und Verteilung der Einkünfte
[202-208] . . . . . . . . . . . . 182
Sich der Schwachen annehmen [209-216] . 187
III. Das Gemeingut und der soziale Frieden
[217-221] . . . . . . . . . . . . 192
Die Zeit ist mehr wert als der Raum [222-225] 195
Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt [226-230] 198
Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee
[231-233] . . . . . . . . . . . . 201
Das Ganze ist dem Teil übergeordnet [234-237] 203
IV. Der soziale Dialog als Beitrag zum Frie-
den [238-241] . . . . . . . . . . . 206
Der Dialog zwischen Glaube, Vernunft und
den Wissenschaften [242-243] . . . . . 208
Der ökumenische Dialog [244-246] . . . 210
Die Beziehungen zum Judentum [247-249] 213
Der interreligiöse Dialog [250-254] . . . 214
Der soziale Dialog in einem Kontext religiöser
Freiheit [255-258] . . . . . . . . . 219
FÜNFTES KAPITEL
EVANGELISIERENDE MIT GEIST [259-261]
I. Motivationen für einen neuen missionari-
schen Schwung [262-263] . . . . . . 224
Die persönliche Begegnung mit der rettenden
Liebe Jesu [264-267] . . . . . . . . 227
Das geistliche Wohlgefallen, Volk zu sein
[268-274] . . . . . . . . . . . . 231
Das geheimnisvolle Wirken des Auferstande-
nen und seines Geistes [275-280] . . . . 237
Die missionarische Kraft des Fürbittgebets
[281-283] . . . . . . . . . . . . 243
II. Maria, die Mutter der Evangelisierung [284] 244
Ein Geschenk Jesu an sein Volk [285-286] 244
Der Stern der neuen Evangelisierung [287-288] 247